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Im Hafen von Neapel ging ein amerikanischer Stabsoffizier an Bord des US-Kreuzers Enforcer. Er durchlief die üblichen Kontrollen, niemand schöpfte den geringsten Verdacht. Und dennoch war er in Wirklichkeit ein Gangster. Ein Spitzenmann der Mafia, die es auf die Lohngelder der 6. Flotte abgesehen hatte - zehn Millionen Dollar! Nie zuvor gab es ein solch freches und raffiniertes Gaunerstück. Es wurde ein blutiger Zahltag ...
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Blutiger Zahltag
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Impressum
Blutiger Zahltag
Im Hafen von Neapel ging ein amerikanischer Stabsoffizier an Bord des US-Kreuzers Enforcer. Er durchlief die üblichen Kontrollen, niemand schöpfte den geringsten Verdacht. Und dennoch war er in Wirklichkeit ein Gangster. Ein Spitzenmann der Mafia, die es auf die Lohngelder der 6. Flotte abgesehen hatte – zehn Millionen Dollar! Nie zuvor gab es ein solch freches und raffiniertes Gaunerstück. Es wurde ein blutiger Zahltag ...
1
Michele Vassalo hockte auf der steinernen Türschwelle und spielte mit seinem dreijährigen Sohn. Er warf den Jungen hoch und fing ihn wieder auf. Giacomo quietschte vor Vergnügen.
Elena Vassalo arbeitete in der Küche der ebenerdigen Wohnung, deren Tür zur Straße hin offen stand. Sie deckte den Tisch zum Abendessen, während das Wasser für die Spaghetti langsam zu kochen begann. Alle hier aßen Nudeln. Die Gerichte unterschieden sich nur in den Zutaten. Und die richteten sich nach dem jeweils vorhandenen Geld. Die Via Eligio war erfüllt von Küchendünsten. Der ranzige Geruch von Bratfett mischte sich mit dem durchdringenden Duft von Fischen, die in Pfannen brutzelten. Teller und Bestecke klapperten.
Großmutter Vassalo lag im Bett und ließ die Perlen des Rosenkranzes durch die Finger gleiten, während sie Gebete murmelte. Sie war seit Jahren bettlägerig.
Ihr Mann, dem die Hose um den Leib schlotterte, ging schleppenden Schrittes umher und sammelte das Holz der Obstkisten, die Straßenhändler zurückgelassen hatten. Er brach es in kleine Stücke und warf sie in eine rußgeschwärzte Emailleschüssel, die längst ausgedient hatte. Als der Behälter randvoll war, stellte er ihn auf den schulterbreiten Gehweg der Gasse und zündete den Stapel an. Er setzte sich neben seinen Enkel Michele und hielt die Hände über die Glut, um sie aufzuwärmen.
Jetzt, bei Einbruch der Nacht, flammten überall in der Altstadt Neapels diese Feuer auf. Die Leute setzten sich im Kreis darum und unterhielten sich lebhaft, während sie auf das Abendessen warteten.
Selbst die sonst allgegenwärtigen Zigarettenschmuggler verschwanden von den Straßenecken, weil sich kein Tourist nach Einbruch der Dunkelheit mehr in das Gewirr malerischer Gassen verirrte, sondern die Geborgenheit seines Hotels vorzog.
Die Altstadt gehörte jetzt wieder den Einheimischen. Wäsche flatterte an Leinen, die quer über die Fahrbahn von einer bröckeligen Fassade zur anderen gespannt waren, meist an den rostigen Gittern der Balkons festgebunden. Daneben baumelten Knoblauchstränge oder große gelbe Kürbisse in Netzen.
Michele Vassalo küsste seinen Sohn und ging ins Haus, in dem zwölf Parteien hausten. Er zog sich im Schlafzimmer um. Es war der einzige Ort, der nicht von draußen einzusehen war. Zufrieden betrachtete er sich im Spiegel. Er war jung und stark. Er trug jetzt einen grauen Flanellanzug, schwarze Schuhe und ein weißes Hemd mit sorgfältig gebundener Krawatte. Zuletzt streifte er Lederhandschuhe über.
