Jerry Cotton Sonder-Edition 185 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sonder-Edition 185 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Cora Dixon war eine verführerische Frau. Sie hatte mehr Verehrer als Finger an der Hand. Aber die meisten führte sie nur an der Nase herum. Vielleicht wäre auch ich ihr verfallen. Doch als ich sie kennenlernte, war sie schon tot. Einer ihrer Verehrer hatte sich an ihr gerächt. Zu meinem Entsetzen deuteten alle Spuren auf einen Kollegen, den Detective Michael Kellin. Denn Cora war seine letzte Affäre ...


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Inhalt

Cover

Seine letzte Affäre

Vorschau

Impressum

Seine letzte Affäre

Cora Dixon war eine verführerische Frau. Sie hatte mehr Verehrer als Finger an der Hand. Aber die meisten führte sie nur an der Nase herum. Vielleicht wäre auch ich ihr verfallen. Doch als ich sie kennenlernte, war sie schon tot. Einer ihrer Verehrer hatte sich an ihr gerächt. Zu meinem Entsetzen deuteten alle Spuren auf einen Kollegen, den Detective Michael Kellin. Denn Cora war seine letzte Affäre ...

1

Michael Kellin kam aus dem Bad. Während er sein Hemd zuknöpfte und das Etui mit dem 38er vom Nachttisch nahm, sah er, wie Coras schöne Augen nachdenklich und fragend jede seiner Bewegungen verfolgten. Sie lag noch auf dem Bett. Unter der dünnen Decke zeichneten sich die Formen ihres hinreißenden Körpers ab.

»Du warst gut«, sagte sie schließlich. Es klang irgendwie erstaunt, als hätte sie das nicht erwartet.

Er drehte sich um und blickte auf sie herab. Durch die Spalten der Jalousie fiel ein Streifen Sonnenlicht über Coras nackte Schulter. Mein Gott, welch eine Frau, dachte er. Er kannte sie seit drei Wochen. Jetzt lag die erste gemeinsame Nacht hinter ihnen.

Er hätte nicht geglaubt, dass er sich noch einmal so verlieben könnte. Schließlich war er vor einem Monat einundvierzig geworden. Zwei gescheiterte Ehen, ungezählte Verhältnisse, Abenteuer und Affären lagen hinter ihm.

»Wenn ich dich betrachte, kommen mir unwillkürlich dumme Gedanken«, sagte er.

»Schon wieder?« Cora räkelte sich und lächelte sinnlich.

»Nicht, was du jetzt denkst«, sagte er schnell.

»Was verstehst du denn sonst unter dummen Gedanken?«, erkundigte sie sich.

»Ich denke an ein trautes Heim, in dem das Kaminfeuer knistert und wo du deinen Mann mit einem Kuss und einem Drink empfängst.«

»Und an viele glückliche Jahre mit Trauschein und Ehering«, ergänzte sie spöttisch. Ihre grünen Augen funkelten.

Er grinste vage und schnallte das Etui an seinem Gürtel fest. Er schob es etwas nach hinten, damit sich der Umriss des Revolvers nicht unter dem Jackett abzeichnete.

Cora deutete auf die Waffe. »Hast du das Ding schon mal benutzt? Ich meine – hast du damit schon mal auf einen Menschen geschossen?«

»Du lenkst ab«, stellte er fest.

»Ich meine die Frage ernst. Es interessiert mich.«

»Nein, ich habe noch nie auf einen Menschen geschossen. Und ich hoffe, ich werde nie dazu gezwungen werden.«

Heute Abend würde es vielleicht so weit sein. Ganz plötzlich stellte sich das Gefühl der Furcht wieder ein. Es zog ihm das Herz zusammen. In der Nacht hatte er seine Angst vergessen. Jetzt war sie wieder da.

Er schüttelte die düsteren, bedrängenden Gedanken ab, als er das Jackett überzog und sich zu Cora hinabbeugte.

»Ich kann nämlich kein Blut sehen«, sagte er leichthin. »Bis bald, Kleines! Ich freu mich aufs Wiederkommen.«

Sie streckte die Arme nach ihm aus und schlang sie um seinen Hals. Er küsste sie auf die Stirn und auf den Mund. Dann streifte er die Decke von ihrem Körper und strich mit beiden Händen über ihre heiße Haut, ehe er sich mit einem Ruck befreite und einfach ging, ohne ihr einen letzten Blick zuzuwerfen, der ihn vielleicht hätte schwach werden lassen. Er brauchte einen klaren Kopf, und er konnte nicht kneifen, wenn er nicht die Arbeit vieler Monate aufs Spiel setzen wollte.

