1,99 €
Brooklyn, wo es am finstersten ist. Slums, Arbeitslose, Süchtige, Jugendbanden und Mafiagangster. Eines schlimmen Tages schlossen sich alle zu einem Sturm auf das 76. Polizeirevier zusammen. Was die Wut der Massen aufputschte, war eine Reihe ungeklärter Mädchenmorde. Es gab Zeugen, die behaupteten, die betroffenen Mädchen kurz vorher in Begleitung eines uniformierten Polizisten gesehen zu haben. Da schalteten wir vom FBI uns ein. Wir suchten den Cop, den alle hassten ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Der Cop, den alle hassten
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Vorschau
Impressum
Der Cop, den alle hassten
Brooklyn, wo es am finstersten ist. Slums, Arbeitslose, Süchtige, Jugendbanden und Mafiagangster. Eines schlimmen Tages schlossen sich alle zu einem Sturm auf das 76. Polizeirevier zusammen. Was die Wut der Massen aufputschte, war eine Reihe ungeklärter Mädchenmorde. Es gab Zeugen, die behaupteten, die betroffenen Mädchen kurz vorher in Begleitung eines uniformierten Polizisten gesehen zu haben. Da schalteten wir vom FBI uns ein. Wir suchten den Cop, den alle hassten ...
Der Aufschrei übergellte das Dröhnen der Rockmusik, unter deren Wucht aus voll aufgedrehter Stereoanlage die Fenster klirrten.
Ich trat gegen die Eingangstür, zweimal, dreimal. Krachend brach das Schloss aus dem alten Holz. Vor uns lag die vollkommene Finsternis eines lichtlosen Raums.
Die Stablampe in Phils Hand schleuderte ihren weißen Lichtkegel in die Dunkelheit. Das Licht traf ein paar Garderobenhaken, ein Schild mit der Aufschrift Zu den Waschräumen, ein Reklameplakat für eine Whiskysorte und die große Doppeltür zur Lusitana Bar, einer Kaschemme, die seit zwei Wochen geschlossen war.
Trotzdem dröhnte jenseits der Tür die Stereoanlage.
Das Schreien ging in lang gezogenes Heulen über, und das Heulen ertrank im Wummern der elektrischen Gitarren.
Wenn wir zu spät kamen, wenn wir Fiorello tot oder im Sterben fanden, würden sie schießen. Ein Typ wie Roscoe Marr gab nicht auf.
Phil erreichte die Tür als Erster. In der Sekunde, in der er sie aufstieß, schaltete er seine Lampe aus.
Ein bläuliches Spotlicht malte einen Kreis dürftiger Helligkeit auf die Tanzfläche. In diesem Kreis krümmte sich ein dicklicher blonder Mann, der nur mit Schuhen, Sockenhaltern und einer lächerlich geblümten Unterhose bekleidet war.
Dicht vor ihm standen zwei Männer. Ein dritter Mann, ein massiver, stiernackiger Glatzkopf, war auf dem Weg zur Tür, weil er wahrscheinlich trotz des Stereogedröhns Geräusche gehört hatte.
Phil räumte den Glatzkopf mit einem blitzschnellen linken Haken ab. Der Mann ging zwischen Tischen und Stühlen zu Boden.
Ich brüllte gegen die Stereoanlage an: »FBI! Keine Bewegung oder es knallt!«
Der Mann links von dem Nackten war Roscoe Marr, der andere Guy Gurd, ein Gehilfe, der tun würde, was Marr tat.
Ich sah Marrs Hand zum Jackenausschnitt hochzucken. Ich hielt den 38er schussbereit, und die Bewegung wäre Grund genug gewesen durchzuziehen, aber ich gab ihm noch eine halbe Sekunde. Das rettete ihn. Er spreizte die Finger und stoppte die Bewegung seiner Hand. Dann breitete er langsam die Arme zur Seite aus. Guy Gurd tat es ihm nach. Das hatte ich erwartet.
