Jerry Cotton Sonder-Edition 208 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sonder-Edition 208 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Wir strolchten fröhlich durch die Berge von Vermont. Ich und Marty, der neunjährige Sohn einer Polizistenwitwe. Urplötzlich wurde aus dem Idyll ein Albtraum. Die Killergarde des Gangsterbosses Pascella, der mir den Tod geschworen hatte, jagte uns durch die menschenleere Wildnis. Unsere Lage wurde von Stunde zu Stunde schlimmer. Marty hatte hohes Fieber, ich musste ihn tragen. Ich bekam keine Minute Schlaf und war völlig ausgelaugt. Und dennoch durfte ich nicht aufgeben. Wartet nur, ihr Halunken, dachte ich, meine Stunde wird kommen!


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Seitenzahl: 166

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Meine Stunde wird kommen

Vorschau

Impressum

Meine Stunde wird kommen

Wir strolchten fröhlich durch die Berge von Vermont. Ich und Marty, der neunjährige Sohn einer Polizistenwitwe. Urplötzlich wurde aus dem Idyll ein Albtraum. Die Killergarde des Gangsterbosses Pascella, der mir den Tod geschworen hatte, jagte uns durch die menschenleere Wildnis. Unsere Lage wurde von Stunde zu Stunde schlimmer. Marty hatte hohes Fieber, ich musste ihn tragen. Ich bekam keine Minute Schlaf und war völlig ausgelaugt. Und dennoch durfte ich nicht aufgeben. Wartet nur, ihr Halunken, dachte ich, meine Stunde wird kommen!

1

Roberto Pascella musterte sein Gesicht im Spiegel. Was er sah, gefiel ihm. Das schwarze Lockenhaar machte ihn zu einem hübschen Lausbuben, während die dunklen Augen eine magische Wirkung auf Frauen ausübten. Mit schneeweißen Zähnen, die mit dem Weiß des Waschbeckens wetteiferten, lächelte er sich zu.

Hallo, New York, mach dich auf was gefasst!

Er war der Sohn des Don von Akron, Ohio. Der Name Pascella allein verlangte Respekt. Der Don hatte Vertrauen zu seinem einzigen Sohn. Er hatte ihn mit der Wahrnehmung seiner New Yorker Interessen beauftragt.

Nebenan klingelte das Telefon. Roberto verließ den Waschraum der Suite im Raleigh Tower Building. Er nahm den Hörer ab.

»Hallo?«, meldete er sich erwartungsvoll.

»Willkommen in New York, du Ratte!«, sagte eine Stimme, die ihm völlig unbekannt war. »Willkommen und auf Wiedersehen!«

Robertos Hand wurde feucht. Warum nur, um Himmels willen?

»Wer ist da?«, fragte er barsch.

Der unbekannte Anrufer überging die Frage. »Zähl schon mal die Sekunden, du Ratte! Denn du wirst sterben! Jetzt gleich!«

Roberto warf den Hörer auf die Gabel. Er fuhr herum. Seine Hüfte stieß gegen den Tisch. Die Vase mit dem riesigen Strauß gelber Rosen schwankte. Gelbe Rosen waren seine Lieblingsblumen. Sein Vater hatte sie ihm hinstellen lassen.

Jetzt hatte er keinen Blick mehr für die Blütenpracht.

Seine Augen hefteten sich auf die beiden schweren Hartschalenkoffer in der Garderobennische. Was sie enthielten, war wertvoller als Gold und explosiver als Dynamit. Morgen früh würde ihr Inhalt im sicheren Bürosafe verschwinden. Über Nacht sollten sie im Tresor des Raleigh Tower liegen. Um zehn Uhr am Abend würden seine beiden Begleiter – er hasste das Wort Leibwächter – die Koffer abholen und nach unten bringen.

Er hatte sich die Computerlisten noch einmal vornehmen wollen. Er wollte über möglichst alle Vorgänge des Unternehmens informiert sein. Schließlich war er fest entschlossen, den Respekt seiner zukünftigen Untergebenen auch zu verdienen. Durch Wissen und Leistung.