In der Tür zu unserem Office prallte ich mit Phil zusammen. Ich kam, und er wollte schon wieder gehen. Mein Freund und Partner trug seinen Mantel, den er erst vor ein paar Tagen gekauft hatte. Dunkelblau und leicht tailliert, ein wirklich elegantes Stück, dem man nicht ansah, dass es nur 38 Dollar gekostet hatte. Eine Gelegenheit, wie man sie angeblich nur an der Orchard Street bekommt, wo jüdische Händler alle möglichen Sonderposten verkaufen, die woanders nicht mehr laufen.

»Guten Morgen«, sagte ich. »Du siehst aus, als hättest du es eilig.« Wir hatten in den vergangenen Tagen an verschiedenen Fällen gearbeitet, und mir fiel ein, dass wir uns zwei Tage nicht gesehen hatten.

»Ich muss zur Park Row rüber«, sagte Phil.

In der Park Row liegt das Bundesuntersuchungsgefängnis.

»Es hat also geklappt?«, fragte ich. »Du hast Larry Walsh erwischt?«

»Hab ich«, bestätigte Phil. »Wenn sein Anwalt jetzt nicht mit üblen Tricks aufwartet, bleibt er bis zu seinem Prozess in Haft.«

»Gratuliere«, sagte ich. Larry Walsh war ein in mehreren Bundesstaaten gesuchter Heiratsschwindler, der außer gebrochenen Herzen auch beträchtlichen materiellen Schaden angerichtet hatte. »Dann lass dich nicht austricksen.«

»Du, ich muss mich beeilen. Ach so, da hat jemand für dich angerufen. Ein Detective Kelly oder Keller. Oder Kellin. So long.«

»Hast du die Nummer aufgeschrieben?«

»Er ruft noch mal an.« Phil eilte davon.

Kelly, Keller, Kellin, Detective. Undeutlich erinnerte ich mich an einen arroganten Burschen, mit dem ich vor Jahren einmal in einem Fall von groß angelegter Scheckbetrügerei zusammengearbeitet hatte. Michael Kellin von den Headquarters, richtig. Das musste er sein. Er gehörte dem Dezernat für Wirtschaftskriminalität an.

Ich sah auf die Uhr. Es war Viertel vor elf. Um halb zwölf hatte ich eine Verabredung mit dem US Attorney im US Court House. Ich konnte die Besprechung nicht einfach platzen lassen. In meinem Telefonverzeichnis fand ich tatsächlich noch Michael Kellins Durchwahlnummer. Ich griff zum Telefon und wählte. Drüben, an der Police Plaza 1, meldete sich eine männliche Stimme.

»Bureau of Detectives, Sergeant Leonard.«

»Hier ist Cotton, FBI. Kann ich Mike Kellin sprechen?«

»Detective Kellin ist nicht mehr bei uns, Sir. Er arbeitet jetzt für das Office des District Attorney. Warten Sie, ich kann Ihnen die Nummer geben.«

Mike Kellin war also aufgestiegen. Detective im Büro des Bezirksstaatsanwalts. Der Job passte zu ihm. Ich schrieb die Telefonnummer auf, bedankte mich, trennte das Gespräch und wählte gleich neu.

Diesmal meldete sich eine weibliche Stimme. Sie klang spröde, als sie ihren Namen nannte. »Oliphant, Vorzimmer des Staatsanwalts. Sie wünschen bitte?«

»Hier ist Cotton, FBI. Ich möchte Detective Kellin sprechen.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Das weiß ich nicht. Er hat mich angerufen, und ich rufe zurück. Er will etwas von mir.«

»Detective Kellin befindet sich im Außendienst. Kann ich Ihre Nummer notieren?«

»Die kennt er, Lady.«

»Ich bin Mrs. Oliphant, Agent Cotton.«

»Ja, Mrs. Oliphant. Vielen Dank für das Gespräch.«

Kopfschüttelnd legte ich auf. Zuletzt hatte die Stimme der Lady ganz schön kratzbürstig geklungen. Ich wollte gerade in der Zentrale Bescheid sagen, dass ich zum Lunch gehe, als das Telefon klingelte.

