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Sie hatten sich auf Menschenhandel spezialisiert. Ihre Opfer holten sie sich unter illegalen US-Einwanderern. Wer Schwierigkeiten machte, erhielt die sogenannte Höhenkur, von der keiner je zurückkehrte. Bei meinen Nachforschungen geriet ich in die Fänge der Bande. Auch mir blühte die Höhenkur ...
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Seitenzahl: 202
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Ein ganz besonderer Mord
Vorschau
Impressum
Ein ganz besonderer Mord
Sie hatten sich auf Menschenhandel spezialisiert. Ihre Opfer holten sie sich unter illegalen US-Einwanderern. Wer Schwierigkeiten machte, erhielt die sogenannte Höhenkur, von der keiner je zurückkehrte. Bei meinen Nachforschungen geriet ich in die Fänge der Bande. Auch mir blühte die Höhenkur ...
1
Der ältere Mann schüttelte den Kopf. In seinem dünnen Haar spielte ein kühler Wind.
»Manchmal verstehe ich euch Jungs nicht mehr. Ihr wollt immer alles auf einmal. Und dann kriegt ihr das heulende Elend, wenn ihr auf der Nase liegt.«
Der jüngere Mann zog die Schultern hoch und vergrub fröstelnd die Hände in den Hosentaschen. Die schwarzen Wolken am Abendhimmel zerstörten alle Behaglichkeit.
»Okay.« Er nickte. »Das ist es also, was du mir sagen wolltest. Ausgerechnet hier?«
Der andere lächelte plötzlich. Im Widerschein des Lichts aus der Tiefe der Straßenschluchten sahen die Linien um seine Mundwinkel wie scharf gezeichnete Striche aus. Er griff in seine Manteltasche und zündete sich eine Zigarette an. Dabei schirmte er die Feuerzeugflamme geschickt mit der hohlen Hand ab. Er trat auf den Jüngeren zu.
»Du wirst es wohl nie begreifen, mein Junge. Bei dir ist es, als ob man gegen eine Wand redet. Außerdem bist du uns zu schlau geworden. Davon müssen wir dich kurieren.« Er klemmte die Zigarette zwischen die Lippen, und der Glutpunkt schwebte vor seinem erstarrten Lächeln.
»Du bist ja verrückt, Mann. Ich weiß nicht, warum ich mir diesen Quatsch anhören soll.«
Der ältere Mann packte blitzartig zu, als sich der Jüngere abwenden wollte. Seine Fäuste erwischten die Revers des Jacketts mit seinen schreiend großen Karos.
Der Jüngere erschrak. Er wand sich. Er versuchte sich loszureißen. Aber es gelang ihm nicht. Furcht kroch in sein Bewusstsein und steigerte sich sekundenschnell zur Panik. Noch einmal versuchte er es jetzt mit aller Kraft.
Die Fäuste des älteren Mannes waren wie Stahl. Er drängte ihn zurück. Verzweifelt stemmte er sich gegen ihn. Sein Gesicht verzerrte sich vor Angst.
»Lass den Unsinn!«, keuchte er. »Du wirst doch nicht ...?«
Er brach ab, als sein Gegenüber jäh losließ und ihm einen derben Stoß versetzte. Der jüngere Mann stolperte rückwärts. Zum zweiten Mal traf die stahlharte Faust seine Brust. Er riss die Arme hoch. Er wollte sich nach vorn werfen. Wieder war da die gnadenlose Faust, die ihn zurücktrieb. Er sah dieses starre Lächeln, und seine Augen weiteten sich. Die letzte Sekunde blieb ihm, um zu begreifen.
Jetzt war es schon sein eigenes Gewicht, das ihn nach hinten zog. Und die Kälte umfing ihn. Sie drang bis auf seine Knochen durch.
Wachmann Dave Terrell schob den Vierkantstift in das Loch unter der Klinke und stieß die schwere Stahlblechtür auf. Kälte wehte ihm entgegen. Er stellte den Fuß gegen die Tür, damit sie nicht zufiel, und schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch.