Marr sagte etwas. In dem Gebrüll der Lautsprecher war nichts zu verstehen.
Ich ging zur Tanzfläche. Der feiste Blonde hob den Kopf und glotzte mich an. Die untere Hälfte seines Gesichts war blutverschmiert. Bei jedem Atemstoß quoll Blut aus seinem Mund.
Roscoe Marr hielt meinem Blick stand. In seinem kantigen Gesicht zuckte kein Muskel.
Die Rocknummer brach mit einem gefetzten Dissonanzakkord ab. Für ein paar Sekunden lief das Band leer.
Ich knöpfte Marrs Jacke auf. Er trug einen 42er Revolver im Schulterholster.
»Die Kanone ist registriert«, sagte er.
»Schalt die Hi-Fi-Anlage ab!«, befahl ich.
Mit einem Kopfnicken gab er den Befehl an Gurd weiter. Ich befreite Gurd von seiner Waffe, bevor ich ihn zum Steuerstand gehen ließ. Die ersten Takte der nächsten Nummer brachen aus dem Lautsprecher und vergurgelten, als Gurd das Band stoppte.
Hinter mir rappelte sich der Glatzkopf aus den Stuhltrümmern. Phil kümmerte sich um ihn. Er hieß Paddy Green, ein drittklassiger Schläger, den Marr ebenso als gelegentlichen Gehilfen benutzte wie Gurd.
Ich beugte mich zu dem Blonden. »Kannst du aufstehen, Fiorello?«
Er schüttelte vorsichtig den Kopf und wimmerte.
»Wer hat dich so zugerichtet?«
Bevor Lee Fiorello antworten konnte, sagte Marr: »Vergiss nicht, dass du gestürzt bist, Lee. Du bist gestürzt und hast dir die Schnauze zerschlagen.«
»Ruhe!«, befahl ich.
Auf Fiorellos haarloser Brust sah ich einen großen Fleck versengter Haut, die Spur einer glühenden Zigarre. »Und das?«
Fiorello versuchte zu sprechen. Über seine zerschlagenen Lippen drangen nur unverständliche Laute.
»Er braucht einen Arzt, Phil «, sagte ich. »Ruf eine Ambulanz und ein paar Leute, die uns helfen, diese Prachtexemplare der Menschheit abzutransportieren.«
»Du willst mich verhaften?«, fragte Roscoe. Er hatte eine tiefe Stimme mit einem harten, metallischen Klang. »Du hast keinen Grund. Niemand erhebt Anklage gegen mich.« Er wies auf Fiorello. »Oder hörst du einen Laut von ihm?«
»Er kann nicht sprechen. Ihr werdet festgehalten, bis er sich geäußert hat.«
Phil telefonierte. In den zehn Minuten, die es dauerte, bis der Ambulanzwagen eintraf, kümmerten wir uns um Fiorello. Wir halfen ihm in eine Hose, legten ihm einen Mantel um und ließen ihn seinen Mund kühlen. Er wimmerte ständig vor sich hin und verhielt sich wie ein Kalb, das um ein Haar geschlachtet worden wäre.
Gleichzeitig mit der Ambulanz kam ein Transportfahrzeug des FBI. Unsere Kollegen verluden Roscoe Marr, Gurd und Green.
»Ich verlange eine Vernehmung noch heute Nacht«, sagte Marr.
»Du bekommst deine Vernehmung«, sagte ich. »Vorher werden wir uns bei dir umsehen.«
Der Schauplatz unseres Zusammenstoßes war Coffey Street, South Brooklyn, in der Nähe des 40. Piers. Wir fuhren durch die schmalen Straßen nach Norden. Roscoe Marr bewohnte ein Brownstonehaus in der Congress Street, ein altes, mit großem Aufwand in Ordnung gebrachtes Haus. Sechzig Prozent der Congress Street gehörten genauso zu den Slums wie das übrige South Brooklyn.