»Detective Kellin«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Erinnern Sie sich an mich, Agent Cotton?«

»Ich erinnere mich«, sagte ich zurückhaltend. Einen greifbaren Grund für meine damalige Abneigung hätte ich nicht zu nennen gewusst. »Es ist einige Zeit her, Detective Kellin«, fügte ich dann etwas verbindlicher hinzu.

»Drei Jahre, glaube ich. Damals haben Sie Mike zu mir gesagt.«

»Natürlich – Mike.«

Er zögerte und sagte dann: »Ich arbeite jetzt im Büro des Staatsanwalts. Greenfield hat mich rübergezogen.«

»Ich weiß«, sagte ich.

»Jerry, ich habe ein Problem ... Aber dieses Gespräch sollte ... nun, es sollte inoffiziell sein. Ich hoffe irgendwie, dass Sie mir helfen können. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll.«

»Am besten von vorn«, meinte ich. »Wenn es nicht zu lange dauert.«

»Wenn es Ihnen besser passt, treffen wir uns doch beim Lunch.«

»Können Sie in die Downtown kommen? Gegen ein Uhr bei Bernie's in der Warren Street? Kennen Sie Bernie's?«

»Ich habe sechzehn Jahre da unten gearbeitet, vergessen Sie das nicht. Also, um eins. Und vielen Dank, Jerry.«

Mike Kellin schob das Wasserglas hin und her. »Ich arbeite jetzt seit zwei Jahren für Hubert Greenfield. Die ganze Zeit sitze ich praktisch an ein und derselben Sache. Bei Greenfield laufen alle Wirtschaftsstrafsachen zusammen, die entfernt mit der Vergabe von Bauaufträgen durch die Stadt New York zu tun haben. Unsere Abteilung ist viel zu klein, Jerry. Es gibt da Kreise in der Stadt, die sahnen seit vielen Jahren unbehelligt ab. Millionen, Jerry, und vollkommen risikolos. Ob es sich um die Apartmenthäuser auf der Lower East Side handelt, die für einkommensschwache Familien gedacht sind, um Schulen oder Neubauten in Harlem oder in der Bronx, oder um den Ausbau der U-Bahn oder den Neubau des Highwaykreuzes am Major Deegan Boulevard, ein Vierzig-Millionen-Dollar-Projekt.«

»Hat es am Major-Deegan-Kreuz nicht den Unfall gegeben? Wann war das? Vor zwei Wochen?«

»Es ist schon vier Wochen her. Die Auffahrt von der George Washington Bridge auf den Highway ist zusammengebrochen. Es hat vier Tote gegeben. Der Sachschaden beträgt mindestens fünfzehn Millionen, soweit sich ein solcher Schaden überhaupt in Dollars beziffern lässt. Es wurde minderwertiges Material verbaut. Die Betonteile, die stehen geblieben sind, und die Teilstücke, die bereits fertiggestellt wurden, müssen abgerissen werden. Es gibt keine anderen Möglichkeiten.« Er sah mir in die Augen. »Vor einem Jahr hat es einen ähnlichen Unfall gegeben. Ein Hochbahnprojekt in Queens. Das Teilstück einer Spannbetonbrücke ist eingebrochen.«

»Kamen Menschen zu Schaden?«

»Glücklicherweise nicht, obwohl die Strecke bereits in Betrieb genommen worden war. Auch hier wurde nachweislich minderwertiges, nicht zugelassenes oder abgenommenes Material verwendet.« Er schluckte. »Das System ist immer dasselbe. Zuerst unterbietet eine in jedem Fall renommierte Firma die Angebote der Mitwettbewerber. Sie bekommt deshalb den Auftrag. Was die Stadt nicht weiß, ist Folgendes: Kurz zuvor haben finanzstarke Gruppen, die sich hinter Scheinfirmen verstecken, die Aktienmehrheit der Firma erworben. Dann werden Bauleiter, Materialprüfer und Abnahmeinspektoren bestochen oder mittels Erpressung gefügig gemacht. Die meisten haben irgendwann schon mal in die eigene Tasche gewirtschaftet und sind deshalb leicht erpressbar.«

Mike Kellin sah mich an, und weil ich abwartend schwieg, trank er schnell einen Schluck Wasser, ehe er seinen Bericht fortsetzte.

