Jerry Cotton Sonder-Edition 195 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sonder-Edition 195 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Als Debbie Shriver gekidnappt wurde, hasste sie ihre Entführer wie die Pest. Doch als ihr Vater die verlangten fünf Millionen Dollar Lösegeld zahlte, wollte Debbie nicht freigelassen werden. Und beim nächsten Überfall der Bande beging die Millionärstochter ihren ersten Mord ...


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Seitenzahl: 200

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Frontwechsel

Vorschau

Impressum

Frontwechsel

Als Debbie Shriver gekidnappt wurde, hasste sie ihre Entführer wie die Pest. Doch als ihr Vater die verlangten fünf Millionen Dollar Lösegeld zahlte, wollte Debbie nicht freigelassen werden. Und beim nächsten Überfall der Bande beging die Millionärstochter ihren ersten Mord ...

1

Sie schreckte auf, als sie die schleichenden Schritte jenseits der dünnen Lattentür hörte. Mühsam richtete sie sich auf. Ihre Hände waren wieder gefühllos, weil die dünnen Nylonstricke ihr das Blut abschnürten.

Die Schritte verharrten. Sie konnte ihre Entführer inzwischen genau an ihrem Gang unterscheiden. Der schleichende, auf dem rauen Zementfußboden kaum hörbare Schritt gehörte dem Anführer der Bande.

Der Schlüssel kratzte im Schloss. Dann schwang die Tür auf. Helles Licht fiel in den engen Verschlag, der ihr seit fast zwei Wochen als Unterkunft diente.

Als Gefängnis!

Ein schmales, fensterloses Verlies. Zwei Wände bestanden aus Bohlen und Brettern, die anderen aus Backsteinen, von denen der Anstrich längst abgeblättert war. Es roch nach feuchtem Mörtel und altem Maschinenöl.

Sie lehnte an der kalten Wand, legte den Kopf auf die Schulter und blinzelte gegen das helle Licht an, das durch die hohen Sprossenfenster des ehemaligen Fabriksaals flutete und den Mann, der im Rahmen stand, mit schimmerndem Glanz umhüllte.

Dieser Mann sah jeden Tag einige Male zu ihr herein, um sie stumm anzustarren. Wenn er sie ansprach, dann nur, um sie zu provozieren oder zu beschimpfen.

Er brachte ihr nicht das Essen. Er ersetzte auch nicht das Wasser in der Schüssel oder leerte den Blecheimer, der ihr als Toilette diente. Dafür sorgten die beiden Mädchen oder der dickliche Junge.

Aber auch sie sprachen nicht mit ihr. Sie hatte sie angefleht, mit ihr zu reden, irgendetwas. Nach drei Tagen hatte sie einen Koller bekommen. Sie hatte geschrien und sich gegen die Bretterwand geworfen, bis ihre Bluse nur noch in Fetzen an ihr hing und Blut über ihr Gesicht lief. Sie hatten sich zu dritt auf sie gestürzt, sie verschnürt und geknebelt. Als der große Mann ihr nach vierundzwanzig Stunden den Knebel abnahm, hatte sie sich in ihr offenbar unvermeidliches Schicksal gefügt und keine Forderungen mehr gestellt.

Jetzt stand er wieder in der Tür und starrte sie an aus Augen, die sie nicht sehen konnte. Sie machte ihn nur als Umriss aus. Er trug immer dieselben abgewetzten Jeans, Baseballschuhe und den leichten hellgrauen Pullover. Sein Haar war dunkel, vielleicht schwarz, und kurz geschnitten. Obwohl sie sein Gesicht kein einziges Mal deutlich wahrgenommen hatte, würde sie ihn wiedererkennen. Immer und überall. Seine Gestalt und mehr noch seine Bewegungen waren unverwechselbar.

Sie würde ihn identifizieren können. Und die beiden Mädchen und den dicklichen Jungen ebenfalls. Der dickliche Junge hieß Nick. Ein Mädchen hatte ihn einmal so genannt, als die Unterhaltung in der Halle jenseits der Bretterwand laut geworden war.

