1,99 €
Mancher glaubte schon, Phil und ich wären auf die Erfolge unseres Kollegen Sam Worth neidisch. Das war natürlich glatter Unsinn. Im Gegenteil, bei unserem nächsten Fall wählten wir ihn sogar zum Partner. Gemeinsam erlebten wir unvorstellbare Abenteuer. Wir beide - und der G-man des Jahres!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Der G-man des Jahres
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Vorschau
Impressum
Der G-man des Jahres
Mancher glaubte schon, Phil und ich wären auf die Erfolge unseres Kollegen Sam Worth neidisch. Das war natürlich glatter Unsinn. Im Gegenteil, bei unserem nächsten Fall wählten wir ihn sogar zum Partner. Gemeinsam erlebten wir unvorstellbare Abenteuer. Wir beide – und der G-man des Jahres!
Die fünfte Kugel schlug zwei Handbreit über meinem Kopf ein und sprengte einen dicken Brocken Mörtel aus der Mauer.
Ich ließ mich auf die Knie fallen. Dreimal hatte Ralph Carp beim Stellungswechsel auf mich geschossen. Ich entschloss mich zu einer Pause. Man soll sein Glück nicht strapazieren.
»Jerry!«, rief Phil. Er kauerte halb links in einem Ladeneingang, der zu neunzig Prozent aus Glas bestand, und konnte sich nicht rühren.
»Alles okay!«, antwortete ich.
Der abgesprengte Mörtelbrocken lag vor meinen Füßen. Ich hob ihn auf und wog ihn in der Hand.
Zum Teufel, womit feuerte Carp? Mit Panzergranaten?
Der sechste Schuss dröhnte durch das Einkaufscenter. Über Phil ging ein Wolkenbruch von Glassplittern nieder, und er konnte nicht einmal wagen sich zu schütteln.
Von der Empore, die mit Blumenkästen und Schalen geschmückt war, feuerte Sam Worth, Freund und Kollege beim FBI in New York seit sechzehn Monaten.
Carp antwortete, und damit stand fest, dass er nicht einen Revolver, sondern eine Pistole mit schwerer Munition benutzte. Denn unter der siebten Kugel zerplatzte eine Schale voll Geranien wie unter dem Hieb eines Vorschlaghammers.
Ich richtete mich auf. »Mach Schluss, Carp!«
Ich konnte ihn sehen. Wie Phil hatte er einen Ladeneingang als Deckung gewählt. In diesem Eingang standen zwei Warenregale, hinter denen Carp kauerte. Aber die gläserne Eingangstür spiegelte seine Gestalt.
Wieder schoss Sam. Er setzte die Kugel so genau vor Carps Füße, dass der Gangster hektisch und unkontrolliert reagierte. Mit seiner achten Kugel traf er nichts, nicht einmal einen Blumentopf.
Noch bevor der Schuss verhallt war, sprang Sam von der Empore.
Mir blieb die Luft weg, denn Sam raste wie ein angreifender Stier auf Carps Deckung zu, geradeaus und ohne einen Haken zu schlagen. Mindestens vierzig Yards musste er schaffen, und das bei voller Beleuchtung! Denn in allen Schaufenstern des Centers waren die Lampen eingeschaltet, und es funkelten die Neonröhren.
Irgendwer schrie. Ich weiß nicht, ob es Carps, Sam oder ich selbst war. Dann sah ich, wie der Gangster den Arm vorwarf. Die schwarze Pistole in seiner Hand war genau auf Sams Gesicht gerichtet. Sam schlug zu.
Die schwarze Pistole wirbelte in weitem Bogen durch die Luft, knallte auf den gefliesten Boden und rutschte sechs, sieben Yards weit wie auf Eis.
Sam zog Carp zwischen den Regalen raus und legte ihn mit einem trockenen Haken flach.
Als Phil und ich den Eingang erreichten, hatte Sam die Gelenke des Gangsters schon mit Handschellen geschmückt.
»Erledigt«, sagte er und rieb die Hände gegeneinander. »Pfui Teufel, ich habe in sein Haar gefasst. Der Typ benutzt Pomade, als wäre er Travolta. Wer hat eine Zigarette? Mein Päckchen liegt noch auf der Empore.«
Phil lieferte die Zigaretten, ich das Feuer.