Marrs Haus und ein paar Bauten in der unmittelbaren Nachbarschaft waren eine winzige Insel im Sumpf aus Armut, Verbrechen, Gewalt, und natürlich fürchtete Roscoe Marr niemand. Er war selbst der gefährlichste Mann im Süden Brooklyns und ein gutes Stück darüber hinaus.
»Wird Fiorello aussagen?« Phil dachte laut.
»Bei der Vernehmung vielleicht. Vor Gericht fällt er auf jeden Fall um.«
»Bei einer Anklage wegen Mordversuchs können wir Roscoe Marr wenigstens für ein paar Wochen aus dem Verkehr ziehen.«
»Ein Mord an Fiorello war nicht geplant. Zu einem Mord nimmt Marr keine Zeugen mit, auch nicht seine eigenen Jungs.«
»Bei jeder anderen Beschuldigung erwirkt er Freilassung auf Kaution, und die Kaution blättert Walt Krasdale hin, egal wie hoch sie ausfällt.«
Krasdale. Dieser Name benannte das wirkliche Problem, das wir zu lösen versuchten. Der Mann, der so hieß, saß in einer Villa auf Staten Island, war Mitglied des Country Clubs, spendete große Summen für Wahlkämpfe und die Heilsarmee und wurde von seinen Nachbarn achtungsvoll gegrüßt.
Die Nachtseite von Walt Krasdales Existenz trug viele hässliche Bezeichnungen: Prostitution, Glücksspiel, Erpressung, Handel mit Rauschgift, Handel mit Mädchen, Handel mit gestohlenen Trucks samt Ladung und anderes mehr. An allen diesen Unternehmen und Geschäften beteiligte sich Krasdale auf eine Weise, die man als indirekt bezeichnen konnte.
Er finanzierte sie. Den Zuhältern, Buchmachern, Dealern und Hehlern gab er Kredite für die Beschaffung von Mädchen, die Auszahlung von Gewinnen, den Kauf von Rauschgift, die Übernahme von Diebesgut. Je nach Risiko verlangte er zwischen zwanzig und fünfzig Prozent.
Nach dieser Methode hatte Krasdale seine Gewinne aus vielen Verbrechen im Lauf von dreißig Jahren auf einige Millionen gesteigert. Von den zehn Dollar, die eine Straßendirne ihrem Zuhälter ablieferte, floss ebenso ein Anteil in seine Tasche wie von der halben Million, die eine Transaktion mit gestohlener elektronischer Ausrüstung einbrachte.
Die Zeiten, in denen Krasdale selbst mit seinen Partnern verhandelt hatte, waren lange vorüber. Jetzt saß er, ein sechzigjähriger krötenhässlicher Mann, in seiner Villa oder im Chefbüro seiner Immobilienfirma und regierte das Syndikat vom Telefon aus. Ständig waren seine Kassierer unterwegs, rechneten mit den kleinen und den großen Partnern ab, übernahmen schmale Dollarpäckchen oder pralle Aktentaschen voll Geld, zahlten Summen auf Tarnkonten ein oder meldeten ihrem Boss, wenn irgendwer nicht zahlen wollte.
Natürlich hätte Walt Krasdale von seinen Geschäftspartnern nicht einen Cent des geliehenen Geldes wiedergesehen, von Zinsen und Gewinnbeteiligung ganz zu schweigen, wenn hinter seinen Forderungen nicht die mächtigste Drohung gestanden hätte, der sich ein Mensch gegenübersehen kann.
Die Drohung mit dem Tod.
Wenn seine Kassierer mit leeren Händen zurückkamen, schickte Walt Krasdale seine Gerichtsvollzieher. Krasdales Gerichtsvollzieher pfändeten keine Möbel. Sie töteten.
Und sein Gerichtsvollzieher für South Brooklyn war Roscoe Marr.
Ich drehte das Steuerrad. Der Jaguar glitt in die Congress Street. Nach zwanzig Yards erfassten die Scheinwerfer die Gestalt einer jungen Frau, die mit schnellen Schritten auf der linken Straßenseite ging. Ich nahm die Geschwindigkeit zurück und hielt den Jaguar mit ihr auf einer Höhe.