Die Großmutter, die vom Bett aus das Treiben der Familie verfolgte, betete lauter. Vassalo bürstete sein widerspenstiges Haar glatt an den Kopf. Er strich das Jackett glatt, entfernte einen Staubfussel vom Revers und stellte zufrieden fest, dass seine Schuhe glänzten.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte er.
Niemand erwiderte etwas darauf. Niemand stellte Fragen.
Nur Giacomo krabbelte auf allen vieren zu ihm und krallte sich an seinen Hosenbeinen fest, während er aufstand.
Stumm eilte seine Frau herbei, nahm das Kind auf den Arm und drückte es fest an sich.
Michele Vassalo verließ die Wohnung, in der seine Familie auf engstem Raum zusammenlebte. Seine Eltern waren bei einem Verkehrsunfall umgekommen. Die Generation zwischen den ganz Jungen und den ganz Alten fehlte. Aber die Sippe hielt zusammen.
Der alte Mann vor der Tür schaute nicht einmal hoch, als Vassalo über das Feuer trat. Seine Augen blieben stumpf. Er verzog keine Miene.
Manche Läden waren noch geöffnet. Die Dreiecke der Schinken und die gelb glänzenden Stangen des Käses baumelten in den Türen. Von einem leichten Wind getrieben, flatterte Papier am Bordstein entlang bergauf. In den Espressobars drängten sich die Gäste. Jugendliche spielten an Flipperautomaten. Irgendwo dröhnte ein Musikautomat und übertönte in einem gewissen Umkreis die zahlreichen Radios, die auf den Fensterbänken standen.
An der Porta San Gennaro stand der schwarze Fiat, vor Stunden erst gestohlen, frisiert und kurzgeschlossen. Auf dem Rücksitz lag eine schmuddelige Wolldecke. Michele Vassalo hob einen Zipfel hoch und sah den stählernen Doppellauf einer Lupara, einer abgesägten Schrotflinte. Zwei Patronen lagen lose auf dem Polster. Sie waren groß und dick, mit einem Messingboden und einer Kartusche aus gewachstem grünem Papier.
Vassalo fuhr los.
Es herrschte reger Verkehr, der nach unerfindlichen Regeln ablief. Mal siegte Schnelligkeit, mal Höflichkeit, niemals aber eine starre Norm. Lastwagen befanden sich beständig im Vorteil. Polizisten standen ratlos am Rand des Chaos. Wahrscheinlich hatten sie resigniert und griffen nur dann ein, wenn es zu spät war.
Michele Vassalo kam zügig voran. Er hatte starke Nerven, und die Tatsache, dass er den Wagen nicht zu bezahlen brauchte, tat ein Übriges. Er stieß auf den Corso Umberto I., folgte ihm vier Kilometer bis zur Piazza G. Bovio und bog zum Hafen hin auf die Via Marittima ab. Ihr folgte er bis zum Ende des stinkenden Tunnel della Vittoria, der so schlecht belüftet war, dass ein längerer Stopp zu Erstickungsanfällen führte und die sonst sorglosen Busfahrer zwang, sämtliche Fenster zu schließen. Es drangen auch dann noch genügend Abgase herein.
Michele Vassalo war froh, als er ins Freie gelangte und die Via Caracciola erreichte, die, gesäumt von teuren Restaurants und Hotels, am Meer verläuft.
Das Miramar mit seinen bunten Blumenkästen, in denen ausgezehrte Geranien ein bescheidenes Dasein fristeten, lag mit Blick auf den Park und das Seewasseraquarium. Wer höhere Stockwerke besetzte, konnte über Palmwedel hinweg die Bucht mit den einlaufenden Schiffen, den schnellen Fähren nach Ischia und die großen grauen Pötte der amerikanischen Mittelmeerflotte sehen. Oder auf der anderen Seite den malerischen Fischerhafen Mergellina, wo die Jachten der Globetrotter neben schmalen Kähnen dümpelten, die nachts mühelos an Land gezogen werden konnten. Umgekippt gaben sie noch ein brauchbares Schutzdach für Fischer ab, die ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten.
