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New Yorks verwöhnter Jetset fieberte der Sensation des Jahres entgegen: Diamantenshow in der Fifth Avenue. Die teuersten Steine, die reichsten Millionäre, die schönsten Frauen. Unerkannt in der Menge: die kaltblütigsten Gangster! Sie starteten ihr Rififi bei Tiffany ...
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Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Rififi bei Tiffany
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Impressum
Rififi bei Tiffany
New Yorks verwöhnter Jetset fieberte der Sensation des Jahres entgegen: Diamantenshow in der Fifth Avenue. Die teuersten Steine, die reichsten Millionäre, die schönsten Frauen. Unerkannt in der Menge: die kaltblütigsten Gangster! Sie starteten ihr Rififi bei Tiffany ...
New York, Manhattan, vier Uhr morgens
Tom Barett, Fahrer des Streifenwagens Two-Zero-Two, steuerte sein Fahrzeug aus der 59th Street in die Fifth Avenue. Er verzog das Gesicht, als er das hässliche Schleifgeräusch hörte. Seit acht Tagen gab der Wagen das Geräusch von sich, wenn Barett das Steuer einschlug.
»Dieser Schlitten ist überholungsbedürftig wie ein Barmädchen nach zwanzig Thekenjahren«, brummte Patrick Mills, der Streifenführer.
»Wir sind erst in zwei Monaten an der Reihe. Kein Geld in der Reparaturkasse.«
Sie sahen die roten Schlusslichter des Wagens, der sich drei Blocks straßenabwärts vom Fahrbahnrand löste und mit zunehmender Geschwindigkeit die Fifth Avenue Richtung Downtown fuhr.
»Ein Lieferwagen«, sagte Mills.
»Scheint es eilig zu haben.«
»Wer liefern muss, hat es meistens eilig.«
Die Schlusslichter verschwanden. Das Fahrzeug war in eine Querstraße eingebogen.
Der Streifenwagen rollte vorbei an den Schaufenstern von F.A.O. Schwarz, noch immer trotz aller japanischen Anstrengungen der größte Spielzeugladen der Welt. Auch um vier Uhr morgens waren die Schaufenster von geheimnisvollem Leben erfüllt. Unermüdlich kreisten Minieisenbahnen, tappten Roboter durch eine Mondlandschaft aus Pappmaché, nickten sich Puppen mit steifen Bewegungen zu. In einem Schaufenster, das zu einem wassergefüllten Aquarium ausgebaut worden war, schwamm fußtief unter der Oberfläche ein Spielzeugmodell des Atom-U-Boots Revenger. Ein Schild verkündete: Raketenabschüsse um 11, 14, 16 und 18 Uhr.
Der Streifenwagen kreuzte die 58th Street.
Das Licht der Bogenlampen spiegelte sich in der silberglänzenden Fassade von Tiffany. Die Schaufenster glühten in Rot, Blau und Samtgrün wie geheimnisvolle Höhlen. Barett trat hart auf die Bremse.
Dicht am Fahrbahnrand lag ein Mann auf dem Gesicht.
Mills sprang aus dem Wagen, beugte sich zu dem Mann, der eine Glatze hatte und aus einer schrecklichen Kopfwunde blutete. »Er lebt noch!«
Barett griff zum Hörer und rief die Zentrale. »Two-Zero-Two. Schwerverletzter. Fifth Avenue vor Eingang Tiffany. Ambulanz dringend!«
»Verbrechen? Unfall?«, fragte die Zentrale.
Mills kam zum Wagen und nahm die Erste-Hilfe-Kiste vom Rücksitz.
»Irgendwer hat ihm einen harten Gegenstand auf den Schädel geschlagen.«
»Verbrechen«, teilte Barett der Zentrale mit. Dann stieg er aus, um Mills zu helfen.
Der Mann röchelte leise. Sein Gesicht hatte eine unnatürliche fahlgelbe Farbe angenommen. Vorsichtig schoben sie ein hartes Stützkissen unter den Kopf und deckten die Wunde mit Mull ab.