Sie wandte den Kopf und sah ängstlich zu uns herüber.
Sie war sehr jung, zwischen achtzehn und zwanzig, groß, schlank, mit langem Blondhaar, das bis auf ihre Schulter fiel. Sie trug einen weiten Pullover, eine Hose aus rotem Leder und flache Schuhe. Sie sah nicht aus wie ein Mädchen vom Babystrich. Dafür war sie nicht bunt genug. Falls sie sich verirrt hatte, bestand alle Aussicht auf ein verdammt hässliches Erlebnis.
»Wohin wollen Sie?«, rief ich.
Sie blieb stehen, antwortete aber nicht.
Ich stoppte den Jaguar und stieg aus. Sie zuckte zurück, warf den Kopf nach links und rechts wie ein Tier, das einen Fluchtweg suchte.
»Kein Grund zur Furcht. Von uns geschieht Ihnen nichts. Diese Straße ist unsicher wie ein Dschungelpfad. Wenn Sie in ein Haus wollen, werden wir Sie hinbringen.«
Auch Phil stieg aus und umrundete den Wagen.
In dieser Sekunde flammte ein Scheinwerfer auf. Ein Motor sprang an, und ein Auto kam die Straße auf der falschen Seite herunter. Als der Wagen auf unserer Höhe war, wurde er hart gestoppt. Wir erkannten ein Streifenfahrzeug der City Police.
Ein Cop, die Mütze tief in der Stirn, streckte den Kopf aus dem Fenster und brüllte uns über die Breite der Fahrbahn hinweg an: »Lasst die Finger von dem Mädchen, ihr Aufreißer! Schmeißt euch in euren Angeberschlitten und verschwindet mit Vollgas, oder ich werde ...!«
»Falsche Adresse, Officer!«, rief Phil zurück. »Wir sind FBI Agents und ...!«
»Glaubst du, ich lasse mich bluffen, du verdammter ...?« Er benutzte ein Schimpfwort aus der untersten Schublade. »Ich richte jetzt meine Kanone auf deinen Bauch, zähle bis drei, und wenn ihr bis dahin nicht mindestens fünfzig Yards Abstand zwischen euch und das Mädchen gebracht habt, kriegt ihr's!«
Phil ging auf den Wagen zu. Seine Stimme wurde scharf und schneidend. »Halten Sie die Luft an. Ich werde Ihnen meinen Ausweis zeigen.«
Der Polizistenkopf verschwand im dunklen Inneren des Wagens.
Phil zog den Ausweis und streckte den Arm aus. »Sehen Sie ihn an.«
Die Hand des Cops tauchte auf, schien nach dem Ausweis greifen zu wollen und wurde überraschend zurückgezogen.
Mit einem Zehntel der bisherigen Lautstärke sagte der Mann: »Schon gut. Tut mir leid, mich geirrt zu haben.« Zu seinem Fahrer gewandt, setzte er hinzu: »Fahr los, Slim.«
»Officer, kümmern Sie sich um das Mädchen und ...«
Weiter kam Phil nicht. Die Leute im Streifenwagen hörten ihn nicht oder wollten ihn nicht hören. Ihr Fahrzeug schoss davon. Nach wenigen Sekunden verglühten die Schlusslichter in der Dunkelheit.
