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Sie kam aus dem Nichts. Ihrem Befehl gehorchten die stärksten Männer. Und vor ihrem Zorn zitterten die härtesten Gangster. Niemand kannte ihren richtigen Namen. Aber ganz New York fürchtete sie - Miss Unterwelt!
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Miss Unterwelt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
7. Szene
8. Szene
9. Szene
10. Szene
11. Szene
12. Szene
13. Szene
14. Szene
15. Szene
16. Szene
17. Szene
18. Szene
19. Szene
20. Szene
21. Szene
22. Szene
23. Szene
24. Szene
25. Szene
26. Szene
27. Szene
28. Szene
29. Szene
30. Szene
31. Szene
32. Szene
33. Szene
34. Szene
35. Szene
36. Szene
37. Szene
Epilog
Vorschau
Impressum
Miss Unterwelt
Sie kam aus dem Nichts. Ihrem Befehl gehorchten die stärksten Männer. Und vor ihrem Zorn zitterten die härtesten Gangster. Niemand kannte ihren richtigen Namen. Aber ganz New York fürchtete sie – Miss Unterwelt!
Diese Geschichte handelt vom Schlimmsten, was mir in all den Jahren als Special Agent des FBI widerfahren ist.
Ein perverses Hirn erdachte die Drehbücher, und gewissenlose Verbrecher in New York inszenierten buchstäblich das nackte Entsetzen.
Man kann diese Geschichte nur erzählen, wenn man das Grauenhafteste weglässt.
Ich versuche es.
Am Ufer des East River, beim Carl Schurz ParkMittwoch, der 2. Mai, gegen 5:00 Uhr
Harry Easton drehte sich um. Er wusste, dass sie alle auf ihn schauten: die Männer seiner Mordkommission, die Leute von der Presse und die nur mühsam zurückgehaltenen Gaffer. Aber er konnte es nicht ändern.
Er beugte den Oberkörper über den schmutzig grauen Fluss und übergab sich.
Auf der Uferstraße entstand ein Raunen unter den Neugierigen.
»Mann!«, rief ein kleiner, fettleibiger Bursche mit hoher Stirnglatze. »Das muss ein Anblick sein, wenn dem Lieutenant so etwas passiert!«
Ich hatte mich unmerklich von hinten an den Mann herangedrängt und stand jetzt neben ihm in der Menge. Wie in einer freundschaftlichen Geste legte ich ihm einen Arm um die Schulter.
»Hallo, Billy«, sagte ich leise.
Er wandte mir das Gesicht zu und erschrak. »Der G-man!«
»Der G-man, richtig«, sagte ich so leise wie vorher. »Richtig, Mister Billy O'Neal. Angefangen als Pressefotograf bei zwei Blättchen im Village. Danach Kameramann beim Fernsehen. Und dann fünf Jahre im Staatsgefängnis wegen der Herstellung und Verbreitung von pornografischen Bildern mit Minderjährigen. Was tun ausgerechnet Sie hier, Billy?«
O'Neal hatte sich vom ersten Schreck erholt. Jetzt grinste er sogar schon in seiner frechen Art, die manche Leute nett fanden.
»Ich bin zufällig hier vorbeigekommen«, behauptete er.
»Gerade hier und gerade jetzt – um fünf Uhr früh?«, fragte ich.
Er wollte meinen Arm abschütteln. Ich drückte den Daumen auf sein Schulterblatt und den Zeigefinger in die Schlüsselbeingrube. Billy O'Neal bekam Angstschweißperlen auf der Oberlippe.
»Wirklich«, sagte er hastig, »rein zufällig!«
»Das kann man glauben«, erwiderte ich. »Man kann es auch lassen.«
Ich ließ ihn los, schob mich an ihm vorbei in die vorderste Reihe der Neugierigen und hielt einem Uniformierten der City Police mein Etui mit dem Dienstausweis und dem FBI-Emblem hin. Er nickte stumm und ließ mich durch die Absperrung. Ich kletterte die Böschung der Uferstraße hinab.
