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Als der berühmte Künstleragent die Sängerin Julie Dwyer zum ersten Mal hörte, verklärten sich seine Augen. "Wir haben schon manche Königin am Broadway gehabt", schwärmte er. "Julie ist eine Göttin. Jerry, ich mache sie zur Venus vom Broadway!" Aber Julie weigerte sich. Sie wollte unerkannt bleiben. Ein schreckliches Geheimnis umgab sie. Wer Julies Geheimnis aufklären wollte, fand den Tod. Als Erster musste ein Privatdetektiv dran glauben. Und nun waren wir vom FBI an der Reihe ...
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Veröffentlichungsjahr: 2023
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Die Venus vom Broadway
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Impressum
Die Venus vom Broadway
Als der berühmte Künstleragent die Sängerin Julie Dwyer zum ersten Mal hörte, verklärten sich seine Augen. »Wir haben schon manche Königin am Broadway gehabt«, schwärmte er. »Julie ist eine Göttin. Jerry, ich mache sie zur Venus vom Broadway!« Aber Julie weigerte sich. Sie wollte unerkannt bleiben. Ein schreckliches Geheimnis umgab sie. Wer Julies Geheimnis aufklären wollte, fand den Tod. Als Erster musste ein Privatdetektiv dran glauben. Und nun waren wir vom FBI an der Reihe ...
1
Julie Dwyer verneigte sich knapp. Dann verließ sie das Podium und tauchte in den Schatten neben der winzigen Bühne. Der spärliche Beifall verklang genauso schnell wie der Nachhall ihrer Stimme.
Im Schatten stand Lenny Luizzi mit ihrem Bademantel.
Julie stieg hinein. »Danke, Lenny.«
Beifall brandete auf, als Caren Cole auf das Podium sprang. Caren kam gleich nackt auf die Bühne. Ihre beachtliche Oberweite ließ die Gäste der Bar die Sängerin schnell vergessen.
Julie ging in ihre Garderobe. Der Raum war beängstigend eng. Sie setzte sich vor den Schminktisch.
Lenny quetschte sich mit hinein. Reglos verharrte er neben der Tür. Im Spiegel sah sie seinen Schatten. Sie band ihr Haar hoch und machte sich daran sich abzuschminken. Sie vergaß Lenny. Lenny war immer in ihrer Nähe. Seit zwei Jahren.
Es klopfte an der Tür. Lenny öffnete.
»Was ist denn?«, fragte er barsch.
»Telefon für Miss Dwyer«, sagte eine mürrische Stimme.
Die Stimme gehörte Hilda Bartle, die vorn an der Garderobe des Spotlight arbeitete. Hilda musste die Garderobe allein lassen und sich durch das ganze Lokal kämpfen, wenn ein Anruf für einen Angestellten oder eine der Künstlerinnen bei ihr ankam, weshalb sie die meisten Anrufer mit Ausflüchten beschied oder einfach auflegte.
Bei Julie Dwyer machte sie eine Ausnahme. Nicht nur weil Julie unter dem besonderen Schutz des Chefs stand. Sie mochte Julie. Julie erinnerte sie an ihre eigene Jugend, als sie in ähnlich düsteren Schuppen wie dem Spotlight getanzt und gesungen und auf eine Karriere gehofft hatte.
»Wer ist es denn?«, fragte Lenny.
»Weiß nicht«, gab Hilda zurück. »Sie sagt nur, sie müsse Miss Dwyer sprechen. Es sei wichtig. Soll ich wieder auflegen?«
Julie hatte bereits eine dicke Fettschicht aufs Gesicht geschmiert. »Lenny, gehen Sie bitte, ja? Fragen Sie, wer es ist.«
Lenny ging hinter Hilda her durch den engen Flur. »He, Hilda, dein Arsch wird ja immer fetter!«
»Sie haben ein böses Maul, Luizzi«, sagte Hilda, ohne sich umzudrehen. Sie quetschte sich an die Wand, als Caren Cole von der Bühne kam.