Kopfschüttelnd kehrte Phil zurück. »Auf den Titel des freundlichsten Polizisten des Jahres haben die Burschen keinen Anspruch. Was machen wir mit Ihnen, Miss ...?«
Statt einer Antwort fragte sie: »Sind Sie wirklich FBI Agents?«
Phil hielt ihr den Ausweis, den er noch in der Hand hatte, vor die Augen. »Zufrieden?«
»Ja danke. Sieht so aus, als hätte ich mich tatsächlich verlaufen. Sagen Sie mir, wie ich zur nächsten Subway Station komme?«
»Steigen Sie in unseren Wagen, und warten Sie ein paar Minuten. Wir werden Sie hinbringen, sobald wir unseren Job erledigt haben.«
Bis zum Haus, in dem Roscoe Marr wohnte, waren es nur ein Dutzend Schritte. Zu unserer Überraschung öffnete niemand. Marr lebte mit einer gewissen Nancy Roman zusammen, einer jungen Schwarzen, die ihm die Hemden wusch und seinen Frühstücksspeck briet. Wir hatten gehofft, Nancy mit der Nachricht von Marrs Verhaftung so weit aus der Fassung zu bringen, dass sie sich zu ein paar Unvorsichtigkeiten hinreißen ließ. Da niemand öffnete, mussten wir aufgeben. Einen Haussuchungsbefehl besaßen wir nicht.
»Kein Glück«, stellte Phil mit einem Schulterzucken fest.
Wir gingen zum Jaguar zurück.
Niemand wartete in unserem Wagen. Die junge Frau mit dem langen blonden Haar war verschwunden.
Als die Kleine an Coshs Lauerversteck vorbeihastete, sah er ihr Gesicht und ihre Figur aus drei Schritten Abstand, ohne selbst gesehen zu werden. Ihr tiefschwarzes Haar, die dunklen Augen, die zarte und doch üppige Gestalt verrieten ihre puerto-ricanische Herkunft. Ihm schoss der Speichel in den Mund. Sofort setzte er sich auf ihre Fährte. Für seine nachtgewohnten Augen zeichnete sich ihr helles Kleid deutlich genug in der laternenlosen Finsternis von South Brooklyn ab.
Die Gier nach dem Mädchen kochte in Cosh. Er stellte sich das Entsetzen in ihren Augen vor, wenn sie seinen Griff spürte. Wahrscheinlich würde sie auf Spanisch um Hilfe schreien. Der Gedanke beunruhigte ihn nicht.
Er wusste, wie man einem schreienden Mädchen die Luft abstellte.
Die Kleine war eine sichere Beute.
Als er zum Überholen ansetzte, erspähte er die Umrisse eines Wagens am Straßenrand. Er vergrößerte den Abstand zwischen sich und dem Mädchen. Dann erkannte er in dem Wagen ein Polizeifahrzeug, gab die Verfolgung auf und drückte sich in den Schatten einer Ruinenmauer.
Die Gier würgte ihn. Sein Atem ging keuchend, und er murmelte eine endlose Suada von Flüchen, die nichts halfen. Er musste sich damit abfinden, dass die Cops ihm in die Quere gekommen waren. Ihr angebeulter dunkelblau und weiß lackierter Wagen stand genau dort, wo der Weg des Mädchens vorbeiführte.
Bei aller Enttäuschung gratulierte sich Cosh, dass er den Wagen rechtzeitig gesehen hatte. Unter den Cops des 76. Reviers gab es einige, die sich die Chance, ein paar Fußtritte loszuwerden, nicht entgehen ließen.
Cosh sah das helle Kleid mit dem Fahrzeug auf einer Höhe. Das Mädchen schien schneller zu gehen. Als es den Wagen passiert hatte, wurde der Motor angelassen. Die Scheinwerfer flammten auf und erfassten das Mädchen, als bewegte es sich auf einer Bühne, der die Ruinenhäuser der King Street als Kulisse dienten.
Noch einmal sah Cosh, wie hübsch, schlank und jung das Mädchen war, und er biss sich die Unterlippe blutig vor Ärger.
Der Polizeiwagen rollte an und holte das Mädchen ein. Als es zu laufen begann, steuerte der Fahrer den Wagen auf den Bürgersteig und schnitt ihr den Weg ab. Die Tür wurde aufgestoßen. Ein Mann sprang aus dem Auto, packte das Mädchen und zog es an sich.
Das Mädchen wehrte sich schwach. Eine Minute oder länger standen beide dicht aneinander. Der Mann schien auf das Mädchen einzureden. Cosh konnte nicht erkennen, ob die Kleine antwortete. Um näher heranzukommen, schob er sich an der Mauer entlang.
