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Noch nie besaß ich so viele Vollmachten wie in diesem Fall. Aber noch nie hatte ich auch so gefährliche Gegner. Der Justizminister der USA empfand die Mafiahierarchie in New York als einen nationalen Notstand. Deshalb durfte ich die Gangster mit den modernsten Mittel bekämpfen. Bald kannten sie meinen Decknamen Der Maulwurf. Sie wussten allerdings nicht, dass ich ein G-man war. Und doch wurde so mancher brutale Boss plötzlich bleich, wenn er Neues vom Maulwurf hörte ...
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Seitenzahl: 215
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Neues vom Maulwurf
Prolog
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
Vorschau
Impressum
Neues vom Maulwurf
Noch nie besaß ich so viele Vollmachten wie in diesem Fall. Aber noch nie hatte ich auch so gefährliche Gegner. Der Justizminister der USA empfand die Mafiahierarchie in New York als einen nationalen Notstand. Deshalb durfte ich die Gangster mit den modernsten Mittel bekämpfen. Bald kannten sie meinen Decknamen Der Maulwurf. Sie wussten allerdings nicht, dass ich ein G-man war. Und doch wurde so mancher brutale Boss plötzlich bleich, wenn er Neues vom Maulwurf hörte ...
Die Konferenz fand in Washington statt. Die Teilnehmer waren der Justizminister der Vereinigten Staaten, der Direktor des FBI, der Chef des FBI District New York, mein Freund Phil Decker und ich, der G-man Jerry Cotton.
Nach einer langen Debatte sagte der Minister: »Ich habe mit dem Präsidenten gesprochen. Auch er sieht in diesem Fall einen nationalen Notstand. Das berechtigt uns zu besonderen Maßnahmen.«
»Und diese besonderen Maßnahmen werden in der Durchführung des Plans bestehen, den Special Agent Cotton vorgeschlagen hat«, sagte der FBI-Direktor. »Ich halte diesen Plan zwar für verrückt, aber wir haben keinen anderen. Außerdem ist es so verrückt, dass er schon deshalb eine Chance haben könnte. Also ja, zum Teufel, machen wir's!«
»Sie haben Rückendeckung bis hinauf zum Präsidenten«, sagte der Minister. »Nur wird Ihnen das überhaupt nichts nützen, Cotton, wenn man Ihnen auf die Schliche kommt.«
»Denken Sie daran, Cotton«, ergänzte der FBI-Direktor, »Sie müssen nicht nur handeln wie ein Gangster, Sie müssen leben, fühlen, schmecken, riechen, schauen wie ein Gangster. Wenn Sie das nicht schaffen, ist Ihr Leben jetzt schon keinen Cent mehr wert.«
»Ich werde mir Mühe geben«, versprach ich.
Wir alle wussten nur zu gut, wie ernst es war. Doch keiner von uns ahnte auch nur im Entferntesten, was da alles auf uns zukam.
»Es ist keine Frage der Kraft«, sagte der kleine Mann und trat vor.
Er hieß Tai Nang Lee. Sein Vater war Japaner, seine Mutter Koreanerin. Jetzt stand er vor den übereinander getürmten Ziegelsteinen und hatte die Augen geschlossen. Der Kopf war halb gesenkt. Die Lippen waren ein wenig geöffnet. Es sah fast aus, als schliefe er im Stehen.
Dann schien etwas in ihm zu explodieren. Er öffnete die Augen. Sein Arm schoss hoch, und aus den Tiefen seiner Kehle entstieg ein rauer Urlaut.
Die Ziegelsteine spritzten buchstäblich auseinander.
Ich holte Luft und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wenn es mir jemand erzählt hätte, hätte ich es nicht geglaubt. Aber ich hatte es mit eigenen Augen gesehen.
»Wenn es keine Frage der Kraft ist«, sagte ich beeindruckt, »was ist es dann?«
»In erster Linie ist es eine Frage der Konzentration«, erwiderte der hagere kleine Mann. »Die meisten Menschen schlagen immer nur mit der Hand. Sie schlagen niemals mit ihrem ganzen Wesen. Deshalb ist in ihrem Schlag nur die Kraft der Hand, nie die Kraft ihres ganzen Seins.«
»Hm«, brummte ich zweifelnd. »Und was ist es in zweiter Linie?«
»In zweiter Linie ist es eine Frage der Übung.« Er sah mich prüfend an. »Üben können wir. Ob Sie sich ausreichend konzentrieren können, Mister Cotton, das werden wir bald wissen.«
Als der Wecker an diesem denkwürdigen Mittwoch rappelte, fiel mir meine erste Begegnung mit Tai Nang Lee wieder ein, noch bevor ich die Augen geöffnet hatte.