Michele Vassalo betrat das Foyer, Prunkstück der Touristenherberge, und steuerte die Rezeption an.
Ein fantasievoll uniformierter Portier, dickbäuchig und mit schweren Tränensäcken, langte schweigend unter den Tisch, als er sagte: »Mich schickt Don Gaetano.«
Er trug jetzt die Decke über dem Arm.
»Erledigt es draußen, wenn es irgend geht«, bat der Angestellte. »Ich bekomme keine neue Stelle.«
Michele Vassalo reagierte nicht. Nur einer durfte ihm Vorschriften machen. Die ängstlichen Sorgen anderer zählten für ihn nicht.
Vassalo verzichtete auf den Fahrstuhl, lief leichtfüßig die Treppe hinauf, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm.
Er benutzte den Generalschlüssel, den ihm der Portier ausgehändigt hatte. So verschaffte er sich Einlass in das Zimmer.
Die Jalousien waren heruntergelassen. Im Halbdunkel des Raums sah Michele Vassalo einen Mann, der ihm ahnungslos schlafend den Rücken zudrehte.
Auf einem Stuhl lagen unordentlich eine blaue Hose und das albernste karierte Jackett, das er jemals gesehen hatte. Er wusste, er würde sich nie an den Geschmack der Amerikaner gewöhnen.
Michele Vassalo zog einen Sessel heran.
Dann schaltete er die Nachttischlampe ein und stieß den Schlafenden mit der Fußspitze an.
Freddy Scarlatti schreckte hoch.
Der Mann brauchte eine Weile, bis er einen klaren Gedanken fassen konnte. Er hatte offenbar zu viel getrunken.
»Was ...?«, stammelte er.
Die Haare auf seiner Brust waren längst grau geworden. Die erschlafften Muskeln verrieten, dass Scarlatti seit Jahren körperlichen Anstrengungen aus dem Wege ging.
Scarlatti strich sich die schütteren Strähnen seines gefärbten Haars aus der Stirn.
»Wie sind Sie hereingekommen?«, fragte er vorsichtig.
»Durch die Tür«, erwiderte Vassalo ohne Spott. »Ich komme wegen der Fotos, die Sie gemacht haben.«
»Ich verstehe kein Wort.« Der Amerikaner entspannte sich. Er wollte aufstehen.
Da lüftete Michele Vassalo ein wenig die Decke und ließ einen Zentimeter Lauf herausragen. Die Mündung wies genau auf den Mann im Bett.
Fred Scarlatti erstarrte.
»Sie sind durch Neapel gelaufen und haben eifrig geknipst«, erklärte Michele Vassalo. »Am zweiten Tag waren sie am Jachthafen. Erinnern Sie sich?«
»An jeden Schritt. Ich bin zwar in Amerika geboren, aber mein Vater, der aus Neapel stammte, hat mir so viel von dieser Stadt erzählt, dass sie mir vertraut geworden ist. Nur deshalb habe ich die Reise gebucht. Ich musste meine Frau in New York lassen. Für zwei hätte es nie gelangt. Bei mir ist nichts zu holen.«
»Sie benutzen eine Polaroidkamera, nicht wahr?«
»Ganz richtig.« Scarlatti nickte heftig. »Wollen Sie die Fotos sehen? Hier sind sie. Ich habe nichts zu verbergen.«
Er richtete sich auf, kniete auf dem Bett und wollte nach seiner Brieftasche langen, die auf dem Tisch lag.
Michele Vassalo stieß den Amerikaner zurück. »Ehe Sie sich bewegen, fragen Sie mich um Erlaubnis! Sonst schieße ich. Begreifen Sie das endlich!«
Scarlatti stieß einen tiefen Seufzer aus und kauerte verstört am Kopfende des Betts, die Arme um die Knie geschlungen.
