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Der neue Mord geschah kurz nach acht Uhr abends. Und er verlief genauso wie alle vorhergegangenen. Zum letzten Akt zog sich der schreckliche Täter die schwarzen Handschuhe an. Dann ging alles sehr schnell. Ein Stich ins Herz. In einer Sekunde war es vorbei. Auch das Opfer passte in die Serie. Es war natürlich wieder eine goldene Witwe ...
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Die goldenen Witwen
Vorschau
Impressum
Die goldenen Witwen
Der neue Mord geschah kurz nach acht Uhr abends. Und er verlief genauso wie alle vorhergegangenen. Zum letzten Akt zog sich der schreckliche Täter die schwarzen Handschuhe an. Dann ging alles sehr schnell. Ein Stich ins Herz. In einer Sekunde war es vorbei. Auch das Opfer passte in die Serie. Es war natürlich wieder eine goldene Witwe ...
I
Die Zufälle
Der neue Mord geschah kurz nach acht Uhr abends. Und er geschah genauso wie die beiden vorangegangenen ...
Das Geschäft war abgeschlossen. Sie war zufrieden.
»Darauf wollen wir anstoßen«, sagte sie und stand auf. »Ich habe eine Flasche Sekt mitgebracht, als ich von der Bank kam. Sie trinken doch ein Glas mit?«
Ihr Besucher hatte es auf einmal eilig. Er war schon aufgestanden, sah sie unschlüssig an und hob bereits die Hand zu einer abwehrenden Geste.
Sie kam ihm zuvor. »Nichts da, ich lasse keine Ausrede gelten. Bei meinem Mann wurde das immer so gemacht: Ein gutes Geschäft muss begossen werden, sagte er. Ich hole uns die Flasche. Wenn Sie inzwischen mal die Gläser dort aus dem Schrank nehmen möchten?«
Sie zeigte auf die große Vitrine, die mit kristallenen Gläsern, mit Porzellanfiguren und Tellern, mit gerahmten Fotografien und Andenkenkitsch von zahllosen Reisen vollgestopft war. Und sie ließ ihm keine Sekunde Zeit für einen Einwand. Noch bevor er etwas erwidern konnte, war sie schon im Durchgang zur Küche verschwunden.
Er warf einen raschen Blick auf seine Uhr, dachte daran, dass der andere – er vermied den Gedanken: der Mörder – schon draußen vor der Wohnungstür wartete, und beschloss, dass er nun nichts anderes tun konnte, als es möglichst schnell hinter sich zu bringen. Er hatte seinen Teil des Jobs erledigt. Nun musste er nur noch dafür sorgen, dass der andere in die Wohnung reinkommen konnte. Was danach geschah, ging ihn nichts an. Oder wenigstens fast nichts.
In einer gewissen Weise tat sie ihm leid. Mit ihren achtunddreißig Jahren war sie, weiß Gott, zu jung zum ... Er verdrängte den Gedanken sofort.
Jedenfalls war sie nicht unsympathisch, wenn sie auch ein bisschen viel redete. Aber das hatten einsame Menschen ja häufig an sich.
Er sah auf, als sie mit einem Sektkübel zurückkehrte. Aus den Eiswürfeln ragte der goldumwickelte Hals einer Flasche kalifornischen Sekts heraus.
Sie stellte den Kübel auf den Couchtisch. »Die Gläser!«
»Ach so, ja«, sagte er und ging zur Vitrine. Was war nur heute mit ihm los? Dauernd musste er daran denken, was in wenigen Minuten mit ihr geschehen sollte.
Er holte die Gläser. Er öffnete den Drahtverschluss, wickelte die Serviette um den Flaschenkopf und lockerte vorsichtig den Korken. Er fühlte den Druck der Kohlensäure von unten und hörte das Ploppen des herausrutschenden Korkens – und alles geschah gleichsam weit entfernt. Immer wieder wollte sich vor sein geistiges Auge das Bild dessen schieben, was gleich stattfinden musste und was er doch nicht miterleben wollte.
Sie plapperte in ihrer munteren Art. Er gab zerstreute Antworten. Das Einzige, was er ganz bewusst tat, war, sie so zum Trinken zu animieren, dass die Flasche möglichst schnell leer wurde. Er trank sogar ein Glas mehr als sie, um die Sache zu beschleunigen. Dann war es endlich so weit.