Ich blieb liegen, reckte mich und ließ mir durch den Kopf gehen, was in den vergangenen sechs Wochen geschehen war. In diesen sechs Wochen, die ich vorwiegend mit Tai Nang Lee verbracht hatte. Dabei befühlte ich die Hornhaut an meinen Händen.
Und ich kam zu der Überzeugung, dass es einige rätselhafte Dinge auf dieser Welt gibt, die wohl nur Asiaten je verstehen und beherrschen können. Zum Beispiel die Sache, für die die Ziegelsteine nur eine äußere Erscheinungsform darstellten. Das war ja schon halb asiatisch gedacht. Ein Zeichen dafür, was mir Tai Nang Lee alles beigebracht hatte.
Ich machte die Augen auf, starrte an die Decke und dachte an das, was mir an diesem Tag bevorstand. Heute konnte ich mir Gemächlichkeit leisten, denn ich brauchte nicht wie sonst meinen Freund Phil Decker abzuholen. Heute mussten wir nicht zum FBI fahren, mussten uns nicht an unsere Schreibtische setzen und hatten auch keine Ermittlungen durchzuführen. Heute würde alles ganz anders laufen als sonst.
Nach ein paar Minuten spürte ich, dass ich hungrig war. Mit den routinierten Handgriffen des erfahrenen Junggesellen setzte ich Kaffeewasser auf, die Pfanne mit dem Frühstücksspeck, drehte die Dusche auf und legte das Rasierzeug mit der Wilkinson-Klinge zurecht. Zehn Minuten später duftete es in meiner Wohnung nach Kaffee und gebratenem Speck mit Spiegeleiern. Ich hatte immerhin schon Hose, Socken und Schuhe angezogen. Gerade wollte ich, nun schon heißhungrig, anfangen zu essen, da klingelte es.
Ich holte den 38er aus dem Schlafzimmer, bevor ich die Wohnungstür einen Spalt breit aufzog.
Phil stand auf der Matte. »Ich bin ein bisschen früh dran. Ich konnte nicht wieder einschlafen. Du bist ja auch schon halb angezogen.«
Was er nicht sagte, ich ihm aber ansah, war, dass er vor Sorgen um mich kaum geschlafen hatte. Deshalb war er viel zu früh aufgestanden und hatte garantiert noch nicht gefrühstückt. Also schob ich die Pfanne ein zweites Mal auf den Herd und stellte eine weitere Tasse auf den Tisch.
Als wir das Haus verließen, schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, der sich wie blaue Seidentapete über Manhattan spannte. Wir schleppten meine beiden schweren Koffer mit uns – das heißt, es waren nicht wirklich meine Koffer. Sie stammten aus der Requisitenkammer des New Yorker FBI, und es gab zwei identische Gepäckstücke, mit denen sich in diesen Minuten wahrscheinlich einer unserer Kollegen beschäftigte, nämlich der G-man Allan Petersen. Allan ist der einzige Kollege, der so ziemlich die gleiche Figur hat wie ich.
Mein roter Jaguar schnurrte behaglich, als ich auf dem Brooklyn Queens Expressway endlich ein bisschen Gas geben konnte. Der Expressway ist die direkte Zufahrt vom Süden der Stadt zum Flughafen LaGuardia an der Nordküste von Queens.
»Eigentlich ist es Wahnsinn, was wir vorhaben«, meinte Phil unvermittelt.
Ich erwiderte nichts, denn ich musste mich aufs Fahren konzentrieren. Vor mir zuckelte ein zitronengelber VW-Käfer über alle drei Fahrspuren hin und her, als könnte er sich für keine bestimmte entscheiden. Ich wartete auf den richtigen Augenblick und gab meinen 264 Pferden die Sporen. Der rote Jaguar schoss an dem flatterhaften Zitronenfalter vorbei wie eine Rakete.
