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Es war die Sensation vom Broadway - das Musical Manhattan null Uhr null. Als das Ensemble die fünfzigste Vorstellung feierte, da feierte die Unterwelt auf ihre Weise mit. Von diesem Augenblick an herrschte Panik am Theater. Mord war an der Tagesordnung. Nur wer war der Drahtzieher? Als Phil und ich ihn aufspürten, zeigten die Uhren in Manhattan null Uhr null ...
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Seitenzahl: 203
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Manhattan null Uhr null
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Vorschau
Impressum
Manhattan null Uhr null
Es war die Sensation vom Broadway – das Musical Manhattan null Uhr null. Als das Ensemble die fünfzigste Vorstellung feierte, da feierte die Unterwelt auf ihre Weise mit. Von diesem Augenblick an herrschte Panik am Theater. Mord war an der Tagesordnung. Nur wer war der Drahtzieher? Als Phil und ich ihn aufspürten, zeigten die Uhren in Manhattan null Uhr null ...
Die Feier anlässlich der fünfzigsten Aufführung von Manhattan null Uhr null artete aus, als ein Dutzend Mitglieder der Tanzgruppe in die sogenannten Funduskammern einbrachen und sich mit der Ausstattung längst vergessener Theaterstücke maskierten und kostümierten. Die Frauen wählten Maskeraden, die es ihnen erlaubten, noch mehr Haut zu zeigen. Die Männer verwandelten sich mithilfe der Bestände eines durchgefallenen Horrorstücks in grauenerregende Monster.
Stürmischer Beifall brach los, als sie in dieser Aufmachung die Bühne stürmten, die tanzenden Gäste in die Kulissen scheuchten und vor der Dekoration des letzten Akts von Manhattan null Uhr null ein groteskes Ballett aufführten.
Danach gab es kein Halten mehr. Nahezu alle fielen in die Funduskammern ein. Die Feier wurde zum Maskenfest.
Ich versuchte, mich vom Ausbruch des allgemeinen Irrsinns nicht anstecken zu lassen. Aber Shirley, inzwischen selbst aus Pullover und Hosen in ein Nichts von Schleiergewand umgestiegen, tauchte mit einer Schaumstoffmaske in den Händen auf.
»Genau das Passende für dich, Jerry!«
»Was ist das?«
»Die Maske des Leibwächters von Professor Frankenstein.« Sie stülpte mir die Maske über den Kopf und kreischte: »Lieber Himmel, Jerry, du siehst abscheulich aus!«
Dann warf sie mir die Arme um den Hals und zerrte mich zum Tanzen auf die Bühne. Ich stolperte, denn die Augenschlitze saßen zu tief. Die Maske stank atemberaubend nach Mottenpulver. Ich bekam darunter kaum Luft. Jedenfalls nicht genug für das Tempo des Rocks Midnight Explosion aus Manhattan null Uhr null, der vom Band aus den Lautsprechern dröhnte. Außerdem gehört Shirley zum Ballett. Wer kann da schon mithalten? Irgendwann verlor ich sie an irgendwen. Ich war nicht mal unglücklich darüber.
Ich tappte von der Bühne Richtung Inspizientenraum, wo die Getränke verwahrt und gekühlt wurden. Jemand schlich sich von hinten an mich heran und stieß mir den Zeigefinger zwischen die Schulterblätter. Ich glaubte, es wäre Phil, und wollte mich umdrehen.
Der Druck verstärkte sich.
Ich erkannte meinen Irrtum. Ein Zeigefinger war das nicht.
»Geh geradeaus!«, zischelte eine Stimme in mein linkes Ohr. »Bei der leisesten falschen Bewegung besorg ich's dir auf der Stelle!«
Ein alberner Scherz? Irgendein angetrunkener Spaßvogel, der seinen Groll über das letzte Fünf-Dollar-Strafmandat an mir ausließ? Aber nur wenige Leute in dieser Gesellschaft aus Schauspielern, Kritikern, Showmanagern und Ballettratten wussten, dass ich FBI Agent war.
Ich spielte mit und ging langsam weiter.
