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Er liebte seine Pferde und seine Tochter. In welcher Reihenfolge, wusste er selbst nicht. Sie nahmen ihm beides. Als Mr. High mich zum Tatort schickte, wartete dort der Mann, der mich kaufen wollte ...
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Der Mann, der mich kaufen wollte
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Der Mann, der mich kaufen wollte
Er liebte seine Pferde und seine Tochter. In welcher Reihenfolge, wusste er selbst nicht. Sie nahmen ihm beides. Als Mr. High mich zum Tatort schickte, wartete dort der Mann, der mich kaufen wollte ...
1
Als der gestreckte dunkle Umriss aus der Südkurve kam, presste der Mann auf dem Hügel den Gewehrschaft fest an seine Schulter und brachte das rechte Auge an die Gummimanschette des Okulars.
Unwillkürlich hielt er den Atem an und vergaß das kalte Gras, in dem er lag, und die spitzen Steine, die sich in seinen Bauch bohrten.
Groß und scharf sah er das Pferd, das auf ihn zuzurasen schien. Deutlich spürte er die wuchtige Kraft, die von diesem Tier ausging, als es da unten scheinbar lautlos über die Trainingsbahn von Downsgate preschte. Die ausgreifenden Bewegungen der Beine wirkten geschmeidig und leicht.
Der Jockey hockte tief geduckt in dem winzigen Rennsattel. Er war ein kleiner, magerer Kerl, dessen schmales Gesicht unter der Schutzbrille nur aus Augen zu bestehen schien. Er gehörte zu den zwei Dutzend besten Jockeys, die es in den Vereinigten Staaten gab.
Der Mann auf dem Hügel vergaß den Jockey. Er zielte auf den Kopf des schwarzen Hengstes, der im Mai das Kentucky Derby gewinnen sollte.
Der Kopf füllte fast das Sichtfeld des starken Zielfernrohrs. Weißer Atem drang stoßweise aus geblähten Nüstern.
Das linke Auge des Hengstes lag genau im Schnittpunkt des Fadenkreuzes. Der Mann atmete tief ein, ließ etwas Luft über die halb geöffneten Lippen strömen und hielt dann den Atem an. Sein rechter Zeigefinger berührte leicht den Abzugshebel.
Das schwere Magnum-Geschoss würde den wertvollen Hengst auf der Stelle töten. Der finanzielle Verlust würde Ronald Proctor junior, dem Besitzer von Downsgate, nicht viel ausmachen. Er besaß siebzehn Zuchthengste, von denen jeder mehr als eine Million Dollar wert war. Ehemalige Derbysieger brachten es auf einen Wert von acht Millionen. Und Proctor verkaufte sie trotzdem nicht.
Denn Ronald Proctor liebte jedes dieser Tiere. Vielleicht mehr als sich selbst.
Der Mann wollte den Finger krümmen. Er sah das Weiße im Auge des Hengstes.
Doch da begann das Bild im Okular zu schwanken. Der Mann stieß den angehaltenen Atem aus und versuchte, die Waffe erneut auf das Pferd da unten in der Bahn auszurichten. Wütend presste er den Schaft der Winchester an seine Schulter. Aber er brachte das Zittern seiner Arme nicht unter Kontrolle.
Er legte die Waffe vor sich ins Gras und schloss einen Moment die brennenden Augen. Als er sie wieder öffnete, stand der Jockey in den Steigbügeln, und der Hengst lief in lockerem Trab auf den Abreiteplatz zu, wo die Stallburschen mit Decken und Bürsten bereitstanden.
Der Mann richtete sich auf. Er lief ein paar Schritte den Hügel hinunter, wo ein alter Dodge in einer Senke stand. Der Mann warf das Gewehr auf die Ladefläche des Lieferwagens und zerrte eine Plane darüber. Dann schwang er sich in die Kabine und ließ den Motor an.
Morgen, sagte er lautlos zu sich selbst. Morgen werde ich es tun. Oder übermorgen. Bis zum großen Derby hatte er sogar noch vier Wochen Zeit. Und er hatte eine Kugel für jeden Downsgate-Hengst ...
Ich war in der Nacht von New York City nach Cincinnati geflogen und dort im Morgengrauen in einen Lockheed Jetstar umgestiegen, der als Lufttaxi zwischen der Stadt am Ohio und Lexington verkehrte, der eigentlichen Metropole des Pferdelands Kentucky.