»Tut mir leid, Ma'am«, sagte er. »Ich habe noch einen Kunden zu besuchen. Und ich fürchte, ich bin spät dran.«
Sie stand auf. Ihre braunen Augen funkelten übermütig. Vielleicht hatte sie schon einen Schwips.
»Schade«, sagte sie bedauernd. »Kommen Sie vorbei, wenn Sie wieder einmal in der Nähe sind!«
Damit brachte sie ihn zur Tür. Er nickte nur. Als sie die Tür aufzog, stand der andere schon davor – mit den schrecklichen schwarzen Handschuhen, die er immer trug, wenn er seinen Teil des Jobs auszuführen hatte.
Der Mörder trat über die Schwelle, bevor die Frau überhaupt begriff, was geschah. Er schob den ersten Besucher hinaus, drückte die Tür hinter ihm zu und legte der Frau eine Hand auf den Mund, während er mit der anderen zustach.
Dann holte er die schwere Tasche, die der andere zurückgelassen hatte.
»Hallo, Ma'am«, sagte ich, und der falsche Name lief mir nach einem ganzen Tag Übung wie von selbst über die Zunge: »Ich bin Walt Shimanski. Von der National Insurance. Hier ist der Ausweis meiner Versicherungsgesellschaft.« Ich hielt ihr die Plastikkarte mit dem winzigen Lichtbild hin.
Sie machte die Tür auf, ohne den Ausweis genauer zu betrachten. »Kommen Sie herein, Mister, äh ...«
»Shimanski«, wiederholte ich. »Walt Shimanski.«
»Natürlich, Mister Shimanski. Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit? Ich bin gerade nach Hause gekommen, und ich brauche eine. Es war wieder einmal ein verrückter Tag im Office.«
Ich wusste, dass sie Vizepräsidentin einer Firma war, die sich mit irgendwelchen elektronischen Spezialteilen innerhalb weniger Jahre praktisch von null zu einem Jahresumsatz von hundertvierzig Millionen Dollar emporgerungen hatte, und es lag auf der Hand, dass sie bei diesem Job alles einsetzen musste, was sie an Energien besaß. Dennoch sah man ihr die Erschöpfung nicht an.
Sie war zweiundvierzig Jahre alt, gut fünfeinhalb Fuß groß und seit dem 11. März verwitwet. Wir wussten alles über sie, was die Versicherung in ihren Akten hatte. In zwei Tagen intensiver Ermittlungen hatten wir noch einiges mehr herausgefunden. Nur eines hatte ich bis zu dieser Begegnung nicht gewusst: wie attraktiv sie war!
Sie hatte natürlich-hellblondes Haar, links gescheitelt, das in einer reizvoll ausschwingenden Halbwelle bis knapp zu ihren Schultern fiel. Die graugrünen Augen verrieten wache Intelligenz. Der dezent geschminkte Mund zeugte von Durchsetzungsvermögen. Aus jeder ihrer Bewegungen sprachen Zielbewusstsein und Selbstachtung. Äußerlich das gewohnte Bild einer Karrierefrau. War sie nur das?
Ich sah ihr zu, wie sie in der Kochecke ihres großen Wohnzimmers den Kaffee einschenkte. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit einer weißen Rüschenbluse. Gegen das fast leuchtende Weiß der Bluse wirkte ihre sonnengebräunte Haut dunkler, als sie wahrscheinlich war. Selbst in ihrer Wohnung lief sie noch in den hohen schwarzen Pumps mit den Pfennigabsätzen umher, sodass ihre Fesseln und die schlanken Waden betont wurden.
»Nehmen Sie doch Platz, Mister Shimanski«, sagte sie, als sie mit den beiden Tassen um die Frühstücksbar herumkam.
Ihre Stimme war fraulich, weich und konnte vermutlich einschmeichelnd sein, wenn sie es wollte. Jetzt war sie von jener unverbindlichen Höflichkeit, die Freundlichkeit und Distanz in einem verkündete.
Ich setzte mich ihr gegenüber in einen der weißen Sessel mit dem Flauschstoff. Sie nippte an ihrem Kaffee. Als sie mir über den Rand der Tasse hinweg einen unverbindlich neugierigen Blick zuwarf, bemerkte ich, wie lang ihre Wimpern waren.
»Was kann ich für Sie tun, Mister Shimanski?«, fragte sie.