»Glaubst du, dass der Lieferwagen damit zu tun hat?«, fragte Barett.
Mills zuckte mit den Schultern. »Sieh nach, ob er Papiere besitzt.«
In der zugeknöpften Innentasche der Jacke fand Barett einen Pass mit dem Aufdruck Königreich der Niederlande.
»Ein Dutchman.« Er buchstabierte den Namen. »Joop Seldebrock.« Er durchblätterte den Pass. Der Stempel der Immigrationskontrolle von Kennedy Airport trug das gestrige Datum.
»Den hat's schnell erwischt, Pat. Kaum vierundzwanzig Stunden im Land und schon ...«
Ein Streifenwagen, von der Zentrale zur Unterstützung geschickt, näherte sich mit heulender Sirene. Ihm folgte knapp an der Geschwindigkeitsgrenze ein schmutziger, beulennarbiger Ford Pinto, der Wagen eines Kriminalreporters.
Die Neuigkeitsjäger hörten den Sprechfunkverkehr mit und hängen sich an, wenn ihnen der Einsatz sensationsträchtig zu sein schien.
Barett, Mills und die Polizisten aus dem zweiten Streifenwagen sahen zu, wie der Reporter Perdy Hill ein knappes Dutzend Aufnahmen von dem niedergestreckten Mann schoss.
»He, warum vergeudest du deinen Film?«, fragte Mills. »Der arme Bursche ist nur ein Ausländer, den die Straßenhyänen angefallen haben. Davon gibt's vierzig Fälle pro Nacht.«
»Besteht ein Zusammenhang mit Tiffany?«, fragte Hill gierig. »Leute, für einen Tipp in dieser Richtung schicke ich euch drei Kästen Bier zur Weihnachtsfeier.«
»Tiffany?« Mills drehte sich um und betrachtete die Fassade und die geheimnisvoll glühenden Schaufensterhöhlen. »Glaubst du, er hätte versucht, ein Schaufenster zu knacken? Jedermann weiß, dass sie nachts nur Imitationen ausstellen.«
»Okay, aber sie planen die größte Diamantenshow der Welt. Und vielleicht hat der Mann ...«
Das schrille Klingeln der Ambulanz war zu hören.
Barett schob den Reporter zurück. »Ich verstehe, dass du deine Fotos zum großen Gag machen willst, doch ich sage dir, er ist nur ein Ausländer, der glaubte, New Yorks Straßen wären so sicher wie die Straßen in seinem Dorf. Steh den Ambulanzleuten nicht im Weg! Die Ärzte beschweren sich schnell, und wir haben den Ärger, weil wir euch nicht auf Distanz halten.«
Der Ambulanzwagen kam aus der 58th Street und stoppte vor den Streifen. Ein Arzt stieg aus, kniete neben dem Opfer des Überfalls nieder, hob ein Lid an und tastete nach dem Puls.
»Transfusion!«, befahl er und öffnete seine Tasche.
Während einer der Sanitäter die Serumfusion anlegte, injizierte der Arzt Adrenalin.
»Ich glaube nicht, dass er es schafft«, sagte er. Vorsichtig wurde der Bewusstlose auf die Trage gelegt und in den Ambulanzwagen gebracht. Der zweite Streifenwagen setzte sich an die Spitze des kleinen Konvois. Seine Besatzung sorgte mit Sirene und Warnlicht für freie Straßen und leere Kreuzungen.
Alle Eile blieb vergeblich. Joop Seldebrock, achtundfünfzig Jahre alt, holländischer Staatsbürger aus Amsterdam, starb während des Transports. Auch intensive Bemühungen eines Ärzteteams des Zion Medical Center vermochten nicht, ihn ins Leben zurückzuholen.
Um sechs Uhr morgens kam der leitende Arzt zu Detective Sergeant Heyer. Er wartete seit einer Stunde auf das Ergebnis.