Es musste noch einen Mann geben. Den hatte sie bisher nicht zu Gesicht gekriegt. Er hatte eine hellere Stimme und sprach jenen blasierten Neuenglandtonfall, den man auch ihr, Deborah Shriver, aufzuzwingen versucht hatte. Doch selbst den Dozenten des vornehmen, exklusiven Medfield College war es nicht gelungen, aus ihr ein gehirnloses Püppchen zu machen, das die langweiligen Partys der Bostoner Society bereicherte. Die gezierte Sprache, die keine Auseinandersetzungen zuließ, stand bei ihr für Boston. Und Boston bedeutete Geld und Macht. Und Unterdrückung, Volksverdummung, Ausbeutung.

Sie war ein Neuenglandgirl. Sie hatte sich dagegen gewehrt, eines zu sein, sich aufgelehnt. Für kurze Zeit war sie zu einem Idol der Studentenbewegung aufgestiegen. Dann hatte sie den Kampf zu früh entmutigt aufgegeben und war auf den Weg zurückgekehrt, an dessen Ende groß das Wort ANPASSUNG stand.

Doch ihrem Schicksal war sie nicht entronnen. Weil sie die Tochter eines superreichen Neuenglandmanns war, hatten dieser schlanke Bursche und seine Komplizen sie entführt.

»Es geht los«, sagte er plötzlich. »Sie sind unterwegs.«

Deshalb war es nebenan so ruhig! Deshalb hatte es zum Lunch nur vertrocknete Sandwiches und zu warmes Dosenbier gegeben. Ihr Herz machte einen Sprung und zog sich schmerzhaft zusammen.

Würde dieser Mann sie töten, wenn er das Lösegeld hatte?

Sie war eine erwachsene, intelligente Frau. Er musste wissen, dass sie dem FBI unzählige Mosaiksteinchen liefern konnte, die schließlich ein Bild ergeben würden. Das Bild der Entführerbande. Drei junge Männer und zwei Mädchen, von denen eines schwanger war.

Er musste sie töten!

Aber noch war es nicht so weit. Erst musste die Übergabe des Lösegelds erfolgen. Danach, irgendwann danach, würde sie in diesem verlassenen Fabrikgebäude zurückbleiben. Wenn die Bande abzog, würden die Ratten über sie herfallen.

Sie schloss die Augen.

Sie sah das Gesicht ihrer Mutter vor sich. Warum dachte sie ausgerechnet jetzt an ihre Mutter? Sie hatte ihrer Mutter nie verziehen, dass sie sich in eine neue Freiheit aufmachte, ohne sie, Debbie, mitzunehmen.

Warum dachte sie ausgerechnet jetzt an ihre Mutter?

Selten hatte ich das Gefühl gehabt, dass der Ort für die Übergabe eines Lösegelds mit größerem Bedacht ausgewählt worden war wie diesmal. Und obwohl selten einmal so viele FBI Agents zugleich aufgeboten waren, eine Übergabe zu überwachen, hatte ich mich selten so allein gefühlt wie an diesem Mittwochnachmittag in Manhattan, mitten im Gewimmel der größten Busstation der Welt.

Mit seinen unzähligen Geschäften, Restaurants, Imbissbuden und Verkaufsständen für Hamburger, Eiscreme und weiß der Teufel was sonst noch, gleicht das weitläufige Gebäude eher einem orientalischen Basar als einem modernen Verkehrsknotenpunkt. Hinzu kommen die Anlaufstellen der Heilsarmee und der städtischen Drogenberatung, eine große Niederlassung der New Yorker Telefongesellschaft und eine Station der New York Port & Transport Authority Police, deren Mitglieder für die Sicherheit auf dem Gelände der Busstation verantwortlich sind.

Ich schlenderte an der oberen Galerie entlang, wo ich wenigstens so etwas wie einen Überblick hatte, obwohl er mir im Zweifelsfall vermutlich einen Dreck nützen würde. Okay, ein kleines Walkie-Talkie steckte in meiner rechten Brusttasche. Das Mikrofon war unterhalb des Revers angebracht. Ich konnte mit meinen Kollegen in Verbindung treten und die Hände frei behalten.