Caren keuchte und schwitzte, und ihre schweren Brüste schwangen hin und her. Lenny streckte eine Hand aus und schnippte nach dem üppigen Fleisch. Caren klopfte ihm auf die Finger, wobei sie über ihr schweißglänzendes Gesicht grinste.
Es war erst früh am Nachmittag. Trotzdem war der Zuschauerraum schon gut besetzt. Im Garderobenvorraum drängten sich mehrere Männer. Ausländische Touristen, wie Lenny Luizzi vermutete. Hilda murmelte Entschuldigungen, als sie unter der Klappe her kroch und sich über die Mäntel der neuen Gäste hermachte.
Das Gästetelefon hing vor der Garderobe. Der Hörer baumelte an seinem Kabel.
Lenny nahm ihn auf. »Hallo? Wer ist da?«
Am anderen Ende der Leitung hörte er einen scharfen Atemzug.
»Hallo!«, rief er. »Verdammt, warum melden Sie sich nicht?«
»Ich muss Miss Dwyer sprechen«, sagte eine weibliche Stimme, die kläglich klang.
»Miss Dwyer kann jetzt nicht ans Telefon kommen. Wer ist denn da?«
»Mrs. Rosen. Ich bin Mrs. Rosen.«
»Warum sagen Sie das nicht gleich?«
»Sie kennen mich?«
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Lenny kurz angebunden. »Was gibt's denn?«
Alma Rosen hieß die Frau, in deren Haus Julie wohnte. Viel mehr wusste Lenny nicht über Alma Rosen. Natürlich kannte er das Gerücht, dass Alma Rosen eine alte Freundin oder Bekannte von Gliddy Gliddon, dem Boss, sein sollte. Gliddon war Besitzer des Spotlight.
»Um Gottes willen! Ich muss es ihr doch sagen ...« jammerte Alma Rosen.
»Was, zum Teufel?«, fragte Lenny so laut, dass die Gäste an der Garderobe die Köpfe wandten und ihn anstarrten.
»Alvin ist verschwunden! O Gott, und ich weiß nicht, was ich tun soll!«
Lenny Luizzi schluckte. Alvin war Julies Sohn. Wenn er sie nachts nach dem letzten Auftritt nach Queens hinüberfuhr, sprach sie nie viel von sich. Nur ihren Jungen erwähnte sie hin und wieder. Er ging noch nicht zur Schule ...
»Verschwunden? Was soll das heißen?«, fragte er rau.
»Ich weiß es nicht! Nach dem Mittagessen ist er mit Rocco rausgegangen wie immer ...«
»Wer ist Rocco?«
»Der Hund! Alvins Hund. Vor einer halben Stunde kam Rocco allein zurück. O Gott, ich habe alles abgesucht! Niemand hat ihn gesehen, und auf dem Spielplatz ist er nicht ...«
»Bleiben Sie ganz ruhig, Mrs. Rosen«, murmelte Lenny ratlos. Er überlegte, was er zuerst tun sollte – Gliddy Gliddon Bescheid sagen oder Julie.
Er entschied sich für den Boss.
»Warten Sie, Mrs. Rosen«, sagte er in den Hörer. »Ich rufe Sie wieder an. Oder Julie ruft an«, fügte er schnell hinzu.
»Sagen Sie ihr, dass ich die Polizei angerufen habe ...«
»Was haben Sie?«, schrie Lenny.
»Ich wusste doch nicht, was ich tun sollte!«
»Sie blöde Kuh!«, fauchte Lenny in den Hörer.
Wenn in Bayside, einem Ortsteil im Osten von Queens, ein Kind nicht rechtzeitig zum Essen kommt, bedeutet das stets höchste Alarmstufe für die Polizei. Vorsichtshalber wird das FBI sofort um Unterstützung ersucht und nicht erst nach der sonst üblichen Vierundzwanzig-Stunden-Frist.