Michele Vassalo behielt ihn im Auge, während er sich die Brieftasche schnappte, sie aufklappte und den Packen Fotos herausholte.
»Es wäre mir lieber, wenn Sie die Hände hinter dem Genick falteten und sich so lange dort in die Ecke stellten«, meinte er. Dabei winkte er mit der Lupara. Die Decke war hinuntergefallen.
Vorsichtig befolgte Scarlatti den Befehl. Er schwitzte vor Angst und begriff augenscheinlich die Klemme nicht, in der er steckte.
»Wir haben lange gebraucht, bis wir Sie gefunden haben«, sagte Michele Vassalo. »Sie sind sehr geschickt.«
»Ich bin nicht besonders bei Kasse. Das ist alles. Sonst hätte ich mich nicht in dieser lausigen Herberge verkrochen.«
»Das gehört zu Ihrer Taktik. Genau wie das ständige Wechseln der Verkehrsmittel. Sie haben unsere Leute sofort abgehängt.«
»So ein Quatsch! Ich wusste nicht einmal, dass mir jemand folgte. Wann soll das denn gewesen sein?«
»Vorgestern, als Sie am Jachthafen geknipst haben.«
»Ist das etwa verboten?«
Michele Vassalo antwortete nicht. Er warf die Brieftasche mit den Fotos aufs Bett. »Das Bild, das ich suche, ist nicht dabei.«
»Was suchen Sie denn?«
»Sie haben die Azul fotografiert, oder nicht?«
»Allerdings. Es war die schönste Jacht im ganzen Hafen, und ich musste lange herumlaufen, bis ich dicht genug herankam. Ich mag Jachten. Wenn ich Geld hätte ...«
»Warum spielen Sie dauernd den Dummkopf?« Michele Vassalo erhob sich. »Wo ist das Foto?«
»Mensch, ich weiß nicht ... ach so ... ja, jetzt erinnere ich mich, ich habe meiner Frau geschrieben. Das Foto von der Jacht habe ich beigelegt. Es war besonders gelungen. Meine Frau wird es herumzeigen und sagen, dass das die Leute sind, mit denen ich in Neapel verkehre. Alle werden uns beneiden in der hundertelften Straße Ost, Manhattan.«
»Sie tragen zu dick auf. Kommen Sie, wir unterhalten uns in Ruhe darüber.«
»Mann, was war denn an der Jacht? Warten Sie mal. Ja, da lagen zwei Großkotze an Deck. Richtig elegant und verwöhnt. Und nach einer Weile gesellten sich ein paar Frauen dazu. Das ist alles.«
»Sie kennen die beiden Signori natürlich nicht?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wo bin ich hingeraten? Glauben Sie mir, ich habe keine Ahnung.«
»Wenn Sie das Foto hiergehabt und mir gegeben hätten – vielleicht wäre ich darauf hereingefallen, wenn ich sicher sein dürfte, dass kein zweites Bild existiert. Aber diese verdächtige Eile – nein, darüber müssen wir uns wirklich unterhalten. Gehen Sie da in den Schrank. Ich muss das Zimmer durchsuchen.«
Scarlatti gehorchte verstört.
Nach zwanzig Minuten wurde er aus seinem Gefängnis erlöst. Sein Zimmer sah aus, als wäre ein Taifun hindurchgegangen. Der Inhalt aller Schubladen lag verstreut auf dem Boden. Das Futter seines einzigen Koffers war aufgeschlitzt.
»Gehen wir!«
»Wohin?«
»Ziehen Sie sich etwas an.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Das werden Sie nicht tun.«
»Wohin bringen Sie mich?«
»Wir gehen ans Meer. Keine Angst, die Promenade ist sehr belebt. Hier können wir nicht sprechen.«
»Sind Sie etwa vom italienischen Geheimdienst?«
»So ähnlich.«
»Dann zeigen Sie mir Ihren Ausweis.«
»Ich brauche keinen. Ich habe ein Gewehr.«
Obwohl Michele Vassalo nicht lauter sprach als vorher, bekam seine Stimme einen Klang, der Freddy Scarlatti zusammenzucken ließ.