Zwei Frauen in imitierten Leopardenfellen aus bedrucktem Stoff und ein Smoking tragender Mann, dessen Kopf in einem Ritterhelm wie in einer Konservendose eingeschlossen war, kamen uns entgegen.
Die Frauen fauchten mich an und schrien: »Verbrenn das Scheusal, Henker! Schlag ihm den Kopf ab!«
Die Rufe galten dem Mann hinter mir. War er als Henker verkleidet?
Der Druck zwischen meinen Schulterblättern blieb. Als der Smokingträger gegen mich prallte und unter dem Blech des Helms dumpfe Laute ausstieß, die wie Hilferufe klangen, traf mich hinterrücks ein kurzer, knochentrockener Fausthieb.
Der Schmerz nahm mir die Luft.
Kein Scherz also.
Der Mann hinter mir war ein Profi, der wusste, wohin er schlagen musste.
»Weiter!«, befahl er.
Die Türen zum Inspizientenraum standen weit offen. Lärm und Gelächter schallten bis in den Gang.
Ich wurde von dem Druck zwischen den Schultern vorwärtsgeschoben und in einen Seitengang dirigiert, bis ich vor einer Tür stand.
»Aufmachen!«
Die Tür quietschte in den Angeln. Der Raum dahinter lag im Dunkeln.
Der Mann stieß mich in die Dunkelheit hinein. Ich prallte gegen einen Gegenstand, der polternd umfiel.
Licht wurde eingeschaltet. An der Decke glühten zwei kahle Neonröhren auf.
Ich drehte mich um. Noch immer steckte mein Kopf unter der idiotischen Schaumstoffmaske. Ich hob die Hände, um mich davon zu befreien.
»Lass die Arme unten!«
Er stand in der Nähe der Tür. Ich weiß nicht, ob sein Kostüm das eines Henkers war, wie die Frau ihn angesprochen hatte. Auf jeden Fall machte es ihn unkenntlich. Er trug einen weiten roten Umhang mit einer Kapuze und eine schwarze Vollmaske, die nur die Augen freiließ. In der linken Hand hielt er einen Revolver mit aufgesetztem Schalldämpfer.
»Ich erhalte zehntausend Dollar dafür, dass ich dich umblase«, sagte er.
Seine Stimme bekam durch die Maske einen dumpfen Klang. Er sprach leise. Seine Aussprache war akzentlos und korrekt.
»Anscheinend steigen auch die Preise der Killer ständig. Zehntausend Dollar sind Wucher.«
Das klang kaltblütig. In Wahrheit fühlte ich mich von Minute zu Minute unbehaglicher. Ich war waffenlos. Wer geht schon mit einer Kanone unter der Jacke zu einer Bühnenparty?
»Ich warte auf dein Gegenangebot. Wie viel bietest du, wenn ich den Finger nicht krümme?«
»Willst du sagen, dass du deinen Zehntausend-Dollar-Auftrag nicht ausführst, falls ich deinen Auftraggeber überbiete?«
»Selbstverständlich, aber verschwende meine Zeit nicht mit Kleinlichkeit. Ich denke an das Dreifache.«
»Meinst du dreißigtausend Dollar?«
»Richtig, und erzähl mir nicht, du könntest die Summe nicht aufbringen. Du bist ein reicher Mann.«
In mir keimte der Verdacht, dass der »Henker« mich verwechselte.
»Du irrst dich. Höchstens dreihundert Dollar würde mir meine Bank als Vorschuss auf den Gehaltsscheck bewilligen.«
Er hob die Hand mit der Waffe an. »Ich meine es ernst, Chico! Dir bleiben noch genau sechzig Sekunden für deine Entscheidung.«
»Lass mich dieses verdammte Ding abnehmen«, sagte ich, packte die Schaumstoffmaske und zerrte sie mir vom Kopf.
Er stieß einen Laut der Überraschung aus. Ich warf ihm die Maske an den Kopf und hechtete mit aller Kraft aus dem Stand nach links.