»Jerry, wir könnten noch alles abblasen«, sagte Phil. Je näher wir dem Flughafen kamen, desto mehr Sorgen machte er sich offenbar.
»Nein, Phil«, widersprach ich. »Das können wir nicht mehr. Zu Rädchen sind in Bewegung gesetzt, zu viele Leute haben sich auf ihren Teil der Arbeit vorbereitet. Ich werde gewiss nicht darauf verzichten, die Lunte zu dem Dynamitfass anzuzünden ...«
Er trug wie immer einen zerknitterten Anzug und einen speckigen Hut, unter dessen Band sein Presseausweis hervorlugte. Johnny O'Connor, der wohl beste Gerichts- und Polizeireporter der ganzen Ostküste, erwartete uns wenig später am verabredeten Nebeneingang. Er kaute auf einem zerfaserten Zigarrenstrunk und grinste, als er uns kommen sah.
»Alles okay?«, fragte ich.
»Na, sicher doch«, erwiderte Johnny und schob sich den Hut noch ein paar Inch weiter ins Genick. »Sie werden einen Presserummel haben, Cotton, um den Sie jeder Politiker beneiden wird.«
»Ich bin gespannt«, sagte ich und zog einen dicken Briefumschlag hervor, den ich Johnny in die Hand drückte. »Da. Alle Bilder, die Sie von mir haben wollten. In Badehose, in Freizeitkluft, im weißen Dinnerjacket und im schwarzen Smoking. Mitsamt den Negativen, wie abgesprochen.«
Johnny warf einen flüchtigen Blick in den Umschlag, dann stopfte er ihn in eine seiner ausgebeulten Taschen. »Von mir aus kann's losgehen. Mein Gepäck habe ich schon aufgegeben. Fahrt vor dem mittleren Haupteingang vor.«
Mit seinem Entengang watschelte er davon. Wir ließen ihm genügend Zeit. Dann drehten wir mit dem Jaguar eine große Runde über die Parkplätze, bevor wir auf den mittleren Eingang der Haupthalle zusteuerten. Ich ließ den Jaguar im absoluten Halteverbot stehen, nachdem Phil das magnetische Warnlicht aufs Dach gesetzt und eingeschaltet hatte.
Angesichts eines rotierenden Warnlichts würde kein übereifriger Kollege von der City Police auf den Gedanken kommen, uns ein Strafmandat zu verpassen. Außerdem wollten wir ja das Aufsehen. Wir luden uns jeder einen der schweren Koffer auf die Schulter und betraten die Halle.
Johnny O'Connor kam uns entgegengewatschelt und strahlte.
»Endlich, Cotton!«, rief er. »Ich dachte schon, Sie würden's verschlafen.«
Wir setzten die Koffer ab und schüttelten ihm die Hand, als hätten wir ihn an diesem Tage noch nicht gesehen. Er winkte einen wie zufällig in der Nähe herumlungernden Gepäckträger mit einer Elektrokarre heran. Ich drückte ihm mein Ticket und zwei Dollar in die Hand. Und Johnny erklärte ihm, wo das Gepäck und für welchen Flug es aufzugeben sei. Die Karre schnurrte davon.
Ungefähr zehn Schritte von uns entfernt hatten sie die Batterie mit ihren Mikrofonen aufgebaut. Wir sahen die Schildchen der drei großen Fernsehgesellschaften NBC, ABC und CBS, und wir sahen die Mikrofone von rund einem Dutzend lokaler Rundfunkstationen. Es wimmelte von Aufnahmeleitern, Kameraleuten und Kameraassistenten mit tragbaren Handlampen. Und es wimmelte von Zeitungsreportern. Johnny hatte nicht übertrieben. Was er da meinetwegen zusammengetrommelt hatte, hätte bei einem hohen Politiker auch nicht viel aufwendiger sein können.
Die Aufnahmeleiter zerrten mich vor die Mikrofone, die Toningenieure stülpten sich ihre Kopfhörer über und schalteten ihre Bandgeräte und die Mikrofone ein. Die Handscheinwerfer flammten auf, die Kameras surrten kaum hörbar.
»Jerry, wohin geht die Reise?«, kreischte einer.