Als der Jet über das Vorfeld des Blue Grass Field Airport rollte, lag das blaue Gras, das so typisch für diese Region war, unter einer dünnen glitzernden Reifschicht.
Vorn auf dem Vorfeld, neben der kurzen fahrbaren Passagiertreppe, stand eine lang gestreckte schwarze Limousine. Während die Maschine ihre Nase herumschwenkte, hatte ich Gelegenheit, einen ersten Blick auf mein Empfangskomitee zu werfen. Es bestand aus zwei Männern, die sich bemühten, stramm dazustehen, wie man es von den Leibwächtern eines mächtigen und reichen Pferdebarons erwartete.
Das Pfeifen der Triebwerke erstarb mit einem grollenden Laut. Es rumpelte kurz, als die Passagiertreppe angedockt wurde. Dann schwang die Tür nach außen, und frische, kühle Kentuckyluft strömte in die Kabine. Zusammen mit den anderen acht Passagieren schob ich mich am Steward vorbei nach draußen.
Die Limousine war ein Ford, ziemlich neu, sehr teuer, mit Vorhängen hinten, Autotelefon, Trennscheibe zwischen Fond und Vordersitzen und was man sonst noch von der Kutsche eines Milliardärs erwarten konnte. Ich vermisste nur irgendeinen Hinweis auf Pferde. Die Pferdenarren, die ich kannte, schmückten alles, was ihnen gehörte, mit solch neckischen Kinkerlitzchen wie Hufeisen, Beschlägen und anderem Schnickschnack. Nun, vielleicht kannte ich nicht die richtigen. Vielleicht übten sich die Pferdebarone Kentuckys in vornehmer Zurückhaltung.
Weil der Ford der einzige Wagen hier draußen war und Howard Gerritsen, Ronald Proctors New Yorker Anwalt, mir vor dem Abflug gesagt hatte, sein Klient würde mich abholen lassen, marschierte ich auf den Schlitten zu.
Der Mann auf der Fahrerseite grinste mich über das Dach des Ford hinweg an. Er hatte ein etwas schiefes Gesicht und lange gelbe Zähne. Der andere riss mir beflissen die hintere Tür auf.
»Willkommen in Kentucky, Mister Shannahan«, sagte er. »Ich bin Robinson, Sir.«
»Hi, Mister Robinson«, sagte ich freundlich und faltete mich ein wenig zusammen. Ich, Jerry Cotton, FBI New York. Alias Jerry Shannahan von der Firma International Security Services. Die Firma ISS verkaufte Sicherheit. So stand es jedenfalls im Branchenverzeichnis. Nur eine Handvoll Eingeweihter wusste, dass die ISS eine Scheinfirma war, die vom FBI betrieben wurde und nur zu dem einen Zweck gegründet worden war, FBI Agents in gewissen, meist heiklen Fällen zu einer Tarnexistenz zu verhelfen.
Der Mann, der sich Robinson nannte, war ein plattnasiger Kerl mit einem gemütlichen Lächeln auf den fleischigen Wangen. Das dunkle Jackett konnte er nicht zuknöpfen. Das lag nicht nur an dem dicken Bauch, der über den stramm geschnallten Hosengürtel quoll, sondern auch an der Pistole, die er hinten über der Hüfte trug. Auf der linken Seite, mit dem Kolben nach vorn.
Ronald Proctor junior, Herr über eines der berühmtesten Gestüte der Staaten, sollte über eine eigene Sicherheitstruppe von etwa dreißig Mann verfügen. Ich, der angebliche Jerry Shannahan von International Security Services, sollte dieser Truppe als Instrukteur zur Verfügung stehen. So hatten es der New Yorker FBI-Chef und ein paar wichtige Leute aus Washington und Kentucky ausgeheckt. Denn Ronald Proctor war nicht nur ein hochkalibriger Pferdezüchter. Sein Einfluss und seine Bedeutung in Politik und Wirtschaft waren kaum zu überschauen. Und schon gar nicht zu berechnen. Wenn er staatlichen Schutz brauchte, so bekam er ihn auch.
Die Tür, durch die ich eingestiegen war, fiel mit einem satten Laut ins Schloss. Der Fahrer und Robinson stiegen vorn ein. Die Trennscheibe war zur Seite geschoben. Robinson drehte mir sein fleischiges Gesicht zu.
»Hatten Sie einen guten Flug, Sir?«, erkundigte er sich.
Der Fahrer ließ den Motor an. Ich zog mein Ticket aus dem Jackett und riss den Gepäckabschnitt hinten heraus.