»Er ist endgültig tot«, sagte der Arzt. »Sie können über die Leiche verfügen.«
Heyer faltete die Zeitung zusammen. »Lassen Sie den Mann ins Leichenschauhaus bringen, Doc. Bevor wir uns für eine Obduktion entscheiden, möchten wir die Angehörigen benachrichtigen. Wo sind seine Sachen? Vielleicht finde ich einen Hinweis.«
Der Arzt geleitete ihn in einen Aufbewahrungsraum. Anzug, Wäsche, Schuhe – alle Habseligkeiten des Toten waren in zwei Plastiksäcke gestopft worden.
Heyer studierte Pass und Brieftasche. Er fand eine Zimmerbestätigung des Hilton Hotel.
»Ich denke, das bringt uns weiter. Eine Suite im Hilton. Arm kann er nicht gewesen sein. Trug er viel Geld bei sich, Doc?«
Der Arzt warf ihm einen Blick zu, dessen Bedeutung Heyer verstand.
»Sorry, Doc, ich wollte Ihnen nicht unterstellen, dass Sie in den Kleidern eines Patienten herumgewühlt hätten. In der Brieftasche sind nur zwanzig Dollar.«
Er fand einen kleinen Beutel aus weichem Leder, nicht größer als ein halber Handteller.
»Was ist das, Doc?«
»Keine Ahnung. Er trug es um den Hals.«
Der Beutel war mit einem Reißverschluss versehen. Heyer öffnete den Verschluss. Er sah eine kleine Menge kristallischer Steine. Sie glitzerten wie kalte gelbliche Sterne. Vorsichtig schüttete er einen Teil davon in die hohle Hand.
»Sehen aus wie Brillanten.«
Der Arzt warf einen flüchtigen, wenig interessierten Blick auf die Kristalle. »Sind Brillanten nicht immer weiß?«
»Ich glaube, es gibt auch blaue und gelbe Steine.« Vorsichtig schüttete Heyer alles in den Lederbeutel zurück. »Vielleicht sind sie aus Glas.«
»Brauchen Sie mich noch, Sergeant?«
Heyer antwortete nicht. Er überflog die Meldung der Streifenwagenbesatzung, die den Mann gefunden hatte.
»Er lag vor Tiffany«, murmelte er, griff noch einmal nach dem blauen Pass. »Können Sie Holländisch, Doktor?«
»Nein, nur etwas Deutsch.«
Heyer hielt dem Arzt den Pass hin und wies mit dem Finger auf die Spalte mit der Berufseintragung.
»Was heißt es?« Er versuchte, das Wort auszusprechen. »Koopmanen ...«
»Ich denke, es bedeutet so viel wie Juwelenhändler«, sagte der Arzt.
Joshua Nuggey – seine Kumpel nannten ihn Nugget, Goldklumpen – hatte auf einer Bank im Central Park geschlafen, obwohl der Park bei Nacht auch für Leute ohne jeden Cent – und zu ihnen gehörte Nuggey trotz seines schönen Spitznamen –, gefährlich war.
Nuggey hatte die Nacht verhältnismäßig angenehm unter einer Schicht Zeitungen verbracht. Er hatte sich den Mund mit dem Wasser der Pulitzer Fountain ausgespült – seine übliche Morgentoilette. Jetzt hinkte und schlurfte er die Fifth Avenue downtown.
Zu dieser frühen Stunde war die Fifth Avenue noch nicht von den Strömen der Besucher, Touristen, Schaufensterbummler und Käufer belebt. Nur die Angestellten der Luxusgeschäfte, die einen großen Teil des Ruhms der Fifth ausmachen, strebten ihren Firmen zu. Viele von ihnen waren ungewöhnlich hübsche, gepflegte Frauen, die als Verkäuferinnen in den Modegeschäften von Weltruf arbeiteten.
Joshua Nuggey interessierte sich längst nicht mehr für Frauen, egal ob hübsch oder hässlich. Er sah sie nicht einmal an. Beharrlich wie ein Vogel, der eine Wiese nach Würmern absucht, hielt er den Kopf gesenkt und ließ den Blick über die grauen Steinplatten des Bürgersteigs wandern.