Der Parkplatz wurde überwiegend von Hotelgästen benutzt. Zehn Einstellplätze waren für die Bosse der General Society of Mechanics and Tradesmen reserviert. Dave Terrell hatte deren Wagen nie zu sehen bekommen. Sein Dienst begann erst nach Büroschluss. Das Hotel Mansfield und die Society teilten sich den Hinterhofparkplatz. In all den Jahren, da Terrell nachts für die Sicherheit der beiden Nachbargebäude zuständig war, hatte es keine Autoaufbrüche oder mutwillige Beschädigungen gegeben. Das Gelände war von der Straße aus nicht einzusehen, und es gab nur eine gut abgeriegelte Zufahrt.
Er trat auf den Hinterhof hinaus. Eine einsame Neonröhre an kahler Backsteinmauer ließ die Autodächer glänzen. Das Schwarz des Himmels verschmolz übergangslos mit den Umrissen der hoch aufragenden Gebäude. Dave Terrell fühlte sich wie auf dem Grund eines Schachts.
Wie es sein Dienstablauf vorschrieb, prüfte er die Türgriffe jedes einzelnen Wagens. Die Schlüssel befanden sich bei der Hotelrezeption unter Verschluss.
Ein lang gezogenes Heulen drang zu ihm. Terrell stutzte und blieb stehen. Fast hatte es sich wie ein Schrei angehört. Aber das konnte auch eine Täuschung sein, denn der Wind rief bisweilen sonderbare Töne in der Gebäudeschlucht hervor.Terrells Gedanken wurden jäh abgeschnitten.
Für einen Sekundenbruchteil gab es einen scharfen Luftzug, wie ein Zischen.
Dann ein Krachen, wie von einer Explosion.
Dave Terrell zuckte zusammen, kniff instinktiv die Augen zusammen und hatte einen Atemzug lang das irrwitzige Gefühl, von einer Bombe zerrissen zu werden.
Er überwand die Schrecksekunde. Erstaunt stellte er fest, dass keine Explosionsdruckwelle ihn zu Boden geschleudert hatte. Auch Splitter oder Metallteile hatten ihn nicht getroffen. Er war völlig unverletzt.
Nicht auf Anhieb begriff er das. Denn in dem Wagendach vor ihm klaffte tatsächlich ein großes Loch. Ein weißer Buick, noch ziemlich neu. Das zerfetzte Blech war nach innen gebogen.
Terrells Augen weiteten sich. Mechanisch ging er auf den Buick zu.
Der erschreckend verkrümmte Körper war im Halbdunkel nur schemenhaft zu erkennen. Deutlich dagegen das weiße Gesicht, aus dem blicklose Augen starrten. Der Kopf des Mannes hatte die Rückenlehne der hinteren Sitzbank aufgerissen. Unter der Wucht des Aufpralls waren die vorderen Sitzlehnen aufgebrochen.
Dave Terrell atmete tief durch.
»Himmel noch mal«, flüsterte er. »Musstest du dir ausgerechnet diesen Platz aussuchen, um Schluss zu machen?«
An eine andere Möglichkeit dachte er nicht.
Durch die Innenbelüftung meines Jaguar drang eine Geruchsmischung, die von Brackwasser und Schmieröl und wer weiß was noch herrührte. Über den Docks sahen wir das Lichtermeer von Manhattan, das wir hinter uns gelassen hatten. Davor wälzte sich der East River, in dessen Fluten die Brooklyn Piers wie eine gewaltige Zahnreihe hinausragten.
Im Schritttempo fuhr ich durch eine Gasse zwischen aufgereihten Containern. Die Aluminiumhaut der Großbehälter schimmerte hell im Scheinwerferlicht.
Die Gasse öffnete sich, und ich rangierte den Jaguar nach rechts, unmittelbar vor den letzten Container. Drei Yards weiter parkte eine dunkelblaue Limousine mit New Yorker Behördenkennzeichen. Hohe Peitschenmastlampen erhellten das Piergelände.