»Ich habe eine Reisetasche«, sagte ich und drückte Robinson das Papier in die Hand. Ein Elektrokarren stand unter der Ladeluke des Jetstar.
»Oh, das hätten wir beinahe vergessen«, sagte Robinson. Er stieß den Fahrer an. »Hier, Barry, kümmere dich mal drum!«
Ich bemerkte einen Ausdruck stummer Wut in Barrys blassen Augen, der Robinson jedoch nicht zu beeindrucken schien. Barry stellte den Motor wieder ab und stieg aus. Robinson sah ihm nach, wie er unter die eine Tragfläche des Jetstar ging und dann den Steward am Gepäckwagen ansprach.
Robinson lächelte unentwegt. Auch, als er zum Eingang des Abfertigungsgebäudes hinüberblickte. Und doch konnte er seine Unruhe oder eine gewisse Unsicherheit nicht ganz verbergen.
Barry schaffte es, meine Reisetasche schon hier draußen loszueisen. Er warf sie in den Kofferraum, und gleich darauf preschten wir los.
Wir verließen das Flughafengelände durch ein unbewachtes Tor. Barry steuerte sofort die Ringstraße an, die uns zum Newtown Pike führen sollte, der Ausfallstraße nach Nordwesten. Bis Stamping Ground, der kleinen Stadt im Scott County, wo Downsgate lag, waren es ungefähr vierzig Meilen. Wenn Barry das einmal eingeschlagene Tempo beibehielt, würde er vermutlich einen neuen Rekord für die Strecke Lexington-Stamping Ground aufstellen oder sich die Highwaycops auf den Hals ziehen. Oder beides.
Nun, es würde nicht mein Führerschein sein, den die Cops kassierten. Ich lehnte mich bequem zurück. Und weil Robinson keine Anstalten machte, das zäh begonnene Gespräch in Gang zu halten und die Landschaft hier, in der Nähe der Stadt, keinen besonders erfreulichen Anblick bot, hing ich meinen Gedanken nach.
In Washington hatte man einige ernst zu nehmende Hinweise registriert. Danach schwebte Ronald Proctor junior in Gefahr. Und weil Proctor in einigen Tagen nach New York reisen würde, was er zweimal in jedem Jahr tat, hatte man mich nach Stamping Ground geschickt. Ich sollte feststellen, ob an den Informationen etwas dran war, und die Gefahrenquellen nach Möglichkeit ausschalten, bevor Proctor nach New York reiste.
Wer war Ronald Proctor junior?
Den Lesern der Sportzeitungen war eher der Name Downsgate ein Begriff. Downsgate, dieses große Gestüt in Stamping Ground, Scotts County, Kentucky, gehörte Ronald Proctor. Proctor war Downsgate. Und umgekehrt. Seit sechs Jahren stellte Downsgate in ununterbrochener Folge den Sieger im großen Kentucky Derby. Downsgate-Pferde gewannen die größten und bedeutendsten Rennen in den Staaten und in Kanada. Und wenn es einmal kein Downsgate-Pferd war, das als Erstes über die Ziellinie preschte, dann stammte der Sieger mit einiger Sicherheit von einer Downsgate-Stute oder einem Downsgate-Hengst ab.
Ronald Proctor war einer der sagenhaften »Kentukkians«. Der Name seines Gestüts war untrennbar verbunden mit dem bedeutendsten Pferdezuchtgebiet der Vereinigten Staaten. Ronald Proctor lebte für seine Pferde.
Umso schwerer war sein politischer Einfluss einzuschätzen. Die Zeitungsberichte, die sich im Wirtschaftsteil oder unter der Sparte Politik mit Ronald Proctor befassten, waren eher geeignet, die wahre Bedeutung dieses Mannes für das wirtschaftliche und politische Leben der USA herunterzuspielen. Nur wenigen Eingeweihten war bekannt, dass Proctor einige Schlüsselindustrien kontrollierte. Der Umstand, dass er selbst kein politisches Amt ausübte, ja, nicht einmal eines anstrebte, machte seine Person so unberechenbar. Und zog die Aufmerksamkeit bestimmter Kreise auf ihn.