»Ich steige in keinen Wagen oder so etwas! Da bekommen Sie mich nicht hinein«, sagte der Amerikaner.
»Das will ich auch nicht. Wir gehen spazieren, machen Sie sich keine Sorgen. Ich rufe von unterwegs den Boss an.
»Meinetwegen?«
»Nein, ich will ihm nur erklären, dass Sie das Foto nicht mehr haben. Ich durfte mich davon überzeugen und glaube Ihnen.«
Scarlatti protestierte nicht mehr, sondern ließ sich aus dem Hotel lotsen. Dabei hätte das Verhalten des Portiers ihn warnen sollen. Der ältere Mann schaute wie hypnotisiert in die andere Richtung, als Vassalo mit seinem Opfer wegging, auch als er den Generalschlüssel klirrend auf den Tresen warf.
Sie gingen nebeneinanderher wie zwei alte Bekannte.
»Wo wollen Sie telefonieren?«, fragte Scarlatti.
»Das hat Zeit«, antwortete Vassalo.
Sie marschierten ans Meer und gingen bis zur Rotonda. Dort setzten sie sich auf die Ufermauer. Zwischen den Steinen der Böschung huschten Ratten umher, große braune Viecher.
»Wer hat Sie nach Neapel geschickt?«, erkundigte sich Vassalo geduldig.
»Niemand«, sagte Scarlatti. »Sie können mich totschlagen, aber etwas anderes kriegen Sie nicht zu hören.«
»Sie halten sich für mutig, wie?«
»Keineswegs.«
»Sie hassen Verräter?«
»Ich glaube, dass es Situationen gibt, in denen es besser ist, zum Verräter zu werden, als beharrlich zu schweigen. Kein Geheimnis ist es wert, dafür zu sterben.«
»Das klingt sehr vernünftig. Warum reden Sie dann nicht?«
»Weil es nichts zu erzählen gibt.«
»Schade. Doch Sie lassen mir keine Wahl.« Unvermittelt drückte Vassalo ab.
Die Shotgun unter der Wolldecke entlud sich mit einem höllischen dumpfen Wummern, der fast den Verkehrslärm übertönt hätte. Denn Vassalo, der Erfahrungen mit solchen Jobs hatte, drückte gerade in dem Augenblick ab, als ein paar Jugendliche auf überschweren Motorrädern die Via Caracciola herunterdonnerten und genau auf gleicher Höhe waren. Diese Geräuschkulisse reichte aus.
Die Wolldecke flatterte ein wenig. Es roch nach versengtem Stoff. Scarlatti kassierte die volle Ladung. Er kippte lautlos hintenüber und fiel zwei Meter tief, ehe er auf die Steinböschung knallte. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits tot.
Vassalo schaute sich sorgfältig um. Dann machte er einem Mann in einem Ruderboot ein Zeichen. Der kam heran, verlud die Leiche und versteckte sie unter einer Segelplane.
Schnell verschwand er wieder.
Wahrscheinlich hatte er den Auftrag, die Leiche beiseite zu schaffen, damit die Polizei die Ermittlungen nicht aufnehmen konnte.
Man nannte das weiße Lupara. Wenn mit der roten Lupara gearbeitet wurde, bedeutete das, dass ein Opfer sein Blut öffentlich zur Warnung aller vergießen musste. Verschwand die Leiche spurlos nach der Hinrichtung, redeten die Eingeweihten von der weißen Lupara. Auf jeden Fall war immer die klassische Waffe, die abgesägte Schrotflinte im Spiel. Es war die Waffe der Camorra. Jeder wusste dann gleich, wer hinter dem Mord stand, und verhielt sich entsprechend.