Phil tastete vor dem Aussteigen nach seinem Dienstrevolver. Eine Reflexbewegung, die man schon nicht mehr merkt. Wir gingen auf eine Kette von Güterwaggons zu, die den Blick auf das Hafenbecken versperrte. Ladebäume kreischten. Fahrbare Kräne senkten große Netze mit dunklen Ballen in die Waggons. Der scharfe Rauchgeruch von Naturkautschuk wehte herüber. Es war kühl geworden. Der Herbst schickte sich an, den Indian Summer aus New York zu verdrängen.
»Jala Sowieso«, sagte mein Freund und Partner. »Kannst du dir diese komischen Namen merken?«
»Jaladhruv«, antwortete ich. »Frag mich aber nicht, was das bedeutet.«
Wir umrundeten das Ende des Güterzugs. Das Schiff lag unmittelbar vor den Waggons an Pier 6. Ein Zehntausend-Tonnen-Frachter mit Hakenkreuz auf dem Schornstein. Das Emblem der Scindia Steam Navigation Company Ltd., der größten indischen Reederei. Aus dem Bauch des Frachters beförderte schiffseigenes Ladegeschirr die dunklen Rohgummiballen ans Lampenlicht.
An den fahrbaren Kränen vorbei fanden wir unseren Weg zum Fallreep, dessen Stufen bereits steil zur Verschanzung aufragten. Das Löschen der Jaladhruv musste bald beendet sein. Oben stellte sich uns der Wachmann in den Weg, ein bulliger Mann in grob gestricktem Pullover, der für die Dauer der Liegezeit von der New Yorker Reedereiagentur eingesetzt war. Seine Miene erhellte sich, als wir unsere Lederetuis mit den Metalladlern aufklappten. Er führte uns in die Offiziersmesse.
Wir kannten keinen der Männer, die uns erwarteten. Nur einer von ihnen war Amerikaner. Groß, dunkelhaarig und schlaksig in beigefarbenem Leinenanzug mit dunkelblauem Hemd. Als wir eintraten, stellte er sein Longdrinkglas mit klirrendem Eiswürfel auf den Bartresen und kam auf uns zu.
»Andrew Escalante«, sagte er, »Einwanderungsbüro. Sie sind die Gentlemen vom FBI?« Er war Puerto Ricaner, vermutlich aber schon an der Ostküste geboren. Sein Englisch hatte nicht den geringsten Akzent.
Wir nickten und nannten unsere Namen. Escalante machte uns mit den anderen Männern bekannt. Die Offiziersmesse hatte etwas Ungemütliches, und das lag nicht an der stilvollen Einrichtung mit Holztäfelung, Messingleuchtern und Polstermöbeln. Die Ungemütlichkeit rührte aus der Tatsache her, dass zwei der Anwesenden Handschellen trugen und von zwei Deckleuten mit schweren Automatikpistolen bewacht wurden. Die Gefangenen waren finstere Gestalten – jettschwarze Haare, dunkelbraune Haut und nur in Lumpen gekleidet. Die chromfunkelnden Handschellen zierten ihre jammervolle Erscheinung wie kostbarer Schmuck.
Der Kapitän der Jaladhruv hieß Habib Subzali, ein drahtiger Mann, der mir bis zur Nasenspitze reichte und silberne Strähnen im schwarzen Haar hatte. Sein Erster Offizier, Vasu M. Karamshi, trug den leuchtend blauen Turban eines Sikh. Dazu einen mächtigen Vollbart, der ebenso wie das unter dem Turban verborgene Haar niemals geschnitten oder gar abrasiert wurde. Ich hatte über diese Leute gelesen, dass sie noch heute an ihren strengen Regeln festhielten, die schon vor Jahrhunderten entstanden waren.
Der aromatische Geruch scharfer Gewürzmischungen lag in der Luft. Die Küche musste sich irgendwo in der Nähe befinden.
»Sind Sie über den Sachverhalt informiert, Gentlemen?«, fragte Kapitän Subzali.
Er sprach ein rollendes Englisch im typischen singenden Tonfall der Inder.