In diesem Jahr fanden in Kentucky Gouverneurswahlen statt, an sich keine Sache von großer Bedeutung. Ronald Proctor hatte den jetzigen Gouverneur finanziert. Der Gouverneur war, nach allem, was man wusste, eine weiche Pflaume, und Proctor würde ihn vermutlich nicht noch einmal unterstützen. Dieser Umstand machte ihn naturgemäß für die anderen Kandidaten interessant, und weil es unter denen schillernde Figuren gab, stand in Kentucky möglicherweise eine Wahl von mittelamerikanischem Zuschnitt bevor. In Washington war man jedenfalls der Ansicht, dass der aussichtsreichste Kandidat, der gegen den amtierenden Gouverneur antrat, eine Strohpuppe war, die von Gangstern gemanagt wurde. Dieser Mann würde mit einiger Sicherheit das Rennen gewinnen, wenn Proctor dem gegenwärtigen Gouverneur seine Unterstützung entzog und sich nicht für einen anderen Bewerber einsetzte.
Oder sich nicht einsetzen konnte.
Die Landschaft draußen veränderte sich unmerklich, wurde freundlicher, lieblicher. Der schwere Wagen zischte über den Highway. Die Hinweisschilder flogen nur so vorbei, und ich begriff plötzlich, weshalb Barry, der Fahrer, so raste.
Ich sollte nicht mitkriegen, wo es hinging.
Wer immer diese Fahrt arrangiert hatte, wusste nicht, dass ich mich, so gut es in der knappen Zeit möglich gewesen war, auf diesen Einsatz vorbereitet hatte. Natürlich beschäftigte ich mich auch mit der Geografie meines vorübergehenden Wirkungskreises. Als der Ford jetzt an einer Ausfahrt, über der Donerail stand, in die Kurve ging, wusste ich, dass die Reise überall enden konnte – nur nicht in Downsgate bei Stamping Ground.
Der Wagen kam aus der Kurve und folgte einer schnurgeraden Landstraße, die über die sanften Hügel kletterte. An den Straßenrändern zogen sich weiß gestrichene Gatter entlang. Hier und da tummelten sich Pferde auf dem überreifen Gras.
Ich hatte geschlafen. Mich einlullen lassen. Meinen gesichtslosen Gegner unterschätzt. Was mochte er wohl von einem Mann namens Jerry Shannahan aus New York wollen, der nach Kentucky gereist war, um angeblich Ronald Proctors Privatpolizei und Bodyguards auf Vordermann zu bringen?
Es gab eigentlich nur einen Weg, es herauszufinden. Einfach nichts tun und abwarten. Andererseits hätte ich in dieser Situation gern gewusst, wie weit die Gegenseite gehen würde.
Ich berührte den Türhebel auf meiner Seite und zog daran.
Der Hebel ließ sich nicht bewegen. Die Kindersicherungen an den Türen sind schon eine verdammt gute Erfindung. Sie gefallen nicht nur den geplagten Eltern kleiner Kinder, sondern nützen auch Ganoven, wenn sie Übles im Sinn haben.
Der Knabe, der sich Robinson nannte, musste meine Bewegung bemerkt haben. Er wandte mir sein fleischiges Gesicht zu, und die Augen über den speckigen Wangen glitzerten. Das Grinsen in den Mundwinkeln wirkte gar nicht freundlich. Vor allem nicht in Verbindung mit dem Pistolenlauf, der jetzt auf der Rücklehne lag. Seine Mündung gähnte mich wie ein großer schwarzer Tunnel an.
»Es liegt ganz an Ihnen, wo die Fahrt endet, Mister Shannahan«, sagte Robinson.
»Dann würde ich gern an der nächsten Telefonzelle aussteigen«, sagte ich.
Robinson kicherte. »Hast du gehört, Barry? Mister Shannahan ist ein Komiker!« Er wandte sich wieder mir zu. »Sie haben nur die Wahl zwischen einem freundschaftlichen Gespräch unter vernünftigen Leuten und einem weniger angenehmen Platz unter dem Rasen dieses schönen Landes.«
»Das«, sagte ich vorwurfsvoll, »ist aber keine große Auswahl.« Ich starrte in das schwarze Loch der Pistole und drückte vorsichtig den linken Arm gegen den Brustkorb, wo ich den vertrauten Druck meines 38ers spürte. Es war ein verdammt beruhigendes Gefühl. »Und sagen Sie dem Lümmel, er soll nicht so rasen.«
Denn wenn wir an einem Baum landeten, hätte ich überhaupt keine Wahlmöglichkeit mehr.
