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Die Forschungsanlage war so geheim, dass Phil und ich erst von ihr erfuhren, als einer unserer Kollegen dort ermordet worden war. Es war eine riesige Anlage unter den Straßen von New York, in der geheime Projekte der Regierung durchgeführt wurden. Jetzt bestand die Gefahr, dass diese Geheimhaltung aufflog, weil sich Gangster zu dem Komplex Zugang verschafft hatten...
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Der große Coup im Untergrund
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Film: »Walking Tall – Auf eigene Faust«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4296-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Der große Coup im Untergrund
1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.
Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:
»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.
Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
Das Telefon schrillte. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und warf einen Blick auf die Uhr. Es war noch nicht einmal sechs. Der Teufel sollte alle Telefone New Yorks holen.
Ich stand auf und schlurfte zu dem immer noch klingelnden Apparat.
»Cotton«, sagte ich. Nicht gerade freundlich.
Die rauchige Stimme von Myrna Sanders drang durch die Leitung. Jedes Mal, wenn ich sie hörte, erinnert sie mich an die Stimme einer Nachtclubsängerin, die das gewisse Etwas hat. Aber Myrna ist keine Barsängerin, sie ist Telefonistin beim FBI, und sie sagte: »Guten Morgen, Jerry. Der Chef möchte Sie sprechen. Ich verbinde.«
Das reichte, um mich wach zu machen.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie wecken ließ, Jerry.«
»Okay, Chef. Was ist los?«
»Brian Roberts ist überfällig. Seine Frau rief vor ungefähr 20 Minuten an und wollte wissen, wann er endlich nach Hause komme. Dabei müsste er seit gestern Abend zu Hause sein.«
Brian Roberts war also nicht nach Hause gekommen. Brian Roberts, 38 Jahre alt, Special Agent des FBI wie ich, verheiratet und Vater von zwei Kindern.
»Ich komme, Chef«, sagte ich. »Ich bringe Phil mit.«
»Darum wollte ich Sie bitten.«
»Ich rief Phil an, informierte ihn und kündigte an, ihn in einer halben Stunde an der üblichen Ecke abzuholen.
Ich fuhr den Jaguar aus der Tiefgarage und nach kurzer Zeit näherte ich mich der Ecke, wo Phil immer zustieg.
Phil wartete mit hochgeschlagenem Mantelkragen. Er brummte einen knappen Gruß und starrte für den Rest der Fahrt schweigend vor sich hin.
Wie immer parkte ich den Jaguar im Hof des Field Office. Als wir durch die Hintertür in die Eingangshalle traten, kam Steve Dillaggio gerade von vorn herein. Trotz seines italienischen Namens sieht er mit seinem flachsblonden Haar eher wie ein Schwede oder ein Norweger aus. An den blonden Bartstoppeln konnte man erkennen, dass er die Nacht über Dienst gehabt hatte. Mit einem nur halbunterdrückten Gähnen nickte er uns zu, als wir an der Fahrstuhltür zusammentrafen.
»Ich denke, ihr habt Tagdienst?«, fragte er.
»Stimmt.«
»Na, was zum Teufel wollt ihr dann hier? Oder hat sich irgendein Witzbold in Washington neue Dienstzeiten einfallen lassen?«
Er gähnte nun doch. Wir traten in den Fahrstuhl. Phil erklärte ihm mit wenigen Worten den Grund unserer Anwesenheit. Steve hörte schlagartig auf zu gähnen. »Brian? Wo war er denn zuletzt?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Wir haben noch nichts Näheres gehört.«
Steve fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Bartstoppeln. Es gab ein leise kratzendes Geräusch. »Ich komme gerade aus Harlem zurück«, berichtete er. »Die ganze Nacht stand ich eingekeilt zwischen stinkenden Fischkisten und hatte nichts weiter zu tun, als auf eine verdammte Haustür aufzupassen und darauf, ob ein bestimmter Mann herauskäme. Natürlich kam er nicht. Hast du schon mal erlebt, dass sie kommen, wenn wir darauf warten?«
»Na, manchmal doch«, sagte Phil.