»In groben Zügen«, sagte ich. »Nur zur Erklärung unserer Anwesenheit, Captain, das FBI wird derzeit bei allen Fällen illegaler Einwanderungsversuche hinzugezogen, weil wir mögliche Zusammenhänge mit einem organisierten Verbrechen aufzudecken haben.«
»Die Zuständigkeitsfragen Ihres Landes sind für uns unwichtig«, sagte Kapitän Subzali lächelnd.
»Für uns zählt nur eines«, fügte Karamshi, der Erste Offizier, hinzu. »Dass nämlich diese Kerle so schnell wie möglich von Bord verschwinden.«
»Es handelt sich um Pakistani«, erklärte Andrew Escalante. »Und denen sind unsere Freunde aus Indien sowieso nicht besonders grün.«
Subzali überhörte die Anspielung.
»Wir haben die beiden bislang ohne Erfolg vernommen. Mehr als ihre Namen und ihre Herkunft haben sie nicht verraten. Beide stammen aus Lahore. Vermutlich auch der Dritte, der im Laderaum verunglückt ist. Diese beiden heißen Mahmout Moughanni und Serim Wathani, der Tote Patel Arnabeh. Die Namen können aber ebenso gut erfunden sein.«
»In welchem Hafen sind die Männer an Bord gegangen?«, fragte Phil.
»Das kann nur in Bombay gewesen sein«, antwortete der Kapitän. »Wir haben Kautschuk geladen und dann Direktkurs auf die Vereinigten Staaten genommen.«
»Die übliche Geschichte«, meldete sich Andrew Escalante zu Wort. »Jemand aus der Crew hat sich ein hübsches Sümmchen nebenbei verdient und die drei als blinde Passagiere an Bord geschmuggelt. Drüben läuft so was über Vermittlerorganisationen, illegal natürlich. Im Schnitt kassieren sie tausend Dollar pro Nase, wenn unsere Informationen noch stimmen. Meistens spart die ganze Sippe jahrelang dafür, um dann ein Familienmitglied ins Gelobte Land schicken zu können. Der Decksmann auf dem betreffenden Schiff kriegt nur einen kleinen Prozentsatz von der Summe.«
»Ist bekannt.« Ich nickte. »Wo liegt der Tote?«
»Im vordersten Laderaum«, erwiderte Escalante. »Kapitän Subzali hat alles so gelassen, wie es ist. Unsere Spurensicherer haben Erlaubnis, an Bord zu arbeiten.«
»Sind schon unterwegs«, sagte Phil und blickte Subzali an. »Wir danken Ihnen für die gute Zusammenarbeit, Captain.«
»Uns liegt genauso daran, dass die Geschichte schnell aufgeklärt wird«, erwiderte der Inder. »Es tut mir leid, dass die Vernehmung bislang nicht besonders erfolgreich war. Wir wüssten selbst gern, wer in unserer Crew krumme Geschäfte macht.«
»Ich sehe mir den Laderaum an«, entschied ich, wandte mich Phil zu und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Festgenommenen. »Okay?«
»Geht in Ordnung. Ich unterhalte mich ein bisschen mit den beiden. Haben wir einen Dolmetscher?«
»Das übernehme ich«, erklärte der Erste Offizier. »Vielleicht haben sie vor Ihnen etwas mehr Respekt, Agent Decker.«
Andrew Escalante folgte mir auf dem Weg zum Vorschiff. Die Blicke, die uns begleiteten, waren voller Misstrauen. Die Deckleute der Jaladhruv sahen samt und sonders nicht besser aus als die blinden Passagiere aus Pakistan. Angesichts dieser Mannschaft war der Luxus der Offiziersmesse wie eine andere Welt gewesen. Ich stellte mir das Mannschaftslogis als eine finstere Höhle vor und wusste, dass ich mit dieser Vermutung nicht falsch lag.
»Sehen Sie sich die armen Hunde an«, flüsterte Escalante, als wir an den Mittschiffsluken und den mächtigen Ladepfosten vorbei zum Backdeck marschierten. »Kann man es denen verdenken, wenn sie ihren Hungerlohn aufbessern wollen? Ich sage Ihnen, die stecken sowieso alle unter einer Decke.«
Daran zweifelte ich nicht. Keiner konnte es sich leisten, den anderen zu verraten. Sie alle hofften darauf, bei der nächsten Reise das Geschäft mit den indischen Menschenhändlern zu machen. Wenn uns jemand weiterbrachte, dann bestenfalls die beiden blinden Passagiere. Vielleicht hatten sie wirklich Angst vor den amerikanischen Behörden, und Phil schaffte es, ihnen etwas aus der Nase zu ziehen.