Das Gras war noch feucht vom Tau der Nacht. Der East River, eigentlich eine scheuerlappengraue Brühe, glänzte wie flüssiges Gold im Widerschein der frühen Morgensonne. Unten arbeitete Detective Lieutenant Harry Easton mit seinen Männern von der Mordabteilung der City Police. Sie hatten aschfahle Gesichter, als ich bei ihnen ankam, und ich wusste sofort, dass es nicht daran lag, dass man sie um halb fünf Uhr früh aus den Betten geholt hatte.
»Tag, Easton.« Ich hielt ihm die Hand hin.
Er drückte sie stumm und nickte flüchtig dabei. Es war der Händedruck eines kräftigen Mannes und eines zuverlässigen Freundes. Seine Finger waren jedoch kalt, und er wirkte alt an diesem Morgen. Viel älter, als er tatsächlich war.
»Ist es ...?«, fragte ich.
Easton nickte.
»Die Vierte«, sagte er tonlos. »Herrgott, die Vierte!«
Er machte eine Handbewegung, in der sich Resignation, Müdigkeit und zielloser Zorn gleichzeitig ausdrückten. Wir gingen ein paar Schritte zum Fluss hin. Der Fotograf packte bereits sein Stativ und seine anderen Gerätschaften ein. Er machte das betont grimmige Gesicht dabei, das manche Männer machen, wenn sie ihre Gefühle nicht zeigen wollen.
»Vielleicht reicht es, wenn Sie sich später unsere Fotos ansehen«, schlug der Lieutenant vor.
Wir standen vor dem roten Gummilaken, das im Gras lag und unter dem man undeutlich die Umrisse eines kleinen Körpers wahrnehmen konnte. Mir zuckten die Bilder der drei anderen durchs Hirn. Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog, und ich musste mich räuspern, bevor ich etwas sagen konnte.
»Sie wissen, dass ich es mir ansehen muss.«
Harry Easton bückte sich und griff nach einem Zipfel der Gummiplane. Es klatschte störend laut, als er sie zurückschlug.
Im klaren Schein der Morgensonne war alles überdeutlich zu sehen. Ich hatte mir eingeredet, auf den Anblick vorbereitet zu sein, doch man kann sich nicht auf das Unvorstellbare vorbereiten. Ich versuchte angestrengt, mich auf die Einzelheiten zu konzentrieren und damit das Ganze zu verdrängen, es ging nicht. Durch meine Eingeweide lief eine Krampfwelle. Ich kam gerade noch bis zum Wasser und konnte mich vorbeugen. Ich hatte nur eine Tasse schwarzen Kaffee getrunken, als sie mich angerufen hatten, aber was ich erbrach, war gelblich grün.
Ich tupfte mir die Lippen mit dem Taschentuch ab.
»Tut mir leid, Easton«, brummte ich, als ich wieder neben ihm stand.
»Ich doch auch«, sagte er. »Sogar Jack Prister, und der ist jetzt seit sechsundzwanzig Jahren bei der Mordkommission.«
Ich ging einmal langsam um die zurückgeschlagene Plane herum, hockte mich ein paarmal nieder und tat, wofür unsereiner bezahlt wird und weshalb die meisten von uns früher oder später ihre Magengeschwüre kriegen.
»Muss es derselbe sein?«, fragte ich.
»Ja. Soweit wir das jetzt schon beurteilen können. Cotton, wenn wir ihn nicht bald zu fassen kriegen, zerreißen sie uns in der Luft: die Vorgesetzten, die Presse und die Öffentlichkeit. Und sogar mit Recht. Das ist ja nicht irgendein Mörder. Schlimmer geht's gar nicht ...«
Wir standen dicht am Wasser. Hinter uns lag der Carl Schurz Park mit der Uferstraße. Vor uns plätscherten die Wellen des Flusses. Und drüben lag Queens mit seinen Wohnhäusern und Fabriken im goldenen Schimmer der Frühlingssonne. Ein Bild des Friedens. Irgendwo in diesem Häusermeer vor und hinter uns musste er jedoch zu finden sein, irgendwo musste er leben! Wahrscheinlich ahnte kein Mensch in seiner Umgebung, wozu er fähig war.
