Jerry Cotton Sonder-Edition 194 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sonder-Edition 194 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Sie kamen auf leisen Sohlen, aber ihre roten Nylonblusen und ihr mutiges Auftreten verbreiteten Angst und Schrecken unter den feigen Rauschgiftdealern. Sie nannten sich Rote Engel, und sie wollten ihre Slumgegend von gewissenlosem Verbrechertum befreien. Doch im Kampf mit Gangstern wurden viele selbst zu Gangstern. Sie maßten sich an zu töten. Aus den jungen Leuten, die ausgezogen waren, Schutzengel der Schwachen zu sein, wurden Engel mit blutigen Händen ...


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Seitenzahl: 168

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Engel mit blutigen Händen

Vorschau

Impressum

Engel mit blutigen Händen

Sie kamen auf leisen Sohlen, aber ihre roten Nylonblusen und ihr mutiges Auftreten verbreiteten Angst und Schrecken unter den feigen Rauschgiftdealern. Sie nannten sich Rote Engel, und sie wollten ihre Slumgegend von gewissenlosem Verbrechertum befreien. Doch im Kampf mit Gangstern wurden viele selbst zu Gangstern. Sie maßten sich an zu töten. Aus den jungen Leuten, die ausgezogen waren, Schutzengel der Schwachen zu sein, wurden Engel mit blutigen Händen ...

1

Fünf Schritte trennten uns.

Wie ein Schatten war er hinter der Normaluhr aufgetaucht. Groß und hager, das gelbliche Gesicht vor Schweiß glänzend. Ich kannte das Gesicht und auch den dazugehörigen Steckbrief. Jack Calvin wurde wegen zweifachen Mordes gesucht, begangen an dem Pächterehepaar einer Raststätte.

Er wollte zu der Treppe, die vom Bahnsteig nach oben führte.

Mein Anblick ließ ihn zurückprallen. Er verzerrte das schmale Gesicht zur Grimasse. Auf dem Absatz warf er sich herum. Ich sah seine Schuhsohlen. Der 38er flog wie von selbst in meine Hand. Aber ich kam nicht dazu, den Killer anzurufen oder einen Warnschuss abzugeben.

Mit einem Sprung verschwand er in der offenen Tür des U-Bahn-Zugs.

Ich rannte ihm nach. Ich pflügte durch weggeworfene Zigarettenschachteln und Limonadendosen. Auf einem Pappteller mit Ketchup wäre ich beinahe ausgerutscht. Ein Obdachloser, der meinen Kurs kreuzen wollte, wich zurück. Schon hörte ich die Drucklufttüren zischen. Verdammt, der Gangster durfte mir nicht entwischen!

In letzter Sekunde erreichte ich den anfahrenden Zug, hechtete durch die Tür und zerrte keuchend meinen Absatz frei, der eingeklemmt wurde.

Rechts von mir polterte etwas. Ein erstickter Schrei ließ mich herumwirbeln. Undeutlich erkannte ich die Bewegung durch eine dreckige Glasscheibe. Jack Calvin war gestolpert. Mit rudernden Armen kämpfte er um sein Gleichgewicht. Der Revolver lag immer noch in meiner Rechten. Ich rammte die Abteiltür auf und hoffte inständig, dass niemand in der Nähe war, den eine Schießerei gefährden würde.

Leere Sitze! Aufgeschlitzte Polster, beschmierte Wände, zertrümmerte Aschenbecher – das übliche Bild in der U-Bahn-Linie nach Melrose und Morrisania hinauf. Die Südbronx ist ein Sumpf. Und die Stadt New York hat schon lange kein Geld mehr, um das U-Bahn-Netz auch nur halbwegs in Ordnung zu halten.

Jack Calvin war über einen zerbeulten, aus der Verankerung gerissenen Abfallbehälter gestolpert.

Seine blassblauen Augen flackerten. Er krümmte sich und fuhr mit der Rechten unter die Jacke.