Ich setzte die Kaffeetasse ab und zog mein Notizbuch hervor. »Kennen Sie eine gewisse Joan Babcroft?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Den Namen habe ich jedenfalls nie bewusst gehört.«
»Eine gewisse Marion Hillstett?«
»Nein, auch nicht. Warum fragen Sie?«
»Joan Babcroft ist am 7. August in Chicago ermordet worden. Marion Hillstett am 9., also nur zwei Tage später, drüben in New Jersey. Soweit meine Versicherungsgesellschaft von der Polizei informiert wurde, hatten die Frauen eines gemeinsam. Beide haben von unserer Gesellschaft vor ein paar Monaten eine nicht unbeträchtliche Lebensversicherung ausgezahlt bekommen.«
Sie setzte ebenfalls ihre Tasse ab, doch ihre Hand zitterte nicht. Mit unverändert beherrschter Stimme sagte sie: »Mein Mann ist vor ein paar Monaten an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben. Ich habe damals ebenfalls eine Lebensversicherung ausgezahlt bekommen. Auch von Ihrer Versicherungsgesellschaft, Mister Shimanski.«
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Deshalb bin ich ja hier. Bei meiner Gesellschaft bezweifelt man zwar, dass die Morde auf die Auszahlung dieser Versicherung zurückzuführen sind, aber wir machen uns natürlich Sorgen. Deshalb hat man mich beauftragt, einige Ermittlungen anzustellen.«
»Ich verstehe. Ich will Ihnen gern helfen, nur ich wüsste nicht, wie. Die Namen der ermordeten Frauen habe ich von Ihnen zum ersten Mal gehört. Ich bin mir ganz sicher, dass ich sie nie kennengelernt habe.«
»Ist in den letzten Wochen ein Fremder zu Ihnen gekommen – unter welchem Vorwand auch immer?«
»Nein. Ich habe wenig Zeit, Bekanntschaften zu schließen. Meistens bin ich bis sieben Uhr abends im Büro. Und wenn ich dann heimkehre, bin ich zu abgespannt, als dass mir noch der Sinn nach Bekanntschaften, Ausgehen und all diesen oberflächlichen Vergnügungen stünde.«
»Haben Sie während der Arbeit jemand kennengelernt? Ich meine, in den letzten Wochen? Jemand, mit dem Sie bisher nichts zu tun hatten?«
»Das passiert beinahe täglich, Mister Shimanski. Unsere Firma expandiert stark. Wir haben erst kürzlich eine Niederlassung in Deutschland eröffnet. Nächste Woche setzen wir unseren Fuß zum ersten Mal auf den afrikanischen Kontinent. Da ergeben sich neue Kontakte. Wie gesagt, fast täglich.«
»Ja natürlich. Eigentlich ist es auch nur meine Aufgabe, Sie vorsichtshalber zu warnen. Es ist durch nichts bewiesen, dass die beiden Frauen wegen der erhaltenen Lebensversicherung ermordet wurden, aber meine Gesellschaft möchte keine Vorsichtsmaßnahme außer Acht lassen. Deshalb warnen wir jetzt jede Frau, die in den letzten Monaten von uns einen größeren Betrag ausgezahlt bekam.«
»Ich verstehe. Bei mir, Mister Shimanski, würde ein solcher Versuch mit Sicherheit fehlschlagen. Ich falle auf keinerlei Sprüche herein – und wenn Robert Redford sie persönlich bei mir anzubringen versuchte.«
»Das glaube ich Ihnen«, sagte ich überzeugt und schob ihr eine Visitenkarte hin. »Sollte trotzdem etwas geschehen, was bei Ihnen den Verdacht aufkeimen lässt, dass sich jemand an Ihr Geld heranzumachen versucht, wären Sie dann so freundlich, mich unter dieser Nummer anzurufen?«
»Das will ich gern tun, Mister Shimanski. Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Ganz auf meiner Seite«, sagte ich und verbeugte mich höflich.
Sie brachte mich zur Tür. Ich seufzte erleichtert, als ich wieder auf der Straße stand. Sie hieß Maryanne, laut Geburtsregister tatsächlich so geschrieben, Maryanne Illkiw, und sie war für heute die letzte Adresse auf meinem Zettel gewesen. Von halb neun Uhr früh war ich mit meinem Jaguar so ziemlich durch sämtliche Viertel New Yorks gefahren, um vierzehn Frauen zu warnen, die allesamt in den letzten acht Monaten von der National Insurance eine größere Summe ausgezahlt bekommen hatten.