Denn Bayside gehört zu den teuren Adressen von New York City. Die großen Villen über den Klippen an der Little Neck Bay und die Sommerhäuser in den Dünen bewohnen wohlhabende Rechtsanwälte oder Ärzte, Makler oder Kaufleute aus Manhattan.
Um 16:32 Uhr leuchtete das rote Ruflicht in der Cafeteria des FBI Office auf. Da ich Bereitschaftsdienst hatte, ließ ich meinen Kaffee stehen und rannte in die Einsatzzentrale hinüber.
»Du bist ja schneller als die Feuerwehr«, sagte George Baker, der Einsatzleiter der Nachmittagsschicht. Er hielt einen Telefonhörer in der Hand. Mit dem deutete er auf den freien Sessel neben seinem Pult. »Setz dich erst mal. Ich warte noch auf Informationen ...«
»Worum geht es?«, fragte ich.
»Ein verschwundenes Kind ...«
»Kidnapping?«
»Augenblick ...« George presste den Hörer an sein Ohr, rief »Hallo?« und wandte sich wieder mir zu, als er keine Antwort bekam. »Es gibt noch keine konkreten Hinweise, weder so noch anders. Vielleicht ist der Kleine nur irgendwo hängen geblieben.«
»Der Kleine?«
»Er heißt Alvin Helpern, ist fünf Jahre alt und wohnt drüben in Queens, an der Corbett Road in Bayside.«
»Seit wann ist er verschwunden?«
»Seit etwa fünfzig Minuten«, antwortete George. Er schwang auf seinem Sessel herum. »Gemeldet hat das Verschwinden des Jungen eine gewisse Alma Rosen. Alma Rosen soll vor vielen Jahren mit Giles Gliddon liiert gewesen sein.«
»Dem Nachtklubkönig?«
»Genau. Das Haus, in dem die Rosen und das Kind leben, gehört Gliddon, was nur noch die älteren Cops aus dem 114. Revier wissen. Gliddon selber lebt in Manhattan.«
»Was ist mit den Eltern?«
»Die Mutter ist mit dem Jungen vor einigen Jahren aus dem Westen gekommen. Wer der Vater ist oder wo er steckt, weiß niemand.«
»Wo ist die Mutter?«
»Wo sie im Augenblick ist, weiß ich nicht«, antwortete George. »Mrs. Rosen hat sie benachrichtigt. Sie heißt Jenny Helpern. Unter dem Namen Julie Dwyer tritt sie in einer Bar namens Spotlight als Sängerin auf.«
»Nie gehört«, sagte ich, womit ich sowohl den Namen der Sängerin als auch den Namen des Lokals meinte.
»Die Bar soll Gliddon gehören«, sagte George. »Irgendetwas ist da nicht ganz astrein ... Hallo?«, rief mein Kollege in den Hörer. »Ja, ich bin noch dran. Ich warte.«
Wollte man Giles »Gliddy« Gliddon zur Halb- oder gar Unterwelt zählen, würde man dem Namen nicht gerecht. Gliddon hatte ein Reich aufgebaut. Er hatte dabei seine Ellenbogen benutzt und Kämpfe mit der Konkurrenz ausgefochten, bei denen es gewiss nicht fair zugegangen war.
Doch seine Betriebe hielt er sauber, soweit das bei einem Unternehmen möglich war, das aus einigen Dutzend Klubs, Nachtbars und kleinen Varietébühnen bestand. Natürlich hatte ein Mann wie er Feinde, die ständig auf der Lauer lagen. Wie er sich dagegen wehrte, war nicht bekannt. Bekannt war hingegen, dass er die Hilfe der Polizei höchstens in Notfällen in Anspruch nahm.
In welcher Beziehung stand er zu der Mutter des verschwundenen Kindes? Und zu dem Kind?