Hinter mir hörte ich Schritte. Jemand kam aus dem Nachbarwagen. Ich durfte nicht das Risiko eingehen, mich auf einen Schusswechsel einzulassen.

Mit einem Sprung erreichte ich den Mörder und schlug ihm den Revolverlauf über den Unterarm.

Die Waffe, die er halb gezogen hatte, glitt ihm aus den Fingern. Aufschreiend stieß er den Kopf vor, um meine Magengrube zu treffen. Ich wich zurück und verlor den Halt. Daran war weniger der Kopfstoß schuld als die plötzliche Beschleunigung des Zugs. Am Ergebnis änderte das leider nichts.

Als ich mich an der Lehne eines Sitzes festhalten konnte, hörte ich in meinem Rücken die Abteiltür klirren.

»He!«, brummte eine Stimme.

Ich wollte eine Warnung rufen. Doch ich kam nicht dazu. Die Kerle hinter mir benötigten keine Warnung. Im Gegenteil, sie gehörten zu denjenigen, vor denen man besser alle anderen warnt.

»Hoppla!« Jemand kicherte.

Ein Knie stieß mir ins Kreuz. Wuchtig! Glutheiß zuckte der Schmerz über mein Rückgrat. Ich wurde nach vorn geschleudert und prallte mit dem Killer zusammen, der sich blitzschnell nach seiner Waffe bückte.

Bevor ich auch nur die Beine unter den Körper ziehen konnte, traf mich ein Tritt in die Seite.

Wie durch einen Nebel hörte ich Jack Calvin etwas von »Fed« und »fertigmachen« kreischen. Ich hielt immer noch den 38er umklammert. Doch ich sah kein Ziel, nur rote Schleier.

Blindlings wirbelte ich herum. Schwarze Schemen bewegten sich undeutlich. Lederjacken, dachte ich mechanisch. Rocker ... Ich wusste, jetzt wurde es kritisch. Aber ich hatte nicht die leiseste Chance, noch einmal auf die Beine zu kommen.

Das Letzte, was ich klar und deutlich sah, war die Faust mit dem Schlagring, die auf mein Gesicht zu sauste und im Bruchteil einer Sekunde mein Bewusstsein auslöschte.

In dem düsteren Hinterhof hatte jemand ausrangierte Matratzen gelagert.

Ratten fiepten. Aus einem Fenster im oberen Stockwerk drang eine keifende Frauenstimme. Tony Josselito bewegte die Nasenflügel und fragte sich, woher in diesem stinkenden Loch der Geruch nach ofenfrischem Gebäck kommen mochte.

Er fuhr zusammen, als er irgendwo zwischen den Matratzenstapeln ein raschelndes Geräusch hörte.

Unwillkürlich tasteten seine Finger nach den Umrissen der flachen Ledertasche unter seinem Hemd, in der er die weißen Briefchen verwahrte. In dieser finsteren Ecke der Südbronx wagte sich nach Einbruch der Dämmerung kaum jemand mit Bargeld in der Tasche auf die Straße. Abgebrannte Junkies, die einen Schuss brauchten, blieb nicht viel anderes übrig, als Dealer zu überfallen. Die mussten sich ihrer Haut erwehren.

Tony Josselito atmete auf, weil sich das Geräusch nicht wiederholte.

Gespannt wie eine Bogensehne blieb er in der Mitte des Hofs stehen. Verdammt, der Boss hätte ihn auch an einen weniger finsteren Ort bestellen können! Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich um. Er fragte sich, welchen Grund das abendliche Treffen überhaupt hatte. Der Gedanke an die mögliche Erklärung jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

Unsinn, dachte er. Schließlich war er vorsichtig gewesen. Niemand konnte wissen, dass er ...

Ein Klicken schnitt hinter ihm durch die Stille.

Josselitos Nackenhaare stellten sich auf. Auf dem Absatz fuhr er herum, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Der Lichtreflex, matt schimmernd auf schwarzem Waffenstahl, traf ihn wie ein Stich ins Hirn.