Wir hatten lange überlegt, ob ich Flagge zeigen, also als der FBI Agent Cotton auftreten sollte. Es sprachen einige Gründe dagegen. Wenn ich als G-man bei den Frauen aufkreuzte, würde es mit Sicherheit die Presse erfahren. Die würde die ganze Geschichte reißend gern hochspielen und einen Zusammenhang als Tatsache erscheinen lassen, von dem wir gar nicht wussten, ob es ihn überhaupt gab. Wenn es ihn gab, wenn der Mörder tatsächlich hinter den ausgezahlten Lebensversicherungen her war, wurde er nur gewarnt, noch bevor wir den leisesten Zipfel einer Spur von ihm hatten. Aus diesen Überlegungen heraus hatten wir uns dann mit der National Insurance in Verbindung gesetzt, und sie hatte mir einen Firmenausweis ausgestellt.
Es war ein fast unwahrscheinliches Glück, dass ich alle vierzehn Frauen an diesem Tage angetroffen hatte. Freilich hatten es die meisten nicht so gefasst aufgenommen wie die blonde, attraktive Maryanne Illkiw. Im Gegenteil. Ich hatte einige Anfälle ertragen müssen.
Ich blieb stehen und sah auf meine Uhr. Sie zeigte 9:04 Uhr abends. Ich war müde, aber noch nicht müde genug fürs Bett. Bis zu meiner Wohnung brauchte ich nur um die nächste Ecke und zwei Blocks weit zu fahren. Eine Strecke, die man mühelos zu Fuß zurücklegen konnte. Und schräg gegenüber lag eine kleine Bar.
Auch ein Special Agent des FBI hat das Recht auf Entspannung, was man in Washington wahrscheinlich bestreiten wird. Ich sah zu dem wolkenverhangenen Himmel hinauf und dann wieder über die Straße hinüber zu der Bar. Auf schwarzem Grund stand in weißer Fantasieschrift Kemenate. Der liebe Gott allein kann wissen, was mich ausgerechnet an diesem Abend, ausgerechnet um diese Zeit und ausgerechnet an dieser Schrift so reizte.
Jedenfalls beschloss ich, mir zwei oder drei Whisky zu gönnen und notfalls den Jaguar stehen zu lassen. Also überquerte ich die Straße und betrat die Bar, die nicht viel größer war als ein geräumiges Zimmer. Allerdings hörte man hinter einem Durchgang das Klappern von Billardkugeln.
An der Bar ging es hoch her. Ein smart wirkender hagerer Mann mit einem ausgefransten Ziegenbärtchen hatte alle Hände voll zu tun, die Wünsche seiner Gäste zu befriedigen. Es waren sechs, und sie schienen irgendwie zusammenzugehören. Gerade als ich hereinkam, hoben sie alle die Gläser und prosteten dem siebenten und letzten Gast außer mir zu.
Er stand mitten im Raum und hielt ein gläsernes Gefäß in der Hand, das die Größe eines kleinen Eimers besaß. Es war randvoll mit Bier gefüllt, und er setzte es an, um es in langen Zügen auszutrinken, ohne ein einziges Mal zu verschnaufen. Je mehr Bier in seiner Kehle verschwand, umso tiefer wurde die andächtige Stille, mit der alle Anwesenden ihn beobachteten. Als er schließlich das Glas umdrehte, um allen zu zeigen, dass wirklich nur noch ein paar Tropfen Schaum übrig geblieben waren, ertönte ein ohrenbetäubendes Gebrüll.
Er grinste zufrieden, stellte das leere Glas ab und hielt mir die Hand hin.
»Hallo, Sir«, sagte er freundlich, »herzlich willkommen! Sie sind so nett und nehmen ein paar mit auf meine Rechnung, ja? Es ist mein Abend, wissen Sie?«
Ich drückte die angebotene Hand. »Geburtstag?«
Er schüttelte den Kopf, griff mit einer Hand, dessen stark behaarter Rücken mir auffiel, in die Innenseite seines grau-blau karierten Sportsakkos und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor.
»Das da«, sagte er und hielt es mir hin.
Ich wollte nicht unfreundlich sein und faltete das Papier auseinander. Es war mit dem offiziellen Briefkopf des Commissioners der New Yorker City Police versehen. Ich überflog den kurzen Text.