Michele Vassalo verließ den Tatort, rief von einer Bar aus seinen Auftraggeber an und teilte ihm mit, dass die weiße Lupara »gesprochen« hatte. Er erhielt weder eine Antwort noch ein Lob oder sonst eine Anweisung. Vassalo wusste auch so, was er zu tun hatte. Er kehrte nach Hause zurück, als wäre nichts geschehen, und legte sich neben seine Frau.
2
Sandra Scarlatti trat aus der Kirche und ging schnell die Straße hinunter. Sie hielt sich weit von dunklen Hauseingängen entfernt und horchte ständig auf das Echo der eigenen Schritte. Denn es war dunkel geworden, und die 111st Street East in Manhattan galt nicht gerade als sicher.
Manche Frauen trugen Trillerpfeifen um den Hals, um bei Gefahr Alarm geben zu können. Das setzte voraus, dass die Nachbarn reagierten und sich gegenseitig schützten.
Die 111st Street hatte diesen Grad an Solidarität noch nicht erreicht. Wie es aussah, würde sie es auch nie schaffen. Wer es sich leisten konnte, zog weg. Der Rest musste sehen, wie er zurechtkam. Und es waren nicht die Besten, die blieben.
Der Mann, der Sandra Scarlatti auflauerte, machte allerdings nicht den Eindruck, als hätte er es nötig, einsame Frauen zu belästigen. Er sah blendend aus, war im besten Alter und offenbar nicht so arm wie eine Kirchenmaus.
»Wir müssen uns mal über Ihren Mann unterhalten, Ma'am«, meinte er höflich.
Sandra Scarlatti hätte sich sicher gefragt, ob das nicht die besonders raffinierte Tour eines Vertreters war, wenn der Mann in dem dunkelblauen Mantel sie nicht gleichzeitig am Arm gepackt hätte. Er hatte einen festen Griff, aus dem es kein Entrinnen gab. Doch er beruhigte sie sogleich mit dem Hinweis, dass er nichts Böses im Schilde führe.
»Ich habe Sie erwartet und werde mit Ihnen hinaufkommen«, entschied er. »Wir können das kaum auf der Straße ausmachen – um diese Zeit. Gehen wir!«
»Was ist mit meinem Mann?«
»Für wen arbeitet er?«
»Er ist kaufmännischer Angestellter, nichts Besonderes. Er gehört seit fünfundzwanzig Jahren zur Bellster Garments Inc.«
»Das weiß ich. Ich meine, in wessen Auftrag ist er nach Neapel gefahren, um zu spionieren?«
Sandra Scarlatti wollte überrascht stehen bleiben, aber ihr ungebetener Begleiter schob sie weiter. »Er ist nach Italien gereist, weil sein Vater dort herstammte. Er hat lange gespart, bis er sich das leisten konnte. Es war sein Wunsch, dass ich ihn begleite. Dann hätte er es jedoch nie geschafft.«
»Sie hätten Schauspielerin werden sollen, Ma'am. Tatsächlich nämlich hat Ihr Mann sehr zielstrebig einige Fotos am Jachthafen von Neapel geschossen, die wir gerne haben möchten.«
»Warum suchen Sie die bei mir?«
Sie stiegen die ausgetretenen Stufen hinauf. Sonst legte Sandra diese Strecke mit zwei, drei Verschnaufpausen zurück. Ihr Besucher ließ ihr keine Zeit. Es war offensichtlich, dass er hinter der Wohnungstür verschwunden sein wollte, ehe ihnen ein anderer Hausbewohner begegnete. Das besorgte Sandra Scarlatti.
»Ihr Mann hat die Fotos mit verdächtiger Eile nach New York geschickt. Ausgerechnet die vom Jachthafen und der Azul.«
»Ich habe bis jetzt von ihm eine einzige Karte bekommen, und zwar aus Rom. Sie können den Text lesen.«
»Wir haben Nachricht, dass er die Aufnahmen geschickt hat. Natürlich haben wir versucht, den Brief abzufangen. Es war zu spät. Er befand sich schon auf dem Weg nach Amerika. Sie müssen ihn haben.«
»Es gibt manchmal Verzögerungen.«
»Das würde mir sehr leidtun. Dann müsste ich bei Ihnen bleiben. Das wollen Sie doch nicht, oder?«
»Nicht unbedingt. Zumal ich Ihr Interesse an den verdammten Bildern nicht begreife. Mein Mann ist ein schlechter Fotograf.« Sandra Scarlatti schob den Schlüssel ins Schloss.