Der schallgedämpfte Revolver blaffte. Ich krachte zwischen irgendwelches Gerümpel, denn der Raum diente zur Aufbewahrung von Requisiten. Er war vollgestopft mit Möbeln, Stellwänden und bemalter Pappe.
Ich schnellte hoch und tauchte hinter einem massiven Schrank weg.
Die Neonröhren erloschen. Ich hörte Schritte und das Zuschlagen der Tür.
Ein paar Minuten verlor ich, bis ich mich freigewühlt und die Tür gefunden hatte. Sie war nicht verschlossen. Ich riss sie auf und rannte den Gang entlang.
Im Inspizientenzimmer waren sie zu gemeinsamem Gesang übergegangen. Natürlich sangen sie Jennifer Jakes Erfolgslied Love Is Like a Killing Shot aus Manhattan null Uhr null. Genauer gesagt, sie grölten es.
Ich platzte in den Raum.
Eine Menge Frauen im Kostüm, ein Dutzend Männer, mit und ohne Masken. Niemand im roten Henkersmantel!
Chris Cassey, Showreporter der New York Post, schwang ein langes Pappschwert und brüllte: »Einen Drink für good old Jerry!«
Ich rannte weiter. Cassey schrie mir nach, ich sei ein verdammter Spielverderber ...
Mein Fuß verfing sich in irgendetwas, das in dem schmalen Durchgang zwischen den Kulissenwänden auf dem Boden lag.
Ich stoppte und hob das Zeug auf.
Ein roter, weitärmeliger Umhang mit Kapuze.
Drei Schritte weiter fand ich die schwarze Maske. Damit war klar, dass ich nach dem »Henker« nicht länger zu suchen brauchte.
Wie sah der Mann jetzt aus?
Trug er einen Straßenanzug? Pullover und Jeans? Oder einen Smoking wie einige der Leute, die angenommen hatten, eine Bühnenparty unterschiede sich nicht von einem Empfang in der feinen Gesellschaft?
Wen hatte er unter der Frankenstein-Maske vermutet?
Er hatte mich Chico genannt. Das war kein richtiger Name, aber es konnte ein Spitzname sein.
Warum glaubte er, unter der Maske den richtigen Mann vor sich zu haben? Shirley hatte mir diese Maske aufgezwungen. Doch es war lächerlich, irgendeine Verbindung zwischen Shirley und einem Berufskiller zu vermuten.
Ich begann wieder an einen schlechten Scherz zu glauben. Okay, er hatte geschossen, aber möglicherweise hatte er Platzpatronen benutzt. Um das herauszufinden, hätte ich nach den Kugeln suchen müssen. In dem Gerümpel der Requisitenkammer waren sie nur schwer zu finden, falls es sie überhaupt gab.
Ich zog es vor, nach Shirley zu suchen. Vielleicht wusste sie, wer in der Bande dieser Showleute, die Manhattan null Uhr null produzierten, auf den Namen Chico hörte.
Zu dieser Zeit, zwischen drei und vier Uhr morgens, zeigte die Party erste Ermüdungserscheinungen. Nur noch drei Dutzend Typen tobten tanzend auf der Bühne im weißen Licht der Scheinwerfer. Die meisten Gäste saßen mehr oder weniger erschlafft in den Kulissen, auf den Stahltreppen und Beleuchterbühnen. Sie redeten miteinander über Pläne und Karrieren, über Erfolge und Pleiten. Dabei ließen sie die Whiskyflaschen kreisen, und wer gerade in der richtigen Stimmung war, ging mit seiner Partnerin in den Clinch.
Nur die Bühne, die Seitenkulissen und ein Teil der technischen Räume hinter der Bühne dienten den Feiernden als Tummelfeld. Der Zuschauerraum, die Empore und die Logen lagen im Dunkeln.
Shirley rockte mit Barry Neill, dem Sänger, der in Manhattan null Uhr null den Gangboss spielte. Die zwanzig Pfund Übergewicht, die Barrys Stimme die nötige Resonanz verliehen, brachten ihn beim Rocken an den Rand eines Schlaganfalls. In Bächen lief der Schweiß über sein schwarzes Gesicht.