»Früher ist man die Sache ganz direkt angegangen. Da wurden falsche Liefermengen abgerechnet. Es wurden einfach geringere Mengen Kies, Beton, Baustahl oder Bauholz angeliefert, als bestellt und auf den Lieferscheinen angegeben war. Korrupte Inspektoren haben die Menge abgezeichnet, und die Stadt hat bezahlt. So wurden an einem Großprojekt leicht einige Millionen Dollar verdient. Unsere Arbeit hat immerhin dazu geführt, dass diese Art von Betrug weitgehend zurückgegangen ist. Als ich noch für die Headquarters gearbeitet habe, hatte ich schon ein neues, betrugssicheres Abnahmesystem eingeführt. Aufgrund der Erfolge hat Greenfield mich dann zu sich geholt.«

»Verstehe.«

»Die betrügerischen Firmen haben sich umgestellt und angepasst. Jetzt liefern sie schlechteres und damit billigeres Material. Die Proben, die sie von den Stählen, dem Fertigbeton, dem Bauholz und so weiter einreichen, sind natürlich stets in Ordnung. Die Probewürfel, die gegossen werden, halten jeder Prüfung stand. Aber wenn dann der Bau läuft und der Materialstrom fließen muss, wenn täglich große Mengen Eisen und der Fertigbeton verarbeitet werden, dann stimmt nichts mehr.«

Kellin presste die Lippen aufeinander. Er hatte ein Sandwich und einen doppelten Whisky bestellt. Den Whisky hatte er längst getrunken. Das Sandwich stand unberührt vor ihm.

»Es muss doch laufende Qualitätskontrollen geben, Prüfungen, ob die Normen eingehalten werden, ob das gelieferte Material mit den Spezifikationen übereinstimmt. Ich bin kein Fachmann, Mike, aber das geht nicht so einfach.«

»Die Abnahmeinspektoren sind bestochen oder erpresst. Oder sie werden ihrerseits getäuscht. Oder ein Mitarbeiter im Materialprüfungsamt ersetzt die Proben von den Baustellen durch Material, das in Ordnung ist. In den Kontrolllisten und Prüfberichten stehen nachher die richtigen Werte. Wenn es brenzlig wird, werden die Firmen einfach liquidiert, dann ist kein Geld mehr da, nichts. Zurück bleiben nur die verantwortlichen Prokuristen und ein verantwortlicher Bauleiter. Diese Männer sitzen hinter Gittern. Sie sind selbst betrogen worden. Man wird sie zu langen Freiheitsstrafen verurteilen, obwohl sie unschuldig sind.«

Kellin zündete sich eine Zigarette an. Heftig stieß er den Rauch aus. Ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, was er von mir wollte.

»Inzwischen bin ich überzeugt, dass wir es mit ganz normalen Gangstern zu tun haben. Nein, nein«, schob er meinen Einwand zurück, bevor ich ihn aussprechen konnte. »Das Geld, mit dem die Beteiligungen an den ausführenden Firmen erworben wurde, ist sauber wie frisch gedruckt, auch wenn es aus dem Rauschgifthandel oder anderen Verbrechen herrührt. Es kommt fast immer aus Las Vegas, manchmal auch aus Europa, wo es dann angeblich von englischen oder deutschen Investoren stammt. Was ich meine, ist, die Ausführung und Überwachung der Erpressungen, der Bestechungen, der Bedrohungen, dies alles wird von echten Gangstern vorgenommen.«

»Gibt es Hinweise?«

»Hinweise ja, aber ich kann noch nichts beweisen. Ich bin bedroht worden. Mit Geld hat man es auch versucht. Allerdings nur einmal. Als ich bei Greenfield anfing, bekam ich einen Anruf, dass ich ab sofort jeden Freitag postlagernd einen Umschlag mit fünfhundert Dollar bekommen könne, wenn ich meine Nachforschungen nicht so energisch betriebe. Ich habe die Sache gemeldet und den ersten Umschlag zusammen mit einem Kollegen abgeholt. Fünfhundert Dollar! Dann kam nichts mehr. Außer Drohanrufen.«

»So?«

»Ja. Ich sollte nicht so tief einsteigen, wenn mir mein Leben lieb wäre. Man sähe ein, dass ich nicht käuflich sei, und man wolle mir hin und wieder einen kleinen Eierdieb liefern, damit ich Erfolge vorzuweisen hätte. Im Übrigen solle ich mich ruhig verhalten. Sonst würde man mich zu treffen wissen. Sie haben es bewiesen. Dass sie mich treffen können, meine ich. In meiner Wohnung fand ich ein Paket mit einer Bombenattrappe, und ein anderes Mal war an meinem Wagen der Bremsschlauch beschädigt. Ich sollte es merken. Die Verbrecher wollen sich nicht so ohne Weiteres mit einem Polizistenmord belasten. Doch sie würden es tun, wenn sie keinen anderen Ausweg sehen. Denn getötet haben sie schon, und damit meine ich nicht den Unfall am Major-Deegan-Kreuz. Ich meine vorbedachten Mord. Auch wenn ich ihn nicht beweisen kann.«

Mike Kellins Gesicht war jetzt starr. Er hatte das Kinn vorgeschoben, und die Sehnen an seinem Hals spannten sich. Er hat Angst, stellte ich fest. Ganz gewöhnliche Angst.