Der Mann stand dicht hinter ihr.
Sie wusste, dass sie ihn nicht in die Wohnung lassen durfte. Vielleicht war er schlicht wahnsinnig. Nur woher wusste er dann, dass Freddy in Neapel Urlaub machte? Für einen Verrückten hatte er ausgezeichnete Informationen.
Sandra tat, als klemmte das Schloss. Dann keilte sie plötzlich mit aller Wucht aus. Sie hatte den Trick von einer Nachbarin gelernt, die einmal einen Selbstverteidigungskurs besucht hatte. Es gehörte kein Training dazu, um erfolgreich zu sein, nur ein bisschen Mut und viel Zielsicherheit. Es kam darauf an, dass der hochhackige Schuh mit der nötigen Wucht traf und dann unter sehr viel Reibung das ganze empfindliche Schienbein hinunterschabte. Sie erwischte ihn gut.
Der Gangster heulte auf.
Sandra Scarlatti huschte in die Wohnung, schmetterte die Tür ins Schloss und legte erst den Sicherheitsriegel vor, dann die Kette, anschließend drehte sie den Schlüssel im Schloss.
Sie wusste sehr wohl, dass sie nur eine Verschnaufpause erreicht hatte. Keine Tür war einem geschickten Gangster gewachsen. Sie war unbewaffnet und gegen einen Mann mit dieser Kraft völlig wehrlos. Auf einen Zweikampf durfte sie es nicht ankommen lassen.
Sie rannte zum Telefon im Wohnzimmer.
Zwischendurch fiel ihr das offene Schlafzimmerfenster ein. Sie bog ab, schloss es und riegelte auch diese Tür ab, denn die Feuerleiter reichte zu dicht an das Fenster heran.
Trotz ihrer Angst handelte Sandra umsichtig.
Sie schloss sich im Wohnzimmer ein und stellte zu ihrer Enttäuschung fest, dass der Zettel mit den wichtigsten Telefonnummern, darunter dem Polizeinotruf, wieder einmal verschwunden war.
Es war wohl mehr ein Zufall, dass sie im Telefonbuch zuerst die Nummer des FBI entdeckte und sich verbinden ließ.
Joe Brandenburg, der Beamter vom Dienst war, verwies sie an das zuständige Polizeirevier. Er versprach, zur Vorsicht auch selbst einen Alarmruf dorthin zu schicken.
Das war sehr nützlich, denn bevor Sandra Scarlatti ein zweites Mal die Wählerscheibe kreisen ließ, war die Verbindung unterbrochen.
Der Kerl vor der Tür handelte wie ein Profi. Oder er hatte Helfershelfer.
Noch immer im Trenchcoat eilte Sandra ans Fenster, um auf die Straße zu schauen.
Tatsächlich entdeckte sie einen Buick, der keinem der Nachbarn gehörte. Ein Mann saß am Lenkrad und rauchte eine Zigarette. Manchmal glühte der rote Punkt im Dunkel des Wageninneren auf. Das verriet ihn.
Ihre Angst nahm durch diese Beobachtung nicht ab.
Plötzlich erschien ihr die dünne Tür nicht ausreichend. Zu oft hatte sie im Fernsehen gesehen, wie Gangster und Polizisten durch solche Hindernisse walzten, als wären sie aus Krepppapier.
Sandra Scarlatti hatte nicht die Kraft, den Wohnzimmerschrank zu verschieben. Deswegen wagte sie es, die Küche aufzusuchen. Sie besorgte sich eine Ladung Speckscheiben, die eigentlich fürs Frühstück bestimmt waren.