Plötzlich schrie das Mädchen auf. »Por favor ...!«
Spanisch. Wie Cosh erwartet hatte.
Unter dem brutalen Schlag des Mannes zerbrach der Schrei. Das Mädchen sank in sich zusammen. Der Mann hob es an, schleifte es zum Wagen, verfrachtete es wie einen leblosen Gegenstand auf dem Rücksitz und stieg selbst ein.
Noch während er die Tür ins Schloss zog, wurde das Auto zurückgesetzt und rollte vom Bürgersteig. Der Motor heulte auf. Der Fahrer wechselte den Gang so hastig, dass das Getriebe kreischte. Der Wagen schoss davon. Nach wenigen Sekunden verschwanden die Schlusslichter in der Dunkelheit.
Cosh schlich aus dem Versteck.
Wie ein Tier schnüffelte er die Stelle ab, an der es geschehen war. Er fand eine Collegemappe aus Kunstleder. Er öffnete und durchwühlte sie. In einem Portemonnaie entdeckte er zwei Scheine und wenige Münzen, die er einsteckte.
Zwischen den Büchern ertastete er eine Plastikhülle, die offenbar einen Ausweis enthielt. Foto und Namen konnte er nicht erkennen. Es war zu dunkel.
Er hob die Mappe an die Nase und sog die Luft ein. Er roch den schwachen Duft eines einfachen, frischen Parfums.
»Verdammte Cops«, zischte Cosh.
Das Drums Inn am Columbia Square war der grelle Mittelpunkt des düstersten Bezirks von South Brooklyn. An der Fassade des Hauses, dessen beide oberste Stockwerke ausgebrannt waren, leuchtete eine große Trommel aus Neonröhren in wechselnden Farben zwischen Blutrot und augenschmerzendem Weiß. Im Inneren dröhnten, hämmerten und wummerten auf zwei Etagen die Reggaetrommeln. Unter zuckenden Stroboblitzen lieferten junge Leute aller Hautfarben ihre Körper und ihre Seelen den schwarzen Rhythmen aus.
In der Kellerbar wurde nicht getanzt. Hier saßen und standen die Bosse der Streetgangs, umdrängt von ihren Leibwachen, belauerten sich gegenseitig, verbündeten und entzweiten sich, machten Geschäfte miteinander, tauschten Mädchen, verschoben Rauschgift und gestohlene Autos oder brachen Kriege vom Zaun, die in den Straßen und Hinterhöfen Brooklyns Verletzte und oft Tote forderten.
Cosh betrat das Drums Inn, die Collegemappe unterm Arm. Er schlich am Rand der Tanzfläche entlang, bahnte sich einen Weg über die Treppe, die von umschlungenen Paaren blockiert war, und steuerte im Keller den großen Tisch an, der Vince Robb Nacht für Nacht als Hauptquartier diente.
Gekleidet in schwarzes Leder, die Schirmmütze so tief in die Stirn gedrückt, dass die Augen verdeckt wurden, saß Robb im Kreis der härtesten Mitglieder seiner Gang. Auf dem Tisch lag eine Straßenkarte, die das Gebiet um Red Hook Park zeigte.
»Die Leute von Black Devil haben den Park zum Umschlagplatz für Koks und Girls ausgebaut«, sagte Robb, »aber der Park liegt in unserem Gebiet. Wenn Black nicht eine Ablösung oder eine Gewinnbeteiligung zahlt, werden wir ihn raushauen.«
Cosh näherte sich dem Tisch.
Einer von Robbs Leuten trat nach ihm. »Verschwinde, Schleicher.«
Im Zurückweichen warf Cosh die Collegemappe zwischen die Bier- und Whiskygläser.