Und ich konnte die beiden großen Reisetaschen sehen. Je zwei Kollegen hielten sie an den Griffen fest, als wäre das Geld darin ihres.

Je fünf Millionen Dollar. Das Lösegeld für eine höhere Tochter.

Sie standen zwischen dem Aufgang zu den Chicago-Bussen und der Treppe zu den Rampen der Expressbusse, die in kurzen Abständen nach Harrisburg und Pittsburgh fuhren. In Rudeln schoben sich gepäckbeladene Fahrgäste an den Kollegen vorbei.

Die Busschienen auf den verschiedenen Abfahrtebenen sind direkt mit den Straßenröhren des Lincoln Tunnel verbunden, die unter dem Hudson River her nach New Jersey führen – und weiter westwärts.

Wir hatten keine Zeit gehabt, Spekulationen darüber anzustellen, wie die Kidnapper mit ihrer Beute davonzukommen gedachten.

Ihre letzte Anweisung hatten wir erst vor vierzig Minuten erhalten. Wie stets in den vergangenen dreizehn Tagen hatte ein anonymer Anrufer der FBI-Zentrale mitgeteilt, wo wir eine Mitteilung vorfinden würden. Diesmal lag der Brief in einem Papierkorb in der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes, nur ein paar Minuten vom Federal Building entfernt.

Der Gummistempel mit dem Abdruck eines Indianerkopfs, wie man ihn in jedem Spielzeuggeschäft kaufen konnte, dokumentierte die Echtheit der Nachricht. Wie alle anderen zuvor war sie auf einer alten Remington-Schreibmaschine geschrieben worden. Die Anweisungen waren präzise. Das Geld, das seit Tagen im FBI Field Office bereitlag, sollte zum Bus Terminal gebracht werden. Die Überbringer sollten sich zwischen den beiden genau bezeichneten Zugängen aufstellen und weitere Nachrichten abwarten.

Ich wurde angerempelt und wirbelte herum. Ein Mann sah mich erschrocken an. Als ich ihn scharf musterte, ging er eilig weiter.

Im Lauf der Verhandlungen hatten die Kidnapper eine Menge Forderungen gestellt. Nur das eine, sonst übliche und meist kategorisch vorgebrachte Verlangen, auf keinen Fall Polizei oder FBI einzuschalten, war nicht vorgebracht worden. Ein Umstand, der uns zu denken gab und Rückschlüsse auf die realistische Einstellung der Kidnapper zuließ, die einfach davon ausgingen, dass sich die Entführung eines Mitglieds des Shriver-Clans nicht verheimlichen ließ.

Ich vermutete darüber hinaus, dass sich die Kidnapper einen Dreh ausgedacht hatten, wie sie die gefährlichste Klippe in einem Fall von Menschenraub, nämlich die Lösegeldübergabe, unbeschadet und ohne Spuren zu hinterlassen, durchziehen konnten.

Ich sah immer noch dem Mann nach, der mich angerempelt hatte.

Ich tippte gegen das Mikrofon.

»Da hat mich gerade ein Mann angerempelt«, sagte ich leise. Das empfindliche Mikrofon übertrug meine Stimme störungsfrei. »Mittelgroß, karierte Hosen, Cordjacke, grauer Hut. Seht ihn euch mal an.«

»Verstanden«, bestätigte mein Freund und Partner Phil Decker, der in der Zentrale der Transportcops an den Fernsehmonitoren saß, mit deren Hilfe die ganze gewaltige Anlage bis hinunter zu den Plattformen der U-Bahn überwacht wurde. »Ich habe ihn auf dem Schirm. – George, er kommt jetzt bei dir vorbei. – Jerry, pass auf, da kommt eine ganze Gruppe ... Verdammt, ich habe keine Kamera, die von oben auf die Stelle hält.«

Mehrere Männer mit breitrandigen Texashüten schoben sich an den Kollegen mit dem Geld vorbei. Ich atmete auf, als ich die Taschen wieder sehen konnte. Die Kollegen warfen einander erleichterte Blicke zu, obwohl zu Erleichterung nicht der geringste Anlass bestand.