Vor der offenen Ladeluke auf der Back standen zwei Deckleute Wache. Beide waren barfuß wie die übrigen Crewmitglieder. Sie trugen zerschlissene Hosen, Wollmützen und dreckstarrende Pullover. Die dunklen Augen, mit denen sie uns musterten, waren respektvoll und abweisend zugleich. Ich zeigte ihnen meine Dienstmarke, und sie traten beiseite. In ihren Mienen las ich einen Anflug von Erstaunen. Möglich, dass sie es eher gewohnt waren, mit einer Handbewegung weggescheucht zu werden.
Escalante und ich stiegen die senkrechten Stahlsprossen in den Laderaum hinunter. Der Geruch des geräucherten Rohkautschuks war hier so intensiv, dass ich einen Hustenreiz verspürte. Sie hatten den Laderaum nur zur Hälfte gelöscht. Als der Pakistani aus zehn Fuß Höhe von den Kautschukballen abgestürzt war, hatte Kapitän Subzali die Arbeiten sofort abbrechen lassen.
Es war dann keine große Mühe mehr gewesen, die anderen aus dem Hohlraum im Ballenstapel zu pflücken. Vor Angst und Entsetzen waren sie zu nichts mehr fähig gewesen. Phil und ich hatten das bereits per Telefon erfahren. Andrew Escalantes Dienststelle hatte uns informiert.
Der Tote lag auf den Holzplanken. Wir brauchten nicht zweimal hinzusehen, um zu erkennen, dass er sich das Genick gebrochen hatte. Äußerlich unterschied er sich nur wenig von seinen beiden Freunden in der Offiziersmesse.
»Mal abgesehen von allem anderen«, sagte Escalante, während wir vor der Leiche standen, »der Bursche, der die drei Pakistani hier versteckt hat, ist auch mitverantwortlich für den Todesfall. Er hätte bessere Vorbereitungen treffen müssen, damit beim Entladen nicht so was passieren konnte.«
Ich nickte, beugte mich zu dem Toten hinab und durchsuchte seine dünne, erbärmliche Kleidung. Er hatte keine Papiere bei sich, nicht einmal Geld. Es war immer dasselbe mit diesen armen Teufeln. Nur mit dem, was sie auf dem Leib trugen, kamen sie bei uns in den Staaten an.
Ich richtete mich auf. Was für eine seltsame Zuversicht ließ sie glauben, es würde sich automatisch alles zum Guten wenden? Eher wohl Unwissenheit. Dort wo sie herkamen, waren die meisten noch überzeugt, dass bei uns Milch und Honig flössen. Und dann standen sie plötzlich gewissenlosen Geschäftemachern gegenüber, die sie als menschliche Ware betrachteten und sich an ihnen eine goldene Nase verdienten.
Laute Stimmen erschollen unvermittelt an Deck. Gebrüll! Auch die beiden Posten vor unserer Ladeluke schrien irgendetwas in Hindi, ihrer Muttersprache. Ich ahnte den Zusammenhang.
Mit zwei langen Sätzen war ich bei der senkrechten Stahlleiter und kletterte empor. Für Andrew Escalante hatte ich keine Zeit. Noch bevor ich mich über den Rand der Ladeluke schwang, sah ich, dass die beiden Posten auseinandergewichen waren und eine Art Abwehrstellung eingenommen hatten, wie Torhüter beim europäischen Fußball. Sie waren unbewaffnet. Die Pistolen, die zur Bordausrüstung gehörten, besaßen die beiden Aufpasser in der Offiziersmesse.
Federnd landete ich auf dem mit Öl und Dreck verschmierten Backdeck. Was sich anbahnte, erfasste ich mit einem Blick.