Er sah die schwere Luger-Pistole mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer.

Er sah die Faust im dem dünnen schwarzen Handschuh, sah die blinkende Knopfreihe eines modischen Blazers, sah schließlich das Gesicht, das sich wie ein bleiches Oval in der Dunkelheit abhob. Aschfarbenes Haar fiel in die Stirn. Die hellen Augen lagen tief in den Höhlen. Eine sichelförmige brandrote Narbe zog sich über die Wange. Tony Josselito kannte nur einen, der eine solche Narbe hatte.

»Bruel«, flüsterte er fast unhörbar. »Bruel Greer ...«

Der Starkiller der Rauschgiftgang lächelte freudlos. »Tja, Tony, so ist das. Der Boss hat es nicht gern, wenn jemand in die eigene Tasche wirtschaftet. Du wolltest zu schlau sein, mein Junge. Jetzt wirst du an deiner Schlauheit ersticken.«

Josselito fühlte Übelkeit und Angst wie einen heißen, würgenden Klumpen im Magen.

Seine Knie zitterten. Der kleine Browning unter seiner Achsel hätte genauso gut Lichtjahre entfernt sein können. Die Pistole mit dem Schalldämpfer zielte unverwandt auf seine Brust. Tony Josselito kämpfte gegen das Gefühl, sich im nächsten Moment übergeben zu müssen.

»Bitte ... bitte«, stammelte er, »das ist ... ein Irrtum ... Nicht schießen! Bitte ...«

»Du miese Ratte!«, sagte der Killer kalt.

Seine Finger näherten sich dem Druckpunkt.

Josselitos Magen rebellierte. Er konnte sich nicht herumwerfen. Er versuchte nicht einmal zu fliehen, sondern krümmte sich nur wimmernd zusammen. Um ihn herum schien die Welt in Entsetzen zu gefrieren. Eine Ewigkeit lang wartete er auf den Schuss, auf das grelle Aufflammen des Mündungsblitzes. Stattdessen sah er, wie plötzlich ein Ruck durch die Gestalt des Killers ging.

Bruel Greer taumelte.

Josselito begriff nicht, dass ein Stein den Killer am Kopf getroffen hatte. Ein zweites Wurfgeschoss, eine zerbrochene Holzlatte, fegte dem überraschten Mann die Waffe aus den Fingern.

Wie durch einen Nebel sah Josselito die Gestalten, die von einer Sekunde zur anderen zwischen den Matratzen hochschnellten. Schmale, flinke Gestalten, gekleidet in leuchtend rote Jacken.

Ein schriller Pfiff erklang. Draußen auf der Straße wurde er aufgenommen und mit einem anderen Signal beantwortet. Schritte näherten sich, das Klatschen leichter Turnschuhe. Greer warf gehetzt den Kopf hin und her. Zischend fuhren die Stahlruten von Totschlägern auseinander.

Der Killer hatte keine Chance, wieder an seine Waffe zu kommen. Lautlos und geschmeidig bewegten sich vier junge Burschen auf ihn zu. Die roten Nylonjacken leuchteten. Die Totschläger wippten. Greer wurde bleich wie ein Laken. Mit einem fauchenden Laut kreiselte er herum und suchte sein Heil in der Flucht.

Tony Josselito erschauerte, als er einen erstickten Schrei und ein kurzes Gerangel in der Einfahrt hörte.

Sekunden später betraten zwei weitere Gestalten in roten Jacken den Hof.

»Entwischt«, sagte einer von ihnen lakonisch.

»Die Knarre hat er hiergelassen. Aber die Polizei wird nicht viel damit anfangen können – wegen der Handschuhe.«

Tony Josselito glaubte zu träumen.

Immer noch stand er reglos und verkrümmt an seinem Platz und starrte auf die Szene, die ihm vollkommen unwirklich erschien. Die Burschen in den roten Jacken, sechs an der Zahl, musterten ihn prüfend. Der Junge, der die Pistole aufgehoben hatte, fuhr sich mit den Fingern durch das schwarzblaue Haar.