Als sie ins Wohnzimmer zurückgekehrt war und ihr Asyl wieder abgeschlossen hatte, hörte sie am Schlafzimmerfenster ein Geräusch, das sie zur Eile mahnte.
Mit äußerster Kraftanstrengung praktizierte sie einen Stapel Speckscheiben unter den Schrank, und er glitt sanft wie auf Rollen.
Sie versperrte die Tür.
Dann gab sie Klopfzeichen nach unten, indem sie den Schuh auszog und mit dem Absatz auf den Fußboden hämmerte.
Die Nachbarn, entweder vom Lärm des Fernsehers betäubt oder zu vorsichtig, rührten sich nicht. Da begriff Sandra, dass sie auf sich allein gestellt war.
Die Barrikade erzitterte unter dem Ansturm des Gangsters. Er warf sich mit dem ganzen Gewicht gegen die Türfüllung. Und dann splitterte Holz. Er hatte das Schloss mit einem brutalen Tritt aufgebrochen. Der erste schmale Spalt klaffte in der Verteidigungslinie, die sich Sandra Scarlatti ebenso hastig wie laienhaft aufgebaut hatte. Jetzt musste sie sich selbst ins Zeug legen. Sie warf sich gegen den Schrank und versuchte, ihn in seiner Position zu halten.
Der Eindringling sagte kein Wort, er war jedoch so nah, dass sie sein schnaufendes Atmen hören konnte. Der stumme Zweikampf ging nicht zu ihren Gunsten aus. Ihre Kräfte reichten nicht. Langsam, aber sicher wurde sie zurückgedrängt.
Da schrie Sandra Scarlatti.
Dabei hoffte sie, dass sich alles als wüster Traum entpuppen würde. Von solchen Dingen las man in der Morgenzeitung, als wären sie auf einem anderen Stern passiert. Man machte das doch nicht selbst durch! Seit ihrer Heirat vor mehr als zwanzig Jahren lebte Sandra Scarlatti in dieser Gegend. Seitdem war das Viertel immer mehr heruntergekommen. Meist bestahlen die Jugendlichen Alte und Wehrlose. Große Verbrechen geschahen woanders.
Einmal gelang es ihr unter Aufbietung aller Kräfte, die Tür wieder zu schließen. Dann war es vorbei. Dem nächsten Ansturm war sie nicht mehr gewachsen. Ein kurzer, unerhört harter Stoß schleuderte sie zurück. Sie bewegte die Füße nicht. Sie glitt einfach zurück. Der Weg war frei.
»Warum machen Sie mir's so schwer?«, fragte er.
Sandra starrte ihn wortlos an.
Er streckte die Hand aus.
»Geben Sie schon her«, sagte er beinahe sanft.
»Was wollen Sie denn?«
Der Eindringling seufzte. »Sie wissen genau, welches Foto ich meine.«
»Aber ich habe es nicht. Glauben Sie mir endlich!«
»Dann haben Sie es weitergegeben, wie?« Die Stimme wurde eine Spur schärfer.
Der Mann setzte sich auf die Ecke des Couchtischs, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete Sandra Scarlatti schweigend.
»Was gibt es an dem Bild schon zu sehen, wie? Woher wissen Sie, dass es existiert? Warum glauben Sie mir nicht?«
»Ihren Mann haben unsere Leute in Neapel schon umgelegt. Warum wollen Sie unbedingt sterben?« Er sagte es beiläufig, ohne jede Spur von Dramatik.
»Freddy ist tot? Warum ...?« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Ihr Gehirn sträubte sich, die Mitteilung aufzunehmen. Dann beschloss sie, alles für einen Bluff zu halten. »Sie wollen mich nur einschüchtern. Wenn ich das verdammte Foto hätte, würde ich es Ihnen geben. Und alle anderen, die Sie wollen, dazu. Warum müssen Sie mich so erschrecken?«
»Es ist die Wahrheit. Die italienischen Behörden arbeiten langsam. Unsere Verbindungen über den großen Teich sind wirkungsvoller.«
»Wegen eines Fotos, sagen Sie?«