Einer der indischen Deckleute rannte in panischer Hast Richtung Vorschiff, vorbei an den gähnenden Ladeluken und unter Kautschukballen hindurch, die an den Haken und Seilen der Ladebäume schwebten. Eine Gruppe von Männern verfolgte ihn. Ich sah Phil unter ihnen und Vasu M. Karamshi mit seinem hellblauen Turban. Es waren weitere Offiziere dabei, die ich nicht kannte.
Der Fliehende hatte einen Vorsprung von höchstens zwanzig Schritten. Er war klein und untersetzt, ein kräftiger Bursche. Die Deckleute, die an den Luken beschäftigt waren, wichen beiseite. Keiner stellte sich ihm in den Weg. Nur die beiden, die als Posten eingestellt waren, schienen ihre Aufgabe ernst zu nehmen. Phil hatte seinen Dienstrevolver gezogen. Aber das Risiko eines Schusses war zu groß. Zu viele Unbeteiligte gerieten in Gefahr.
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich Escalantes Kopf über dem Rand der Ladeluke auftauchen.
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, rief ich. »Das ist nicht Ihr Job!«
Ich konnte mich nicht mehr um ihn kümmern, denn der Fliehende schnellte jetzt um einen der Ventilatoren neben dem Vordermast herum und rannte auf den Posten zu meiner Rechten zu. Der Mann war zehn Yards von mir entfernt. Ich sprintete los.
Nur die Hälfte der Entfernung hatte ich geschafft, als ich erkannte, wie sich die Dinge jäh wandelten.
Der Fliehende griff unter seinen Pullover und verlangsamte seine Schritte. In seiner Rechten funkelte ein Krummdolch. Der Posten wich einen Schritt zurück und bückte sich blitzschnell. Das Ding, das er aufhob, hatte hinter der Kante der Luke gelegen. Ein Stauerhaken. Die scharf geschliffene Spitze konnte fürchterliche Löcher reißen.
»Halt, stehen bleiben!«, brüllte ich, stoppte meinen Vormarsch und hatte den Smith & Wesson im selben Moment im Beidhandanschlag.
Der Mann mit dem Krummdolch prallte zurück. Gehetzt warf er den Kopf herum. Die Schar der Verfolger verharrte atemlos bei den Ventilatoren am Vordermast.
Für Sekunden herrschte beklemmende Stille.
Der Inder starrte mich aus schmalen Augen an. Die gekrümmte Klinge des Dolches verdeutlichte mehr als sein Äußeres, dass er aus einer für uns fremden Welt stammte.
Mein Revolver schien ihn nicht vollends zu beeindrucken. Ich kannte den Grund. Solange die Verfolger hinter ihm lauerten, konnte ich, selbst wenn ich wollte, nicht schießen, ohne sie zu gefährden.
Urplötzlich wirbelte er herum und hastete zur anderen Seite der Ladeluke.
»Stehen geblieben!«, brüllte ich, schwenkte den Smith & Wesson und folgte dem Mann mit der Visierlinie.
Karamshi, der Erste Offizier, übersetzte meine Aufforderung in der gleichen Lautstärke. Ohne Erfolg.
Im nächsten Moment hatte ich das Gefühl, mein Herzschlag müsste aussetzen.
Andrew Escalante hatte sich den Teufel um meine Worte geschert. Bevor ich reagieren konnte, hatte er den Posten auf der anderen Seite der Ladeluke beiseite gedrängt und war im Betriff, dem untersetzten Inder den Weg zu versperren. Offenbar hatte Escalante den Dolch des Mannes nicht bemerkt. Mit wieselhafter Geschwindigkeit lief der Inder auf ihn zu. Escalante zuckte zusammen, als er die funkelnde Klinge sah.
Wieder konnte ich nicht feuern, ohne einen Unschuldigen zu gefährden. Die Bewegungsabläufe waren zu schnell, zu unberechenbar.
»Achtung!«, rief ich schneidend. »Zurück!«
Escalante war auf Einsätze dieser Art nicht vorbereitet. Er versuchte, sich zur Seite zu werfen. Zu langsam.