Jetzt stand das Dynamit neben der Tür, und Roberto Pascella hatte plötzlich das Empfinden, als zischte die Zündschnur.

Er war für den Inhalt des Koffers verantwortlich.

Er zerrte seinen schweren Revolver aus der Reisetasche, schob ihn in den Hosenbund und warf das Jackett über die Schultern.

Da klopfte es an der Tür, und sein Herzschlag setzte einen Moment aus.

Die Jungs konnten es nicht sein, die vor der Tür standen. Sie hätten vorher von der Halle aus angerufen, weil sie sonst gar nicht ins Haus gekommen wären. Abgesehen davon, hatte er ihnen bis zehn Uhr freigegeben, und jetzt war es erst halb fünf am Nachmittag.

Der Sicherheitsservice unten hatte versagt.

Er kam sich vor wie ein Tier in der Falle.

Wie eine Ratte. Ratte hatte der Unbekannte ihn am Telefon genannt.

Er zog den Revolver aus dem Hosenbund und huschte zur Tür. Lautlos entriegelte er sie. Mit der Linken umklammerte er den Knauf. Er atmete ein paarmal tief durch, während erschreckende Bilder durch sein Hirn zuckten.

Die von Kugeln durchsiebte, blutüberströmte Leiche seines älteren Bruders Antonio auf der Rückbank des Lincoln.

Oder das Bild, wie er mit seinem Vater am Lake Michigan Ferien machte und wie plötzlich drei Männer aus dem Nichts erschienen waren und das Feuer auf sie eröffneten. Ihre Leibwächter hatten sich in den Kugelhagel geworfen. Zwei waren gestorben, aber die anderen hatten die Killer in die Flucht geschlagen. Er, Roberto, spürte noch heute das Brennen der Kugel an seinem Bein.

Damals war er vierzehn Jahre alt gewesen. Nach dem Überfall hatte sein Vater ihm den ersten Revolver geschenkt. Es war ein 22er gewesen, genau die richtige Waffe für seine schmale Faust.

Heute war seine Hand größer, und der Revolver hatte das Kaliber 357. Wer immer da draußen war, er würde sein blaues Wunder erleben.

Wieder klopfte es, und mit fester Stimme fragte er: »Wer ist da?«

Wir, mein Freund und Partner Phil Decker und ich, hatten uns nicht um den Job gerissen. An diesem Abend Ende August hatten wir beide anderes vor.

Ich wollte am Wochenende zu einem kurzen Urlaub in die Green Mountains aufbrechen. Ich allein. Es gab noch einiges vorzubereiten, wenn ich die eine Woche richtig genießen wollte. Eine Woche Ruhe, Ausspannen, vielleicht Segeln oder Surfen, wenn das Wetter es zuließ. Oder mit Gus Robertson, dem alten Freund, dem die Jagdhütte in den Bergen gehörte, auf die Pirsch gehen. In den endlosen Wäldern zwischen den Staaten Vermont und New York gab es noch viel Wild.

Kurz vor Feierabend hatte der Chef uns zu sich gerufen.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, erklärte er nachdenklich, als wir ihm gegenübersaßen. »Eben hat Roberto Pascella angerufen ...«

»Pascella?«, fragte Phil. »Müssten wir ihn kennen?«

»Aus Akron, Ohio«, erläuterte der Chef. »Der Sohn von Bernard Pascella.«

Ich pfiff leise durch die Zähne. »Einer der alten Garde, soviel ich weiß. Hat sich hochgeboxt ...«

»Und hochgeschossen, richtig. In Chicago fing er nach dem Krieg mit dem Wett- und Kreditgeschäft an, brachte ausgemustertes Armeematerial unter die Leute und organisierte die Prostitution nach straffem Muster. Er ging schnell dazu über, sein illegales Geld in legale Unternehmen zu stecken, die er dann mit illegalen Methoden zu stolzer Blüte führte.«

Ich erinnerte mich.