Er schlurfte dicht am Rand zur Fahrbahn entlang und überließ es Entgegenkommenden, ihm aus dem Weg zu gehen. Die eleganten Frauen und die smarten Clerks schlugen um Nugget einen Bogen. Sie drehten den Kopf zur Seite, wenn sie zu nahe in seinen Dunstkreis gerieten. Im Übrigen beachteten sie ihn nicht.
Die Fifth Avenue ist zwar die Straße der reichen Leute, aber sie ist für niemanden verboten, auch nicht für Tramps.
Nugget widmete die größte Aufmerksamkeit dem Rinnstein. Vieljährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er hier auf Beute hoffen konnte.
Er fand zahlreiche Zigarettenkippen, hob jedoch nur die größten auf. An einer kaum angerauchten Zigarre roch er ausführlich, bevor er sie in die Abgründe seiner Manteltaschen versenkte. Ein billiges Wegwerffeuerzeug, dessen Stein noch Funken von sich gab, nahm er mit, weil er eine Methode kannte, die Dinger mit Benzin neu zu füllen.
Einige Schritte weiter bückte er sich nach einem bunten Magazin. Er hoffte auf ein Pornoheft, das sich für ein paar Cents an die Rocker von der Lower East Side verkaufen ließ. Das Magazin entpuppte sich als Modezeitschrift. Enttäuscht ließ Nuggey es fallen.
Dicht neben der Stelle, an der das verschmähte Modemagazin lag, stach ihm ein Glitzern ins Auge. Nuggey hockte sich an den Straßenrand und pulte mit dem Nagel des Zeigefingers einen kleinen durchsichtigen Stein aus dem Gossenschmutz. Der Stein war so klein, dass er ihn verlor, als er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger halten wollte. Er fand ihn wieder und dicht daneben einen zweiten, etwas größeren Stein gleicher Art.
Der Fund löste in ihm nicht die geringste Erregung aus. Er hielt die Steine für Glas, für wertloses Zeug. Doch er wusste, dass gerissene Jungs davon lebten, dass sie Unechtes als echt verkauften. Messing als Gold, schlechte Ramschuhren als Präzisionschronometer. Warum nicht Glas als Diamanten, Brillanten oder wie immer der Glitzerkram heißen mochte, auf den die Weiber so scharf waren?
Er riss ein Blatt aus der Modezeitung und packte seinen Fund ein. Dann setzte er seine Suche fort.
Viel Erfolg hatte er nicht. Zwar konnte er aus einer kaum angebrochenen Packung Kebby's Cakes etwas gegen seinen Hunger tun. Aber vergeblich hielt er nach ein paar verlorenen Dimes oder Nickels Ausschau, mit deren Hilfe er sich den ersten Schluck gegen den großen Durst hätte kaufen können.
Er wechselte die Straßenseite. Als das Ergebnis nicht besser wurde, verließ er die Fifth Avenue und hinkte in die 47th Straße.
Das kurze Straßenstück der West 47th zwischen Fifth und Sixth Avenue ist New Yorks Diamantengasse. In einem knappen Hundert schmaler Läden, oft auch in den Hauseingängen oder einfach auf der Straße werden Diamanten, Saphire und Smaragde im Werte von Dollarmillionen gehandelt. Keine großartigen, komplizierten Schmuckgebilde, sondern die nackten Steine, höchstens in einfachen Fassungen. Käufer sind Händler und Juweliere aus allen Städten der USA.
Joshua Nuggey »Nugget« hatte, als er an den ersten Läden der 47th vorbeischlurfte, ernsthaft Durst. Die Sucht nach Alkohol schüttelte ihn wie ein Fieberanfall.
Vor einem winzigen vergitterten Schaufenster blieb er stehen. Brillanten in allen Größenordnungen lagen kunstlos nebeneinander aufgereiht. Die unterste Reihe bestand aus gelblichen Steinen. Ihre Farbe erinnerte Nuggey an seinen Fund.