2
Die blasse Morgensonne, die noch tief über den Hügeln stand, hatte die Reifschicht in funkelnde Diamanten verwandelt. Es ist noch sehr kalt für April, dachte Ronald Proctor, der am weiß gestrichenen Gatter der Trainingsbahn lehnte und den Jockeys bei der Morgenarbeit zusah. In vier Wochen stand das Kentucky Derby bevor, das größte Rennereignis des Staats. Für die Züchter in Kentucky war es die größte Sportveranstaltung der Welt. Dafür lebten und arbeiteten sie.
Proctor wandte den Kopf nach links. Noch war der pochende Hufschlag auf dem harten Boden nicht zu hören. Doch er hielt einen Augenblick den Atem an.
Pferd und Reiter waren eine Einheit. Gestreckt flog der Vollbluthengst heran. Fortune Charge sollte in diesem Jahr zum ersten Mal das Kentucky Derby laufen, nachdem der Hengst im Winter in Kalifornien und Arizona sieben von neun wichtigen Rennen gewonnen hatte.
Als Besitzer des Gestüts Downsgate war er zuversichtlich. Auch dieses Jahr würde Downsgate wieder das Rennen gewinnen.
Er hörte knirschende Schritte im gefrorenen Gras, wandte aber nicht den Kopf. Denn jetzt donnerte Fortune Charge vorbei. Proctor sah die geblähten Nüstern und die weit aufgerissenen Augen. Das Spiel der Muskeln unter dem glatten schwarzen Fell des Vollbluts faszinierte ihn. Dann war der Hengst vorbei, und Proctor stieß den angehaltenen Atem aus. Nur schwer vermochte er die Erregung, die der Anblick des Hengstes in ihm erzeugt hatte, unter Kontrolle zu bringen.
Abigail, seine Tochter, schob eine Hand unter seinen Arm.
»Guten Morgen, Dad«, sagte sie.
Proctor sah sie lächelnd an. Gerade wollte er etwas sagen, als ihre Augen abirrten und sich auf einen Punkt hinter ihm richteten. Ihre Hand verkrampfte sich unter seinem Arm. Unwillkürlich folgte er ihrer Blickrichtung.
Es war Lansky. Wie er es sich gedacht hatte. Langsam ritt Lansky über den Napoleon-Hügel, der seinen Namen dem ersten Downsgate-Hengst verdankte, der das Kentucky Derby gewonnen hatte.
Proctor wusste, dass Abigail diesen düsteren alten Mann instinktiv fürchtete. Sogar er empfand stets aufs Neue einen Schauder, wenn er den Mann sah, wie er, steif im Sattel sitzend, über Downsgate ritt.
Lansky lebte im ehemaligen Verwalterhaus im südlichen Gelände des Gestüts. Ronald Proctor senior hatte ihm ein lebenslanges Wohnrecht und eine ausreichende Rente vermacht.
Es war eine eigenartige Beziehung, die Proctor senior mit Lansky verbunden hatte. Eine Beziehung, die selbst den Tod des alten Proctor überdauerte.
Jetzt verschwand die unheimliche Gestalt hinter dem Hügel. Proctor wandte sich wieder seiner Tochter zu.
»Gut geschlafen?«, erkundigte er sich rasch, um sie von der Erscheinung abzulenken. Prüfend musterte er das hübsche, glatte Gesicht unter dem dichten sandfarbenen Haar, während das Feld der Zweijährigen hinter ihnen vorbeigaloppierte.
»Na ja ...« Abigail verzog die Lippen zu einem feinen Lächeln. Aber sie wich seinem Blick aus.
Proctor presste für einen Moment die Lippen zusammen. Etwas heftig ließ er Abigails Hand los und reckte den Arm in die Höhe.
Sofort näherte sich mit leisem Summen ein kleiner offener Elektrowagen, wie er auch auf Golfplätzen benutzt wird. Vorn auf der Bank saß ein stämmiger Schwarzer. Der Wagen hielt neben Proctor. Proctor schlug den Kragen seiner Pelzjacke auf und stieg hinten ein. Gail schob sich neben ihn.
Schaukelnd schnurrte das Elektromobil über den dichten Rasen, umrundete den Sattelplatz und hielt dann vor den Stallungen, in denen die Rennpferde untergebracht waren.
Es war ein prachtvolles Gebäude mit schiefergedecktem Dach und rot abgesetzten Fenstern und Türen. Die Stallgänge waren breit und sauber. Die Boxen für die Könige der Rennbahn geräumiger als die Unterkünfte der Landarbeiter auf anderen Farmen.
Proctor stieg aus, und Abigail folgte ihm. Wenn sie sich auf Downsgate aufhielt und früh genug aus dem Bett fand, begleitete sie ihn gern bei seinen morgendlichen Rundgängen über das Gestüt.