»Als er Chicago ausgequetscht hatte und dort nichts mehr zu holen war, vertrieb er den alten Mario Riotti aus Cleveland und ließ sich später in Akron nieder. Dort gehören ihm jetzt Mehrheiten an Maschinen- und Werkzeugfabriken, Beteiligungen an Versicherungen und eine Menge mehr. Die ganze Zeit ist er der Verbrecher geblieben, als der er angefangen hat. Wer gegen ihn ist oder innerhalb seiner Organisation Fehler macht, wird liquidiert.«

»Das fördert das Arbeitsklima«, stellte ich fest.

»Er ist einer der bestgehassten Dons der Mafia«, bestätigte der Chef. »Bisher hat er alle Mordanschläge überlebt. Sein ältester Sohn wurde vor zehn Jahren auf offener Straße erschossen. Polizei oder FBI haben den Mord nie aufklären können. Aber Bernard Pascella hat ein Blutbad zwischen Cleveland und Chicago angerichtet.«

»Und jetzt hat Roberto Pascella angerufen?«, fragte ich. »Warum?«

»Er ist jetzt der einzige Sohn des Don«, antwortete Mr. High. »Er will die Organisation seines Vaters verlassen.«

Jetzt war es Phil, der durch die Zähne pfiff. Das war ein mehr als fetter Köder.

»Er will ein Vorgespräch führen«, sagte der Chef. »Ich denke, wir können nichts verlieren, wenn wir uns anhören, was er vorzuschlagen hat.«

»Aber was sollen wir dabei?«, fragte ich. »Den Bundesanwalt begleiten?«

»Kein Staatsanwalt, kein Bundesanwalt, Jerry«, beschied mich Mr. High. »Roberto Pascella will Sie sprechen.«

Der Köder war einfach zu fett, und deshalb standen Phil und ich jetzt vor der Tür der Pascella-Suite im vornehmen Raleigh Tower Building. Da das Gespräch streng geheim bleiben musste, hatte Roberto Pascella verlangt, dass wir uns nicht wie üblich in der Halle als Besucher anmelden, sondern uns kraft unserer Ämter Zutritt zum Raleigh Tower verschaffen und zu seiner Suite im vierunddreißigsten Stock hinauffahren sollten.

So hatte uns Mr. High sein Gespräch mit dem Mann wiedergegeben, der sich am Telefon Roberto Pascella genannt hatte.

Vor der Fahrt nach Midtown hatten Phil und ich uns im Archiv über die Familie Pascella informiert.

Roberto war vierundzwanzig Jahre alt. Er hatte in Harvard Wirtschaftswissenschaften studiert und anschließend in einer Bostoner Bank volontiert. Anschließend hatte er sich systematisch auf eine Karriere in der Wirtschaft vorbereitet.

An diesem Morgen war er mit dem Privatjet seines Vaters in New York angekommen. Der alte Neville vermutete, dass Bernard Pascella seinem Sohn die Leitung der Finanzverwaltung der Pascella Holding, die sich schon seit Jahren in Manhattan befand, anvertrauen wollte.

Als ich zum zweiten Mal an die Tür von 34-W-D klopfte, hörte ich von innen eine Stimme.

»Wer ist da?«

Ich sah mich schnell um. Der kurze Gang im Westflügel lag leer da. Trotzdem wollte ich nicht laut hinausposaunen, wer und was ich war. Vielleicht begnügte sich der Don nicht damit, seinem Sohn eine Leibwache zu verpassen, die der Junior jederzeit wegschicken konnte. Möglicherweise ließ der Alte seinen Sohn zusätzlich von ausgebufften Bodyguards abschirmen, von deren Existenz der so Abgeschirmte keine Ahnung hatte.