Vince Robb hob den Kopf und schob die Mütze aus der Stirn. Er hatte eine vorspringende, große Nase, tief liegende schwarze Augen unter starken Brauen und einen breiten Mund. »Was soll das?«
»Gehört 'nem Mädchen, das von 'nem Cop in einen Copwagen gezerrt wurde. Ich dachte, es interessiert dich, Vince, weil sie ein Puerto-Girl war.« Er grinste und zeigte seine Zähne. »Du weißt doch, was die Cops mit den Mädchen machen.«
Vince Robbs Mutter war Puerto-Ricanerin gewesen, und Robb hasste alle Weißen, wie er seinen Vater gehasst hatte, der seiner Familie die Hölle auf Erden bereitet hatte, bevor er irgendwann bei einer Prügelei zwischen Betrunkenen erschlagen worden war.
Robb öffnete die Mappe. Er schüttete den Inhalt auf den Tisch. Zwischen Büchern und Heften fand er den Ausweis.
»Juanita Salarez«, las er laut. »Tatsächlich, ein Puerto-Mädchen.«
»Was ist das für 'n Ausweis?«, fragte Pancho Manta.
»Atlantic Abendschule.«
»Das ist der Laden, wo sie den Mädchen 'ne Ausbildung verpassen wollen.« Manta, ein kraushaariger, scharfgesichtiger Zuhältertyp grinste. »Ich kannte ein Mädchen, das in der Schule so verbogen worden war, dass ich es ein halbes Jahr lang umerziehen musste, bevor ich es auf den Strich schicken konnte.«
»Ruhe!«, fauchte Robb so schneidend, dass auch die anderen verstummten, die nicht zur Gang gehörten. »Unsere Mädchen gehören uns, keinem anderen und schon gar nicht den Cops. Aber davon rede ich nicht. Ich spreche von den sechs Mädchen, die im Zeitraum von sechs Monaten ermordet wurden. Keines war älter als achtzehn, und keines trug einen Fetzen Stoff, als man sie fand. Habt ihr vergessen, dass schon einmal das Gerücht ging, die Mädchen seien von Cops angehalten worden, bevor sie verschwanden?«
Niemand sagte etwas.
Er hielt den Ausweis hoch.
»Ich werde herausfinden, was mit diesem Mädchen geschehen ist, und wenn die Cops ihr auch nur ein Haar gekrümmt haben, werden wir ihr dreckiges Nest ausräuchern.« Er sprang auf. »Gehen wir!«
Cosh wollte sich zur Seite drücken.
Robb packte ihn am Arm. »Du kommst mit. Dich brauchen wir.«
Von der Bar löste sich Jake Trasher, ein breiter junger Schwarzer, auf dessen Kommando eine Gang schwarzer Bewohner von South Brooklyn hörte.
»Lass mich wissen, was du über das Mädchen erfährst«, sagte er.
Vince Robbs Blick war voll kalter Feindschaft. »Sie ist eine Puerto-Mädchen, keine Black Ass.«
Trasher zuckte bei der Beleidigung mit keiner Wimper.
»Zwei der ermordeten Mädchen waren so schwarz wie ich«, sagte er finster.
Tom Finnigan verließ das große, alte Gebäude, in dem das 76. Revier der New Yorker City Police untergebracht war, um zu seinem Streifenwagen zu gehen. Er hörte das Dröhnen schwerer Motorräder und sah sechs Maschinen und ein Auto die Straße herunterkommen. Die Motorräder eskortierten den Wagen, als säße eine politische Größe darin. Sie beanspruchten die volle Straßenbreite.
Glücklicherweise gab es zu dieser späten Stunde kaum Gegenverkehr.
Das eskortierte Fahrzeug war ein feuerrotes Cabriolet mit schwarzen Polstern, der Nachbau eines Modells aus den Sechzigerjahren. Finnigan tat seit zwanzig Jahren in South Brooklyn Dienst und wusste, dass der Schlitten Vince Robb gehörte. Er verschränkte die Arme und wartete darauf, dass die Bande vorbeifuhr.