»Eh, das ist doch Josselito«, sagte er.

»Und?«

»Der Kerl dealt!«

Schweigen. Ein unheilvolles Schweigen, wie Tony Josselito fand. Er triefte noch vor Schweiß von dem eben überstandenen Schrecken. Jetzt krampfte ihm eine neue Angst den schmerzenden Magen zusammen.

»Ich ... ich ...«, stammelte er.

»Wir mögen keine Dealer«, sagte der Junge, ein Puerto-Ricaner. »Rückst du den Stoff heraus, wenn wir dich gleich höflich bitten!«

»K-k-klar! K-könnt ihr haben! Alles!« Josselito überschlug sich fast vor Eifer. Mit zitternden Fingern zerrte er das Lederfutteral unter dem Hemd hervor.

Merkwürdigerweise machte niemand Anstalten, ihm den Stoff abzunehmen.

»Da drüben ist ein Gully«, sagte der Puerto-Ricaner. »Genau der Platz, wo Rauschgift unserer Meinung nach hingehört. Reiß die Briefchen auf und schick das Teufelszeug auf die Reise!«

Tony Josselito nickte schicksalsergeben.

Ihm war so übel, dass ihm sogar Heroin im Wert von mehreren Hundert Dollar nebensächlich vorkam. Gehorsam wankte er über das schadhafte Kopfsteinpflaster. Gehorsam riss er die Briefchen auf und schüttete das weiße Pulver in den Gully.

Als er wenig später mit weichen Knien den Hinterhof verließ, verstand er die Welt nicht mehr.

Bruchstücke von Wahrnehmungen durchdrangen den Nebel der Betäubung.

Alkoholdunst und betrunkenes Gelächter ... Ein rüttelnder Zug, nervtötendes Geschepper von Bierdosen, die hin und her rollten ... Der Geruch nach Schweiß, die Übelkeit, pochender Schmerz in den Knochen ...

Irgendwie gelang es meinem benommenen Hirn, die durcheinanderwirbelnden Puzzleteilchen zu einem Bild zu verbinden.

Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Nur mit der Zusammenarbeit zwischen Hirn und Muskel klappte es durchaus nicht schlagartig. Ich wollte mich hochstemmen, sank ächzend zurück und hatte Mühe, die Augen zu öffnen.

Was ich sah, weckte den lebhaften Wunsch in mir, über PSI-Kräfte zu verfügen. Genauer gesagt, über die Fähigkeit der Teleportation. Ich hätte keine Sekunde gezögert, mich meilenweit von diesem Ort wegzuteleportieren.

Immer noch lag ich auf dem Mittelgang eines rüttelnden U-Bahn-Wagens, der nach Norden sauste.

Vor der Nase hatte ich die schmutzigen Stiefel von drei Rockern in schwarzem Leder. Einer von ihnen spielte mit meinem 38er. Alle drei waren sichtlich angetrunken und mussten breitbeinig balancieren wie Seeleute auf einem schaukelnden Kahn. Vielleicht hätte ich, groggy, wie ich war, trotzdem eine Chance gehabt, mit ihnen fertig zu werden. Das Problem bildete Jack Calvin. Er hatte das Knie auf eine Sitzbank gestemmt, zielte mit seiner Pistole auf meinem Kopf und lächelte hasserfüllt.

»Mensch, guck mal!«, wunderte sich einer der Rocker.

»F – B – I«, entzifferte sein Kumpan den Prägestempel auf dem Lauf des 38ers.

»Ich sag ja, das ist ein Fed!«, hetzte Jack Calvin. »Los, schnappt ihn euch! Macht ihn alle! Der Dreckskerl hat hier herumgeschnüffelt! Ein Cop, versteht ihr? Einer von denen, die euch das Leben sauer machen!«

Die Lederjackenboys wechselten Blicke.