»Mein Name ist Cotton«, sagte ich nah an der Tür, und wieder einmal fragte ich mich, wie der Sohn des Mafiabosses an meinen Namen gekommen sein mochte. »Sie haben angerufen ...«

Ich prallte zurück, als die Tür mit unvermuteter Heftigkeit aufgerissen wurde. Ich sah in ein verzerrtes Gesicht unter schwarzen Locken.

Und ich sah in die Mündung eines schweren Revolvers.

Eine Falle. Eine gottverdammte Falle, schoss es mir durch den Kopf.

Ich handelte reflexartig.

Ich sprang zurück und warf mich gleichzeitig zur Seite. Nach links, denn rechts stand Phil.

Im Sprung krümmte ich mich zusammen. Meine Rechte fuhr unter das Jackett und riss den Smith & Wesson heraus.

Der Revolver in der Hand des Schwarzhaarigen folgte meiner Bewegung.

Natürlich greife ich automatisch zur Waffe, wenn unvermittelt jemand mit einer Waffe vor mir steht und ich annehmen muss, dass man mir eine Falle gestellt hat.

Aber ich schieße erst, wenn mir keine andere Wahl bleibt. In den meisten Fällen gibt es noch andere Möglichkeiten. Man kann reden, um den anderen hinzuhalten oder Irrtümer auszuräumen. Oder ich kann mich aus der Schusslinie katapultieren.

Diesmal gab es keine Alternative.

Wir standen uns zu nah gegenüber, und der junge Pascella sah seinerseits einen Mann vor sich, der einen Revolver in der Hand hielt.

Roberto Pascella schoss.

Die Kugel pfiff an meinem Kopf vorbei. Ich spürte ihr Brennen an meinen Haaren und sah überdeutlich, wie der junge Mann erneut den Hammer zurückzog.

Phil hatte bereits zum Sprung angesetzt. Er wollte den Schützen niederreißen, aber er würde zu spät kommen.

Noch im Fallen schoss ich. Ich zielte auf die rechte Schulter. Die Waffe in meiner Hand ruckte. Fast gleichzeitig krachte die Kanone in der Hand des anderen. Meine Kugel schleuderte ihn zurück, und das Blei aus seiner Waffe fuhr in den Türrahmen.

Ich prallte hart auf den Boden. Der Angriff war zu überraschend gekommen, um ihm mit einem eleganten Sprung und einem elastischen Fall zu entgehen.

Ich keuchte, als ich mich herumwälzte.

Phil presste den jungen Mann auf den Boden.

Entsetzt starrte ich auf das Blut. Seine Halsschlagader war getroffen.

»Lass ihn los!«, schrie ich.

Phil entwand dem Verletzten die Waffe. Dann richtete er sich auf. Erst jetzt bemerkte er das Blut. Die Bewegungen des jungen Mannes wurden schnell schwächer.

»Hol einen Arzt!«, sagte ich.

Ich kroch zu dem jungen Mann, beugte mich über ihn und presste eine Hand auf die Halsgrube. Die Kugel saß nur eine halbe Handbreit weiter links, als ich beabsichtigt hatte. Entweder hatte sich der Junge bewegt, oder Phil hatte ihn gerade in dem Moment angestoßen, als ich abgedrückt hatte.

Roberto Pascella starrte mich aus seinen dunklen Augen an. Seine Lippen bewegten sich, doch ich hörte keinen Ton.

»Warum?«, fragte ich heiser. »Warum haben Sie auf mich geschossen?«

Die Lippen bewegten sich. Ich beugte mich nah über den Mund.

»Warum ...?« hauchte er.

Phil kam zurück. »Ich habe die Zentrale im Haus alarmiert.«

Ich nickte. Im Raleigh Tower gab es Ärzte, und wenn ich richtig informiert war, sogar eine Klinik.

Im Gang wurde es lebendig. Zaghaft wurden Türen geöffnet. Ich biss die Zähne aufeinander und hielt die Hand auf der Wunde, bis ein Arzt mich zur Seite schob. Nur widerwillig lösten sich die verkrampften Muskeln.