Ich fing Shirley ab und stoppte sie.
Barry ließ sich auf den Boden fallen und keuchte. »Danke, o Mann, danke!«
Shirley hatte von ihrem Schleierkostüm inzwischen zwei Drittel eingebüßt. Den Rest konnte sie kaum noch entbehren.
»Lass uns einen Schluck trinken und dann versuchen, deinen Pullover und deine Jeans wiederzufinden«, schlug ich vor.
Sie hängte sich an mich. »Wo ist die Maske?«
»Habe ich irgendwo verloren. Shirley, wer ist Chico?«
»Chico ist der Spitzname von John Almerez. Sein Großvater kam aus Mexiko und nannte den Enkel Chico. Der Name scheint an Big John hängen geblieben zu sein, obwohl er längst nicht mehr zu ihm passt.«
Big John Almerez galt als einer der letzten unabhängigen Produzenten im Showgeschäft. Er finanzierte Musicals und die Aufführung von Theaterstücken, baute Pleiten und erntete Riesenerfolge. Er managte Stars, kämpfte mit Bankdirektoren um Kredite und war bei den Chorusgirls als unersättlicher Schürzenjäger gefürchtet.
»Nimmt Almerez an der Party teil?«
»Selbstverständlich. Er hat sie sogar finanziert und eine Menge Presseleute eingeladen, um einen neuen Publicityschub für Manhattan auszulösen. Außerdem lässt er sich eine Gelegenheit, so viele Frauen ohne Mühe anfassen zu können, nicht entgehen.«
Wir stießen auf Phil und Merle, die sich im Gegensatz zu Shirley nicht an der Maskerade beteiligt hatten. Sie saßen auf den Stufen der Haustreppe, die zum Bühnenbild der Show gehörte. Phil warf mir eine Bierbüchse zu.
»Wir rücken zusammen und machen für euch Platz«, sagte Merle.
Ich setzte mich zu Phil und riss die Lasche der Bierdose ab.
»Vor zehn Minuten drückte mir ein maskierter Mann einen Revolver ins Kreuz, dirigierte mich in einen Abstellraum und drohte, mich abzuservieren, wenn ich nicht dreißigtausend Dollar zahlen würde.«
Phil lächelte müde. »Irgendwer hat sich einen Spaß mit dir erlaubt.«
»Wenn es ein Spaß war, dann galt er nicht mir, sondern Big John Almerez.«
Auf der Bühne blieben die Tänzer stehen und sahen einander ratlos an.
Phil hob den Kopf.
»Was ist das?«, fragte er.
»Verdammt, Leute, seid mal ruhig!«, rief ein Mann.
Stimmen und Gelächter verebbten. Aber aus der großen Lautsprecheranlage, über die nötigenfalls die Geräusche eines Weltuntergangs erzeugt werden konnten, dröhnte noch immer der heiße Rock.
»Schaltet das Band ab!«, brüllte der Mann, der Ruhe verlangt hatte.
Jemand schrie! Irgendwo in dem Theaterbau schrie eine Frau!
Gellend und in den kurzen Stößen äußerster Atemnot durchdrangen die Schreie das Inferno der Rockmusik.
Phil und ich sprangen auf. Alle drängten zur Rampe.
Die Lautsprecher verstummten so schlagartig, als wäre die Elektrizität ausgefallen.
Die Schreie der Frau gellten aus der Dunkelheit des Zuschauerraums.
Irgendjemand auf der Beleuchterbrücke drehte einen Scheinwerfer von der Bühne weg und richtete den weißen Lichtkegel in den Zuschauerraum.
Das Licht glitt über lange, leere Stuhlreihen, wanderte über die Seitenlogen und erfasste die Frau.
Sie stand an der Logenbrüstung. Im Augenblick, in dem der Scheinwerfer sie erfasste, brach ihr unartikuliertes Geschrei ab.
Sie warf die Arme hoch und winkte mit verzweifelter Heftigkeit.