»... wegen besonderer Verdienste außerplanmäßig zum Detective Lieutenant befördert ... Übergabe der Beförderungsurkunde durch den Commissioner am kommenden Freitag ...«
Der Brief war an Detective Sergeant Harry Chachkes gerichtet. Folglich waren wir so etwas wie Kollegen. Da ich in dieser Gegend offiziell als Versicherungsvertreter aufgetreten war, konnte ich es ihm vor so vielen Leuten nicht sagen.
Ich schüttelte ihm noch einmal die Hand. »Gratuliere! Außerplanmäßig – das kommt verdammt selten vor. Sie müssen ein Ass sein.«
Er grinste schief. »Hauptsache, die Cops im Hauptquartier halten mich dafür, stimmt's? Was kann ich für Sie bestellen, Mister ...?«
»Shimanski«, sagte ich. »Walt Shimanski.«
»Fußballprofi?«, fragte er. »Oder irgendwas in der Richtung. Sie sehen danach aus.«
Ich lachte. »Nein. Ganz gewöhnlicher Versicherungsvertreter. Von der National Insurance.«
Plötzlich waren Freundlichkeit und Gelächter aus seinem Gesicht wie weggewischt. Er stierte mich aus großen hellbraunen Augen an.
»Was ist?«, fragte ich. »Haben Sie etwas gegen Versicherungen?«
Er gewann seine Beherrschung zurück, obgleich ich spürte, dass es ihn einige Anstrengung kostete. Lärmend schlug er mir auf die Schulter und rief, dass er selbstverständlich gar nichts gegen Versicherungen habe, eher im Gegenteil, dann brach er in ein schallendes Gelächter aus, während er mich zur Bar schleppte. Sein Benehmen war selbst für einen frisch gebackenen Lieutenant zu krakelig. Aber wenn er das Bier eimerweise in sich hineinschüttete, brauchte man sich darüber nicht zu wundern.
Es stellte sich heraus, dass alle Anwesenden zufällige Gäste waren und im Grunde keiner den anderen kannte. Dennoch wurde es einer jener Abende, die sich für Männer an einer Theke hin und wieder entwickeln können: laut, lustig und mit einem beachtlichem Quantum von Alkohol gewürzt. Ich musste den Jaguar stehen lassen, als ich mich kurz vor Mitternacht auf den Heimweg machte.
In meinen schlimmsten Träumen hätte ich es mir nicht einfallen lassen, dass ich gerade mit einer Leiche gefeiert hatte ...
Der allgewaltige Chef der National Insurance Inc. wirkte auf den ersten Blick eher wie der arbeitslose Buchhalter einer pleitegegangenen Käsegroßhandelsfirma. Mit seinen strichdünnen Lippen, der kleinen Nase und der Brille mit Halbgläsern, die ihn zwang, den Kopf zu senken, wenn er über sie hinweg einen Besucher ansehen wollte, sah er alles andere als imponierend aus.
Aber Teck Nourse wusste es besser. Er kannte Sir Henry, wie man den Präsidenten der größten Versicherungsgesellschaft der USA hinter seinem Rücken nannte, nun seit acht Jahren. Und er hatte es allzu oft erlebt, wie viel Energie und Durchsetzungsvermögen in diesem unscheinbaren kleinen Körper steckte, als dass er dessen Arbeitszimmer ohne Respekt betreten hätte. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, wann Sir Henry einen rufen ließ. Geschäftliche Besprechungen morgens um sieben oder abends um zehn, das war bei Sir Henry durchaus nichts Ungewöhnliches.
»Hallo, Sir«, sagte Teck artig, nachdem er die hohe Doppeltür hinter sich ins Schloss gedrückt hatte.
»Oh, Tag, Mister Nourse. Setzen Sie sich.«
Teck hockte sich auf die vorderste Kante eines unbequemen Besucherstuhls, der dafür berechnet war, Besucher keinesfalls zu unnötig langem Verweilen zu veranlassen, und sah mit gebotenem Interesse auf seinen Chef. Henry Herschel saß wie gewöhnlich vor einem peinlich genau aufgeräumten Schreibtisch, auf dem nicht ein Stück Papier lag. Sir Henry hatte es höchst selten nötig, bei Besprechungen irgendwelche Unterlagen zu Rate zu ziehen. Auch diesmal verblüffte er Teck Nourse wieder mit seinem außergewöhnlich guten Gedächtnis.