Sie waren betrunken. Ihre grauen Zellen arbeiteten entsprechend langsam. Aber sie schienen den Vorschlag des Killers durchaus ernsthaft zu erwägen. Und sie hatten eben schon bewiesen, wie aggressiv sie waren, bedenkenlos bereit, an dem nächstbesten Opfer ihr Mütchen zu kühlen. Dass es mich traf, hielt ich für puren Zufall. Hätten sie den Wagen von der anderen Seite aus betreten, hätten sie wahrscheinlich auf Calvin herumgetrampelt.

Jetzt allerdings konnte ich mir zu meiner Lage nur noch gratulieren.

Der Killer geiferte vor Hass. Starr behielt er mich im Auge. Die Rocker standen zwischen mir und der rechten Sitzreihe. Ich sah keine Chance, sie anzugreifen. Selbst wenn ich hochkam, ohne dass sie mir den Schädel eintraten, konnte auf dem engen Gang nur ein heilloses Durcheinander daraus werden. Ein Tohuwabohu, in das Jack Calvin dann vermutlich auch noch blindlings hineinfeuern würde.

»Soll ich euch mal einen Trick zeigen, den ihr garantiert noch nicht kennt?«, fragte ich freundlich. Dabei stützte ich mich auf die Ellenbogen. Ungefähr in der lässigen Haltung eines Badegastes, der sich am Strand die Sonne auf den Bauch scheinen lässt.

Jack Calvin kniff wachsam die Augen zusammen. Die betrunkenen Rocker stierten überrascht auf mich herunter. Ich konnte fast körperlich spüren, wie die bedrohliche Woge von Angriffslust wieder etwas abebbte.

Zeit gewinnen, dachte ich.

Mein Freund und Partner Phil Decker war ebenfalls auf dem Bahnsteig gewesen, wo wir Calvin abfangen wollten. Der Zug raste Richtung Melrose. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis etwas passierte.

»Trick?«, echote einer der Rocker.

»Moment.« Ich grinste, zog die Knie an und versuchte, in aller Ruhe auf die Beine zu kommen.

»Stopp!«, giftete Calvin. »Du rührst dich nicht, oder ...«

»Ach, halt die Klappe!«, sagte ich wegwerfend.

»Ja, Maul halten!« Der Rocker, der mit meinem 38er spielte, drehte sich halb herum und richtete die Mündung auf den Killer. »Was bist du überhaupt für einer, du Typ? Was fällt dir ein, hier die Schnauze aufzureißen, he? Soll ich dir vielleicht mit der Schieße ein bisschen die Ohren rasieren?«

»Dann sieht er aus wie 'ne Rolle Drops«, kicherte Rocker Nummer zwei.

»Schöne Ohren hat er sowieso nicht«, tat der dritte das Seine dazu.

Gelächter brandete auf.

Die Mündung meines 38ers schwenkte spielerisch hin und her. Jack Calvin erbleichte. Eben noch hatte er die Rocker aufgehetzt, mich umzubringen. Jetzt sah er sich unversehens in die Rolle des Opfers gedrängt.

»Du Hund!«, krächzte er fassungslos. »Du verdammter Bastard! Du ...«

»Mach ihn alle, Willy!«, kommandierte der Wortführer der Rocker.

Calvins Züge verzerrten sich.

Mir krampfte es die Magenmuskeln zusammen. Die Situation war umgeschlagen, aber nicht entschärft worden. Der Killer verlor die Nerven. Ich begriff, dass er schießen würde. Jetzt, in dieser Sekunde ...

Klirrend wurde hinter ihm die Abteiltür aufgerammt.

Nichts hatte mich gewarnt, denn die Scheiben waren mit roter Sprühfarbe zugekleistert. Vielleicht lag es auch daran, dass die Burschen, die den Wagen betraten, knallrote Jacken trugen. Drei, vier, vielleicht fünf – genau konnte ich es nicht erkennen. Jack Calvin krümmte den Finger. Noch beim Abdrücken zuckte er in panischem Schrecken herum.