Phil zog mich in die Höhe.

»Warum?«, fragte ich.

Phil hob die Schultern.

Da flackerte Blitzlicht auf.

Auch das noch, dachte ich erbittert. Phil und ich mit unseren blutbefleckten Hemden und Jacken und den erstarrten Gesichtern.

Ein paar Reportern war es gelungen, zusammen mit den Cops ins Gebäude zu schlüpfen. Die Wachmänner des Raleigh Tower Building drängten sie jetzt zurück.

Zwei Ärzte aus dem Raleigh Tower Building bemühten sich um den jungen Pascella. Sie brachten die Blutung zum Stillstand und sorgten dafür, dass er umgehend ins Bellevue gebracht wurde.

Viel Hoffnung für das Leben des jungen Mannes hatten die Ärzte allerdings nicht. Die Kugel aus meinem Revolver war irgendwo in der Nähe der Halswirbel stecken geblieben. Die Reflexe des Verletzten wurden während der Behandlung immer schwächer, was auf eine Verletzung des Rückenmarks schließen ließ.

Drei Anwälte aus dem Heer von Bernard Pascellas New Yorker Rechtsvertretern kamen verdammt schnell zum Schauplatz des Dramas. Als Erstes beantragten sie, die Suite im vierunddreißigsten Stock zu versiegeln.

Innerhalb kurzer Zeit erschienen der District Attorney von Manhattan-Mitte, der Bundesanwalt und John D. High, der FBI-Chef, im Raleigh Tower.

Das Management des Raleigh Tower stellte uns ein leer stehendes Büroapartment im Zwischengeschoss über der Halle zur Verfügung. Mr. High, Phil und ich standen am Ende des Flurs.

»Wie fühlen Sie sich?«, erkundigte sich mein Chef.

»Es geht«, antwortete ich.

Es war eine Lüge. Irgendetwas war verdammt schiefgelaufen, aber noch konnte niemand sagen, was und wieso.

Der District Attorney kam zu uns herüber.

»Kommen Sie bitte mit ins Besprechungszimmer, Gentlemen«, sagte er kühl.

Er musterte Phil und mich. Ein Kollege vom Revier hatte uns frische Hemden gekauft. Die Blutspritzer an Phils Jackettaufschlägen und an meinem Jackenärmel waren jedoch nicht zu übersehen.

»Wie geht es Mister Pascella?«, fragte der Chef.

»Nicht besonders, fürchte ich. Kommen Sie bitte hier herein.«

Wir folgten ihm in einen länglichen Raum, in dem ein rechteckiger Tisch stand. Rondinella, der Bundesanwalt, nickte uns freundlich zu. Er hatte uns drei Stühle freigehalten.

Mitten auf dem Tisch standen eine Reisetasche und die beiden Hartschalenkoffer aus dem Apartment im vierunddreißigsten Stock. Der Revolver, mit dem Roberto Pascella zwei Schüsse auf mich abgefeuert hatte, befand sich bereits auf dem Weg ins Labor.

Uns gegenüber saßen die Pascella-Anwälte. Sie unterbrachen ihre halblaut geführte Unterhaltung. Henry Brieloff, ein schwergewichtiger Mann mit einem breiten, nahezu haarlosen Schädel, musterte mich mit starrem Blick.

»Warum trägt er keine Handschellen?«, fragte er böse. »Warum sitzt er überhaupt hier?«

Der District Attorney hob eine Hand. »Bitte, Gentlemen, das ist weder eine Voruntersuchung noch eine Pressekonferenz. Wir wollen uns theatralische Auftritte also sparen.«

Brieloff protestierte. »Theatralische Auftritte? Wer inszeniert hier einen Auftritt? Was bezwecken Sie mit dieser Zusammenkunft? Wollen Sie etwas unter den Teppich kehren?«