»Nach Rio.«
»Warum gerade Rio?«
»Warum nicht Rio?«
»Fährt Phil mit?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Der Personalstand beim FBI erlaubt es derzeit nicht, zwei G-men gleichzeitig in den Urlaub zu schicken.«
»Jerry, Sie gelten als New Yorks Gangsterjäger Nummer eins. Sehen Sie rosige Zeiten für die Unterwelt, wenn Sie Urlaub machen?«
»Fragen Sie Phil und meine Kollegen, ob sie das zulassen werden.«
Einige lachten. Meine Augen hatten sich inzwischen an das grelle Licht der Scheinwerfer gewöhnt, und ich sah mich unauffällig um. Inzwischen prasselten weiter ihre Fragen auf mich ein.
»Wie viel Geld werden Sie ausgeben, Jerry?«
»Das hängt von den örtlichen Getränkepreisen ab.«
»Möchten Sie eine hübsche Frau kennenlernen?«
»Welcher Junggeselle möchte das nicht?«
Wieder gab es Gelächter. Die Zahl der Umstehenden nahm ständig zu. Zu der Schar der Reporter drängte sich, angelockt durch die Scheinwerfer, eine immer größer werdende Zahl von Neugierigen. Aber noch immer war keiner von den Leuten zu sehen, für die wir das ganze Theater inszeniert hatten.
»Ist es wahr, Jerry, dass Sie mit Johnny O'Connor fliegen?«
»Das ist wahr.«
»Warum gerade mit Johnny?«
»Ich habe gern Gesellschaft.«
»Seid ihr hinter einer Story her?«
»Seit wann bin ich Journalist?«
Halb links gab es jetzt Bewegung. Ein Mann in einem dunkelgrauen Maßanzug drängelte sich rücksichtslos durch die Menge. Ich war ihm noch nie begegnet. Doch ich erkannte ihn sofort nach den Bildern, die sich in unseren Unterlagen über ihn befanden. Es war Giovanni Barolli, Staranwalt der Mafia. Wenn er sich persönlich von meinem Abflug überzeugen wollte, konnten wir zufrieden sein. Seine Anwesenheit war der Beweis dafür, dass unsere Überlegungen stimmten. Ich bemühte mich, ein zufriedenes Grinsen zu unterdrücken.
Die Reporter waren noch immer beim Thema Johnny. Dass ein Special Agent des FBI und ein bekannter Polizeireporter zusammen in den Urlaub flogen, wollten sie offenbar nicht für bedeutungslos halten.
Denn einer von ihnen kreischte: »Jerry, die Wahrheit! Warum gerade mit O'Connor?«
Ich seufzte. »Also gut, ich will die Katze aus dem Sack lassen. Schon vor einigen Monaten hat Johnny in einer Wette drei Flaschen Whisky an mich verloren. Jetzt werde ich sechs Wochen Zeit haben, sie ihm endlich abzuluchsen.«
Das war die Tonart, die amerikanische Reporter lieben. Eine Zeit lang ging es noch weiter mit leicht anzüglichen Erkundigungen über meine Absichten bezüglich südlicher Schönheiten. Dann tauchte endlich der Bursche auf, den wir extra dafür bestellt hatten. Er trug die blaue Uniform einer unserer großen Fluggesellschaften.
»Mister Cotton!«, rief er laut über die Köpfe der Neugierigen und der Reporter hinweg. »Mister O'Connor! Mister Cotton! Mister O'Connor!«
»Ja!«, rief Johnny zurück. »Hier sind wir! Was ist denn los? Was wollen Sie?«
Der Mann bahnte sich einen Weg durch die Menge. Hinter ihm kam der Mann mit der Gepäckkarre, auf der meine beiden Koffer standen.
Dass sie inzwischen vertauscht worden waren, wussten nur Phil, Johnny und ich.