»Vorige Woche war ich endlich so weit«, fuhr Kellin fort. »Ein ehemaliger Baustellenleiter von dem Hochbahnprojekt in Queens wollte aussagen. Er hätte mindestens zwei Leute identifizieren können, die die Drecksarbeit machen. Und er hätte mir erzählen können, wie die Kerle es immer wieder schaffen, falsche Proben unterzuschieben. Ich hatte den Mann damals mehrmals vernommen. Da hatte er dichtgehalten. Jetzt hat er seinen Job verloren. Geschieden war er schon längst, und er hatte zu trinken begonnen. Er war ziemlich weit unten angelangt.«

»Und dann?«

»Er meldete sich bei mir. Das war nach dem Unglück am Major-Deegan-Kreuz. Er wollte endlich aussagen. Als er vorigen Dienstag sein Haus in Englewood verließ, um nach Manhattan zu fahren, wurde er von einem Fahrzeug erfasst und zweihundert Yards mitgeschleift. Er war nicht sofort tot. Er starb erst zwei Tage später. Ich nehme an, ich sollte gleichzeitig einen Denkzettel erhalten. Der Fahrer des Wagens konnte bisher nicht ermittelt werden. Das ist es also.«

»Essen Sie Ihr Sandwich«, sagte ich. »Los, essen Sie schon!« Ich winkte der Kellnerin und bestellte zwei Tassen Kaffee. »Und was wollen Sie jetzt von mir?«, fragte ich dann.

»Ich stand an einem Wendepunkt, verstehen Sie? Aufgeben oder weitermachen? Wenn ich weitermache, dann mit erhöhtem Nachdruck. Im Zuge der Ermittlungen bin ich auf einen Mitarbeiter im Materialprüfungsamt gestoßen. Er heißt Elmar Rank. Ein kleiner Fisch, zugegeben. Aber er hat Dreck am Stecken, das steht fest. Ich habe seine Ausgaben überprüft, und ich bin mir meiner Sache sicher. Der Kerl gibt mehr Geld aus, als er verdient. Er stellt es geschickt an. Mir kann er da nichts vormachen. Natürlich wird auch sein Telefon überwacht, wie zurzeit bei einem vollen Dutzend anderer Personen. Bis jetzt hat sich da nichts abgespielt, absolut nichts. Bis gestern. Da bekam Rank einen Anruf.«

Mike Kellin zog ein Telefonprotokoll aus seinem Jackett, faltete die drei Blätter auf und schob sie neben meinen Teller. Es handelte sich um die Niederschrift eines Gesprächs, das von der technischen Abteilung der City Police gestern Morgen von 7:42 bis 7:44 Uhr aufgezeichnet worden war. Im Kopf des Protokolls standen das Aktenzeichen und die Nummer, unter der die Abhörung vom Gericht genehmigt worden war. Ich begann zu lesen.

Anrufer: Guten Morgen, Elmar, hier ist Mac. Entschuldigen Sie, dass wir uns so lange nicht gemeldet haben.

Rank: Mac? Ich weiß nicht ...

Anrufer: Wir schulden Ihnen noch einiges, Elmar. Ich denke, Sie warten schon ungeduldig.

(Schweigen)

Anrufer: Ich habe was für Sie. Treffen wir uns wie üblich ...

Rank: Im Atlantis?

Anrufer: (scharf) Elmar! Kommen Sie in die Bar! Morgen Abend um neun, okay?

Rank: Jaja, ich komme.

(Ende des Gesprächs)

Ich schob Kellin die Blätter zu und sah ihn fragend an.