»Du warst leichtsinnig, Sam.«
»Unsinn, Jerry. Er hatte achtmal geschossen. Seine Kanone musste leer sein.«
»Es gibt Pistolen mit zehn, zwölf, fünfzehn Kugeln im Magazin.«
Sam lachte, und Sams Lachen wirkt ansteckend. Er war ein dunkler, sogar etwas finster aussehender Typ mit starken Brauen und dichtem schwarzen Haar. Aber wenn er lachte, dann blitzten seine kräftigen weißen Zähne auf, seine graublauen Augen funkelten, und er verbreitete gute Laune, gewürzt mit einer Prise Leichtsinn.
Ich habe eine Menge Frauen gesehen, die bei Sams Lachen den Atemrhythmus wechselten.
»Carp ist ein kleiner Gauner«, sagte er. »Kleine Gauner sind nicht mit Superkanonen bewaffnet. Ich hatte genug davon, mit ihm den großen Krieg zu spielen. Außerdem habe ich eine Verabredung, zu der ich pünktlich sein muss, denn die Frau ist so hübsch, dass sie niemals auch nur eine Minute wartet.«
Phil holte die Waffe.
»Ein 45er Kaliber. Für einen kleinen Gauner, wie du ihn nennst, Sam, immerhin eine ziemlich dicke Kanone.« Er schob die Arretierung zurück und ließ das Magazin aus dem Griff gleiten.
»O verdammt«, stöhnte Sam.
Das Magazin war randvoll.
Acht massige Kugeln und jede mit einer Ladung, die das Projektil durch Eichenbohlen zu jagen vermochte.
»Anscheinend warst du näher daran, deine Verabredung zu versäumen, als du geglaubt hast«, sagte ich.
Wir fanden das leere Magazin zwischen den Regalen. Carp musste die Magazine unmittelbar vor dem Zusammenstoß mit Sam gewechselt haben.
»Sieht aus, als hätte ich eine Unmenge Glück gehabt.« Er schüttelte den Kopf und ließ sich von Phil eine zweite Zigarette geben, die er an der Glut der ersten entzündete.
Zitterten seine Finger? War die zweite Zigarette Symptom eines nachträglichen Schocks? Sam rauchte ohnedies nahezu pausenlos. Jedes Zimmer verwandelte er in eine Räucherkammer. Aus seinem Zigarettenkonsum ließ sich nichts herauslesen. Er lachte schon wieder.
»Vielleicht sollte ich am nächsten Wochenende nach Las Vegas fliegen und den Gehaltsscheck in ein Spielchen investieren.«
Carp bewegte sich. Er stöhnte, drehte den Kopf nach links und rechts, schlug die Augen auf und starrte uns dumm und stumpf an.
Sam Worth beugte sich zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter.
»Du bist auf meiner Liste bereits die Nummer dreißig, mein Junge«, sagte er.
Der Anblick der drei Männer schüchterte Tony Carp ein. Fünf Schritte vor dem Tisch blieb er stehen und fuhr sich nervös durch das lange Haar, das schwarz war wie das seines Bruders.
Die Männer setzten ihr Gespräch fort, als hätten sie ihn nicht bemerkt.
Carp erhielt von dem Bodyguard einen Stoß in den Rücken. Wütend fuhr er herum. »Mach das nicht noch einmal!«
Über das grobe Schlägergesicht breitete sich ein Grinsen. »Was wäre, wenn ich dich noch einmal zurechtschubste, du Hühnchen? Willst du mir drohen?«
Carp fuhr mit der Handkante scharf über seine Kehle. Der Bodyguard lachte verächtlich.
Plötzlich wurde Carp bewusst, dass das Gespräch verstummt war. Er drehte sich um.
Sie sahen ihn an. Unter ihren Blicken fühlte sich Carp, als stünde er im weißen Licht starker Scheinwerfer. Er schwitzte und rieb die feuchten Handflächen an den Jeans.
»Dein Name?«, fragte einer der Männer. Er hatte ein braunes, knochiges Gesicht und trug das graue Haar kurz geschnitten.
»Tony Carp.«
»Arbeitest du für uns, Carp?«
»Ich nicht, aber mein Bruder Ralph.«
Der Grauhaarige wandte sich nach links, wo neben ihm ein dicklicher Südländer saß. Ein Mann mit einem feisten Cäsarenkopf auf runden Schultern, vorgewölbten braunen Augen unter dichten Brauen und spärlichen Haarsträhnen, die er sorgfältig auf dem kahlen Schädel flachgebürstet trug.