»Ihre Maschine ist längst zum letzten Mal aufgerufen worden. Haben Sie es denn nicht gehört? Mister Cotton wird sein Gepäck mit an Bord nehmen müssen. Der Chefsteward wird sich dann darum kümmern. Aber wir müssen uns jetzt beeilen. Kommen Sie, ich lasse Sie durchs Nottreppenhaus in den Warteraum.« Der Uniformierte hob ein Walkie-Talkie vor den Mund und fuhr fort, für alle deutlich hörbar: »Achtung, Flug 477. Maschine noch nicht abnabeln. Ich habe die verspäteten Passagiere, Mister O'Connor und Mister Cotton, gefunden. Wir kommen sofort. Ende!«
Ich winkte den Reportern zum letzten Mal zu und wandte mich, noch immer von Scheinwerfern angestrahlt, an Phil, indem ich ihm die Schlüssel für meinen Jaguar in die Hand drückte. »Die Autoschlüssel, Phil. Vergiss nicht, nächste Woche ist ein Ölwechsel fällig. Mach's gut, alter Junge!«
»Schönen Urlaub, Jerry«, sagte mein Freund, und nur ich konnte heraushören, dass er etwas ganz anderes meinte.
Johnny O'Connor vollzog den Abschied von seinen Kollegen auf seine Weise. Er klatschte einigen die Hand auf die Schultern und krähte dabei vergnügt: »Sauft nicht alle Flaschen aus, bis ich wieder da bin!«
Ein paar eifrige Reporter liefen uns nach, als wir dem blau Uniformierten und der Gepäckskarre zu einer stählernen Seitentür folgten, die der Uniformierte aufschloss. Man konnte in eines der Nottreppenhäuser blicken, die so gut wie nie benutzt werden und aus denen uns deshalb muffige, abgestandene Luft entgegenquoll. Der Uniformierte achtete darauf, dass nur Johnny und ich an ihm vorbeikamen und das Gepäck hereingereicht wurde. Danach schloss er hinter uns die Stahltür ab.
In ihrem toten Winkel hatte Allan Petersen auf uns gewartet. Ich zog meinen Trenchcoat aus, und Allan warf ihn sich über. Danach stülpte er sich meinen Hut auf und griff nach den Koffern.
Auf der anderen Seite des Treppenabsatzes gab es eine zweite Stahltür, die in den Warteraum für die Maschine nach Rio führte. Da er durch eine Glaswand von der Halle her einzusehen war, durfte Allan der Glaswand nur den Rücken zuwenden, wenn er sie zusammen mit Johnny O'Connor durchquerte. Aber da er meine Figur besaß, meinen Mantel und meinen Hut und meine Koffer trug, musste ihn jeder, der ihm vielleicht von der Halle aus nachschaute, für den G-man Jerry Cotton halten, der New York verließ, um einen sechswöchigen Urlaub anzutreten.
Ich dagegen stieg die Stufen im Nottreppenhaus hinab. Unten wartete bereits eine schwarze Limousine mit verhangenen Fenstern auf mich.
Das Krankenzimmer, in dem ich eine Nacht bleiben sollte, lag im achten Stock. Wir erreichten es mit einem Lastenaufzug. Da bestand keine Gefahr, dass ein Krankenhausbesucher uns über den Weg laufen konnte.
Steve Dillaggio, der mich in der schwarzen Limousine gefahren hatte, damit ich mich auf dem Rücksitz hinter den Vorhängen verstecken konnte, trug jetzt einen der beiden schweren Koffer. Als wir das Krankenzimmer betraten, machte er große Augen.
Es war kein Wunder, denn am Fenster stand Percy Duce.
Percy ist homosexuell – und der beste Maskenbildner, den es gibt. An diesem Tag hatte er sich den eierförmigen Kopf völlig kahl scheren lassen und mit Lippenstift einen Sowjetstern auf die Glatze gemalt.
Er trug kein Hemd, sondern nur eine gelbe Weste, die das Gestrüpp grauer Haare auf seiner Brust sehen ließ. Dafür erlaubte er sich gleich zwei Hosen: Blue Jeans mit in Wadenhöhe abgerissenen Hosenbeinen und über den Jeans eine bayerische Lederhose. Auf Schuhe hatte er völlig verzichtet, seine Füße sahen entsprechend aus.
»Hallo, hallo!«, flötete er und tänzelte auf uns zu. »Dein Chef hat mich gestern in Los Angeles angerufen und mir gesagt, dass es sich wieder einmal um dich handelt, Jerry, mein Großer. Da bin ich sofort herübergekommen. Du weißt ja, Jerry, deine Visage hat mich schon immer gereizt.«
Percy muss man nehmen, wie er nun einmal ist. Ich drückte ihm die Hand und war froh, dass er überhaupt gekommen war. Einen besseren Mann in seinem Fach konnte man nicht finden.