Augenblicke später meldete sich Phil erneut. »Jerry, ich habe hier einen Anruf für dich. Kennwort Kiowa.«

Kennwort Kiowa bei mündlicher Kontaktaufnahme – und der Abdruck eines Indianerkopfs auf schriftlichen Mitteilungen! Weder wir vom FBI noch jemand aus der Umgebung Edward C. Shrivers hatten ein Wort über die mit den Kidnappern vereinbarten Erkennungsmerkmale der Presse mitgeteilt. Auf diese Weise konnten wir sicher beurteilen, ob eine Nachricht von den Kidnappern stammte oder ob sich ein Spinner oder Trittbrettfahrer einzuschalten versuchte.

»Hat der Anrufer meinen Namen genannt?«

»Nein. Er verlangt, dass der G-man, der oben auf der Südseite der Galerie steht, zu den Telefonkabinen zwischen dem Buchladen und der Kosmetikboutique geht. Er ruft dort an. – Ja, ich höre. – Die dritte Kabine von links. – Jerry, hast du verstanden? Die dritte von links!«

»Verstanden.«

»Er hat aufgelegt. Jerry, du brauchst es nicht zu tun.«

»Red keinen Quatsch!«, sagte ich unwirsch.

Ich sollte eine bestimmte Kabine betreten. Ich blickte zur anderen Seite der Galerie hinüber. Dort am Geländer standen meine Kollegen Jimmy Stone und Larry Hopkins. Sie hatten den kurzen Dialog über ihre Funkgeräte mitbekommen. Beide blickten herüber.

Ich tastete mit den Augen die dunklen Stellen unter der Dachkonstruktion ab. In den Schatten unter der abgehängten Decke, zwischen den eckigen Klimaschächten und den dick verkleideten Heizungsrohren konnte sich ein Scharfschütze verstecken, der uns zeigen wollte, dass die Kidnapper es ernst meinten.

Ein toter G-man wäre wohl Beweis genug. Dazu eine Panik in der überfüllten Halle zur Rushhour! Über die Rolltreppen kamen sie in dichten Pulks von der Subway und den unterirdischen Fußgängerpassagen vom Times Square herauf. Ein Prediger erhob seine Stimme. Die meisten hasteten vorbei. Doch andere, zumeist jüngere Schwarze, blieben stehen und bildeten einen Keil, der die Menge teilte.

Die acht Telefonkabinen standen zwischen den beiden Geschäften in einem kurzen Gang. Die dritte war belegt. Ich hielt meinen Ausweis sichtbar in der Hand und öffnete die Tür.

»FBI«, sagte ich. »Das ist ein Notfall. Räumen Sie bitte die Kabine.«

Der Mann in der Kabine war übergewichtig. Seine Wangen bedeckten sich mit hektischen roten Flecken. Ich entwand ihm den Hörer und zog ihn aus der Zelle. Mein harter Blick ließ ihn seinen Protest vergessen.

»Verzeihen Sie«, sagte ich zu ihm und in den Hörer.

Undeutlich murmelnd zwängte er sich in die freie Nachbarkabine. Ich hängte den Hörer auf den Haken.

Der Apparat begann wenige Sekunden später zu läuten. Ich nahm den Hörer ab und zog die Tür zu. Mein Funkgerät würde meinen Teil des Gesprächs auf Phils Empfänger übertragen. Phil würde dafür sorgen, dass die Kollegen, die mit Kameras ausgerüstet waren, die Telefone im Bereich der Anlage fotografierten. Viel würde nicht dabei herauskommen. Es gab einfach zu viele Telefone in diesem Bau.

»Hallo«, sagte ich.

»Hallo«, sagte die etwas verwaschene Stimme. »Kennwort Kiowa. Sie stehen mit Ihren Leuten über Funk in Verbindung?«

»Ja.« Ich unterdrückte ein grimmiges Zähneknirschen.