»Kennen wir Ralph Carp?«, fragte der Grauhaarige.
»Ein mieser Gauner dritter Klasse. Einbrüche, zwei, drei Überfälle auf Tankstellen und eine Menge schmutzige Sachen mit Mädchen. Ein Kerl, der sich nicht im Zaum halten kann.«
»Ralph wurde von den Schnüfflern gefasst«, sagte Tony Carp hastig. »Er hat sich gewehrt und versucht, sich den Weg freizuschießen. Sie können ihn wegen Mordversuch vor Gericht bringen.«
»Was geht uns das an?«, fragte der Grauhaarige.
Carp räusperte sich. »Das Syndikat paukt alle Leute raus, die bei einer Arbeit für das Syndikat in Schwierigkeiten geraten.«
Der dritte Mann, der rechts neben dem Grauhaarigen saß, beugte sich vor. Er war der einzige, dessen Name Carp kannte. Er hieß Gus Zasky. Bevor er zu einem der Bosse des Team-Syndikats aufgestiegen war, hatte er eine Gang auf der East Side kommandiert. Zasky galt als rücksichtslos und brutal. Sein rotes Säufergesicht unter dem dichten Filz roter Haarstoppeln und die hellen, fast farblosen Augen hatten den Bewohnern der East Side schon Furcht eingejagt, als Tony Carp noch als Halbstarker an den Straßenecken herumlungerte.
»Das Stinktier von deinem Bruder hat nicht für das Syndikat gearbeitet!«, brüllte Zasky.
Carp zog den Kopf zwischen die Schultern.
»Mister Z-zasky, entschuldigen Sie ...«, stotterte er, »aber Ralph selbst sagte mir, dass er von dem Syndikat einen Job ...«
»Wann hat er von einem Job für das Syndikat geredet?«, fragte der Grauhaarige.
»Am Abend vor seinem Zusammenstoß mit den Schnüfflern. Daher glaubte ich, er wäre bei einem Auftrag für das Syndikat gefasst worden, besonders auch, weil die Schnüffler G-men waren. G-men jagen nicht einen Mann, der einige Einbrüche begangen hat, sondern ...«
Wieder wurde er unterbrochen.
»Warte draußen! Wir werden dich hereinrufen, wenn wir uns über deinen Bruder informiert haben.« Der Bodyguard tippte Tony Carp auf die Schulter und wies auf die Tür.
Carp stolperte aus dem Zimmer in den Vorraum, in dem er vor seiner Begegnung mit den Bossen des Syndikats gewartet hatte. Er ließ sich in einen zerschlissenen Sessel sinken, zündete sich eine Zigarette an und bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen.
Eine Stunde lang ließen sie ihn schmoren. Carp fragte sich, ob er vergessen worden war. Endlich öffnete sich die Tür, und der bullige Bodyguard winkte ihn mit einer Kopfbewegung herein.
»Dein Bruder, Ralph Carp«, sagte der Grauhaarige, »wurde vom FBI gejagt und gestellt, weil er in drei Fällen minderjährige Mädchen zur Prostitution gezwungen hat. Da er die Mädchen aus einem anderen Staat nach New York brachte, gelten seine Taten rechtlich als Entführungen und fallen damit in die Zuständigkeit des FBI. Die Mädchen haben gegen deinen Bruder ausgesagt. Er muss mit lebenslänglichem Gefängnis rechnen. Das Syndikat hat mit den Taten deines Bruders nichts zu schaffen und wird sich nicht um ihn kümmern. Das ist alles, Tony.«
»Sir, aber Ralph selbst sagte, dass ...«
»Du kannst gehen, Tony!«, sagte der Grauhaarige.
Gus Zasky sprang auf. »Verdammt, dein Bastardbruder hat mit seinem Job für das Syndikat nur angegeben, um sich ein bisschen Kredit zu verschaffen. Wahrscheinlich hat er dich angepumpt, oder?«
Eine Minute später stand Tony Carp auf der Straße vor der mächtigen, marmorverkleideten Fassade der Vorkriegsvilla. Zwischen den Schulterblättern spürte er den dumpfen Schmerz, den der Fausthieb des Bodyguards ausgelöst hatte – ein höhnischer und heimtückischer Abschiedsgruß.