In dem engen Wagen sprengte mir der peitschende Knall fast die Trommelfelle.

Klirrend zerbarst eine Fensterscheibe.

»Angels!«, brüllte mir einer der Rocker ins Ohr.

Gleichzeitig hob sein Kumpan meine Dienstwaffe.

Ich wusste, dass schon ein Wunder geschehen musste, um in den nächsten Sekunden ein Blutbad zu verhindern.

Der Junge war höchstens zwölf Jahre alt und mager wie eine halb verhungerte Katze.

Seine Augen glänzten im Streulicht der Peitschenleuchte. Die Hände hatte er tief in die Taschen der ausgebeulten Jeans geschoben. Einen Moment lang beobachtete er den großen, hageren Mann, der gerade aus dem Schatten eines Hauseingangs kam und die Straße überqueren wollte. Der Junge zögerte. Dann trat er mit zwei schnellen Schritten an den Mann heran und zupfte ihn am Ärmel.

Ein Straßenkind, das einen Erwachsenen um ein paar Cents anbettelt – so sah es aus.

Timmy Hope, der sich tief hinter einen Müllcontainer duckte, wusste es besser. Gespannt beobachtete er, wie der magere Junge einen Geldschein aus der Jeanstasche zog. Der große Mann grinste.

Timmy Hope kniff die Augen zusammen. Er war gerade sechzehn geworden. Die rote Nylonjacke passte ihm noch nicht so recht. Sie schlotterte ein wenig um die schmalen Schultern.

Scutti, dachte er. Nat Scutti, dieses Schwein!

Auf der anderen Straßenseite nestelte der große Mann etwas unter seinem Gürtel hervor. Timmy konnte es nicht erkennen. Aber er wusste, was es war. Der magere Zwölfjährige grabschte danach und ließ es hastig in der Tasche seiner Jeans verschwinden. Der Mann kassierte die Dollars, wandte sich ab und strebte seinem Wagen zu.

Timmy Hope knirschte mit den Zähnen.

Er wusste, dass er nichts unternehmen konnte – fast nichts. Also wartete er, bis der Junge über die Straße flitzte, in den Schatten der Einfahrt tauchte und auf schnellen Beinen an den Müllcontainern vorbeilaufen wollte.

Mit einem Schritt trat ihm Timmy in den Weg.

Der Junge stieß einen erschrockenen Schrei aus. Ehe er zur Besinnung kam, hatte Timmy ihn am Kragen gepackt. Er klatschte ihm zwei saftige Ohrfeigen ins Gesicht. Als der Junge abwehrend die Arme hob, fuhr seine Hand in die Jeanstasche, und das Heroinbriefchen wechselte den Besitzer.

Unsanft stieß Timmy den Jungen gegen die Hauswand.

Er heulte fast vor Wut. »Du dreckiger Dieb! Das ist meins! Das hab ich gekauft, du Scheißkerl!«

Klatsch! Die nächste Ohrfeige stoppte den Ausbruch. Der Junge ließ die Arme hängen, weil er solchen Argumenten nichts entgegenzusetzen hatte.

»So«, sagte Timmy Hope zufrieden. »Und jetzt pass mal auf, was ich mit dem dreimal verfluchten Dreckzeug mache.«

Mit großen Augen sah der Junge zu, wie sich sein Heroin als weißer Puder auf dem überquellenden Inhalt des Müllcontainers verteilte.

»Mann«, murmelte er. »Hast du 'n morschen Keks, oder bist du 'n Narc?«

»Quatsch«, knurrte Timmy. »Ich bin ein Red Angel. Sag mal, hängst du schon lange an der Nadel?«

»N-nein. Hab's erst einmal versucht. Mit der Nadel überhaupt nicht. Scutti hat mir 'n Sniff spendiert.«

»Das Schwein!«, sagte Timmy grimmig.