Er grub das zusammengefaltete Zeitungsblatt aus der Manteltasche, öffnete es vorsichtig und tappte zu einem schmächtigen, schwarzbärtigen Mann, der im Eingang des Ladens stand.
»He, Mister, können Sie das brauchen?«, fragte Nuggey und bot dem Mann die Steine im auseinandergefalteten Papier mit beiden Händen an.
Der Mann nahm einen Stein und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger ins Licht.
»Woher haben Sie ihn?«, fragte er.
»Gefunden. Auf Ehre, ich habe ihn gefunden. Den anderen auch. Wie viele Dollars geben Sie mir?«
»Kommen Sie herein«, sagte der Händler und gab den Eingang frei.
Die Füße zahlloser Passanten hatten die Markierungen, mit denen der Fundort der Leiche festgehalten worden waren, längst verwischt.
Es war Lunchzeit. Einige Tausend Angestellte, Stenofrauen und Sekretärinnen bevölkerten zusätzlich die Fifth Avenue, drängten sich vor den Schaufenstern von Cartier, Bonwit Teller's und Bergdorf Goodmans's Schaufenster, die alle Sachen enthielten, die sie sich von ihren Gehältern nicht kaufen konnten.
Detective Sergeant Heyer machte Phil und mich mit den City-Polizisten Tom Barett und Patrick Mills bekannt. »Sie haben den Mann gefunden.«
»Bitte zeigen Sie uns die Stelle«, sagte ich.
»Er lag hier.« Barett schob sich quer durch den Passantenstrom und beschrieb eine ungefähr körpergroße Stelle dicht am Fahrbahnrand.
»Könnte er aus einem Auto gestoßen worden sein?«, fragte Phil.
»Dagegen spricht, dass wir seinen Hut am Haus unter einem Schaufenster fanden.«
»Sie erwähnten einen Lieferwagen, Officer?«
Mills wies mit dem Daumen auf seinen Kollegen. »Tom glaubt, dass der Wagen von dem Platz abfuhr, an dem wir den Mann fanden. Ob es stimmt, wissen wir nicht, denn wir waren noch einige Blocks entfernt und sahen nur die Rücklichter.«
»Keine anderen Spuren, Officer?«, fragte mein Partner weiter.
»Nichts außer dem Hut.«
»Keine Zeugen?«
»Gemeldet hat sich niemand.«
»Danke, Officer. Ich denke, wir brauchen Sie nicht länger.«
Die Beamten tippten an die Mützenschirme und stiegen in ihren Streifenwagen.
Ich wandte mich an den Detective Sergeant. »Halten Sie den Fall für mehr als einen nächtlichen Straßenraub?«
»Der Mann wurde nicht beraubt, G-man.«
»Okay, nennen wir es einen versuchten Straßenraub. Die Täter wurden gestört.«
Heyer überreichte mir einen Pass.
»Ich habe mich aus zwei Gründen ans FBI gewandt. Der Mann war Ausländer, und er trug das hier bei sich.« Aus einer Plastiktüte holte er einen kleinen Lederbeutel mit einem Reißverschluss. »Ich möchte es nicht öffnen. Wenn mich jemand aus Versehen anstößt, kullern ungefähr hunderttausend Dollar über die Straße.«
»Diamanten?«
Heyer nickte. »Ich habe sie einem Spezialisten aus dem Raubdezernat gezeigt. Sie sind echt. Er hält den Wert mit hunderttausend Dollar für nicht zu hoch geschätzt.«
Ich öffnete den Pass. Der Mann war Holländer – gewesen. Der Name war mit Joop Seldebrock angegeben. Das Foto zeigte einen kahlköpfigen, freundlich wirkenden älteren Mann mit weißen Haarbüscheln über den Ohren.