Sollte Gliddon vielleicht erpresst werden? Brauchte er jetzt Hilfe? Wenn irgendjemand damit rechnete, den Nachtklubkönig auf dem Umweg über das Kind einer Sängerin erpressen zu können, musste Gliddon an der Frau oder dem Kind oder an beiden etwas liegen.
Dann fragte sich allerdings, warum Jenny Helpern oder Julie Dwyer in einem Loch wie dem Spotlight sang und nicht in Gliddon's Palace an der 51st Street oder im Bluebird am Times Square.
»Ich weiß genau, was du denkst«, sagte George Baker. »Vergiss es für 'ne Weile, Jerry. Die Cops haben einen Zeugen aufgetrieben. Der will gesehen haben, wie das Kind in einen Wagen gestiegen ist. Sie wissen anscheinend, wer der Fahrer ist. Fahr rüber und übernimm die Koordination.«
Es war 17:29 Uhr, als ich in die Corbett Road einbog. Eine Lösegeldforderung lag bisher nicht vor, was ein schlechtes Zeichen war.
Die Corbett Road war nah am Zentrum von Bayside. Die Häuser stammten aus den Dreißigerjahren. Die Grundstücke waren nicht so groß wie die Parks mit den protzigen Villen draußen bei den Klippen. Aber die Bäume waren uralt, und die Häuser mit ihren Erkern und Türmchen hatten den Charme ihrer Zeit bewahrt.
Von Weitem schon sah ich die Warnlichter zweier Radio Cars. Sie standen auf dem Gehweg vor einer halbhohen Mauer, deren Putz Löcher aufwies. Das Tor war offen und gab den Blick auf eine breite Zufahrt frei, die von Sträuchern und Bäumen gesäumt wurde. Gelbes Licht schimmerte durch die kahlen Äste.
Dieser späte Novembernachmittag war trübe und grau. Ein kalter Wind rüttelte an den Bäumen. Längst war der erste Schneesturm des Jahres über die Stadt hinweggefegt und hatte das letzte Laub von den Zweigen gerissen.
Ich hielt auf das Tor zu, das von den beiden Streifenwagen flankiert wurde, als hinter mir eine große Limousine heranglitt. Die aufgeblendeten Scheinwerfer füllten den Innenraum meines Jaguar.
Der Wagen drängte vorbei, schnitt rücksichtslos meine Fahrbahn und schoss vor mir her durch das Tor. Meine Scheinwerfer huschten über den schimmernden Lack und die verspiegelten Scheiben eines Lincoln. Ein paar Gaffer, die das flackernde Warnlicht angelockt hatte, sprangen zur Seite. Die Cops aus den Streifenwagen kamen zu spät, um den Lincoln aufzuhalten.
Ohne anzuhalten, streckte ich meinen Ausweis hinaus und fuhr ebenfalls durch das Tor.
Der Lincoln hielt bereits vor dem zweistöckigen Holzhaus mit der verwitterten Fassade. Zwei Männer und eine Frau stiegen aus und betraten das Haus.
Ich folgte ihnen, nachdem ich meinen Jaguar gewendet hatte. Die Haustür stand offen. In der Halle war kein Mensch. Ich ging dem Licht, den Stimmen und dem Jaulen eines Hundes nach.
In der Tür zu einem mit alten Möbeln überladenen Wohnzimmer blieb ich stehen.
Das Zimmer war viel zu klein für die vielen Leute, die sich gegenseitig auf die Füße traten. Bis auf die Frau, die eben mit dem Lincoln gekommen war, umringten sie jemand, den ich nicht sehen konnte, weil er auf einem Stuhl saß.
Die Frau war sehr schlank. Ihr schwarzes Haar verbarg sie unter einem seidenen Kopftuch. Die tief liegenden dunklen Augen bildeten einen auffallenden Gegensatz zu dem blassen Gesicht, aus dem die gerade Nase spitz hervorstach. Abwesend streichelte sie den graubraunen Riesenschnauzer, der an ihr hochsprang und versuchte, ihr Gesicht zu lecken.