Das Gegenteil geschah. Robbs rotes Cabriolet steuerte den Platz vor dem Eingang an, der für Streifenwagen reserviert war. Seine Motorradeskorte jagte die Maschinen links und rechts vom Eingang auf den Bürgersteig.
Erschrocken griff Finnigan nach dem Revolver.
Vince Robb flankte aus seinem Wagen, ohne die Tür zu öffnen. Er baute sich vor Finnigan auf.
»Bring mich zu Fatty Nelson, Mann.«
»Von wem sprichst du? Von Lieutenant Nelson?«
»Genau, Mann. Von deinem fetten Chef. Irgendetwas dagegen, dass ich ihn Fatty nenne?«
»Geht es nicht eine Nummer kleiner? Warum sagst du nicht mir, wo dich der Schuh drückt? Ich bin im Revier länger zu Hause als Lieutenant Nelson. Dich, Vince, habe ich schon als Sechsjährigen beim Obststehlen gefasst und laufen lassen.«
Robb stieß einen Pfiff aus als Signal für Pancho Manta, der seine Maschine dicht an Finnigan heranfuhr.
Auf dem Rücksitz hockte Cosh, und Vince Robb zeigte mit dem Daumen auf ihn. »Er hat gesehen, wie Cops ein Mädchen in einen Streifenwagen gezerrt haben, eine Puerto-Ricanerin. Ich will wissen, was ihr mit dem Mädchen gemacht habt.«
In dreißig Jahren Dienst auf den Straßen New Yorks hatte Tom Finnigan zu oft erlebt, wie aus nichtigen Anlässen Straßenschlachten entstanden waren, ganz besonders wenn Rassenprobleme eine Rolle spielten. Er nahm Robbs Zorn ernst.
»Ich bring dich zu Lieutenant Nelson. Dich allein. Ohne deine Leute.«
Robb packte Cosh an der Jacke und riss ihn vom Motorrad. Er schleppte ihn hinter Finnigan die kurze Treppe hoch.
Der große Dienstraum des 76. Reviers war erfüllt von Stimmengewirr, dem Klappern der Schreibmaschinen, dem Schrillen der Telefone. An neun Schreibtischen, die ohne erkennbares System im Raum verteilt waren, arbeiteten Beamte in Uniform und in Zivil. Die Wände waren vollgestellt mit Karteischränken, einer alten Kopierpresse, Garderobenständern und zwei Wasserautomaten. Es herrschte eine Atmosphäre von Nervosität und schlechter Laune.
»Wartet!«, befahl Finnigan und klopfte an die Tür zu dem Büro, auf deren Glasfüllung der Name Edward Nelson erst vor sechs Monaten angebracht worden war, als Lieutenant Nelson das 76. Revier als neuer Chef übernommen hatte.
Nelson war kein Brooklyn-Mann. Er hatte sich im zentralen Verwaltungsdienst der City Police hochgedient. Um den nächsten Rang zu erreichen, brauchte er den Nachweis der Bewährung auf einem schwierigen Außenposten. Nur aus diesem Grund hatte er sich zum 76. Revier versetzen lassen. Unsicher und ohne Erfahrung auf heißem Pflaster, kompensierte er seine Komplexe durch besondere Forschheit.
»Lieutenant, bitte sprechen Sie mit Vince Robb«, sagte Finnigan. »Es geht um ein Puerto-Ricaner-Mädchen, das von Beamten festgenommen worden sein soll.«
Für einen Lieutenant war Nelson ziemlich jung, gerade zweiundvierzig Jahre alt. Er hatte ein rundes Gesicht mit Ansatz zum Doppelkinn. Vergeblich kämpfte er gegen zwanzig Pfund Übergewicht an, die er sich auf seiner langen Sesselkarriere zugelegt hatte.
»Wer ist Vince Robb?«, fragte er unwillig.
»Boss einer Streetgang von Puerto-Ricanern.«
»Ein Verwandter des Mädchens?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Zum Teufel, Finnigan, wissen Sie nicht, dass nur die nächsten Verwandten Auskünfte über inhaftierte Personen verlangen können?«