Nachdem ich meinen Kollegen Steve Dillaggio vorgestellt hatte, nahm Percy den Hörer von einem Wandtelefon und wählte eine dreistellige Nummer. »Doc, unser Opfer ist eingetroffen.«
Ich sah mich in dem Zimmer um, in dem ich diese Nacht verbringen sollte, damit der Arzt morgen früh eine letzte Kontrolle dessen durchführen konnte, was er zusammen mit Percy heute noch zu tun hatte. Es gab ein Bett, einen Tisch, drei Stühle und einen Schrank. Und eine schmale Tür, die wahrscheinlich in ein Badezimmer führte.
Nach ein paar Minuten tauchte ein ältliches Männchen auf. Es trug einen weißen Kittel und eine für seinen kleinen Kopf geradezu riesige dunkle Hornbrille.
»Ich bin Doktor Vermeeren«, sagte das Männchen. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Agent Cotton. Im Operationssaal werde ich Sie Mister Miller nennen. Die Assistenten und die Schwestern brauchen nicht zu wissen, wen wir heute behandeln.«
Auf dem Weg zum Operationssaal diskutierten Percy und der Doc ungeniert, was sie mit meinem Gesicht machen könnten. Danach beschäftigten sie sich fast sieben Stunden lang mit mir. Als sie mir abends einen Spiegel vorhielten, fuhr ich erschrocken auf.
»Himmel!«, rief ich. »Was habt ihr mit mir gemacht?«
Kaum hatte ich es ausgesprochen, erschrak ich ein zweites Mal. Diese Stimme war nicht meine Stimme.
»Das ist uns gelungen«, meinte der Doc zufrieden. »Das müssen Sie zugeben, Mister Miller.«
Ich fühlte mich ein bisschen benommen von den Spritzen, die mir der Arzt verpasst hatte. Außerdem kam es mir vor, als hätte meine Zunge nicht mehr genug Platz im Mund. Aber sonst war nicht zu bestreiten, dass sie ihre Aufgabe hervorragend gelöst hatten. Mit dem Gesicht hätte mich nicht einmal meine Mutter erkannt. Und mit der Stimme schon gar nicht.
Ich konnte gehen, und sie geleiteten mich in mein Krankenzimmer zurück. Dort war Phil inzwischen eingetroffen. Er bedachte mich mit einem gleichgültigen Blick.
»Wird es noch lange dauern, Doc?«, fragte er den Arzt.
»Mit wem?«
»Mit Jerry natürlich. Also, ich meine Mister Cotton.«
Der Arzt lächelte zufrieden. »Er steht vor Ihnen, Agent Decker«, sagte er.
Der Donnerstag brachte Sturm- und Regenböen. Es klärte erst um die Mittagszeit auf. Ich saß am Steuer der schwarzen Limousine und fuhr seit zwei Stunden durch den Bundesstaat New Jersey nach Westen. Jetzt hatte ich mein Ziel erreicht. Neben der einsamen Straße stand ein großes Schild mit der Aufschrift:
14th Army Training Camp
Special Forces
Authorized persons only
Nur fünf Schritte weiter versperrte ein Schlagbaum die Zufahrtsstraße. Daneben gab es ein Wachhäuschen. Auf beiden Seiten der Straße lief ein etwa neun Fuß hoher Stacheldrahtzaun in den Wald hinein.
Aus dem Wachhäuschen kam ein untersetzter, kräftiger Mann heraus. Er trug einen gefleckten Kampfanzug und eine umgehängte Maschinenpistole. Ein zweiter beobachtete mich misstrauisch durch das Fenster. Alle beide hatten grüne Barette, die den Spezialeinheiten seinerzeit von Präsident Kennedy verliehen worden waren.
Ich stieg aus der schwarzen Limousine aus und machte ein paar Schritte auf den Posten zu.
»Was suchen Sie hier?«, kläffte er mich an. »Haben Sie an der Abzweigung nicht gelesen, dass hier militärisches Sperrgebiet ist?«
»Doch, das habe ich gelesen«, erwiderte ich. »Ich möchte zu Tai Nang Lee. Er erwartet mich.«
In dem wind- und wettergegerbten Gesicht schoben sich schwarze Brauen verwundert in die Höhe.