»Mord!«, schrie sie. »Mord! Mord!«
Phil und ich rannten über die Abdeckung des Orchestergrabens, sprangen von der Bühne und rannten auf die Loge zu, die der Lichtstrahl aus der Dunkelheit riss.
Hinter uns brach auf der Bühne die Spannung in Stimmengewirr auseinander. Es wurde nach Licht im Zuschauerraum gerufen und nach der Polizei.
Die Deckenbeleuchtung des Zuschauerraums flammte auf, bevor wir die Loge erreicht hatten. Der Mann, der irgendwo in der Technik das Schaltpult bediente, drückte auf alle Knöpfe. Kronleuchter nach Kronleuchter und die Batterien der Wandlampen tauchten den Zuschauerraum in den Lichterglanz einer Premierenvorstellung.
Die Frau war jung. Drei- oder vierundzwanzig, hübsch, schwarzhaarig und so gut wie nackt. Aber dessen schien sie sich nicht bewusst zu sein. Erst als ich mich über die Brüstung schwang, kreuzte sie die Arme vor dem Körper.
Auch die beiden Wandleuchten in der Loge brannten. Sie beleuchteten den Mann, der zwischen den Polstersesseln auf dem Rücken lag. Ein massiger Mann, dessen Bauch sich wölbte. Er war nachlässig gekleidet. Doch an seinem Handgelenk glänzte eine schwere goldene Armbanduhr. An den Händen trug er vier Ringe.
Das Gesicht war blutüberströmt und unkenntlich. Mehr als eine Kugel musste ihn aus nächster Nähe in den Kopf getroffen haben. Allein sein Haar war von der schrecklichen Wirkung der Geschosse unberührt geblieben. Es war dichtes, krauses Haar, in dem sich Grau und Schwarz mischten.
Phil übersprang die Brüstung. »Wer ist das?«
»Ich vermute, dass ...«
»Mister Almerez«, sagte die Frau.
Phil zog seine Jacke aus und legte sie ihr über die Schultern.
Eine Menge Leute rannten von der Bühne durch den Zuschauerraum und brandeten gegen die Loge an. Ihre Gesichter starrten zu uns herauf. Sie schrien auf uns ein.
»Was ist los? Ist wirklich etwas passiert? Mann, reden Sie!«
Die Logen im Century Theatre liegen erhöht über dem Niveau des Zuschauerraums. Zwei besonders Neugierige versuchten, sich an der Brüstung hochzuziehen und in die Loge zu schwingen wie Phil und ich.
Phil schnauzte sie an. »Bleibt unten! War einer von euch intelligent genug, die City Police anzurufen? Ruft noch einmal an! Sagt ihnen, sie sollen die Mordkommission schicken!«
Die Frau sank in denjenigen der vier Logensessel, der am weitesten von dem toten Mann entfernt war.
»Wer sind Sie, Miss?«, fragte ich.
»Edna Calsetti. Ich tanze in der Show.«
»Haben Sie an der Party teilgenommen?«
»Ja, ich blieb mit den anderen nach Ende der Vorstellung im Theater. Wir tranken und tanzten. Dann interessierte sich Mister Almerez für mich, und ...«
Sie sprach nicht weiter.
Ich ergänzte den Satz. »... er überredete Sie, mit ihm in die Loge zu gehen, wo Sie nicht gestört würden.«
Sie nickte.
»Er nahm eine Flasche Champagner mit. Wir tranken aus Pappbechern, und Mister Almerez wurde zudringlich.« Sie sah mich an. »Das heißt nicht, dass ich ihn nachträglich beschuldigen will. Ich war ... einverstanden.«
»Darüber brauchen wir nicht zu reden, Miss. Auf welche Weise sind Sie und Almerez in die Loge gelangt? Ich nehme nicht an, dass Sie über die Brüstung geklettert sind.«
»Nein, wir benutzten den Zugang vom Foyer.« Sie drehte sich um und wies auf die Tür.
Theaterbesucher betreten die Logen des Century von einem Gang, der über eine Treppe in die Eingangshalle führt. Jede Loge hat eine eigene Tür in der Rückwand.