»Wir wollen die Zeugenaussagen und die Ermittlungsergebnisse vom ersten Augenblick an offen auf den Tisch legen, um jeder Spekulation zuvorzukommen. Hat jemand Einwände?« Rondinella sah mich an.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Schön«, sagte Rondinella zufrieden. »Dann werden wir jetzt zu klären versuchen, weshalb Roberto Pascella auf den hier anwesenden Special Agent Cotton geschossen hat. Wenn wir keine einleuchtende Erklärung finden, werden wir vorsorglich Haftbefehl wegen versuchten Mordes erlassen.«

»Das nennen Sie eine offene Erörterung?«, fragte Brieloff aufbrausend. Sein Gesicht lief rot an. »Das Ergebnis dieser Zeugenbefragung liegt für Sie ja schon fest!«

Rondinella hatte bereits mit dem Chef, Phil und mir gesprochen. Jetzt fasste er unsere Aussagen mit wenigen Sätzen zusammen.

»Ein Mann, der sich als Roberto Pascella ausgab, hat heute Nachmittag gegen zehn vor vier das District Office des FBI in New York angerufen und den Direktor zu sprechen verlangt. Der Anrufer wurde mit Mister High verbunden. Der Anrufer bat um einen Besuch des Special Agent Cotton. Agent Cotton fuhr in Begleitung seines Partners Phil Decker hierher. Im vierunddreißigsten Stock klopften sie an die Tür des Apartments 34-W-D. Roberto Pascella öffnete die Tür. Er hielt einen Revolver in der Hand und eröffnete ohne Vorwarnung das Feuer auf Agent Cotton. Der gab einen gezielten Schuss ab, um nicht selbst getroffen zu werden.«

»Das ist also Ihre Darstellung«, stellte Brieloff verächtlich fest. »Warum sollte Roberto so etwas Idiotisches tun? Einen G-man zu sprechen verlangen, einen ganz bestimmten noch dazu, dem er nie zuvor begegnet war, und dann auf ihn schießen? Nein, Gentlemen, das wird uns nicht genügen!«

Mr. High nickte. »Uns auch nicht. Ich beantrage, dass die Koffer und die Reisetasche hier auf dem Tisch beschlagnahmt werden.«

Brieloff sprang auf. »Das kommt nicht infrage! Sie haben diese Gegenstände ohne Einwilligung seines Besitzers aus dem Apartment entfernt. Roberto ist nicht fähig, irgendwelche Willenserklärungen abzugeben. Ich bin von seinem Vater beauftragt, seine Interessen wahrzunehmen. Ich verlange, dass die Koffer mir übergeben werden.« Der Anwalt setzte sich wieder.

Der Bundesanwalt und der Bezirksstaatsanwalt berieten sich. Dann ergriff der District Attorney wieder das Wort.

»Ich schlage einen Kompromiss vor«, sagte er. »Wir nehmen jetzt und hier Einblick in die Gepäckstücke und entscheiden dann, ob sie als Beweismittel im Sinn der Strafprozessordnung herangezogen werden oder nicht.«

»Und wenn wir uns weigern?«

Rondinella lächelte. »Dann stelle ich eine entsprechende Verfügung aus, und wir nehmen die Koffer und die Reisetasche mit.«

Brieloff wechselte ein paar Worte mit seinen Begleitern, dann nickte er.

Die Reisetasche enthielt nur Wäsche und einige Hemden. Robertos großes Gepäck lag noch im Schlafzimmer.

Auch der Inhalt der Hartschalenkoffer stellte zunächst eine Enttäuschung dar.

Der eine enthielt Dosen mit Magnetbändern, der andere ausgedruckte Computerlisten. Packenweise Zahlenkolonnen und Kurzbezeichnungen.

»Das ist etwas für Experten«, meinte Mr. High.