»Ich habe ein komisches Gefühl, Jerry. Es sind sehr viele Personen an den Betrügereien beteiligt, das steht fest. Es gibt unzählige Mitwisser. Sobald wir beginnen, einen abzuhören, sobald wir einen vernehmen, ihm zusetzen, sofort geht eine Klappe runter.« Kellin tippte auf die Blätter des Protokolls. »Es ist das erste Mal, dass wir einen solchen Anruf registrieren.«

Ich beobachtete den Kollegen. Wieder bemerkte ich die Anzeichen der Angst in seinem flächigen Gesicht mit der kleinen Nase und dem schmalen Mund, dessen Lippen gespannt waren wie die Lefzen eines Wolfs. Kellin war ein Frauentyp, ich wusste es. Er war zweimal geschieden. Die Zahl seiner Affären war nicht einmal ihm mehr bekannt.

Mich ging das nichts an. Er war nicht mein Partner, und ich war nicht sein Vorgesetzter.

»Sie glauben also, es handelt sich um eine Falle?«, forschte ich. »Für Rank? Oder für wen?«

»Ich weiß es nicht, Jerry. Weshalb ich Sie bitten möchte – begleiten Sie mich heute Abend. Ich habe wenig Erfahrung in Festnahmen dieser Art. Ich brauche einen Partner.«

»Warum nehmen Sie keinen Kollegen vom Office des District Attorney? Oder aus Ihrer alten Abteilung?«

»Ich weiß nicht mehr, wem ich trauen kann, Jerry. Es gibt eine undichte Stelle. Es muss eine geben! Der Mord in Englewood hat mir die Augen geöffnet.«

»So wie Sie mir den Fall geschildert haben, handelt es sich um einen Unfall mit Fahrerflucht.«

»Jerry, würden Sie nicht dasselbe denken wie ich?«

»Ich würde von den Tatsachen ausgehen«, sagte ich. Es stimmte eigentlich nicht. Auch ich traute häufig eher meinem Gefühl als trockenen Tatsachen, die oft gar keine waren, sondern nur das Ergebnis von Lügen darstellten.

»Was ist mit den fünfhundert Dollar, der Bombenattrappe in meiner Wohnung, dem Defekt an der Bremsanlage?«

Ich deutete auf das Protokoll. »Wer weiß davon?«

»Die Kollegen von der Technik, der Richter, der den Abhörbeschluss ausgestellt hat, und ich. Als der Bote das Protokoll gestern Mittag brachte, war die Oliphant beim Lunch. Da hab ich's vereinnahmt, ohne es, wie es Vorschrift ist, in die Liste einzutragen. Ich sehe eine Chance, aber ich habe ein komisches Gefühl.«

»Sie haben Angst.«

»Sie wissen es. Warum sagen Sie es?«, fragte Kellin feindselig.

»Sie wollen mich dabei haben, weil ich mehr Erfahrung in solchen Sachen habe. Bei einer Festnahme zum genau richtigen Zeitpunkt. Ich habe auch Angst, wenn eine Sache heikel aussieht. Wenn man darüber spricht, wird man sich seiner Gefühle bewusst. Man darf sich nichts vormachen, Mike. Angst zu haben, ist keine Schande, das hat man Ihnen bestimmt schon während der Ausbildung vor zwanzig Jahren beigebracht. Niemand verlangt von Ihnen, den Helden zu spielen. Sie können, wenn Sie es für richtig halten, das zuständige Revier einschalten. Sehr kurzfristig sogar, um die undichte Stelle zu umgehen.«

»Ich weiß«, sagte Kellin steif. »Ich danke Ihnen jedenfalls, dass Sie gekommen sind. Den Lunch übernehme ich.«

»Jetzt seien Sie nicht eingeschnappt! Ich habe heute Abend zufällig nichts vor.« Von meiner Verabredung mit einer süßen, zauberhaften Lehrerin erwähnte ich nichts. Ich würde sie vertrösten. Was tut man nicht alles für einen Kollegen, wenn er um einen Gefallen bittet.

2

Jemand warf eine Handvoll Münzen in die Musicbox, und gleich drauf füllten die Klänge eines harten, sinnlichen Beat den Raum. Ich verlor Mike Kellin für einen Moment aus den Augen, als sich ein paar junge Leute vor ihm herschoben, die weiter hinten, wo es dunkel war, tanzen wollten. Mike Kellin klammerte sich wieder am Handlauf der Theke fest. Er sah kurz zu mir herüber. Dann nahm er sein Glas auf und nippte daran wie ein ganz normaler Gast.

Er hält sich gut, dachte ich. Seit acht Uhr lungerten wir hier herum, und jetzt war es neun. Zwei Minuten vor neun, um genau zu sein. Wir waren getrennt gekommen. Wir taten so, als kennten wir uns nicht. Jeder versuchte auf seine Weise, mit der angespannten, nervtötenden Warterei zurechtzukommen.