»Er kam gestern auf dem Kennedy Airport an und bezog ein Apartment im Hilton, das von Amsterdam aus reserviert worden war«, erklärte Heyer. »Wann er am Abend oder während der Nacht das Hotel verlassen hat, war nicht festzustellen.«
»Glauben Sie, er hätte morgens um vier Uhr einen Besuch bei Tiffany machen wollen?«
Der City Police Detective hob die Schultern. »Überfälle werden jede Nacht zu Hunderten verübt, Agent Cotton. Trotzdem finde ich es merkwürdig, dass ein Mann, der für hunderttausend Dollar Edelsteine bei sich hat, ausgerechnet vor New Yorks berühmtestem Juwelengeschäft getötet wird. Sie wissen, dass Tiffany die größte Juwelenshow der Welt plant?«
»Natürlich wissen wir das, Sergeant. Die Regierung macht sich eine Menge Sorgen, weil sich während der Show mehr millionenschwere Berühmtheiten auf ein paar Hundert Quadratfuß der Fifth Avenue drängen werden, als die UNO während des ganzen Jahres anlockt. Niemand weiß, wie die Sicherheitsprobleme gelöst werden sollen. Von Taschendieben bis zu Entführern und Terroristen – die Tiffany-Show bietet allen ungeahnte Möglichkeiten.« Ich machte eine Kopfbewegung zum Eingang. »Wir werden uns erkundigen, ob Joop Seldebrock bei Tiffany bekannt war.«
Der Eingang zu Tiffany ist schlicht. Aber wenn Sie ihn passiert haben, setzen Sie am besten Ihre Sonnenbrille auf, damit Sie nicht geblendet werden. Denn es glitzert und glänzt und funkelt und schimmert aus Vitrinen und gläsernen Schränken, von samtbezogenen Tabletts und aus edlen Lederetuis.
Sehr schöne, dezent gekleidete junge Frauen, deren Fingernägel nie lackiert sein dürfen, damit die vulgäre Kunstfarbe des Nagellacks nicht den sanften Farbton der Edelsteine übertönt, stehen bereit, Ihnen Ringe, Ketten, Armreifen vorzulegen, deren Preis Ihnen mit Sicherheit den Atem rauben wird. Unauffällige Gentlemen sorgen dafür, dass niemand auf den Gedanken verfällt, statt des Scheckbuchs einen Revolver zu zücken. Tiffanys Sicherheitseinrichtungen gelten als die besten der Welt und werden ständig vervollkommt.
Eine Frau schwebte uns entgegen. »Sir?«
»Wir möchten den Chef der Firma sprechen«, sagte ich.
»Wen darf ich melden?«
»Cotton und Decker vom FBI und Sergeant Heyer vom Homicide Department der City Police.«
Sie entschwebte zu einem Telefon, rief irgendwen an und bat uns um einige Minuten Geduld.
Wenig später verließen zwei Männer die Kabine des Innenfahrstuhls und kamen zu uns. Der ältere war grauhaarig, hatte ein eckiges Gesicht mit tiefen Falten um den Mund und trug einen kurzen, dichten Schnurrbart.
»Stanley Deering«, stellte er sich vor. »Ich bin Tiffanys Sicherheitschef. Zeigen Sie mir bitte Ihre Ausweise.« Er prüfte die Ausweise sorgfältig. Dann lächelte er. »Nehmen Sie mein Misstrauen nicht übel. So kurz vor der Show sind wir besonders vorsichtig. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»In der letzten Nacht wurde ein Mann vor Tiffany überfallen. Der Mann ist an seinen Verletzungen gestorben. Er war ein holländischer Diamantenhändler, und er trug diese Diamanten bei sich.« Heyer zeigte dem Sicherheitschef den kleinen Lederbeutel.
Stanley Deering öffnete den Reißverschluss und warf einen Blick in den Behälter. »Ich bringe Sie zu Mister Jackson.«
Über eine breite, mit roten Teppichen belegte Treppe führte er uns in die erste Etage. Wir durchquerten eine Vorhalle und gelangten in einen Saal, in dem an den Vorbereitungen zur Show gearbeitet wurde.
Ein Vorhang, der von der Decke bis zum Fußboden reichte, verkleidete die Stirnwand. Die Tische und Sessel waren so aufgestellt, dass drei Gänge frei blieben, die in der Mitte zu einem Kreis zusammenliefen. Von diesem Kreis führte ein vierter Gang durch die Länge des Saals.