»Für Wirtschaftsprüfer«, sagte Rondinella. Er machte einen unschlüssigen Eindruck. »Ich verstehe zu wenig davon. Diese Papiere weisen komplizierte Geschäftsvorgänge aus. Ich vermute, aus den Pascella-Unternehmungen.«

Phil beugte sich zu mir herüber. »Reines Dynamit, wenn es in die falschen Hände fällt.«

Das Bundesschatzamt, das Bundeskartellamt und wahrscheinlich auch verschiedene Polizeibehörden zwischen Cleveland und New York würden hier zweifellos eine Menge Aufschlüsse über illegale Machenschaften des Pascella-Clans entdecken können.

»Sie sehen«, erklärte Brieloff förmlich, »dass die Koffer weder Waffen noch Rauschgift enthalten. Eine Beschlagnahme wäre durch nichts zu begründen. Sie würde einen schweren Verstoß gegen die Paragrafen ...«

»Schon gut«, unterbrach Rondinella ihn. »Ich verzichte auf die Koffer.«

Brieloff klappte die Deckel herab. Jeder von seinen Begleitern ergriff einen Koffer. Die Reisetasche ließen sie stehen.

»Sie hören noch von uns«, erklärte er. »Auf Wiedersehen.«

Die Pascella-Anwälte verließen den Raum.

2

Als Phil und ich endlich aus dem Raleigh Tower Building kamen, war es acht Uhr durch. Durch die warme, weiche Dämmerung gingen wir zu meinem Jaguar, der ein Stück die First Avenue hinauf stand. Unter dem Scheibenwischer steckte ein Strafzettel. Ich knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Rinnstein. Phil hob ihn auf, glättete ihn und steckte ihn ein.

»Das war eine Dienstfahrt«, sagte mein Freund.

»Von mir aus«, knurrte ich müde.

»Jemand hat uns reingelegt«, sagte Phil.

»Wir werden es überleben. Der junge Pascella vermutlich nicht.«

Die Nachrichten aus dem Bellevue klangen nicht ermutigend. Seit zwei Stunden kämpfen die Ärzte in der Neurochirurgie um das Leben des jungen Mannes. Wenn sie den Kampf gewannen, würde es ein zweifelhafter Sieg sein. Denn Roberto Pascella würde gelähmt bleiben. Vom Hals an abwärts.

»Du hast keine Schuld, Jerry«, sagte Phil, der genau wusste, was in mir vorging.

»Warum hat man ausgerechnet mich verlangt?«, fragte ich.

Darauf wusste auch Phil keine Antwort. Die Sache war noch nicht zu Ende, das war sicher. Roberto Pascella hatte den Inhalt der Koffer verteidigen wollen. Hatte jemand, ein Feind der Pascella-Familie, gehofft, die Computerlisten und Magnetspeicher würden von den Behörden beschlagnahmt und ausgewertet werden?

Nur warum hatte der Anrufer meinen Namen ins Spiel gebracht? Es war immer dieselbe Frage. Wenn er Roberto Pascella oder seinen Vater treffen wollte, hätte er keinen bestimmten G-man verlangen müssen. Jeder andere hätte genauso gehandelt und reagiert wie ich.

Ich sah zum Raleigh Tower Building zurück, dessen schimmernde Fassade hoch in den Abendhimmel stieß.

Mich beschlich ein unbestimmtes Gefühl. Angst? Angst vor einem unbekannten, unsichtbaren Feind, der die Fäden zog. Der sogar den New Yorker FBI-Chef wie eine Marionette am Draht führte.

»Woran denkst du?«, fragte Phil.

»Ich suche nach einem Sinn für alles«, antwortete ich.

»Vielleicht hat auch Roberto Pascella einen Anruf bekommen«, vermutete Phil.

»Der Anrufer könnte ihn in Alarmstimmung versetzt haben«, gab ich zu. »Das würde erklären, wieso er mit dem Revolver an die Tür gekommen ist, nicht aber, wer uns aufeinandergehetzt hat. Immerhin ...« Nachdenklich schloss ich den Jaguar auf.

»Ich werde der Geschichte nachgehen«, sagte Phil. »Mach dir keine Gedanken.«

»Du? Wir werden ihr nachgehen.«