Wir hatten eine Menge Männer und Material aufgeboten. Trotzdem sollten die Kidnapper das Geld erhalten. Ohne Mätzchen oder Kinkerlitzchen. Edward C. Shriver, der Chef des Shriver-Clans, hatte sich taub gestellt, als wir ihm andere Möglichkeiten aufgezeigt hatten. Weiter verhandeln. Ein neues Lebenszeichen verlangen. Die Scheine präparieren. Minisender in die Bügel der Taschen bauen ...

Shriver wollte kein Risiko eingehen. Es war sein Geld, das er hinauswarf. Und es war seine Tochter, die er zurückhaben wollte. Unbeschädigt, wenn es ging. Wenn ihr ein Haar gekrümmt werden sollte, würde er notfalls hundert Millionen Dollar aufwenden, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Das hatte er im Fernsehen verkündet. Ernst und nachdrücklich. Ich glaube nicht, dass irgendjemand an der Entschlossenheit dieser Aussage zweifelte.

Die Zeitungen hatten alles über ihn und seine Familie gebracht. Jeder im Land wusste, dass seine Tochter Debbie sein Ein und Alles war, auch wenn sie ihn in aller Öffentlichkeit einen Kapitalisten und Ausbeuter nannte, schlimmer als die Gangster der Mafia. Vielleicht war es ihre Kraft, die ihm imponierte.

Die Kraft seiner Tochter vermisste er bei seinem jüngeren Sohn aus zweiter Ehe, den er für degeneriert hielt und deshalb verachtete. Wäre er entführt worden, hätte Shriver uns vermutlich freie Hand gelassen.

»Sie werden Ihren Leuten, die unten mit den beiden Taschen stehen, gleich sagen, was sie zu tun haben, Sir«, sagte die höfliche Stimme.

»Wir werden uns an die Vereinbarungen halten«, erwiderte ich neutral.

»Das will ich annehmen, Sir«, sagte der Fremde gelassen. »Wir haben uns nämlich etwas ausgedacht, Sir. In der Ablage unter dem Apparat steht eine Dose. Können Sie sie sehen?«

Ich bückte mich und schob das angekettete Telefonverzeichnis zur Seite. Richtig, dort stand eine ganz normale verschlossene Zweipfunddose aus Weißblech, allerdings ohne Etikett.

»Ich kann sie sehen«, sagte ich.

»Holen Sie die Büchse mal raus, Sir«, verlangte der Anrufer.

Ich streckte eine Hand aus und griff nach der Dose. Als meine Finger das Blech berührten, zuckten sie zurück.

Das Metall war heiß wie eine Ofenplatte. Dann schoss ein Gedanke durch meinen Schädel. Das Ding unter der Ablage strahlte wie der Uranstab in einem Kernreaktor. Ich verspürte den Drang, einfach wegzulaufen, aber ich drehte mich nur um und sah durch die Türscheibe auf das Gewühl draußen, wo sich irgendwo ein Verbrecher mit einem teuflischen Gehirn versteckte.

Meine Sinne waren aufs Äußerste gespannt. Es roch schon sehr eigenartig. Meine Hand, die den Hörer umklammerte, wurde glitschig.

»Was haben Sie sich ausgedacht?«, fragte ich laut.

»Es ist nur Wärmestrahlung«, sagte die höfliche Stimme beschwichtigend. »Haben Sie keine Angst, Sir. Die Dose enthält ein Thermitgemisch. Eisenoxyd, Aluminiumpulver und Bariumperoxyd. In dem Gemisch läuft eine exotherme Reaktion ab. Der Sauerstoff des Eisenoxyds verbindet sich mit dem Aluminium. Die Temperatur wird so hoch ansteigen, dass sich das Eisen verflüssigt. Die Blechhülle wird einfach verbrennen.«

»Warum holen Sie sich das verdammte Geld nicht?«, schrie ich.

Das Holz, auf dem die Büchse stand, begann zu qualmen.