Keiner von uns wusste, ob Kellin auf die richtige Bar getippt hatte. Oder ob der Mann, der sich Mac nannte, eine ganz andere im Auge gehabt hatte, als er Elmar Rank zu sich befohlen hatte. Rank hatte vom Hotel Atlantis gesprochen, während Mac nur eine Bar erwähnt hatte, bei der es sich um eine beliebige Kneipe handeln konnte, in der die beiden sich schon oft getroffen hatten, um über Spezifikationen und Materialprüfungen zu reden. Und um Geld zu zahlen und zu kassieren.

Natürlich war es logisch, auf die Bar des Atlantis zu setzen, weil der Name dieses neuen Hotels Rank so herausgerutscht war. Das Hotel lag westlich der Tenth Avenue, nur ein paar Blocks vom Bus Terminal und den neuen Piers am Hudson River entfernt.

Die Bar des Atlantis hieß King's Pub und lag im Tiefgeschoss. Die Bar verfügte über drei Ausgänge, von denen einer in die Hotelhalle, einer auf die Eleventh Avenue und der dritte auf die 44th Street hinaufführte.

Im Laufe kurzer Zeit war die Bar zum Treffpunkt für die jungen Schauspielschülerinnen geworden, die in den billigen Pensionen an der Ninth Avenue wohnten und von Tag zu Tag auf ein Engagement an einer Bühne oder in einem der Fernsehstudios warteten. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass hier Girls abzuschleppen waren, wenn der Mann nett und ein wenig großzügig war.

Ich warf einen unauffälligen Blick auf die Uhr. Drei Minuten nach neun. Die Musicbox verstummte. Augenblicke später dröhnten die Takte eines populären Musicalhits aus den Lautsprechern. Eine schlanke langhaarige Frau berührte Kellins Arm. Er sah ihr ins Gesicht, und ich bemerkte das Funkeln in seinen Augen. Doch dann schüttelte er lächelnd den Kopf, und die Frau hob die schmalen Schultern, ohne die Augen von ihm zu lassen. Sie trug einen dünnen schwarzen Pullover, der wie ein Trikot die kleinen Brüste und die Wespentaille betonte. Sie wollte mit Kellin sprechen. Er wandte sich ab und versuchte, sie nicht zu beachten.

Immer noch nichts. In meinem Blickfeld lagen der Aufgang zur Halle und die unteren Stufen der gewundenen Treppe, die zur 44th Street hinaufführte. Kellin beobachtete die andere Treppe, die in meinem Rücken lag. Kellin hatte mir ein Bild von Rank gezeigt, und ich hatte mir die schlaffen Züge eines Mannes von unbestimmbarem Alter eingeprägt.

Elmar Rank erschien nicht. Ich berührte das flache Walkie-Talkie in der Innentasche meines Jacketts. Es war eingeschaltet, daran bestand kein Zweifel. Wenn sich Elmar Rank dem Hotel näherte, würde Phil mir Bescheid geben.

Natürlich ließ ich mich nicht ohne Rückendeckung und Rückversicherung auf ein Abenteuer ein, wenn ich über so wenig Informationen verfügte wie diesmal. Michael Kellin konnte mir eine Menge erzählen.

Also hatte ich Phil über mein Vorhaben informiert. Er erklärte sich sofort bereit, seinen Abend ebenfalls zu opfern. Phils Idee war es, Elmar Rank von dem Moment an zu beschatten, wenn der sein Haus drüben in Queens verließ, um zu dem Treffen mit seinem Schmiergeldzahler nach Manhattan zu fahren.

Ranks Frau war vor anderthalb Jahren gestorben. Seine beiden Söhne studierten in Harvard. Ein Stipendium bekam keiner. Für sie lebte Rank. Für sie machte er Überstunden. Für sie lieferte er falsche Qualitätsbescheinigungen und veranlasste die City of New York, Millionen von Dollars ohne Gegenleistung auszugeben. Elmar Rank bekam dafür wahrscheinlich nur ein besseres Trinkgeld.

Es war sieben Minuten nach neun, als einer der Barkeeper die Lautstärke der Musicbox herunterdrehte und in ein Mikrofon blies.