»Erzählen Sie, wie es geschah.«
»Mister Almerez hielt mich auf seinen Knien und küsste mich. Ich bemerkte, wie die Tür geöffnet wurde, und wollte mich aus der Umarmung lösen. Almerez hielt mich fest und sagte, ich solle mich nicht wie ein Collegegirl benehmen. Dann merkte er selbst, dass jemand in die Loge gekommen war, drehte sich um und sagte laut: ›Wer mich jetzt stört, dem breche ich das Genick!‹«
Sie barg das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern zuckten. Ich ließ ihr Zeit.
Sehr langsam hob sie den Kopf. »Die Schüsse fielen gleichzeitig mit der letzten Silbe. Ich sah das gelbrote Feuer aus der Mündung ganz dicht vor meinem Gesicht. Mister Almerez' Hände hielten noch meine Arme. Ich spürte, wie sich sein Körper in schrecklicher Weise aufbäumte. Was danach geschah, weiß ich nicht. Als Nächstes erinnere ich mich an das Scheinwerferlicht.«
Die großen Flügeltüren des Haupteingangs wurden aufgestoßen.
»Die Cops kommen«, meldete Phil.
»Noch zwei Fragen, Miss. Haben Sie irgendetwas von dem Mann erkannt?«
»Nichts. Außer den Hinweisschildern für die Notausgänge brannte kein Licht.«
»Benutzte der Mann eine Taschenlampe, bevor er schoss?«
Sie dachte nach. »Daran kann ich mich nicht erinnern.«
Die Cops traten an die Logenbrüstung. Einer zog sich so weit hoch, dass er einen Blick auf den Toten werfen konnte.
»Okay, das ist Arbeit für die Mordkommission«, stellte er fest. »Kommen Sie raus, und bringen Sie die Frau mit.«
Edna Calsetti stand auf, erschrak und ließ sich in den Sessel zurücksinken.
»Mein Kleid liegt dort links«, flüsterte sie. »Würden Sie es mir bitte geben?«
Die Gruppe des Homicide Department, die fünf Minuten später eintraf, stand unter dem Kommando von Lieutenant Ralph Grady.
Als der Lieutenant Phil und mich sah, fragte er leise: »Stolpere ich in einen FBI-Fall?«
»Nein, Lieutenant. Wir sind aus privaten Gründen auf dieser Party.«
Gradys Gesicht verriet, dass die Antwort ihn nicht überzeugte. Denn nicht selten hält das FBI seine Aktionen vor den örtlichen und staatlichen Polizeiorganisationen geheim.
»Unsere Gründe stehen links vor der Schaufensterkulisse«, sagte Phil lächelnd. »Ein blonder und ein braunhaariger Grund, wie Sie leicht erkennen können.«
Grady hob abwehrend beide Hände. »Schon gut, G-men. Habt ihr einen Tipp für mich, wie ich den Fall anfassen soll? Wer ist der Tote?«
»John Almerez«, sagte ich. »Seine Freunde nennen ihn Big John oder auch Chico. Er finanzierte und produzierte die Show.«
»Er war mit einer Frau zusammen, als er erschossen wurde. Ist Eifersucht als Tatmotiv denkbar?«
»Kaum, denn der Mörder erhielt zehntausend Dollar.« Ich erzählte mein Erlebnis mit dem maskierten »Henker«.
Der Lieutenant schob seinen Hut in den Nacken. »Hören Sie, G-man, in Ihrer Geschichte sind 'ne Menge Ungereimtheiten.«
»Das weiß ich. Immerhin bin ich jemand begegnet, der Chico umlegen wollte. Und jetzt liegt in der Loge ein toter Mann, der manchmal Chico genannt wurde. Darüber werden Sie nachdenken müssen, Lieutenant.«
Er zog eine Zigarre aus der Brusttasche, klemmte sie in den Mundwinkel, ohne sie anzuzünden, und knurrte: »Okay, machen wir uns erst einmal an die Arbeit.«
Er ließ sich von seinem Assistenten einen Handlautsprecher geben.