»Tai erwartet Sie?«, wiederholte der Posten ungläubig. »Sind Sie sich sicher, Mister?«
»Ich bin mir sicher«, sagte ich. »Und ich bin mir auch sicher, dass Sie eine Möglichkeit haben, das nachzuprüfen.«
»Und ob ich das kann! Aber bevor ich es tue, geben Sie mir Ihre Wagenschlüssel.«
»Warum?«
»Weil wir uns sehr für Sie interessieren werden, falls Tai Sie nicht kennt, Mister. Da möchte ich nicht, dass Sie plötzlich verschwinden.«
»Sie verstehen Ihr Handwerk«, lobte ich, kehrte zurück zum Wagen zurück, zog den Schlüssel ab und drückte ihn dem Posten in die Hand.
Er verschwand in dem Häuschen. Meine Zunge hatte immer noch nicht genügend Platz, und manchmal erzeugte die Enge einen Brechreiz. Doch der Doc hatte mir versichert, das werde sich geben.
In dem Wachhäuschen wurde telefoniert. Aus der Art, wie die beiden Posten zu mir herausstarrten, schloss ich, dass jemand nach meiner Beschreibung gefragt hatte. Da konnten sie lange beschreiben!
»Mister, Sie müssen sich ein paar Minuten gedulden!«, rief der erste Posten mir zu.
Damit hatte ich gerechnet. Außerdem war ich sowieso rund eine Viertelstunde zu früh dran.
Es war Donnerstag, Viertel vor zwei nachmittags. Ich trug einen dunkelblauen, in Los Angeles maßgeschneiderten Anzug mit Weste, handgemachte Schuhe und eine Seidenkrawatte, die viel zu teuer war, als dass ich sie mir je gekauft hätte. Es gab nichts, aber auch gar nichts an mir, das auf Jerry Cotton hingewiesen oder auch nur aus New York gestammt hätte.
Als Tai Nang Lee mit einem Jeep heranbrauste, musterte er mich lange mit dem unbewegten Gesicht des Asiaten. Endlich sprang er vom Jeep herab, ging um den Schlagbaum herum und blieb vor mir stehen.
»Sagen Sie etwas!«, forderte er.
»Wir sind verabredet«, sagte ich und wunderte mich immer noch über den ungewohnten Klang meiner Stimme. »Weil Sie bereit waren, für ein paar Wochen eine andere Arbeit zu übernehmen. Eine Arbeit fürs FBI.«
Es schien, als lauschte er dem Klang meiner Worte nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Zeigen Sie mir Ihre Hände!«
Ich hielt sie ihm hin.
Er betrachtete sie gründlich. »Ich erkenne alle meine Schüler an ihren Händen. Tatsächlich, Sie sind Mister Cotton. Erstaunlich! Warten Sie einen Augenblick. Ich muss den Besucherzettel für Sie ausfüllen.«
Er verschwand in dem Wachhäuschen und trat zwei Minuten später wieder mit einem grünen Zettel heraus, den ich mir an den Rockaufschlag heften musste.
Wir fuhren mit seinem Jeep die gewundenen Waldwege entlang. In der Schreibstube gab er die Schlüssel für den Jeep ab und verabschiedete sich von ein paar Kameraden. Aus seinem Zimmer holte er nichts weiter als eine Fotografie seiner Eltern. Genau wie ich durfte er nichts mit sich führen, was auf seine bisherige Existenz Rückschlüsse erlaubt hätte.
Zu Fuß machten wir uns auf den Rückweg zum Tor. Tai Nang Lee richtete es so ein, dass wir an der Turnhalle vorbeikamen. Dort lag der übliche Haufen Ziegelsteine.
Tai Nang Lee blieb stehen und sah mich ernst an.
»Ich muss wissen, wie entschlossen Sie wirklich sind«, sagte er und türmte fünf Ziegelsteine übereinander.
Ich holte tief Luft. Ich konzentrierte mich. Ich versuchte, alle meine Sinne, jede Kraft meines Körpers, alle Energien meines Wesens in eine einzige Richtung zu lenken ...
Es waren Ziegelsteine. Gewöhnliche Ziegelsteine. Sie waren auch etwas anderes. Sie mochten so aussehen, aber sie waren mehr als nur Ziegelsteine.