»Behalten Sie die Nerven!« Die Stimme zischte jetzt wie ein Schaumlöscher. »Hören Sie mir genau zu, denn viel Zeit haben wir nicht! Vierzig solcher Brandsätze haben wir im Bereich des Terminal verteilt. Vorwiegend in leicht brennbarer Umgebung. Hinter Zeitungsstapeln oder in Boutiquen unter Stoffballen.«

Der große, schlanke Bursche in den engen, abgewetzten Jeans löste sich aus dem Rahmen der Lattentür. Er ging um die Pritsche herum wie um eine Pfütze. Am Fußende des improvisierten Bettgestells blieb er stehen. Mit einer fließenden, auf Wirkung bedachten Bewegung drehte er sich halb herum und stützte eine Hand auf die Hüfte.

Zum ersten Mal sah sie sein Gesicht. Es war kantig und irgendwie hässlich mit der mehrfach gebrochenen Nase und dem großen, schief sitzenden Kinn. Die Lippen waren schmal und dünn und halb geöffnet. Aknenarben bedeckten die Stirn wie Brandspuren. Die hellgrauen Augen sahen sie von oben herab herausfordernd an.

Sie wich den Augen aus. Ihr Blick fiel auf die Ausbeulung vorn in seiner Hose. Großer Gott, nein, dachte sie, und ein Schauer packte sie. Bisher hatte sie nie daran gedacht, dass sie vergewaltigt werden könnte. Aber jetzt war sie mit dem Kerl allein.

Er rührte sich nicht. Er starrte sie nur an. Sie sah auf seine Hose. Ihr Mund füllte sich mit Speichel. Sie spürte ein Ziehen in ihrem Unterleib, dass sie nur zu gut kannte. Sie hatte seit vier Wochen keinen Sex mehr gehabt. Bruce ... Sie konnte sich nicht mehr an seinen Körper erinnern. Er war weiß gewesen und angenehm – ja, das wusste sie noch.

Ausgerechnet jetzt dachte sie an Sex. Es war ein animalisches Gefühl. Sie zog die Beine an und schlang die aneinandergefesselten Arme um ihre Knie.

»Es wird noch ein paar Stunden dauern, bis die anderen mit dem Geld zurück sind«, sagte er, ohne mehr als die Lippen zu bewegen.

»Und wann lassen Sie mich endlich frei?«

»Oh, das werden wir dann sehen ... Wir brauchen Sicherheit!«

»Sie werden mich nie freilassen! Sie können mich gar nicht laufenlassen!«, schrie sie.

»Sie lesen zu viele schlechte Kriminalromane«, sagte er.

»Ich kann Sie alle beschreiben und vor Gericht identifizieren!«

»Das macht uns nichts aus. Wenn wir in Sicherheit sind, können alle wissen, wer wir sind. Dann sollen auch alle erfahren, warum wir es getan haben.«

Sie hob den Blick. Seine Augen hatten sich verdunkelt. Sie glänzten wie nasse Kieselsteine.

»Es wäre billig, eine wie Sie zu töten«, fügte er hinzu.

»Warum hassen Sie mich?«, fragte sie.

Er warf den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund zu einem lautlosen Lachen. Sein Körper zuckte dabei.

»Warum sollte ich dich hassen?«, gab er zurück. »Ich kenne dich gar nicht.«

Unverwandt sah sie in das zerklüftete Gesicht, dessen Züge keine Ähnlichkeit mit den Gesichtern aufwiesen, die sie kannte. Und doch hatte sie plötzlich das Empfinden, dass der Mann vor ihr einer war wie sie.

Wie sie bis vor ungefähr einem Jahr gewesen war, schränkte sie ein.

Mit einer schroffen Bewegung drehte er sich um. »Willst du irgendetwas? Bier? Oder was zu essen? Ich kann auch Kaffee machen.«

»Nimm mir die Stricke ab«, bat sie. »Sie tun so weh ...«

Zwei-‍, dreimal am Tag hatte ihr der dickliche Junge die Stricke abgenommen, damit sie essen und sich waschen konnte. Ein Mädchen war jedoch immer bei ihr im Verschlag geblieben. Meistens die Schwangere mit den zotteligen Haaren.