Wie ein huschender Schatten war der Inder bei ihm. Für einen Sekundenbruchteil sah ich den flirrenden Reflex der Klinge.
Escalante schrie auf und krümmte sich. Der Inder schnellte von ihm weg, noch bevor der Mann von der Einwanderungsbehörde neben der Ladeluke zu Boden sank.
Ich zögerte nun nicht mehr, brachte den Revolver ein Stück höher und brüllte dem Messerstecher eine letzte Warnung zu. Auch der Posten auf der anderen Seite der Ladeluke hatte zum Glück begriffen, dass er sich nicht einmischen durfte.
Der Inder verharrte einen Sekundenbruchteil. Er schien zu spüren, dass der geringste Stillstand seinen Tod bedeuten konnte – nach dem, was geschehen war. Und er war schnell, höllisch schnell. Mit dieser wieselhaften Gelenkigkeit hastete er auf die Verschanzung zu.
Ich sah, dass er den Dolch noch immer in der Rechten hielt. Er setzte zum Sprung an.
Ich krümmte den Zeigefinger. Mein 38er bellte in dem Moment, als der Inder über die Verschanzung hechtete. Reflexartig jagte ich eine zweite Kugel hinterher, als er schon nicht mehr zu sehen war.
Ich vermochte nicht zu erkennen, ob er getroffen war. Ein Ziel, das sich bewegt, ist für einen kurzläufigen Revolver immer ein schlechtes. Selbst für unsereins, der ständig trainiert. Der Smith & Wesson 38er Special mit dem Zwei-Zoll-Lauf ist für den Nahkampf konstruiert. Bei Risikoeinsätzen verwenden wir den 357er Magnum, der einen doppelt so langen Lauf hat. Vielleicht hatten wir die Fahrt zur Jaladhruv zu leichtfertig als einen Spaziergang betrachtet.
Ich war bereits auf dem Weg, ließ den Revolver fallen und streifte das störende Jackett im Laufen ab. Phil schrie irgendetwas hinter mir her. Ich achtete nicht darauf. Wir brauchten diesen Mann. Er konnte der Schlüssel sein, nach dem wir schon so lange suchten. Die Jacke wehte hinter mir zu Boden, als ich mit einem federnden Satz in die Dunkelheit hinaussprang.
2
Einen Atemzug lang sah ich buchstäblich nichts außer dieser Schwärze. Dann schlug das Brackwasser über mir zusammen. Jähe Kälte umklammerte mich. Mit kraftvollen Schwimmzügen strebte ich sofort der Oberfläche entgegen, tauchte auf und trat auf der Stelle. Nur allmählich gelang es mir, gegen die Kälte anzukämpfen.
Ich sah ihn zum Greifen nahe.
Das Licht, das die Wolkenkratzertürme an der Westseite des East River aussandten, legte einen silbrigen Schimmer auf die Wasseroberfläche. Der Kopf des Mannes zeichnete sich wie ein Schattenriss ab. Komischerweise schwamm er zur Flussmitte. Dabei hatten mir schon viele Seeleute versichert, dass kein Sailor schwimmen kann. Solche Geschichten müssen zu dem Garn gehören, das sie so gerne spinnen.
Ich nahm die Verfolgung auf. Sicher war mein Kraulstil nicht das, was sich ein Leistungsschwimmer vorstellt. Dafür gehen Sportler vom Fach nicht mit Schuhen, Hose und Hemd auf die Startblöcke.
Für mich zählte nur, dass ich aufholte. Der Inder bemerkte es schon nach wenigen Sekunden. Ich sah es daran, dass er zunehmend häufiger den Kopf herumwarf. Das Wasser des East River verströmte den unverwechselbaren Geruch von Schmieröl und Tang.
Mehr als zehn Yards betrug die Entfernung nicht. Der Messerstecher war langsamer als ich. Er musste es inzwischen begriffen haben.
Noch bevor ich den Gedanken zu Ende brachte, war er plötzlich verschwunden.
Sofort stoppte ich meine Schwimmzüge. Wassertretend spürte ich, wie das Gewicht der vollgesogenen Kleidung an meinem Körper zerrte. Mit der Kälte hatte ich indessen nicht mehr zu kämpfen.