»Ich bitte um die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Mein Name ist Ralph Grady. Ich bin Lieutenant beim Homicide Department der City Police. In diesem Haus und in Ihrer Gegenwart ist ein Mord verübt worden. Sicher werden Sie Verständnis dafür haben, dass niemand jetzt einfach nach Hause gehen kann. Bitte versammeln Sie sich an einem Platz. Am besten auf der Bühne. Meine Leute werden zu Ihnen kommen, Sie nach Ihrem Namen, Ihrer Adresse und nach Ihren Beobachtungen fragen. Danach werde ich entscheiden, ob Sie gehen können oder ob wir uns mit dem ein oder anderen von Ihnen näher beschäftigen müssen. Zweifellos werden wir alle eine lange Nacht haben. Ich denke aber, damit haben Sie gerechnet, als Sie diese Party starteten, wenn auch das Ende verdammt scheußlich ist. Ich danke Ihnen schon jetzt für Ihre Mitarbeit.«
Er gab den Lautsprecher dem Assistenten.
»Selbstverständlich können Sie gehen, G-men«, sagte er zu uns.
»Danke, Lieutenant«, erwiderte ich. »Wir bleiben wie die anderen.«
Von Anfang an stand fest, dass sich die Untersuchungen und Vernehmungen bis in die Morgenstunden hinziehen würden. Phil und ich versuchten, uns nützlich zu machen. Wir ließen uns zwei starke Handlampen geben und gingen in den Abstellraum, in dem mein Zusammenstoß mit dem »Henker« stattgefunden hatte. Ich rekonstruierte, wo der Mann und wo ich gestanden hatte. Dann suchten wir nach den Kugeln.
Wir suchten zwei Stunden und vierzig Minuten, bis Phil eine frische Absplitterung an einem Holzgestell entdeckte. Mit einem Schraubenzieher puhlte er die platt gedrückte Kugel aus dem Holz.
»Ein 40er Kaliber«, sagte er und zeigte mir das Geschoss.
Gradys Leute hatten die Massenvernehmung weitgehend beendet und die Spurensicherung in der Loge abgeschlossen. Der Tote wurde abtransportiert.
Noch immer rollte der Lieutenant die kalte Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen.
»Sieht nicht gut aus«, knurrte er. »Wenn der Mörder ein Berufskiller war, hatte er Zeit genug, das Theater über einen der normalen Ausgänge zu verlassen.«
»Waren die Ausgänge nicht verschlossen?«
»Im Gegenteil, Cotton. Fünf Ausgänge an verschiedenen Stellen des Gebäudes fanden wir offen. Auch Personalausgänge hinter der Bühne. Offenbar hatte er verschiedene Fluchtwege vorbereitet, damit er immer verschwinden konnte, unabhängig von der Stelle, an der er sein Opfer erwischte.«
»Lieutenant, das Theater ist als Gebäude ein Labyrinth, in dem sich nur jemand zurechtfindet, der darin arbeitet. Ein Berufsmörder wäre dazu nicht fähig.«
»Für die Theorie, dass der Täter ein Berufsmörder war, gibt es nur Ihre kuriose Story als Hinweis, G-man. Ohne sie würde ich mich bedenkenlos darauf konzentrieren, den Mörder unter den Showleuten zu suchen. Im Showgeschäft blühen Neid, Eifersucht, Intrigen und Hass wie nirgendwo sonst.«
»Wissen Sie schon, welche Waffe benutzt wurde?«, fragte Phil.
»Ein Revolver. Wir fanden keine Hülsen, aber eine Kugel, die den Körper durchschlug. Ein 40er Kaliber.«
»Dann haben wir etwas für Sie, Lieutenant.« Phil hielt Grady die Kugel aus dem Abstellraum zwischen Daumen und Zeigefinger hin. »Damit wurde auf Jerry geschossen. Wie hoch würden Sie wetten, dass beide Geschosse aus derselben Waffe verfeuert wurden?«
Grady nahm die Kugel, ohne dass sich sein Gesicht aufhellte. »Okay, okay, ich gebe zu, Cottons Geschichte stammt nicht als Halluzination aus einer Whiskyflasche. Doch wieso, zum Teufel, verwechselte der sogenannte ›Henker‹ Sie mit John Almerez? Ihr habt nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander! Almerez war zwanzig Jahre älter und vierzig Pfund schwerer als Sie.«
Er wartete keine Antwort ab, sondern ging zu einem Tisch, auf den seine Beamten alle Gegenstände gelegt und mit Nummernschildern gekennzeichnet hatten, die in den Laboratorien untersucht werden sollten. Die Kugel packte er in eine Plastikschachtel.