Dann sagte er: »Telefon für Mister Rank! Mister Rank, Telefon bitte!«

Seine Stimme drang glasklar aus den großen Stereolautsprechern. Mike Kellin warf mir einen schnellen, betroffenen Blick zu. Ich war ratloser als er, denn er wusste nicht, dass ich Phil auf Rank angesetzt hatte und dass Phil mir Bescheid gesagt hätte, wenn Elmar Rank in der Nähe gewesen wäre.

Irgendetwas war schiefgegangen. Denn warum war Elmar Rank nicht zu seinem Rendezvous erschienen?

»Mister Rank!«, dröhnte die Stimme des Barkeepers aus den Lautsprechern.

»Ist nicht da!«, schrie eine junge Frau. »Mach wieder Musik!«

Was war schiefgegangen? Wurde Rank von der Gegenseite überwacht? Hatte man gemerkt, dass Rank verfolgt wurde?

»Mister Rank, Sie können das Gespräch in der linken Kabine unter der Treppe annehmen.« Der Keeper legte das Mikrofon weg und drehte die Musik wieder lauter.

Mike Kellin sah mich fragend an. Sein flackernder Blick und das blasse Gesicht verrieten, dass er Angst hatte. Aber er wollte unbedingt dranbleiben. Ich wusste genau, was in ihm vorging.

Und jetzt wollte er meinen Rat, vielleicht einen Anstoß. Was sollte ich tun? Es war sein Fall. Es war seine Idee gewesen herzukommen. Wenn er sich für Rank ausgeben wollte, war das seine Sache. Er musste wissen, ob er etwas dadurch erreichte.

Ich nickte unmerklich.

Mike Kellin stieß sich von der Theke ab und ging um den Sockel der Innentreppe herum. Ich hatte mich gleich bei meiner Ankunft mit der Örtlichkeit vertraut gemacht. In dem dunklen Gang unter der Treppe lagen die Türen zu den Toiletten und die Telefonkabinen.

Ein junger Mann stieg die Stufen von der Straße herab. Ich sah seinen Schatten, bevor der Mann den Gang betrat. Er schob sich an Kellin vorbei, bevor der Detective im Schatten unter der Treppe verschwand. Die Wandlampe am Ende des Gangs brannte nicht.

Plötzlich erschien mir die Musik sehr laut, und das Gedränge an der Theke war unerträglich. Ich wollte mich gerade von der Theke lösen, als die Toilettentür geöffnet wurde. Für einen kurzen Moment fiel eine breite Lichtbahn über den Flur und die gegenüberliegende Wand. Ganz kurz nur sah ich einen Schatten, der vor dem Licht zurückzuckte und sich hinter der aufschlagenden Tür in Deckung brachte.

Aber mein Körper reagierte wie auf ein schrilles Alarmsignal. Wie ein Keil warf ich mich in die Menge, stieß gegen Schultern und Rücken, pflügte zwischen Pärchen hindurch und rannte dann zwischen den Tischen her auf den Gang zu. Im Vorbeilaufen packte ich eine Brandyflasche, die auf einem Tisch zwischen drei Männern stand. Die Flasche war noch halbvoll, und die Männer hatten mit ihrem Inhalt noch einiges vor. Sie brüllten hinter mir her.

Ich schleuderte die Flasche wie eine Handgranate in den Gang hinein, wo ich den Schatten gesehen hatte.

Wieder setzte die Musik aus, als die Platte abgespielt war. Bevor die Flasche hoch an der Wand zerbarst, hörte ich das Klirren von Glas. Dann erst platzte die Whiskyflasche. Im selben Augenblick vernahm ich das harte, unverkennbare Wummern eines 38ers, der in einem engen Raum abgefeuert wurde.

Hinter mir begannen die Leute zu kreischen. Ich flitzte in den Gang, in dem es jetzt wieder dunkel war. Erst später bekamen wir heraus, dass schon am Vortag jemand die Fassung der Lampe an der Wand beschädigt hatte.

»Halt! Stehen bleiben!«

Das war Kellin, der da brüllte.

Ein schmächtiger Mann lief mir entgegen. Ich sah die ausgestreckte Hand, die eine Pistole umklammerte. Der Kerl hatte es eilig. Er prallte gegen mich.

Ich schlug die Hand mit der Kanone zur Seite. Dann stieß ich seinen Arm mit der Schulter in die Höhe und wuchtete den Kerl mit meinem ganzen Gewicht gegen die Wand.

»Kellin! Ich habe ihn!«, schrie ich. Denn ich legte keinen Wert darauf, ein Stück Blei aus seinem 38er verpasst zu kriegen, falls er die Lage noch nicht ganz überschaute.