Ich ahnte, was der Mann vorhatte. Er wusste, dass er nicht entkommen konnte. Also lag die Schlussfolgerung nahe.
Prustend tauchte er vor mir auf. Nur zwei, drei Züge entfernt.
Ich sah das Weiße seiner Augen, und es schien, als loderte der Hass darin.
Ich erschrak nicht, wie er es sich vielleicht ausgemalt hatte. Stattdessen stieß ich vorwärts, auf ihn zu.
Er riss den rechten Arm hoch. Die Klinge funkelte in den Lichtausläufern, die von Manhattan Downtown herübergesandt wurden. Er hatte den verdammten Dolch beim Sprung nicht etwa verloren. Er musste das Ding gehütet haben als das Wertvollste, was er besaß.
Die Worte, die er ausstieß, klangen wie das Fauchen einer Raubkatze. Ich ließ mich nicht beirren. Legte alle Kraft in den letzten Schwimmzug. Meine Zielstrebigkeit verwirrte ihn. Ich sah das Zucken seiner Gesichtsmuskeln so deutlich wie in einer Momentaufnahme.
Ich tauchte im selben Moment weg, in dem seine Rechte mit der mörderischen Klinge herabstieß.
Unter Wasser hörte ich das Klatschen in vervielfachter Lautstärke. Sehen konnte ich nichts. Ich rammte beide Fäuste aufs Geratewohl nach vorn. Und ich traf. Wohin, konnte ich nicht erkennen.
Sofort warf ich mich zur Seite, tauchte auf und atmete tief ein.
Der Inder prustete und gurgelte. Nur mühsam brachte er den Kopf über die Wasseroberfläche. Keuchend rang er nach Luft und schluckte Wasser. Er musste zusammengeklappt sein wie ein Taschenmesser. Seine wilde Entschlossenheit war nicht gebändigt. Sie steigerte sich vielmehr zur Verzweiflung des in die Enge Getriebenen.
Jäh blitzte die Klinge wieder vor mir auf. Der Widerstand des Wassers lähmte meine Reaktionsfähigkeit. Ein brennender Schmerz durchzuckte meinen linken Unterarm, als der Hieb des Inders das Wasser peitschte.
Wut packte mich. Ich wusste, dass ich das ungleiche Spiel beenden musste. Unbarmherzig, jetzt. Von Fairness konnte sowieso keine Rede sein. Ich unterdrückte den Schmerz und kam mit der unversehrten Rechten hoch, bevor sich der andere zu einem erneuten Angriff sammeln konnte.
Meine Handkante traf ihn hart. Das Wasser spritzte mit einer weißen Fontäne empor.
Der Inder stieß einen Schrei aus. Er warf die Arme hoch und versank wie ein Stein. Die East-River-Brühe, die er von Neuem schluckte, erstickte seinen Schrei. Der Handkantenschlag hatte ihn auf den Punkt getroffen. Sein Nervensystem funktionierte nicht mehr. Ich hoffte, dass er auch den Dolch verloren hatte.
Der Schmerz stach in meinem linken Arm, als ich dem Mann nachtauchte. Irgendwie fand ich die Richtung. Ich bekam einen Zipfel Stoff zu fassen und packte fester zu. Dann hatte ich ihn an den Schultern. Mit kräftigen Beinstößen kehrte ich an die Oberfläche zurück.
Der Mann war so schlaff wie ein nasser Sack. Den Dolch sah ich nicht mehr. Ich musste die Zeit seiner Bewusstlosigkeit nutzen. Mein verwundeter Arm brannte wie Feuer, als ich den Inder in den Rettungsgriff nahm und in Rückenlage dem hell erleuchteten Pier entgegenstrebte.
Aufgeregte Stimmen empfingen mich, als die Bordwand des Frachtschiffs haushoch und dunkel über mir aufragte. Vom Pier hatten sie eine Ruderjolle zu Wasser gelassen. Helfende Hände waren zur Stelle. Ich wurde von meiner Last befreit. Danach zogen sie mich ins Boot.