Als sie aufsah, trafen sich unsere Blicke. Ihre Augen saugten sich an meinen fest, und ich hatte den Eindruck, als könnte ich den Schmerz und die Angst hinter diesen Augen mit Händen greifen.
Plötzlich überzogen sich die Augen mit einem trüben Schleier, und die Frau wandte den Kopf.
Den Blick dieser Augen, das wusste ich, würde ich nie wieder vergessen.
»Ich bin Special Agent Cotton«, sagte ich laut. »Wer ist Sergeant Donovan?«
Der Kreis öffnete sich. Ich erhaschte einen Blick auf einen jungen Mann mit kurz geschnittenen blonden Haaren. Er trug Baseballschuhe und eine helle Jacke.
»FBI? Mein Gott, wieso hängt sich das FBI auch noch rein?«
Ich war Giles Gliddon nie persönlich begegnet. Doch ich erkannte ihn sofort nach den Fotos, die hin und wieder von ihm in den Zeitungen erschienen. Meistens hielt er ein blondes Mädchen im Arm und eröffnete wieder einmal einen Nachtklub.
Gliddon war über sechzig Jahre alt. Er hatte ein markantes schmales Gesicht mit gebräunter Haut und einen dünnen grauen Schnurrbart. Er bedachte mich mit einem stechenden Blick seiner leuchtenden Augen. Wie Gasflammen, schoss es mir durch den Kopf.
Neben Gliddon baute sich ein großer Bursche auf. Er mochte um die dreißig sein. Sein hundertachtzig Pfund schwerer Körper schien hauptsächlich aus Muskeln zu bestehen. Die verschleierten Augen waren von einem farblosen Grau. Seine dünnen Lippen hielt er fest zusammengepresst, wodurch sein hartes Gesicht einen feindseligen Ausdruck bekam.
»Sie sind Gliddon, nicht wahr?«, sagte ich zu dem älteren Mann.
»Genau ...«
»Und Sie?« Ich sah den Burschen mit den dünnen Lippen an. Er brachte sie nicht auseinander.
»Das ist Lenny Luizzi«, antwortete Gliddon widerwillig.
Gliddon und Luizzi trugen Mäntel. Sie waren zusammen mit der Frau in dem Lincoln angekommen.
»Ich verlange, dass Sie das Haus wieder verlassen. Wir wollen kein Aufsehen«, sagte Gliddon. »Irgendein Schwachsinniger hat Alvin irgendwohin gelockt ...«
Ein stämmiger Sergeant drängte Gliddon zur Seite.
»Verzeihen Sie, Sir«, sagte er zu Gliddon. Dann blickte er mich an. »Ich bin Sergeant Donovan. Ich bin froh, dass Sie hier sind, Agent.«
Bevor Donovan seinen Bericht beginnen konnte, sah ich die blasse dunkelhaarige Frau an, die immer noch damit beschäftigt war, die lebhaften Gunstbeweise des Schnauzers abzuwehren.
»Sind Sie die Mutter?«, fragte ich.
»Ja, das ist Mrs. Helpern«, sagte Gliddon.
»Bitte, Mister Gliddon. Wo ist der Vater?« Wieder sah ich die Frau an.
Wieder antwortete Gliddon. »Es gibt keinen Vater.«
»Sergeant, ist im Haus ein Raum, wo wir ungestört sprechen können?«, fragte ich.
»Worüber wollen Sie noch sprechen?«, fuhr Gliddon mich an. »Der Schwachsinnige dort«, er deutete auf den jungen Mann, der unberührt auf seinem Stuhl saß, »weiß, wo Alvin ist!«
»Bitte, Mister Gliddon«, sagte Sergeant Donovan geduldig. »Ich muss Sie auffordern, die Ermittlungsarbeiten nicht zu stören.«
»Was wollen Sie denn, Sergeant! Dieser Schwachsinnige hat Alvin irgendwohin geschleppt. Rocco wäre jedem Fremden an die Kehle gegangen. Soll Lenny ihn fragen?«
»Zum letzten Mal, Mister Gliddon. Ich lasse Zwangsmittel anwenden, wenn Sie sich meinen Anweisungen widersetzen!«
Wir gingen in den Salon, der geräumiger war als das Wohnzimmer. In einem hochlehnigen Sessel saß wie verloren eine schmächtige Frau. Ihr weißes Haar war zu kleinen Locken aufgedreht. Ihre schmalen Finger pressten ein Taschentuch gegen die geschwollenen Augen.