»Mister Nourse«, begann er in seiner leisen Art, »Sie haben es vielleicht in den Zeitungen gelesen oder sonst wie davon gehört. Am 7. dieses Monats wurde in Chicago eine gewisse Joan Babcroft und am 9. in New Jersey eine gewisse Marion Hillstett ermordet ...« Henry Herschel machte eine kleine Pause, weil er zur Kenntnis nahm, dass Teck Nourse sein Notizbuch gezückt hatte und eifrig mitschrieb. Erst als Nourse den Kopf hob und fragend schaute, fuhr der Präsident der Versicherungsgesellschaft fort. »Beide Frauen haben von uns die Lebensversicherung ihrer verstorbenen Ehemänner erst unlängst ausgezahlt bekommen. Ich frage mich, ob es ein Zufall ist, dass so kurz nach der Auszahlung größerer Beträge zwei Witwen ermordet werden, die es erst wenige Monate waren. Sie verstehen?«
Teck Nourse dachte schnell. Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder waren die beiden Frauen umgebracht worden, weil jemand an die ausgezahlte Lebensversicherung wollte – dann war es uninteressant für die National Insurance. Was mit rechtmäßig ausgezahlten Geldern geschah, ging die Versicherung nichts an. Dafür hätte ihn Sir Henry nicht rufen lassen. Blieb also nur die zweite Möglichkeit.
»Sie meinen, Sir«, sagte er und hoffte inständig, sein kühner Gedanke möge ins Schwarze treffen, »Sie meinen, vielleicht haben die beiden Frauen beim Tod ihrer Ehemänner ein wenig nachgeholfen, um in den Besitz der Lebensversicherung zu kommen. Vielleicht haben sie sich dabei irgendwelcher Komplizen bedient, die nun ihrerseits zugeschlagen haben. Vermute ich richtig?« Teck Nourse hatte den Zettel, auf dem er sich die Namen der Ermordeten und die Todestage notiert hatte, in Gedanken vor sich auf die Schreibtischkante gelegt. Jetzt schaute er erwartungsvoll auf seinen Chef.
»Halten Sie diese Möglichkeit für zu abwegig?«, fragte Henry Herschel, indem er aus seinen wässerigen Augen mit tief vorgeneigtem Kopf über den Rand der Halbgläser hinweg auf ihn blickte.
»Was ist schon so abwegig, dass es im Leben nicht passieren könnte?«, fragte Teck Nourse zurück. »Nein, Sir, abwegig wäre nicht das richtige Wort. Nicht eben besonders wahrscheinlich, das trifft es wohl eher. Und das trifft natürlich auch den Nerv des gesamten Versicherungswesens.«
Henry Herschel runzelte die Stirn. »Interessant. Wie meinen Sie das?«
»Ganz einfach, Sir«, sagte Nourse. »Jede Versicherung der Welt lebt von der Wahrscheinlichkeitsrechnung, nicht wahr?«
»O ja, Mister Nourse, das ist in der Tat so.« Der Präsident drückte auf einen Klingelknopf. »Nehmen Sie sich die Akten der beiden ermordeten Frauen mit, und kümmern Sie sich darum, ob ihre Ehemänner tatsächlich auf die Art und Weise zu Tode gekommen sind, wie es aus den Akten hervorgeht. Mehr interessiert uns nicht.«
Teck Nourse nickte. Da ging auch schon die Vorzimmertür auf, und die Chefsekretärin brachte die angekündigten Akten. Nourse übernahm sie, deutete eine Verbeugung vor dem Präsidenten an und ging zur Tür. Jedes überflüssige Wort rief bei Sir Henry nur Unwillen hervor.
Er hatte die Tür noch nicht ganz erreicht, da ertönte noch einmal Henry Herschels leise Stimme. »Falls Sie etwa entdecken, dass wir eine oder gar beide Lebensversicherungen von den Erben zurückfordern können, Mister Nourse, dann, eh, dann werden wir Ihnen eine Prämie von tausend Dollar zusätzlich zu Ihrem Gehalt bewilligen.«
»Danke«, sagte Teck Nourse. Und noch einmal: »Danke.«
II
Verhängnisvolle Vorbereitungen
William Bloom war am Dienstag pünktlich ins Geschäft gefahren wie immer. Seit der Vater gestorben war und William das Textilgeschäft übernommen hatte, war es nicht ein einziges Mal vorgekommen, dass er die Scherengitter vor den drei Fenstern und der Ladentür auch nur eine Minute zu spät aufgeschlossen hätte. Er war grundsätzlich morgens der Erste und abends der Letzte.