Ich sah den Fluss hinab nach Süden. Ed Schulz, Eastons hünenhafter Stellvertreter, stand an einer leichten Krümmung des Ufers und hatte sich mit drei Männern von der Spurensicherung über irgendetwas gebeugt, das aus der Entfernung nicht zu erkennen war. Gegen das Sonnenlicht erschienen die Männer wie Schattenrisse. Ich wandte mich wieder dem Lieutenant zu und überlegte, wie ich es ihm sagen sollte. Er hatte ein paar Silberfäden im Haar an den Schläfen, aber er hatte sich eigentlich in all den Jahren nicht verändert.
»Was ist, Cotton?«, fragte er.
Es half alles nichts, einmal musste es ja doch heraus.
»Ich glaube«, sagte ich, »ich glaube, ich werde meinen überfälligen Urlaub nehmen.«
Easton lachte bitter. »Cotton, mit diesem Gedanken spiele ich täglich ein Dutzend Mal, seit wir diese Geschichte am Hals haben. Aber das kann man ja einfach nicht machen.«
Wir waren ein paar Schritte am Fluss entlanggegangen. Jetzt blieb ich stehen.
»Doch, Easton«, sagte ich. »Doch, das kann man machen.«
Der Lieutenant kniff die Augen zusammen und musterte mich. »Das kann nicht Ihr Ernst sein, Cotton. Nicht jetzt. Nicht bei solch einem Fall.«
Ich sah ihn stumm an. Und ich wusste genau, was er dachte, was er jetzt denken musste. Beim Militär würde man es schlicht Fahnenflucht nennen. Ich konnte es nicht ändern. Für seine Gedanken war allein er selbst verantwortlich.
Easton begriff, dass ich es so gemeint hatte, wie ich es gesagt hatte. Er drehte sich um und ging fort, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
Ich sah ihm lange nach. Vielleicht, dachte ich, vielleicht ist es das letzte Mal in deinem Leben, dass du Easton zu Gesicht bekommst. Nach all den Jahren gemeinsamer Arbeit und gemeinsamen Kampfes gegen das organisierte Verbrechen ist das jetzt vielleicht das letzte Mal, dass du ihm die Hand geben kannst. Du solltest ihm nachgehen. Auch wenn du es ihm nicht erklären kannst, solltest du ihm dennoch nachgehen und ihm die Hand bieten.
Doch ich drehte mich um und kletterte die Böschung der Uferstraße hinauf.
Ein Teil der Schaulustigen war gegangen, andere waren gekommen. Trotz der frühen Morgenstunde. Einige hatten sogar Ferngläser mitgebracht. In mir wuchs der irrsinnige Wunsch, sie alle hinabzuführen zu der Stelle, wo eine rote Gummiplane einen toten Körper bedeckte, die Gummiplane fortzureißen und diese Gaffer zu zwingen, es sich anzusehen – es sich so anzusehen, wie unsereins es tun muss. Gründlich, mit scharfem Blick für jede winzige Kleinigkeit und ihre mögliche Ursache. Und dann trotz allem einen klaren Kopf behalten und im Gemüt nicht verhärten wie verkrustende Lava.
Ich traf meinen Freund und Partner Phil Decker neben meinem Jaguar. Er fröstelte trotz des Trenchcoats, den er trug. Und er sah so aschfahl aus wie die Männer von der Mordkommission. Er war vor mir am Fundort gewesen, weil er viel näher wohnte als ich.