»Das ist Mrs. Rosen«, sagte Donovan. »Es nimmt sie sehr mit, weil sie sich die Schuld gibt.«
Anschließend brachte der Sergeant den jungen Mann und Mrs. Helpern herein. Bevor er nachdrücklich die Tür schloss, quetschte sich der Riesenschnauzer durch den Spalt. Er blieb neben Jenny Helpern stehen. Aus kleinen Augen starrte er mich an, langsam quoll ein Knurren aus seinem Hals.
Jenny Helpern trug einen schlichten schwarzen Tuchmantel, dessen Knöpfe sie mit nervösen Fingern öffnete. Darunter kam ein glitzerndes Strasskostüm zum Vorschein, das den flachen Bauch und die wohlgeformten Schenkel freiließ. In diesem Salon in Bayside wirkte die Aufmachung obszön. Ich wandte den Blick ab.
»Setz dich«, sagte Donovan zu dem jungen Mann. Er sah mich an. »Das ist Jimmy Southwell. Jimmy, der Gentleman dort ist G-man. Er heißt Cotton. Hast du mich verstanden?«
Ein offenes Lächeln huschte über Jimmy Southwells Gesicht. Seine Augen waren blau, das Gesicht glatt. Er sah aus wie sechzehn.
»Jimmy ist zweiundzwanzig, also strafmündig«, fuhr der Sergeant fort. »Oder bist du entmündigt, Jimmy?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
Donovan sah mich an, als er weitersprach. »Wir haben einen Zeugen. Der hat gesehen, wie Alvin zu Jimmy in den Wagen gestiegen ist. Das war unten am Spielplatz. Nicht wahr, Jimmy?«
»Ja, Sir. Er ist aber gleich wieder ausgestiegen, weil sich sein Hund losgerissen hat. Er ist ihm nachgelaufen. Ich habe ihn nicht mehr gesehen.« Jimmy Southwells Stimme klang kindlich hoch.
Jenny Helper brach in Tränen aus. »Bitte, Jimmy, wenn du weißt, wo Alvin ist, musst du es mir sagen, bitte!«
Der junge Mann lächelte. »Ich weiß es nicht, Mrs. Helpern, ehrlich nicht!«
Sergeant Donovan zog mich zur Seite. »Es hat da schon mal einen Fall gegeben. Da ist Jimmy mit einem dreijährigen Jungen durch die Gegend gefahren. Er hat den Kleinen einfach vom Nachbargrundstück geholt. Wir haben ihn schnell gefunden.«
»Ist Jimmy Southwell psychiatrisch behandelt worden?«
»Ich weiß es nicht genau. Es gab kein Verfahren. Die Familie Southwell ist sehr einflussreich. Wir haben Jimmy vor seinem Haus abgefangen und ihn überredet mitzukommen.«
»Haben Sie ihn über seine Rechte aufgeklärt?«
»Nein ...«
»Was halten Sie von seiner Aussage?«
Donovan hob die Schultern. »Sie ist nicht zu widerlegen. Er kennt den kleinen Alvin recht gut. Das erklärt auch, weshalb der Hund ihm nicht an die Kehle gegangen ist. Der Hund ist scharf. Deshalb durfte Alvin auch allein zum Spielplatz. Die Suchaktionen draußen laufen auf jeden Fall weiter. Der Captain hat einen Hubschrauber angefordert, der die Dünen und die Küstenlinie absuchen soll.«
»Wo steht Jimmys Wagen?«, fragte ich.