Grundsätze spielten überhaupt eine wesentliche Rolle in seinem Leben. Er war Mitglied des Kirchenvorstands und Leiter des Ausschusses für die Sonntagsschule und den Kindergarten der Kirchengemeinde. Er war für die Todesstrafe und gegen jegliche Form von Sexualität vor der Ehe. Er verabscheute Frauen, die ausgeschnittene Kleider trugen, und Männer, die Alkohol tranken.
Selbstverständlich war in seinem Privatleben alles in Ordnung. Alles – bis auf einen Vorfall, an dem er keine Schuld trug und den er deshalb streng aus seinem Erinnerungsvermögen verbannt hatte.
Aber was geschehen ist, lässt sich nicht auslöschen. William Bloom erfuhr es an diesem Dienstag genau um 9:12 Uhr vormittags, als das Telefon in dem winzigen Raum klingelte, den er als Büro benutzte. Die alte Mrs. Hackensteel, die er zusammen mit dem Geschäft von seinem Vater geerbt hatte, wollte sich schon auf den Weg machen, denn ihre hervorstechendste Eigenschaft war grenzenlose Neugierde.
William Bloom kam ihr zuvor. »Ich nehme selbst ab«, verkündete er und griff nach dem Hörer. Da er, wie er glaubte, keine Geheimnisse hatte, ließ er die Tür offen stehen, als er sich meldete. »Bloom-Textilien. Bitte?«
Mrs. Hackensteel blieb in der Nähe der Tür.
Mit dem Telefon schien irgendetwas nicht in Ordnung zu sein. Die Stimme, die an Blooms Ohr drang, klang seltsam verzerrt.
»Ich möchte Mister Bloom sprechen«, sagte die Stimme.
»Am Apparat. Mit wem spreche ich?«
»Das tut nichts zur Sache. Ich will Sie nur an etwas erinnern, Bloom: an den 14. November vergangenen Jahres. Der 14. November, nachts gegen ein Uhr. Sie erinnern sich doch, nicht wahr?«
William Bloom zitterte plötzlich. Er spürte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen war, und nun klang auch seine Stimme verzerrt, als er erwiderte: »Ich, äh ... ich weiß nicht ... ich ... vielleicht sollte ... äh ...«
Er brach hilflos ab.
»Oh, natürlich erinnern Sie sich, Bloom. In dieser Angelegenheit gibt es etwas zu besprechen. Keine Angst, ich will kein Geld von Ihnen. Das brauchen Sie nicht zu befürchten. Ich will nur mit Ihnen sprechen. Kommen Sie heute Abend nach New York. Von Ihnen in Yonkers aus ist es ja nicht weit. Kommen Sie pünktlich um sechs heute Abend in ein Lokal. Ich beschreibe Ihnen gleich den Weg. Die Bar heißt Kemenate.«
Mein alter Freund und Partner Phil Decker besorgte die Brötchen, während ich den Kaffee für uns beide holte. Wir waren die einzigen G-men, die sich um diese frühe Morgenstunde in der Kantine des New Yorker FBI-Gebäudes aufhielten, und wir konnten es auch nur tun, weil wir ja wegen der Versicherungsgeschichte von allen anderen Pflichten entbunden waren.
Wir setzten uns in eine Ecke und nahmen unser Junggesellenfrühstück ein.
»Wie war's bei dir?«, fragte ich.
Phil zuckte mit den Schultern. »Elf von vierzehn. Die anderen drei waren den ganzen Tag über nicht zu Hause – bis neun Uhr abends jedenfalls. Dann habe ich es aufgegeben. Wenn ich sie heute wieder nicht erwische, stecke ich ihnen meine Visitenkarte von der Versicherung in den Briefkasten und kündige meinen erneuten Besuch fürs Wochenende an.«
»Da hatte ich mehr Glück«, gab ich zu. »Ich habe alle vierzehn angetroffen, teils zu Hause, teils in ihren Büros oder wo sonst sie arbeiten. Einige sind ganz schön hysterisch geworden.«
»Bei mir auch. Sag mal, was hältst du wirklich von der Sache? Meinst du, dass man sie wegen der ausgezahlten Lebensversicherung ihrer verstorbenen Männer umgebracht hat? Das ergäbe nur Sinn, wenn das ganze Geld verschwunden wäre. Aber ...«
»Störe ich?«, fragte jemand neben uns.