In Tony Carps Seele brodelte ein Durcheinander widersprüchlicher Gefühle: Hass, Angst und der brennende Wunsch, Ralph rauszuhauen, mischten sich mit dem Bewusstsein seiner Ohnmacht. Ohne die Hilfe des Syndikats gab es keine Chance für Ralph.
Carp glaubte an die Allmacht des Syndikats. Es konnte die Gefängnistore für jeden Mann sprengen, denn es ließ Zeugen verschwinden, Polizisten umbringen und Richter bestechen. Noch vom elektrischen Stuhl, so hatten sich die Jungen in Tonys Straßengang gegenseitig versichert, vermochte das Syndikat einen Mann zu retten, den es retten wollte. Doch ihr Gerede war mehr Wunsch als Wirklichkeit.
Mit der Subway fuhr Tony Carp zurück in die schmutzigen Straßen der Lower East Side. Er ging zu Fat Charly. Die Kaschemme verdankte ihren Namen dem Aussehen des Besitzers. Bei Fat Charly war er Ralph an jenem Abend begegnet, an dem Ralph ihm versichert hatte, er arbeite jetzt für das Syndikat.
Fat Charly stand hinter der Theke und füllte Bier in seinen mächtigen Körper, als gälte es, ein Fass zu füllen.
Carp stellte sich vor den Tresen und verlangte Bourbon auf Eis.
Charly trennte sich widerwillig von seinem Bierglas.
»Fat, erinnerst du dich, dass vor vier Tagen mein Bruder Ralph in deinen Laden kam und nach mir fragte?«
»Ich erinnere mich niemals an irgendetwas«, antwortete Charly, »ausgenommen an die Schulden meiner Gäste.«
»Fat, wir standen später, als Ralph mich gefunden hatte, eine Stunde lang an deiner Theke. Du musst dich daran erinnern. Ralph wollte von dir wissen, wem das rothaarige Mädchen gehörte, das an dem Abend deine Gläser spülte.«
Der Kneipenbesitzer gähnte. »Hör auf, mich mit deinen Fragen zu löchern, Tony.«
Die Tür wurde aufgestoßen. Ein halbes Dutzend junge Männer, keiner älter als fünfundzwanzig Jahre, kam lärmend herein. Carp kannte jeden. Wie er waren sie in den verfallenden Häusern der Lower East Side aufgewachsen, hatten sich auf Straßen und in den Hinterhöfen herumgeprügelt, die ersten Diebstähle und Einbrüche begangen, Mädchen gejagt und Autos geknackt, bis sie zum ersten Mal gefasst worden waren. Ihre Laufbahn war vorgezeichnet, ein Zickzackweg zwischen Gefängnis und Verbrechen.
»He, Tony!«
Sie umringten ihn, bedachten ihn mit Fausthieben und Rippenstößen und schrien ihm Sätze zu, deren Bedeutung er nicht verstand.
Er riss sich los und brüllte: »Lasst mich in Ruhe!«
»Gib uns 'ne Runde aus, Tony!«, schrie ein großer, magerer Schwarzer.
Ein anderer grölte: »Ist doch 'ne große Ehre für die Familie, dass dein Bruder 'nem Schnüffler zu 'ner Auszeichnung verholfen hat.«
Tony Carp begriff, dass sie ihn verhöhnten. »Wovon redet ihr?«
Eine aufgefaltete Zeitung verdeckte das dunkle Gesicht und den aufgerissenen Mund des Schwarzen. Carp sah den Abdruck eines Fotos von Ralph, das typische Foto, wie die Greifer es von einem gefassten Mann machten.
Er riss dem Schwarzen die Zeitung aus den Fingern und las.
Die Pressestelle des FBI teilt mit, dass der stellvertretende Chef des Federal Bureau of Investigation morgen im Rahmen einer Feierstunde den New Yorker FBI-Beamten Sam Worth als ›G-man des Jahres‹ auszeichnen wird. Sam Worth hat sich in vielen Einsätzen bewährt und das Verbrechen in unserer Stadt mit großem Erfolg bekämpft. Zuletzt nahm er nach einem Feuergefecht den Gangster Ralph Carp fest. Carp hat in mehreren Staaten der USA minderjährige Mädchen entführt und zur Prostitution gezwungen. Ralph Carp war die dreißigste Verhaftung, die G-man Worth durchführte.