Fortune Charge wurde gerade im Stallgang angebunden. Zwei Stallburschen nahmen ihm den Sattel ab. Zwei andere begannen, ihn trockenzureiben. George Stewart, der Tierarzt, öffnete dem Hengst das Maul und entnahm eine Probe des flockigen Schaums. Stewart kam jeden Morgen von Stamping Ground herüber, um nach den wertvollen Tieren zu sehen und die tägliche Diät festzulegen. Der Veterinär hatte ein frisches rotes Gesicht und kräftige Hände. Ein kleiner Hut mit dunklen Schweißflecken bedeckte den breiten Schädel. Lächelnd sah er Proctor an, als er den Objektträger mit der Speichelprobe in einen Plastikbehälter schob.
»Er macht sich prächtig, Ron«, sagte er. »In vier Wochen haben wir ihn genau da, wo wir ihn haben wollen – in Topform. Das kalte Wetter bekommt ihm gut, solange er nicht überlastet wird.«
Abigail blieb neben ihm Vater stehen, während er mit dem Arzt und dem Trainer fachsimpelte. Ed Monaghan, der neue Oberpfleger im Rennstall, trat hinzu. Monaghan war ein guter Mann. Proctor hielt große Stücke auf ihn.
»Guten Morgen, Mister Proctor. Guten Morgen, Miss«, grüßte er.
Proctor betrachtete den Mann. Er war nur mittelgroß, wirkte aber mit seinem dunklen, strengen Gesicht und den schmalen Hüften ungemein männlich. Gail nickte ihm nur knapp zu. Proctor bemerkte den hungrigen Ausdruck in ihren blaugrünen Augen.
Monaghan war ein Fachmann, ein junger Mann mit Pferdeverstand und einem Gefühl für die empfindlichen Vollblüter, wie man ihn heutzutage nur noch selten fand.
Gail war jetzt sechsundzwanzig Jahre alt. Sie hielt nichts vom Heiraten. Oder sie hielt nichts von den Kandidaten, die für sie infrage kamen. Dabei war sie eine mehr als selbstbewusste Frau, und ihr Pferdeverstand ließ nichts zu wünschen übrig.
Doch heiraten wollte sie keinen Mann aus dem Blue Grass County.
Proctor seufzte unmerklich. Er fragte sich, wie lange dieser junge Mann dem geballten Sex seiner Tochter widerstehen könnte. Und ob er ihn wohl rausschmeißen musste, wenn Gail bei ihm abblitzte – oder wenn sie genug von ihm hatte.
Weiber, dachte Proctor, o verdammt, sie haben in einem Gestüt nichts zu suchen. Sein Vater, überlegte er, hätte Abigail glatt verboten, sich in der Nähe der Stallungen blicken zu lassen. Und wenn sie sich dem Befehl widersetzt hätte, nun, dann hätte er sie ganz von Downsgate vertrieben. Und um einen Burschen, der dann immer noch mit ihr anbandelte, hätte sich Lansky gekümmert. Ronald Proctor senior war ein harter und kompromissloser Mann gewesen.
Der Hengst schnaubte leise, und als Proctor den glänzenden Hals des Rappen berührte, rieb der das weiche Maul an seiner Schulter.
Monaghan lachte. Es war ein offenes Lachen. »Noch zwei Wochen, Mister Proctor, dann gibt es im Land kein Pferd mehr, das schneller ist. Nicht einmal Red Scout.«
Red Scout war ein bisher ungeschlagenes Pferd. Proctor sagte nichts. Monaghan mochte recht haben. Fortune Charge wandte den Kopf. Er schien Monaghan anzusehen, und Proctor spürte einen Stich in der Brust. Eifersucht, dachte er. Er ließ die Arme sinken.
Der Jockey kam aus der Sattelkammer. Proctors Vater hatte ihn als kleinen Jungen nach Downsgate geholt. Er zeigte blitzende Zähne, als er sich unter dem Hals des Pferdes herüberbeugte. Er reichte Proctor nur bis zur Brust. Mit seinen hundertzehn Pfund hatte er sein Idealgewicht. Er war einunddreißig Jahre alt. Ein zähes Bündel aus Knochen, Muskeln und reiner Energie.
»Wir schaffen es, Sir«, sagte er zuversichtlich. Er sah Monaghan an, mit dem er sich vom ersten Tag an verstanden hatte.