»Ich habe keinen entdeckt, der für uns interessant sein könnte«, sagte er, als ich bei ihm ankam. »Nur Billy O'Neal.«
»Mit dem habe ich kurz gesprochen.« Ich schloss meinen Wagen auf. »Der war's bestimmt nicht. So was könnte der gar nicht. Der könnte es vielleicht fotografieren. Aber nicht machen.«
»Das ist es ja!« Phil seufzte beim Einsteigen. »Im Grunde kann man sich von keinem Menschen vorstellen, dass er so etwas Entsetzliches tun kann. Das wird wieder so ein verdammter Fall, wo wir ohne Psychiater nicht auskommen werden!«
Er irrte sich. Wir brauchten den Psychiater nicht, um den Mörder zu finden.
Ich brauchte ihn für mich selbst.
In der Bundesstrafanstalt LeavenworthMittwoch, der 2. Mai, gleichzeitig wie die vorige Szene, also gegen 4:00 Uhr, Ortszeit
Natürlich hörten sie alle in der stillen Nacht die laut hallenden Schritte, das Klirren der Schlüssel und das Quietschen der Tür beim Öffnen. Richtig wach wurden sie erst, als in ihrer Zelle plötzlich das Licht aufflammte.
»Licht aus!«, rief einer schlaftrunken.
»Halt's Maul, Bob«, sagte der Aufseher grob und bückte sich zum untersten Bett. Er rüttelte den dort dösenden Gefangenen am Arm. »Aufwachen, Baker! Los, raus aus der Falle! Da ist jemand, der Sie sehen will!«
Ronald Baker rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Mich?«
»Wenn er den Präsidenten sehen wollte, wäre ich bestimmt nicht zu dir gekommen. Also mach schon!«
Baker setzte sich zu jener geduckten Haltung auf, die man einnehmen musste, wenn man mit dem Kopf nicht gegen das obere Bett stoßen wollte. Jahrelange Übung hatte das zu einer Gewohnheit werden lassen. Er angelte nach seinen Schuhen.
»Wie spät ist es denn?«, fragte er.
»Kurz nach vier.«
Jetzt war Baker hellwach. Das gab es doch nicht, dass ein Gefangener nachts um vier Besuch empfangen durfte! Also was wurde hier gespielt? Wollte man ihn reinlegen? Wofür? Warum? Und wie? Die Gedanken schossen ihm in fiebriger Eile durchs Hirn. Hatte er in letzter Zeit etwas ausgefressen, wofür sich die Aufseher mit irgendeiner krummen Tour rächen wollten? Ihm fiel nichts Schwerwiegendes ein. Welche anderen Möglichkeiten gab es?
Während er sich langsam die Schnürbänder zuknotete, zerbrach er sich vergeblich den Kopf. Schließlich konnte er es nicht länger hinauszögern und stand auf.
Ronald Baker war achtunddreißig Jahre alt, etwas knapp sechs Fuß groß und kräftig. Er hatte zeit seines Lebens – auch im Gefängnis – Sport getrieben, und sein Körper war so topfit, wie es in diesem Alter überhaupt möglich war. Trotzdem gab sich Baker keinen Illusionen hin. Wenn ihn Leute unbedingt fertigmachen wollten und wenn sie in ausreichender Anzahl kamen, konnten sie es natürlich schaffen. Er ging zur Tür und musterte den Aufseher aus halb zusammengekniffenen Augen. Das Gesicht des Mannes verriet nichts Feindseliges.
Sollte wirklich ein Besucher für ihn da sein? Wer konnte ihn besuchen? Und vor allem zu dieser Zeit?
Erst im Büro des Gefängnisdirektors erhielt Ronald Baker die Antworten auf seine Fragen. Neben dem Schreibtisch des Direktors stand ein schlanker junger Mann in tadellos gebügeltem Anzug, mit weißem Hemd und dezent gemusterter Krawatte und hielt Baker ein Schriftstück hin.
»Hier ist eine Verfügung des Justizministers der Vereinigten Staaten. Sie werden zur weiteren Verbüßung Ihrer Strafe in ein anderes Gefängnis verbracht, Baker. Ich habe die Aufgabe, Sie zu begleiten.«
Baker starrte den jungen Mann an, er traute seinen Augen und Ohren nicht. Ein paar Sekunden ließ er sich das Gehörte durch den Kopf gehen, dann sagte er ratlos: »Ich verstehe das nicht.«
»Das ist auch nicht nötig«, meinte der junge Mann. »Unser Flugzeug geht in fünfzig Minuten. Wir müssen uns also beeilen.«
»Und wo soll's hingehen?«
»Nach New York«, sagte der junge Mann.