Tony Carp zerknüllte die Zeitung. Wut überschwemmte ihn in einer heißen roten Welle.
Er durchbrach den Ring und stürzte zum Ausgang. Das Gelächter brandete ihm nach bis auf die Straße.
Kenneth Brown, einer der fünf Stellvertreter des großen Häuptlings in Washington, schüttelte jedem von uns die Hand, bevor er sich neben John D. Highs Schreibtisch aufbaute und sich räusperte. »Darf ich bitten, Sam Worth hereinzurufen?«
Mr High beugte sich über die Rufanlage. »Schicken Sie Sam.«
Begleitet von den Kollegen Steve Dillaggio und Frank Holter, marschierte Sam ein. Er hatte sich fein gemacht, trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd.
Steve und Frank blieben zurück und ließen Sam die letzten fünf Schritte allein gehen. Sam baute sich vor dem Vizechef aus Washington auf.
»FBI Agent Samuel Frederic Worth, Sir«, meldete er halbmilitärisch.
»Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte Brown.
Sams Gesicht war blass. Unter den Wangenknochen zeichneten sich rote Flecke ab. Er schien viel nervöser als bei einem noch so heißen Einsatz.
Brown setzte zu seiner Rede an. Er begann damit, dass er Sam die Grüße und guten Wünsche des FBI-Direktors, des Justizministers und schließlich des Präsidenten ausrichtete.
Dann ging er in die Vollen. Er nannte Sam einen aufrechten Kämpfer gegen das Verbrechen, ein Vorbild für alle, die sich dem Dienst an Staat und Gesellschaft verpflichtet hätten. Er bezeichnete ihn als einen Mann, der die große Tradition des FBI fortsetze und der alle Verleumdungen, die eine schmutzige Presse gegen die Organisation schleudere, strahlend widerlege.
Sam hielt den Blick geradeaus gerichtet. Bei jedem Satz Browns wurden seine Lippen schmaler. Zweifellos war ihm der Lobgesang peinlich. Die Spitzenmänner der FBI-Zentrale kamen zu häufig mit Politikern zusammen, und deren Stil färbte auf sie ab.
Schließlich ergriff Brown eine ledergebundene Mappe und ließ seine Stimme noch einmal anschwellen.
»Wir in Washington«, tönte er, »überwachen Einsatzfreude, Fähigkeiten und Erfolge unserer Agents sehr sorgfältig. Selbstverständlich bemühen wir uns bei der Beurteilung eines jeden um äußerste Gerechtigkeit. Ein Mann, der seine Pflicht in den Labors tut, der mit Scharfsinn und Präzision wichtige Ergebnisse bei der Bearbeitung von Beweisstücken erzielt, darf nicht zurückgestellt werden gegenüber einem Agent im Außendienst, dem eine aufsehenerregende Verhaftung gelingt. Wir haben ein Punktesystem ausgearbeitet, mit dessen Hilfe alle Leistungen gerecht erfasst und bewertet werden können. Ich bin stolz darauf, dass ich maßgebend an diesem System mitarbeiten durfte.«
Er schlug die Mappe auf. Alle warteten, dass er weitersprach.
»Mit großer Freude erkläre ich Sie, Samuel Frederic Worth, aufgrund der erzielten 892 Punkte zum ›G-man des Jahres‹ und überreiche Ihnen diese Urkunde als Auszeichnung.«
Jeder brach in Beifall aus. Sam nahm die Mappe entgegen und bedankte sich. Mr High schüttelte ihm die Hand. Phil und ich gratulierten. Sam grinste hilflos in die Runde und zuckte mit den Achseln. Steve und Frank bemächtigten sich seiner.
»Komm, mein Junge! Du sollst gefeiert werden. Die Kollegen warten in der Kantine!«, rief Steve. »Mit Ihrer Erlaubnis, Sir!«
»Selbstverständlich«, sagte Mr High.
Brown sah der Gruppe nach. »Ihre Leute sind prächtig, Sir«, lobte er. »Sie können stolz auf Ihre Arbeit sein.«
»Danke«, antwortete Mr High trocken, »aber ernennen Sie mich bitte nicht zum Distriktchef des Jahres!«
Brown sah ihn irritiert an.