»Aber ...«

»Mensch, bist du wirklich so dämlich? Der will nur Kasse machen! Wenn du erst süchtig bist, quetscht er dich aus wie 'ne vergammelte Zitrone, und dich macht das Zeug kaputt. Du kannst sie nicht alle auf der Reihe haben, wenn du da drauf reinfällst! Wie heißt du überhaupt?«

»Bobbie Quint«, kam es prompt.

»Okay, dann hau ab, Bobbie! Aber wenn ich dich noch mal mit Schnee erwische, prügle ich dich windelweich, verstanden?«

Der Junge zögerte. »Was ... was ist das überhaupt für 'n Verein – Red Angels?«, fragte er unsicher.

Timmy grinste.

»Ein feiner Laden sind wir«, behauptete er. »Kannst ja mal vorbeikommen. Abends im alten Speicher hinter dem Grand Concourse. Aber ich sag dir gleich, das ist nichts für 'n Baby.«

»Ich bin kein Baby!«, fuhr der Junge auf.

»Werden wir ja sehen. Und jetzt zisch ab!«

Sie schieden beinahe als Freunde.

Timmy Hope blieb noch einen Moment im Schatten der Einfahrt stehen. Er furchte die Brauen. Sein Gesicht verfinsterte sich wieder.

Scutti, dachte er.

Nat Scutti durfte nicht noch einmal Heroin an Kinder verkaufen.

Doch dazu musste er, Timmy, erst die anderen alarmieren.

2

Wie mit Feuer brannte sich die Szene in mein Hirn.

Der herumwirbelnde Killer mit der Pistole in der Faust. Vier Gestalten in roten Jacken hinter ihm. Ich selbst halb eingekeilt zwischen den betrunkenen Rockern.

Der Bursche, der meine Dienstwaffe erbeutet hatte, krümmte den Finger. Wen oder was er traf, schien ihn nicht zu interessieren.

Aus dem Stand warf ich mich nach vorn und schlug mit der Handkante zu.

Der Rocker brüllte, als sein Arm nach unten gefegt wurde. Der Schuss löste sich in der Sekunde, als mein Revolver zu Boden polterte. Die Kugel richtete keinen Schaden an. Doch sie veranlasste Jack Calvin, mit einem hysterischen Schrei erneut herumzuwirbeln.

Ich hatte mich tief in die Hocke sacken lassen, um den 38er zu erwischen.

Jetzt schwenkte die Mündung der Pistole auf mich zu. Aus!, schrie es in mir.

Aber zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden nahmen die Dinge eine völlig unerwartete Wendung.

Wer immer das Abteil betreten hatte, gehörte nicht zu den typischen New Yorkern, die am liebsten nichts sehen, nichts hören, nichts sagen und schon gar nichts tun.

Eine Gestalt in Rot schnellte mit einem Hechtsprung von hinten auf den Killer zu. Der Anprall warf Calvin nach vorn auf den Bauch. Der Junge in der roten Jacke landete über ihm. Ich federte blitzschnell hoch. Denn der Mörder hielt immer noch die Pistole in der ausgestreckten Hand. Blindlings drückte er ab und jagte den Rockern heißes Blei um die Stiefel.

Als ich Calvin die Waffe aus den Fingern trat, wandten sich die Betrunkenen in ihrer schwarzen Lederkluft bereits stolpernd und torkelnd zur Flucht.

Ich hatte mir den 38er geschnappt und tauchte nach der Pistole, um die Lage möglichst schnell zu bereinigen. Hinter den Rockern knallte die Abteiltür zu. Ihre Schritte entfernten sich.

Mein Blick zuckte zu den jungen Burschen in den roten Nylonjacken. Keiner von ihnen hielt eine Waffe in der Hand, keiner zeigte Angriffsabsichten. Jedenfalls keiner außer dem krausköpfigen Boy, der mir vorhin vermutlich das Leben gerettet hatte. Der krallte nämlich die Finger in Jack Calvins Haar und stieß den Killer ausdauernd mit der Nase in den Dreck.