»Vor der Garage seines Elternhauses.«
Die Southwells besaßen ein großes Anwesen in der Parallelstraße zur Corbett Road. Man brauchte praktisch nur über zwei Mauern zu klettern oder zweimal rechts abzubiegen.
»Der Captain hat angeordnet, dass der Wagen des Jungen erkennungsdienstlich behandelt wird«, fuhr Donovan fort. »Unser Revier ist dafür nicht ausgerüstet. Wir haben Experten vom Hauptquartier angefordert.«
»Ist die Familie des Jungen informiert?«, fragte ich leise.
Donovan schüttelte den Kopf. »Henry Southwell leitet eine Textilfabrik in Manhattan. Er schläft während der Woche in seiner Wohnung in der Nähe der Fabrik. Und Mrs. Southwell, hat andere Interessen. Sie ist immer mit irgendwelchen Freunden und Bekannten vom Yachtklub unterwegs.«
Ich nickte. »Lassen Sie den Jungen laufen.«
Der Sergeant riss die Augen auf.
»Oder glauben Sie, dass Sie einen Haftbefehl bekommen?«, fragte ich.
Donovan schüttelte den Kopf.
»Na also«, sagte ich.
Alvin Helpern wurde seit mehr als vier Stunden vermisst. Für einen Fünfjährigen war das nach unseren Erfahrungen eine kritische Zeitspanne.
Wäre er verunglückt oder hätte er sich verlaufen, würde die Polizei längst Bescheid wissen.
Wäre er in der Absicht, ein Lösegeld zu erpressen, entführt worden, hätten sich die Kidnapper inzwischen gemeldet und verlangt, die Polizei herauszuhalten.
War er dagegen einem Sittlichkeitsverbrecher oder einem geistesgestörten Triebtäter in die Hände gefallen, war mit einem glücklichen Wiederauftauchen kaum noch zu rechnen.
Deshalb sah ich kein großes Risiko darin, Jimmy Southwell auf freien Fuß zu setzen. Wenn sich die Verdachtsmomente gegen ihn verdichten sollten, würde man ihn zu finden wissen.
Ich sah den Burschen an. Er lächelte freundlich und war überhaupt nicht nervös.
»Schmeißen Sie ihn endlich raus«, sagte ich.
2
Ich fühlte mich nicht wohl, als ich Jenny Helpern und Alma Rosen in der Ungewissheit zurückließ, in Gesellschaft Giles Gliddons und seines undurchsichtigen Begleiters Lonny Luizzi.
Was wir brauchten, war Gewissheit, so schnell wie möglich. Denn immer noch konnte ich mir Gliddons Interesse an Jenny Helpern und ihrem kleinen Sohn nicht erklären.
Ich lenkte meinen Jaguar aus der Einfahrt. In der Corbett Road hatten sich inzwischen noch mehr Neugierige eingefunden. Ihnen war nicht verborgen geblieben, was vorgefallen war. Ungewöhnlich viele Streifenwagen fuhren durch die Straßen von Bayside, und die Cops fragten nach einem kleinen Jungen. Die Polizei hatte bisher noch keine Mitteilung an die Presse herausgegeben. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sich die ersten Reporter einfinden würden.
Ich trieb meinen Jaguar durch die Corbett Road. Bei meiner Herfahrt hatte ich weiter unten in der Nähe der Eisenbahn eine schmale, von hohen Hecken gesäumte Einfahrt bemerkt.
Ich hatte keine Ahnung, wo der Weg endete. Es war mir auch gleichgültig, als ich den Jaguar hineinfuhr, die Scheinwerfer und den Motor abstellte und leise ausstieg.
Jimmy Southwell befand sich auf der geistigen Entwicklungsstufe eines Fünfzehnjährigen. Doch es wäre ein Fehler gewesen, die Gewitztheit eines solchen Jungen zu unterschätzen.