»Was, zum Teufel, soll ich im Knast in New York?«
»Baker, ich bin Special Agent des FBI, und ich bin es nicht gewohnt, nach den Gründen zu fragen, die den Justizminister zu dieser oder jener Entscheidung veranlassen. Meine Aufgabe besteht lediglich darin, Sie zum Militärflughafen, in die Maschine und in New York zum Gefängnis zu bringen.«
»Mit einer Militärmaschine?«, fragte Baker mit gerunzelter Stirn.
»Ja, und die geht in fünfzig Minuten, wie gesagt. Deshalb musste ich leider so früh aufstehen und Sie so früh wecken lassen.«
Die Geschichte stinkt, dachte Baker. Erstens wird sich der Justizminister ausgerechnet höchstpersönlich um mich kümmern! Zum Lachen. Zweitens hätten sie es gestern Abend schon sagen können, wenn es wirklich so wäre. Drittens ist absolut nicht einzusehen, warum sie mich nach New York abschieben. Und viertens, fünftens und so weiter – mehr Gründe, als man zählen kann, warum die Geschichte stinkt.
»Ich bleibe hier«, sagte Baker. »Ich weiß nicht, was das Manöver bedeuten soll, aber die Sache stinkt von hier bis Okinawa. Ich bleibe hier.«
Der junge Mann sah ihn ernst an.
»Baker«, sagte er beinahe sanft, »machen Sie uns beiden das Leben nicht schwer. Sie sollen nach New York, und Sie werden nach New York fliegen. Mein Wort darauf. Entweder kommen Sie freiwillig mit, oder ich lasse Sie in eine Zwangsjacke stecken und transportiere Sie wie einen Mehlsack, okay?«
»Okay«, gab Baker nach. »Aber ich will verdammt sein, wenn ich auch nur eine Ahnung davon habe, was hier gespielt wird.«
In einem DrugstoreMittwoch, der 2. Mai, gegen 6:30 Uhr
Hinten in der Ecke saßen vier junge Schwarze und aßen Maispfannkuchen mit Ahornsirup. Sie waren ausgeschlafen, offenbar nicht arbeitslos, jung und lärmend fröhlich. Ich setzte mich mit Phil rechts neben der Tür an einen kleinen viereckigen Tisch, der für uns ausreichte.
Die Serviererin trug ein orangerotes Kleid, das knapp über den Knien aufhörte und schöne Beine mit rassigen Fesseln sehen ließ. Sie hatte blondes Haar, zu einem Pferdeschwanz gerafft wie bei einem Teenager, aber das verlebte Gesicht einer Frau, die nie in ihrem Leben gute Zeiten gesehen hat.
Mit dem Daumen zeigte ich auf die Auslagen am Tresen, auf die Kuchen, Torten, Würste und Schinken.
»Um Gottes willen!«, wehrte Phil ab. »Nur ja nicht.«
Mir war auch nicht nach einem Frühstück, obgleich auch ich noch nichts gegessen hatte.
»Also zwei Kaffee«, bestellte ich. »Schwarz. Und zwei Whisky. Scotch. Pur. Nur mit einem Eiswürfel.«
Die Serviererin entfernte sich. Phil sah mich groß an.
»Es ist mir egal«, sagte ich, »es ist mir völlig egal, wer unsere Dienstvorschriften erfunden hat. Wer auch immer es war – er soll in den Carl Schurz Park fahren und mir anschließend sagen, ob er einen Whisky braucht oder nicht.«
Die Blondine brachte unsere Getränke. Der verlockende Duft von Kaffee und der nicht minder verlockende Duft des Whiskys mischten sich an diesem Morgen zu keinem sonderlich guten Geruch. Phil zögerte, genau wie ich. Ich sah mich um.