Sie sah, wie der Mann unsicher eine Schulter hob.

»Ich will mich waschen«, sagte sie leise.

Er wandte sich wieder um, aber sie konnte seine Augen nicht erkennen, weil sein Gesicht im Schatten lag. Er machte einen langsamen Schritt auf sie zu und kniete dann mit einem Bein auf der Pritsche. Sie spürte seinen Atem auf ihren Armen, als er sich herabbeugte. Seine Finger strichen über ihre Haut, während er die Knoten löste. Er wickelte die Schnur um seine Hand und richtete sich auf. Rückwärts verließ er die enge Kammer und schloss die Tür.

Sie zog die Bluse aus, die ihr eines der Mädchen gegeben hatte, weil ihre eigene nur noch aus Fetzen bestand. Sie legte den Büstenhalter ab und zog auch die Jeans aus. Fiorello-Jeans. So weit war es mit ihr schon wieder gekommen, dass sie Fiorello-Jeans trug, wenn es schon Jeans sein mussten. Sie schleuderte die Zweihundert-Dollar-Hosen auf den Boden und trat an die Waschschüssel, die auf einem wackligen Stuhl stand.

Sie hatte gerade ihr Gesicht nass gemacht, als sie die Tür hinter sich hörte. Wollte er doch nur die Situation ausnutzen? Langsam drehte sie sich um und hob die Arme vor die Brüste.

Sie trug nur ein dünnes, fast durchsichtiges Höschen. Immerhin ist es sauber, dachte sie mit einem Anflug von Sarkasmus. Die Mädchen hatten es zugelassen, dass sie das Höschen regelmäßig wusch.

Er stand in der Tür mit einem Topf in der Hand.

»Ich habe warmes Wasser«, sagte er. »Ich stelle es hierhin.«

Sie ließ die Arme sinken. Ihre Brüste waren groß, aber sie sanken keinen Inch nach unten. Die Warzen waren klein und hellbraun.

Wenn das Licht von der Seite darauf fiel, schimmerten sie wie durchsichtiges Porzellan.

»Du kannst ruhig herkommen«, sagte sie. Ihre Stimme klang belegt.

Er kam und goss das Wasser in die Schüssel. Dampf stieg auf, und einige Tropfen spritzten gegen ihre Schenkel.

»Wie viel Zeit haben wir?«, fragte sie.

»Zeit genug«, antwortete er. Er stellte den Topf auf den Boden. Als er sich wieder aufrichtete, strich er mit zwei Fingern über ihre linke Wade, durch die Kniekehle, den Oberschenkel hinauf. Und dann lag seine Hand groß und hart auf ihrer Kehrseite, und er presste sie an sich.

Ihre Knie wurden weich, und sie sank nach hinten hinüber.

2

Meine Nasenflügel blähten sich. Der Rauch in der Kabine wurde bereits dichter. Aber ich presste den Hörer an mein Ohr, weil ich den Kontakt zu dem Kidnapper auf keinen Fall verlieren durfte.

Vierzig Brandsätze hatten die Gangster in diesem Bau verteilt! Die Reaktion des Thermitgemischs ließ sich nicht mehr aufhalten. Eine Panik schien unvermeidlich.

»Wir haben ein Verzeichnis hier im Gebäude versteckt, auf dem alle vierzig Positionen genau vermerkt sind«, sagte die verwaschene Stimme gerade. »Wenn unsere Leute die Taschen erhalten und feststellen, dass sie wirklich das Geld enthalten, rufe ich die Sicherheitszentrale an und teile Ihrem Kollegen mit, wo die Liste liegt.«

»Wie lange noch?«, fragte ich. Mein Gott, warum quasselte der Kerl denn so lange?