Sie waren die rote, verkörperte Macht des Bösen. Sie waren die teuflische Energie, die den Kidnapper vor einem Jahr dazu gebracht hatte, ein zweijähriges Mädchen zu erwürgen. Sie waren die finsteren Mächte, die die Mörder unserer gefallenen Kameraden beseelt hatten. Sie waren alles, was von Beginn des Menschengeschlechts an böse, blutgierig und zerstörerisch war. Sie waren das Böse an sich ...
Ich hörte meinen Schrei nicht, und meine Hand fühlte nur einen dumpfen Schlag.
Die Steine spritzten auseinander, als hätte ich in eine Gallertmasse geschlagen. Ich musste zweimal tief atmen – und begriff, dass ich seine letzte Prüfung bestanden hatte.
Tai Nang Lee hielt mir die Hand hin. »Bisher habe ich nur geahnt, was Ihnen dieser Kampf bedeutet. Jetzt weiß ich es.«
In Manhattan brannten die Straßenlaternen, die Lichter in den Schaufenstern und die bunt flimmernden Reklametafeln, die ganze Hauswände einnahmen. Durch die Straßen strömten Touristen, Theaterbesucher und Konzertgänger und all jene, die sich ins abendliche New Yorker Vergnügungsleben stürzen wollten.
Tai Nang Lee steuerte die schwere Limousine mit sicherem Gefühl für die wechselnden Verkehrssituationen. Fast lautlos glitt der schwarze Wagen an den Straßenrand der Eighth Avenue.
Jenseits des Gehsteigs begann die lange Freitreppe, die zu dem Säulentempel führt, der das New Yorker General Post Office beherbergt. Ich stieg die flachen Stufen hinauf und betrat die Halle, in der einige Schalter für den Nachtdienst geöffnet hatten.
Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, wie es auf dem Hauptpostamt einer Acht-Millionen-Stadt selbst in den Abendstunden zu erwarten war. Damit hatten wir gerechnet. Aus einem der herumstehenden Formularkästchen griff ich mir einen Nachsendeantrag und schlenderte damit zu der Reihe der Stehpulte.
Ich hatte das Formular etwa zur Hälfte ausgefüllt, da schob sich ein einzelner Mann an das Nachbarpult und begann sogleich, emsig zu schreiben.
Ohne den Kopf in meine Richtung zu wenden, sagte er leise: »Na endlich! Ich habe draußen schon zwanzig Minuten gewartet.«
Es war mein Freund und Partner Phil Decker.
Ebenso leise wie er erwiderte ich: »Wir sind drüben in Jersey City in einen Stau geraten, der uns aufgehalten hat. Was gibt es Neues?«
»Madikis hat wieder zugeschlagen.«
»Sicher?«
»Wir könnten es nicht beweisen. Aber es können nur seine Leute gewesen sein. Es war in seinem Gebiet.«
»Das reicht. Dafür inszenieren wir ja das ganze Theater. Gib mir Einzelheiten!«
Leise erzählte Phil von einem typischen Überfall einer Racketbande. Diesmal hatten die Gangster die Besitzerin eines Zigarrenladens, die sich offenbar bisher geweigert hatte, sogenannte Schutzgelder zu bezahlen, brutal zusammengeschlagen und die Einrichtung des Ladens zertrümmert.
»Wann war das?«, fragte ich.
»Heute Abend. Vor knapp zwei Stunden. Wir haben es erst vor einer halben Stunde erfahren. Die Frau hat sechs Rippen gebrochen und zahllose Prellungen, Quetschungen und so weiter.«
»War Madikis dabei?«
»Das ist er doch nie! Der sitzt jetzt im Crown Club und lässt sich ein köstliches Dinner servieren, während ihm seine Jungs Vollzugsmeldung erstatten.«
»Woher weißt du das?«
»Wir haben Madikis seit gestern in die Gruppe der Leute aufgenommen, die wir rund um die Uhr beobachten.«
»Wie ist die Adresse des Ladens?«
»482 West 56th Street. Das ist zwischen der Ninth und der Tenth Avenue.«
»Sonst noch etwas?«
»Nichts Neues. Grüße von Mister High! Du sollst nicht zu viel riskieren.«
»Ich werde erst einmal ein richtig feines Abendessen im Crown Club riskieren.«
»Willst du heute Abend schon anfangen?«