»Über die Distriktchefs wird keine Leistungsbilanz geführt. Denken Sie, wir sollten die Distriktleiter in unser Punktesystem einbeziehen?« Er rieb sich das Kinn. »Vielleicht kein schlechter Gedanke.«
Mr Highs Gesicht blieb unbewegt.
»Ich werde mit Nummer eins darüber sprechen.« Brown blickte auf die Armbanduhr. »Zeit für die Verabredung mit dem Gouverneur. Bitte bestellen Sie einen Wagen für mich, Sir.«
»Steht bereit. Ich begleite Sie.« Mr High wandte sich an uns. »Jerry und Phil, Sie warten bitte auf mich.«
Die Tür schloss sich hinter unserem Chef und dem mächtigen Bürokraten aus Washington.
Phil ließ sich in einen Sessel fallen. »In Zukunft müssen wir uns Informationen über unseren Punktestand verschaffen, damit nicht unversehens einer von uns ›G-man des Jahres‹ wird und den ganzen Publicityrummel durchstehen muss.«
»Willst du einen Gangster laufen lassen, wenn du bedenklich viele Punkte auf deinem Konto hast?«
»Immer noch besser, als von Brown gefeiert zu werden.« Er hatte einen Einfall. »He, gibt es Punktabzüge für Verstöße gegen die Disziplin oder leichtfertigen Umgang mit Staatseigentum? Im schlimmsten Fall fahren wir einen Wagen zu Schrott oder lassen uns mit einer Whiskyflasche in der Tasche erwischen.«
»Sei vorsichtig, Phil. Gewisse Leute könnten aus deinen Worten heraushören, dass du die Trauben für sauer erklärst, weil sie für dich zu hoch hängen.«
»Kein vernünftiger Mensch kann das annehmen. Hast du Sams Gesicht gesehen? Glaubst du, ihm macht es Spaß, ›G-man des Jahres‹ geworden zu sein?«
»Sam legt eine Menge Ehrgeiz an den Tag und zeigt eine gewisse Neigung, seine Fälle im Alleingang zu erledigen. Wenn er eine Fährte gefunden hat, will er auch den Mann selbst verhaften.«
Phil lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Magen: »Und wie viele Leute, glaubst du, würden aus deinen Worten heraushören, dass auch dir die Trauben zu hoch hängen?«
Ich lachte. »Eine Menge.«
»Außerdem müssten Sam Punkte wegen Leichtsinns abgezogen werden«, erklärte Phil lachend. »In vier oder fünf Aktionen ist er so hart rangegangen, dass er um ein Haar dem FBI die Kosten für eine vorzeitige Beerdigung verursacht hätte. Erinnere dich an die Festnahme Ralph Carps. Ein G-man, der gegen eine geladene Pistole anrennt, müsste zur Wiederholung des Kurses ›Richtiges Verhalten beim Einsatz‹ nach Quantico geschickt werden.«
Mr High kehrte zurück. Offenbar hatte er Phils letzten Satz zur Hälfte mitgehört, denn er fragte: »Wer müsste nach Quantico geschickt werden?«
Phil lief rot an.
»N-niemand, Sir«, stotterte er. »Jerry und ich sprachen darüber, dass die Kurse auf der FBI-Akademie ... ich meine, dass alle G-men ...«
Er verhedderte sich und brach ab.
»Auch ich halte nichts von der Ernennung eines Agents zum ›G-man des Jahres‹. Ich habe gegen diese Publicityaktion protestiert, aber die Regierung glaubt, sie würde so das öffentliche Ansehen der Bundesbehörden verbessern. Ursprünglich beabsichtigte man, die Presse mit Fotos von Sam zu versorgen. Mister Brown ließ sich nur mühsam davon überzeugen, dass ein G-man, dessen Bild durch alle Zeitungen gegangen ist, am besten sofort in Pension geschickt wird.«
Er nahm seinen Platz hinter dem Schreibtisch ein, zog einen Aktenordner heran und schlug ihn auf.
Ich beugte mich vor.