»Da«, sagte ich und zeigte auf eine Tür neben der Registrierkasse. »Du hast höchstens fünf Schritte zu tun, wenn es nötig werden sollte.«
»Das ist auch kein Trost«, meinte Phil und griff zum Glas.
Ich kippte meinen Whisky herunter. Mein leerer Magen würgte einmal. Dann spülte ich schon mit Kaffee nach. Das Würgen ebbte ab. Phil hatte ebenfalls getrunken und atmete erleichtert auf. Auch er hatte Schlimmeres befürchtet.
»Hast du es zu Easton gesagt?«, fragte er nach einer Weile.
Ich nickte.
»Und? Wie hat er es aufgenommen?«
»Nicht gut.«
Phil sah nachdenklich zu dem breiten Schaufenster hinaus. Draußen begann allmählich der Alltagsbetrieb einer Acht-Millionen-Stadt. Doch mein Freund machte nicht den Eindruck, als beobachtete er den Verkehr.
»Irgendwie kann ich Easton schon verstehen«, murmelte er.
»Natürlich«, sagte ich. »Das ist ja das Schlimmste daran. Ich hätte mich an seiner Stelle wohl auch nicht anders gefühlt. Aber du weißt genau, wie lange wir darüber geredet haben. Ich habe es mir weiß Gott lange genug überlegt, bevor ich mich entschieden habe. Und wenn man sich einmal für etwas entschieden hat ...«
»... dann soll man es auch durchstehen«, vollendete Phil mit einem Satz. »Also schön! Fahr in deinen verdammten Urlaub! Fahr doch!«
Er sah noch gekränkter aus als Easton. Und auch bei ihm wusste ich, was er dachte. Ich konnte mir vorstellen, wie er empfand. Schließlich kennen wir uns inzwischen einige Tage.
Und weil ich wusste, warum er solch ein Gesicht machte, klopfte ich ihm auf die Schulter. »Nun nimm's nicht so tragisch. Ich schwöre, dass ich regelmäßig anrufen oder Ansichtspostkarten schicken werde.«
Phil knurrte etwas, was man in feinen Kreisen nicht aufschreibt.
Americana Hotel, Apartment 786Mittwoch, der 2. Mai, kurz nach 7:00 Uhr
Lester Gordon stemmte die schweren Hanteln zum vierundachtzigsten Mal, als das Telefon schrillte. Gordon ließ die Hanteln sinken, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Es gab niemand, der ihn um diese Zeit anrufen konnte. Also hob er die Hanteln zum fünfundachtzigsten Stoß.
Das Telefon klingelte.
Gordon ließ die Hanteln sinken und schüttelte ein zweites Mal den Kopf. Er sah auf seinen Chronometer, um bestätigt zu finden, was er ohnedies wusste, nämlich dass es erst wenige Minuten nach sieben Uhr früh war, und er hob die Hanteln zum sechsundachtzigsten Mal.
Das Telefon klingelte.
Er legte die Hanteln beiseite, wischte sich mit dem Handtuch Schweiß von der Stirn und den Händen und ging zu dem breiten Tisch in der Ecke, auf dem das Telefon stand.
Er nahm den Hörer. »Ja, wen wünschen Sie?«
»Ich möchte Mister Gordon sprechen.«
Es war eine Männerstimme, ihr Klang erinnerte Gordon jedoch eher an ein keifendes altes Weib, gespielt von der schlechten Darstellerin einer Laienspielgruppe.
»Wer spricht da?«, fragte er.
»Hier ist Edward Anthony Hillon.«
Gordon hatte schon den Mund geöffnet, um seine Überraschung zu äußern. Doch er schluckte es herunter, dachte schnell nach und erwiderte dann: »Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Wieso nicht?«
»Natürlich habe ich den Namen Edward Anthony Hillon schon gehört. Schließlich kennt ihn jedes Schulkind. Aber er kennt mich nicht und wird mich folglich auch nicht anrufen. Suchen Sie sich einen anderen, den Sie am frühen Morgen veralbern können. Oder noch besser, lassen Sie solche blöden Späße überhaupt!« Er legte auf und ging zu seinen Hanteln.