An einem Tisch saß Lewis P. Jackson, Präsident der Tiffany Company, ein großer, schlanker Sechzigjähriger mit dem Aussehen und Benehmen eines englischen Lords. Er lauschte den Erklärungen eines langhaarigen jungen Mannes, der ein berühmter Ballettstar war und die Choreographie der Diamantenshow übernommen hatte.
»Die Mannequins werden an vier verschiedenen Stellen aus dem großen Vorhang treten, Sir. Aber es soll nicht ein einfacher Auftritt sein, sondern eine Art Explosion von Schönheit, Eleganz und Kostbarkeit. Ich arbeite mit Spotscheinwerfern, die in schneller Folge ein- und abgeschaltet werden und bei jedem Einschalten ein anderes Mannequin erfassen. So entsteht der Eindruck, als würden die Mädchen aus den Falten des Vorhangs hervorgezaubert und ...«
»Kann ich eine Probe sehen?«, fragte Jackson.
»Selbstverständlich, Sir.« Der Ballettstar klatschte in die Hände. »Bitte, die Mädchen auf ihre Plätze!«
Drei Mannequins, hochgewachsene, langbeinige Geschöpfe, zwei schwarzhaarige und eine blonde, tauchten aus den Vorhangfalten auf. Sie waren sportlich angezogen, trugen Hosen und lockere Blusen. Sie nahmen Plätze ein, die ihnen von dem jungen Mann angewiesen wurden.
»Die Scheinwerfer!«, rief er. »In der Reihenfolge drei, eins, drei, zwei! Verstanden?«
»Verstanden!«, kam das Echo von der Beleuchterbühne.
»Los!«
Der erste Scheinwerfer zuckte auf, erfasste ein Mannequin, hielt es sekundenlang im weißen Licht, erlosch in der Sekunde, in der die blonde Frau von einem zweiten Scheinwerfer erfasst wurde, und blendete beim Erlöschen dieses Scheinwerfers wieder auf. Gleich darauf gab es eine Pause. Der mittlere Scheinwerfer verfehlte das Mannequin, das er anleuchten sollte.
Der Ballettstar heulte auf, raufte sich das Haar und schrie: »Schluss! Von vorne! Alles noch einmal!«
Stanley Deering ging zu dem Tiffany-Chef und sagte ihm, dass wir ihn zu sprechen wünschten. Lewis P. Jackson stand auf.
»Ich glaube, Sie alle müssen den Auftritt noch etwas üben«, erklärte er in höflichem, aber bestimmtem Ton. Er trat zu uns und begrüßte uns mit einem Kopfnicken. »Bitte kommen Sie in mein Büro.«
Jacksons Büro lag am Ende des Verwaltungsflügels. Der große Raum enthielt zwei Schreibtische, von denen der kleinere in der Nähe des Eingangs stand. Daran saß eine Frau, an der das ungewöhnlich schöne tizianrote Haar auffiel.
»Vanessa, diese Gentlemen gehören zum FBI beziehungsweise zur City Police.«
Die Frau schob ihren Sessel zurück. Sie trug ein elegantes dunkelgrünes Modellkleid und als Schmuck nur eine bescheidene Perlenkette. Ihr sorgfältiges, dezentes Make-up machte es schwierig, ihr Alter zu schätzen. Auf jeden Fall war sie kein Twen mehr. Sie hatte ein interessantes, nicht unbedingt schönes Gesicht. Ihre grünblauen Augen musterten uns mit kühler Neugier.
»Vanessa Carty arbeitet seit fünfzehn Jahren für Tiffany«, erklärte Jackson. »Sie ist eine unserer stellvertretenden Direktorinnen.«
Er bot uns Plätze am Besprechungstisch an, nahm selbst den Stuhl am Kopfende und sorgte dafür, dass der Sicherheitschef und Vanessa Carty links und rechts von ihm saßen.