»Die Blechwände werden in etwa acht bis zwölf Minuten durchbrennen. So ganz genau kann man das beim Thermitverfahren nicht im Voraus berechnen. Die Dose in Ihrer Kabine, Sir, wird nur etwas früher zu qualmen beginnen ...«

Er hat recht, dachte ich. Die Dose unter der Ablage bekam plötzlich ein schwach rot glühendes Band um ihre Mitte, das schnell in ein dunkles Kirschrot überging. Das Band teilte sich, und zwei rote Linien wanderten nach oben und unten, während das Blech in der Mitte heller zu glühen begann und schließlich in grellweißer Glut aufleuchtete.

Mit leisem Knistern zerbröckelte das verbrannte Blech. Die Thermitmasse quoll heraus und fiel auf die hölzerne Unterlage. Erstickender Rauch stieg in meine Nase.

»Wenn Sie die Kabine verlassen, Sir, hängt gleich links an der Säule ein Feuerlöscher. Allerdings wird er nicht viel ausrichten, weil sich die Masse selbst mit Sauerstoff versorgt. Sir, dort, wo Ihre Leute mit den Geldtaschen stehen, befindet sich hinter ihnen eine Stahltür in der Betonwand. Auf der Klappe steht ein Schild Vorsicht! Hochspannung!. Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen die Tür öffnen. Los, sagen Sie es Ihnen!«

Ich unterdrückte einen Hustenanfall. »Steve! Hinter dir ist eine Klappe oder eine Tür mit der Aufschrift Vorsicht! Hochspannung!.«

»Ist da«, bestätigte Steve. »Wir haben versucht, sie zu öffnen und hineinzuschauen, aber sie war verriegelt.«

»Jetzt nicht mehr. Mach sie auf! Schnell!«

Die Stimme des Fremden meldete sich wieder. »Ihre Leute sollen sich keine Sorgen machen. Es handelt sich nur um einen nicht benutzten Reserveschacht. Es befinden sich keine Hochspannungsschalter, stromführende Schienen oder Kabel darin.«

»Was jetzt?«, hustete ich in den Hörer. Ich kriegte schon keine Luft mehr. Doch die Tür zu meiner Zelle wollte ich nicht öffnen. Der Rauch hätte Neugierige angelockt. Und Zuschauer mit langen Ohren konnte ich nicht gebrauchen.

»Ihre Leute sollen die Taschen reinschieben und einfach runterschmeißen. Weg damit! Und die Klappe wieder schließen. Sagen Sie es ihnen.«

»Schmeißt die Taschen in den Schacht«, keuchte ich.

»Okay, Jerry«, kam Steves Stimme dünn aus dem kleinen Gerät in meiner Jacke. »Sie sind weg.«

»Sie sind drin«, sagte ich laut.

»Das war's für den Moment, Sir. Vielen Dank!«

Die Leitung war tot. Ich ließ den Hörer fallen und taumelte aus der Zelle. Die Luftzufuhr ließ das Holz der Ablage unter der hohen Temperatur des Thermitgemischs sofort in Flammen aufgehen. Rauch quoll aus der Kabine. Ein paar Leute blieben stehen und sahen in meine Richtung.

Hustend, würgend und augenreibend schob ich mich zwischen ihnen her und riss den Feuerlöscher aus der Halterung an der Säule.

»Gehen Sie weiter!«, rief ich den Gaffern zu und schlug auf den Verschluss des Löschers. »Phil, gib Alarm für die Feuerwehr!«

»Schon geschehen.«

Löschpulver wirbelte wie Schnee in die Telefonkabine.

Irgendwo in der riesigen Halle schrie jemand auf. Woanders fiel eine schrille Stimme angstvoll ein.

»Feuer!«, kreischte es. »Um Gottes willen – Feuer!«

Eine Alarmglocke begann zu schrillen. Die ersten Rauchsensoren sprachen auf den zur Decke steigenden Qualm an und öffneten die Sprinklerventile.

Ich stand im Regen.

Dieser Bastard, dachte ich voller Wut. Er hatte gelogen. Von wegen acht bis zwölf Minuten!

Der Löscher verspuckte sein letztes Pulver. Ich warf das leere Gehäuse auf den Boden und sprang ans Geländer der Galerie. Hinter mir rannten schreiende Menschen her.