Proctor fiel auf, dass Monaghan ständig nach links blickte. Rechts stand Gail und schaute ihn hungrig an.
»Ihr habt bisher gute Arbeit geleistet«, sagte Proctor. »Ich bin zufrieden.«
Er verließ den Stall. Er wunderte sich beinahe, weil er Gails schnelle Schritte neben sich hörte, und als er sich in das Elektromobil setzte, schwang sie sich wieder neben ihn. Sie sah ihn mit leuchtenden Augen an. Er gab dem Fahrer ein Zeichen, und das Gefährt zockelte los.
»Es geht dir gut«, stellte er fest.
Sie lächelte. »Ich möchte ein paar Tage nach Kalifornien.«
»Mit Heisler?«
Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Mit Doug ist Schluss«, erklärte sie. »Wir haben uns heute Morgen getrennt. Jetzt will ich mich ein paar Tage erholen.«
Ronald Proctor kannte Gails Vorliebe für seltsame Persönlichkeiten, und natürlich wusste er, wer Doug Heisler war. Heisler war ein glückloser, gescheiterter Berufsboxer, den man in zu vielen Kämpfen gegen zu starke Gegner verschlissen hatte. Jetzt fristete er sein Dasein als Rausschmeißer in einer Diskothek in Georgetown. Ein hirnloser Bursche mit dem Gemüt eines Kindes.
Heisler hatte verhältnismäßig lange das Glück genossen, mit Abigail Proctor ins Bett zu gehen, und Proctor hatte schon überlegt, ob er den Kerl nicht irgendwie aus dem Staat entfernen sollte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er einen Liebhaber seiner Tochter mit mehr oder weniger unfairen Mitteln davongejagt hatte. Doch jetzt hatte sich das Problem Heisler offenbar von selbst erledigt. Aber Proctor war sich nicht sicher, ob er darüber froh und erleichtert sein sollte. Denn jetzt würde sich Gail wahrscheinlich umso hemmungsloser an Ed Monaghan heranschmeißen.
Sie fuhren langsam auf das stattliche Hauptgebäude zu, das wie ein englischer Adelssitz auf einem Hügel lag.
Ronald Proctor senior hatte es in den Zwanzigerjahren erbaut. Es genügte zwar nicht mehr den modernen Anforderungen, aber Proctor junior hatte es bisher nicht fertiggebracht, sich für einen Neubau zu entscheiden.
»Lass die Finger von Ed!«, sagte er plötzlich.
Gail lachte und berührte seinen Arm. »Dad, Dad, ich bin kein Kind mehr.«
»Eben. Ed besitzt Eigenschaften, die selten geworden sind. Er hat ein Gespür für Pferde. Ich möchte ihn nicht verlieren. Er kann es bis zum Gestütsmeister bringen.«
»Vorausgesetzt, ich lasse die Finger von ihm«, bemerkte Gail.
»Er wäre dir wehrlos ausgeliefert.«
»Ich will erst mal nach Kalifornien. Vielleicht reiße ich dort was auf.«
Proctor verzog das Gesicht. »Du bist unerträglich, wenn du so redest!«
»Du meinst, diese direkte Ausdrucksweise kommt nur einem Mann zu. Warum nicht mir? Ich hab's genauso gern wie ...«
»Abigail!«, sagte er scharf. Dann bereute er seine heftige Reaktion und streichelte Gails Hand. »Bitte, ich mag es nicht. Kannst du das nicht verstehen und respektieren?«
Der Wagen rollte vor der breiten Freitreppe aus. Gail lächelte.
»Mach dir keine Sorgen wegen Ed Monaghan. Ich habe schon einen Mann im Auge. Er will noch nicht so recht. Wahrscheinlich hat er noch zu viel Respekt vor deinem Namen.« Sie lachte. »Wenn ich aus Kalifornien zurückkomme, werde ich die Festung stürmen.«
»Gail«, sagte Proctor matt.
»Ich liebe dich, Dad.«
»Ich dich auch.«
Proctor kletterte aus dem Wagen. In der Halle nahm ihm der schwarze Diener den Mantel ab. Dennis Walsh, sein Sekretär, kam auf ihn zu.
»Ich sollte Doc Stewart rufen«, sagte Proctor. »Sie machen ein Gesicht wie ein kranker Pavian.« Er lachte.
Dennis Walsh lachte nicht. Er lachte nie.