Sergeant Heyer legte Jackson den Pass vor. »Kennen Sie den Mann?«
»Selbstverständlich kenne ich Mister Seldebrock.« Er gab den Pass an die rothaarige Frau weiter. »Tiffany kauft von Zeit zu Zeit Diamanten bei ihm. Seldebrock ist ein Spezialist für farbige Steine. Für welche Sorten, Vanessa?«
»Yellow Clears und alle Pinksorten«, antwortete sie. »Allerdings nur Besatzmaterial. Für Mehrkaräter fehlen ihm die flüssigen Mittel.« Ihre Stimme hatte einen spröden, dunklen Klang, der zu ihrer Persönlichkeit passte. »Wir erwarten Mister Seldebrock in den nächsten Tagen. Wir haben eine kleine Partie Yellow Clears bei ihm geordert. Er überbringt seine Steine immer selbst.«
»Diese Steine?« Ich nickte Heyer zu. Er legte den Lederbeutel auf den Tisch.
»Ein Tablett, Stanley«, bat Jackson.
Deering holte ein samtbezogenes, mit einem Holzrahmen eingefasstes Tablett. Jackson öffnete den Lederbeutel und schüttete den Inhalt auf den dunklen Samt. Die Steine glitzerten in einem kalten, gelblich getönten Glanz.
Jacksons wechselte einen Blick mit der Direktorin.
»Woher haben Sie die Steine?«, fragte sie.
»Joop Seldebrock wurde in der vergangenen Nacht überfallen. Polizeibeamte fanden ihn gegen vier Uhr morgens mit Kopfverletzungen. Er starb auf dem Transport ins Hospital. Der Beutel mit den Diamanten wurde bei ihm gefunden. Er trug ihn unter der Kleidung.«
»Das ist üblich«, erklärte Jackson. »Edelsteinhändler trennen sich so gut wie niemals von ihrer Ware. Sie vertrauen darauf, dass niemand weiß, welche Schätze sie bei sich tragen.«
»Auch nachts in New York?«, fragte Heyer ungläubig.
»Wahrscheinlich ja. Ich habe Mister Seldebrock nicht besonders gut gekannt. Er war nur ein kleiner Lieferant für Tiffany.« Er wandte sich an Vanessa Carty. »Gewöhnlich haben Sie mit ihm verhandelt, Vanessa.«
»Seldebrock ließ seine Ware nie in einem Tresor verwahren«, sagte sie. »Er war ein altmodischer Mann.«
»Wussten Sie, dass er in New York war? Hat er gestern angerufen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir wussten nicht, wann er kommen wollte, Detective Sergeant. Ein bestimmter Tag war nicht vereinbart worden.«
»Können Sie sich und uns erklären, aus welchem Grund er um vier Uhr zu Tiffany kam?«
»Mister Seldebrock liebte es, in New York zu sein.« Sie zögerte, bevor sie fortfuhr. »Er besuchte gern Nachtklubs. Wenn Sie nachforschen, werden Sie vielleicht herausfinden, dass er auf dem Weg von oder zu einem Nachtklub bei Tiffany vorbeikam.«
»Hätte er nicht ein Taxi benutzt?«
Sie hob die Schultern. »Vielleicht konnte er kein Taxi finden, oder er hielt den Weg von der Fifth Avenue zum Hilton Hotel für sicher.«
»Woher wissen Sie, dass er im Hilton wohnte?«
Die Spur eines Lächelns huschte über ihren Mund. »Er wohnte immer im Hilton, wenn er in New York war. Ich würde mich sehr wundern, wenn er seine Gewohnheiten geändert hätte.«
»Wie viele Diamanten haben Sie bei Seldebrock bestellt?«, fragte Heyer weiter.
»Eine genaue Anzahl wird nie festgelegt. Er bietet uns an, was er hat. Wir suchen aus, was uns gefällt.«
Ich wandte mich an den Sicherheitschef. »Mister Deering, der Überfall wurde unmittelbar vor Tiffany verübt. Sind während der Nacht Wächter im Haus, die etwas gehört haben könnten?«