Als er sich gerade bücken wollte, schrillte das Telefon erneut. Er drehte sich um, stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte kopfschüttelnd auf den Apparat.
Beim dritten Klingeln hob er ab. »Ja?«
»Legen Sie nicht wieder auf. Hier spricht tatsächlich Edward Anthony Hillon. Ich möchte, dass Sie etwas für mich erledigen. Falls es zu meiner Zufriedenheit ausfällt, würde ich großzügig bezahlen.«
»Legen Sie auf«, sagte Lester Gordon. »Ich rufe Sie in ein paar Minuten an.«
»Wie wollen Sie das machen? Ich habe eine Geheimnummer für meinen privaten Apparat.«
Gordon lachte knapp. »Würden Sie meine Arbeit wollen, wenn ich nicht einmal eine Telefonnummer herausfinden könnte?«
Jetzt war die Überraschung offenbar am anderen Ende der Leitung, denn es blieb zwei Sekunden still, bis die Antwort kam. »Ich bin gespannt.«
Gordon hörte, wie die Leitung unterbrochen wurde. Er spürte sein Herz hämmern und das Blut in den Ohren dröhnen. Und er wusste genau, dass er jetzt völlig kalt bleiben musste. Hillon – du lieber Himmel, ebenso gut könnte einer sagen Rockefeller oder Kennedy. Sonst kamen höchstens noch zwei Dutzend andere Namen infrage.
Wenn das Ganze nicht ein alberner Scherz war. Was wahrscheinlich war. Unendlich wahrscheinlicher, als dass Edward Hillon in eigener Person und morgens um sieben einen abgehalfterten Privatdetektiv namens Lester Gordon anrief.
Gordon ging ins Badezimmer, ließ eiskaltes Wasser in den Nacken laufen und rieb sich flüchtig trocken. Dabei überlegte er schnell und konzentriert. Es war seine Stärke, dass er in wenigen Sekunden mehr Möglichkeiten durchdenken konnte als manche anderen Leute in Stunden.
Aus seinem privaten Telefonverzeichnis suchte er eine Nummer und wählte.
»Mia Cooper«, sagte eine verschlafene Frauenstimme.
»Blas die Locke aus deiner Stirn«, sagte Gordon und gab sich Mühe, etwas wie Zärtlichkeit in seine Stimme zu schmuggeln. »Du weißt, dass ich es liebe, wenn du die Unterlippe so vorschiebst.«
Aus der verschlafenen wurde schlagartig eine energische Frauenstimme. »Lester Gordon, wie kannst du es wagen, mich um diese Zeit anzurufen!«
»Weil man um diese Zeit sicher sein kann, dass Miss Mia Cooper zu Hause ist. Wenn sie nicht Nachtdienst bei der New York Telephone Company hat. Hast du Nachtdienst?«
Sie fiel darauf herein und sagte, schon halb versöhnt: »Nein, erst nächste Woche wie ..., oh, du Scheusal! Wenn ich Nachtdienst hätte, wäre ich doch jetzt nicht zu Hause am Telefon!«
»Kaum anzunehmen«, gab Gordon trocken zu. »Ich möchte ein Geschäft mit dir machen.«
»Mit Männern, wie du einer bist, mache ich keine Geschäfte.«
»Abwarten. Dein Einsatz: die Geheimnummer von Edward Anthony Hillon. Meine Gegenleistung: ein Dinner für zwei Personen, heute Abend, am Ort deiner Wahl. Solch ein großzügiges Angebot bekommst du nicht einmal zu Weihnachten.«
»Du lädst mich zum Dinner ein?«
»In Galauniform bei Kerzenlicht und Champagner.«
»Du willst mich bloß einwickeln.«
Gordons Stimme verlor jedes Gefühl. »Habe ich jemals etwas versprochen, was ich nicht gehalten hätte?«