»Mister Ewing möchte Sie sprechen. Ich habe ihn in die Bibliothek geführt.«
Earl Ewing war also da, und zwar unangemeldet. Ewing war die rechte Hand des Gouverneurs. Der einzige smarte Boy, den der Gouverneur nicht weggeekelt hatte. Ihm, dem Gouverneur, musste das Wasser bis zum Hals stehen, wenn er Earl Ewing zu ihm schickte. Proctor verzog die Lippen.
»Lassen wir ihn noch etwas warten, Dennis. Ist dieser Mann aus New York schon eingetroffen?«
»Mister Shannahan kann frühestens heute Mittag eintreffen, Sir. Sein Büro hat angerufen.«
Ronald Proctor runzelte die Stirn. Der führt sich ja schön ein, dachte er. Laut sagte er: »Wo sind Kelton und Shadler?«
»Sie warten bei Owens' Garage, Sir.«
Proctor sah seiner Tochter nach, die mit raschen Schritten nach oben ging. »Rufen Sie Shadler an. Ich will ihn hier haben.«
Der lange, geschotterte Weg führte an hölzernen Motelkabinen vorbei, deren Läden geschlossen waren. Vor dem niedrigen Empfangsgebäude, das wir gerade passiert hatten, hing ein Schild: Geschlossen bis Mitte April. Das Motel hieß Masterpiece Garden. Ich hätte jede Wette gehalten, dass Masterpiece der Name eines berühmten Pferdes gewesen war.
Die Fahrt endete vor einem Bungalow, von dessen Wänden die Farbe blätterte. Hinter der linken Ecke stand ein Sportwagen. Ich erkannte gerade noch eine flache goldfarbene Kofferraumklappe und bullige Stoßstangenhörner, bevor der Ford herumschwenkte und das Heck des fremden Wagens aus meinem Blickfeld geriet.
Robinsons speckiges Grinsen konnte ich langsam nicht mehr ertragen. Ich hatte noch einige Male versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Doch nachdem wir die Fronten geklärt hatten, sprach er kein Wort mehr. Daher hatte ich die Überlegungen darüber aufgegeben, wo diese Entführung enden mochte und was sie zu bedeuten hatte.
Es war möglich, dass die Männer, die mich in Ronald Proctors Auftrag am Flugplatz abholen sollten, bereits tot waren.
Es war aber auch möglich, dass man Proctor oder den Obermacher seiner Privattruppe geblufft hatte. Etwa mit einem Anruf, dass der erwartete Jerry Shannahan aus New York mit einer anderen Maschine käme. Vielleicht beabsichtigte man, den Leuten auf Downsgate aus irgendwelchen Gründen einen anderen Mann als Jerry Shannahan unterzujubeln.
Falls die letzte Spekulation zutraf, war möglicherweise geplant, dass es später eine andere Leiche geben sollte. Meine nämlich!
Als ich die verkommene Bretterbude und das verlassen daliegende Motelgelände betrachtete, gewann diese Möglichkeit mit einem Mal an Wahrscheinlichkeit.
Der Ford hielt butterweich neben der Tür zur Motelkabine. Die Läden vor dem einzigen nach vorn hinausgehenden Fenster waren geöffnet. Einen Moment glaubte ich, hinter der verschmutzten Scheibe ein Gesicht und eine Bewegung bemerkt zu haben.
Man wollte mich jedenfalls zuerst beschnuppern, ob mein Tod nun schon beschlossene Sache war oder nicht. Denn weshalb sonst wurde ich hier draußen von mindestens noch einem Mann erwartet?
Oder war das da drin der Henker?
Meine Handflächen wurden feucht.
Barry, der Fahrer, stieg aus. Robinson bewegte seinen dicken Hintern ein wenig auf dem Sitz. Wahrscheinlich taten ihm von der verkrümmten Haltung die Gesäßmuskeln weh. Barry riss die Tür auf meiner Seite auf. Ich rührte mich nicht.
»Steigen Sie bitte aus, Mister Shannahan«, sagte Robinson.
»Aber gern«, erwiderte ich höflich und krümmte den Rücken wie jemand, der sich rückwärts aus einem Wagen schieben wollte.
Robinson war froh, seine verkrampften Sitzmuskeln endlich entlasten zu können und ließ den Blick von mir, weil er die Tür auf seiner Seite öffnen wollte.
Etwas zu früh. Ich warf mich vor und schnappte nach seinem Handgelenk. Robinsons Reflexe waren in Ordnung. Seine Hand mit der Pistole zuckte zurück, als er meine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Ich grapschte also ins Leere. Ich grinste und ließ mich zurückfallen.