Phil und ich folgten ihm. Ich entdeckte unter den Gegenständen eine Maske aus Schaumstoff. Sie lag mit dem Gesichtsteil nach unten. Trotzdem kam sie mir bekannt vor.
»Wo haben Sie die Maske gefunden, Lieutenant?«
»Sie lag auf dem Boden der Loge, Cotton. Die Frau sagt, Almerez habe sie zeitweise getragen.« Er zuckte mit den Schultern. »Anscheinend haben sich eine Menge Leute wie die kleinen Kinder benommen.«
»Darf ich sie anfassen?«
»Ja, die Fingerabdrücke sind schon abgenommen.«
Ich drehte die Maske um. Bis in alle Einzelheiten entsprach sie der Horrormaske, die Shirley mir aufgesetzt hatte.
Am Nachmittag hielten sich Zeitungsreporter vor dem Century Theatre auf, die darauf warteten, ob die Lichtreklame eingeschaltet würde. Zum Zeichen, dass die Vorstellung stattfände. Die Karten für die Aufführung waren seit Wochen vorverkauft.
Kurz nach fünf Uhr tauchte ein tiefroter Lincoln Mark IV auf und stoppte vor der Fassade des Theaters. Drei Männer stiegen aus, überquerten den Bürgersteig und wurden von einem Portier eingelassen.
Die Reporter rissen die Fotoapparate hoch und schossen auf Verdacht ein paar Bilder. Sie versuchten, von dem Portier zu erfahren, wer die Besucher waren. Der Portier schloss hastig die Tür und verriegelte sie.
»Fragen wir den Fahrer!«, schlug ein Journalist des Night Mirror vor.
Der Fahrer und ein zweiter Mann waren im Lincoln zurückgeblieben.
Der Night-Mirror-Reporter klopfte gegen das Seitenfenster. Widerwillig betätigte der Fahrer einen Knopf. Das Glas glitt nach unten.
»Jungs, wer ist eurer Boss?« Der Zeitungsmann setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. »Seid nett zur Presse!«
»Lewis Grattan«, antwortete der Fahrer so langsam, als müsste er jede Silbe seiner Zunge abringen.
»Danke, aber das ist nicht genug für einen Fünfer!« Der Reporter ließ eine Fünfdollarnote zwischen seinen Fingern erscheinen. »Erzähl mir ein paar Einzelheiten über Grattans Job und sein Geschäft. Welches Interesse hat er an der Show? Hängt er mit in der Produktion?«
Ein zweiter Journalist, der den Namen aufgefangen hatte, tippte dem Night-Mirror-Mann auf die Schulter.
»Grattan ist ein ›Hai‹«, sagte er leise.
»Wirklich? Verdammt interessant!« Er wandte sich wieder dem Wagen zu und hob die Kamera ans Auge in der Absicht, den Fahrer zu fotografieren.
Die Hand des Fahrer schoss vor. Er packte die Kamera. Mit einem brutalen Ruck riss er sie dem Reporter aus den Händen. Da der Apparat mit einem Lederriemen um den Nacken des Journalisten hing, knallte der Zeitungsmann mit der Stirn gegen die Dachkante. Er schrie auf. Dann riss der Lederriemen.
Der Journalist taumelte zurück. Aus einer Platzwunde an der Stirn sickerte Blut.
Gelassen öffnete der Fahrer die Kamera und nahm die Filmkassette heraus.
»Das dürfen Sie nicht!«, schrie der Reporter. »Geben Sie mir meine Kamera zurück!«
Er bückte sich und griff nach der Kamera.