»Ich möchte, dass Sie Ronald Kelly und seine Frau Kate finden.«
»The Shooting Couple?«
»Richtig, das schießwütige Ehepaar.«
Vor dreißig Jahren waren Ronald und Kate Kelly als Kunstschütze und lebende Schießscheibe in Varietés und im Zirkus aufgetreten. Mal war Ronald der Schütze und Kate die Zielscheibe, mal umgekehrt. Denn Kate schoss ebenso gut wie er.
Wer von beiden bei dem Überfall auf einen Geldtransport in Florida geschossen hatte, konnte nie geklärt werden, denn das Ehepaar wurde mangels Beweisen freigesprochen.
Nach dem Freispruch gingen sie nach Norden, und sie brachten Geld mit. Auf jeden Fall hatten sie es nicht mehr nötig, sich gegenseitig Teller vom Kopf zu schießen.
Sie stiegen ins Nachtgeschäft ein. Ihr erster Nightclub, den sie Schießbude nannten, wurde von Mitgliedern der Prosky-Gang in Trümmer gelegt, weil sich die Kellys weigerten, Schutzgebühren zu zahlen. Kurz darauf wurden zwei Gangster und Slim Prosky selbst durch Kopfschüsse, abgefeuert unter schwierigen Zielbedingungen, ermordet. Dann eröffneten die Kellys einen neuen Nightclub in der südlichen Bronx, den sie wiederum Schießbude tauften.
Dieser Nightclub wurde zum Hauptquartier der Gang, die sich die Kellys innerhalb eines Jahrzehnts aufbauten. Sie begannen damit, die Straßenprostitution unter ihre Kontrolle zu bringen. Zuhälter, die ihre Einkünfte nicht mit den Kellys teilen wollten, liefen Gefahr, auf offener Straße niedergeschossen zu werden.
Die Kellys hüteten sich vor dem Versuch, ihren Einflussbereich nach Manhattan hinein auszudehnen. Sie wussten, dass sie jenseits des Harlem River auf die mächtige Konkurrenz der großen Bosse stoßen würde. Für eine solche Auseinandersetzung fühlten sie sich nicht stark genug.
Stattdessen entdeckten sie ungenutzte Möglichkeiten, auf illegale Weise Geld zu machen, in den Schlafstädten jenseits der eigentlichen Stadtgrenze New Yorks.
Sie setzten Immobilienhändler, Wohnungsvermieter und Grundstücksmakler unter Druck. Von jedem Hausverkauf verlangten sie Provision. Vermieter zwangen sie, die Verwaltung ihrer Häuser einer Firma zu übertragen, die ihnen gehörte. Sie schickten Einbruchtrupps in die Villenviertel und machten anschließend den Bewohnern klar, dass sie gut daran täten, die Bewachung ihrer Häuser der R & K Securitygesellschaft zu übertragen, deren Inhaber Ronald und Kate Kelly waren und deren Wächter zum größten Teil so aussahen, dass niemand ihnen gerne bei Nacht begegnete. Zum Glück für die erpressten Bewohner ließen sie sich nur selten in den Straßen blicken.
Die Kelly-Unternehmungen liefen so ausgezeichnet, dass das rührige Ehepaar sein Einzugsgebiet über den Hudson hinaus nach New Jersey ausdehnte und in Suburbs wie Engwood, Tenafly und Bergenfield kassierte.
In Bergenfield bauten sich Ronald und Kate Kelly eine protzige Villa mit einem Schießstand im Keller, der mit allen technischen Tricks ausgerüstet war. Sie gaben rauschende Partys. Wenn sie in Stimmung gerieten, demonstrierten sie ihre Schießkünste, die noch immer beachtlich waren, obwohl Kate inzwischen eine Menge Übergewicht angesetzt und Ronald eine Vorliebe für französischen Cognac entwickelt hatte. Als einzige Vorsichtsmaßnahme benutzten sie sich nicht mehr gegenseitig als Zielscheibe, sondern drückten die Teller ihren Gästen in die Hände.
Die Kelly-Organisation war im genauen Sinne des Wortes ein Familienunternehmen. Kate dirigierte die Geschäfte nicht weniger energisch als ihr Mann. Viele Leute, die für die Gang arbeiteten, schienen sie mehr zu fürchten als Ronald. Auf jeden Fall saßen die Kellys fest im Sattel. Es gab keinen einleuchtenden Grund, warum sie plötzlich verschwunden sein sollten.