»Ja«, gab Steve zu. »Sonst könnten wir unseren Verein ja gleich auflösen. Aber ich wollte etwas anderes sagen. Mit dieser Geschichte in Harlem habe ich erst seit letzten Freitag zu tun. Da hat jemand von uns droben im Farbigenviertel die Spur eines international verzweigten Rauschgiftrings aufgegabelt. Der Chef ließ daraufhin alle anderen Sachen erst einmal auf Eis legen. Deshalb kamen Brian und ich auseinander.«
»Du hast mit Brian vorher zusammengearbeitet?«
»Ja. Das sage ich doch. Bis Freitag.«
»Was stand bei euch an?«
Steve Dillaggio holte tief Luft. Dann sagte er nur einen einzigen Namen: »Jim Hayes.«
Mir blieb die Luft weg. Phil stieß einen schrillen Pfiff aus. Ein paar Sekunden herrschte eine beklemmende Stille. Unter den 25 000 Cops in New York gab es keinen, der diesen Namen nicht gekannt hätte.
Ich drückte den roten Alarmknopf auf dem Bedienungsbrett des Fahrstuhls. Der Lift kam zwischen zwei Stockwerken zur Ruhe. Ich betätigte den Knopf für das Erdgeschoß. Mit leisem Summen setzte sich der Lift wieder in Bewegung und sackte abwärts.
»Was hast du denn jetzt vor?«, fragte Phil.
»Wir haben Zeit aufzuholen. Es genügt, wenn sich einer von uns die nötigen Fakten geben lässt. Ich fahre inzwischen zu Hayes.«
»Hast du den Verstand verloren? Zu Hayes und allein würde …«
»Phil«, brummte ich, »uns fehlt jetzt schon eine ganze Nacht, um den Anschluss zu finden. Willst du die Geschichte noch mehr in die Länge ziehen?«
Ich sah ihn an. Er seufzte und schob sich den Hut ins Genick.
»Denk an Brians Frau!«, mahnte ich.
Ich wandte mich an Steve: »Wo kann ich diesen Hayes finden?«
»Das wollten Brian und ich auch wissen. Jerry. Eine ganze Woche lang haben wir vergeblich versucht, seinen Schlupfwinkel ausfindig zu machen. Es war einfach nicht möglich. Der Kerl ist mit allen Wassern gewaschen.«
»Aber irgendwo müsst ihr doch ermittelt haben?«
»Sicher. Ich kann dir die Anschrift von einem Mann geben, von dem wir vermuten, dass er zu Hayes’ engerem Kreis gehört.«
»Und wer ist das?«
»Ein gewisser Huck Fulton.«
»Nie gehört.«
»Das glaube ich. Er kam erst kürzlich aus dem Süden herauf nach New York. Im Übrigen ist er höchstens fünfeinhalb Fuß groß, aber lass dich davon nicht täuschen. Der Bursche ist so gefährlich wie eine Klapperschlange, der du versehentlich auf den Schwanz getreten hast.«
»Wo sind die Aussichten am größten, ihn zu treffen?«
»Jetzt? In seinem Bett, vermute ich. Wenn die Bande nicht gerade wieder irgendwo ein Ding dreht. Er wohnt in der 66th Street, gar nicht weit von hier. Zwei Zimmer, in der 4. Etage. Du kannst das Haus nicht verfehlen. Sinnigerweise befindet sich im Erdgeschoß die Filiale der First National Bank.«
»66th Street, Filiale der First National«, wiederholte ich. »Gut, das werde ich schnell finden. Du hörst von mir, Phil, sobald es etwas zu berichten gibt. Setz dich mit Neville in Verbindung! Er will die Akten durchsehen.«
Der Lift hielt im Erdgeschoß. Ich winkte Phil und Steve flüchtig zu. Es mochte etwa 6.15 Uhr sein, und um diese Zeit ist nicht einmal beim FBI etwas los. Selbst der Kollege am Auskunftsschalter hatte nach einer durchwachten Nacht Mühe, die Augen offen zu halten.
Bis zur 66th Street war es vom Field Office praktisch nur ein Katzensprung. Ich ließ den Jaguar ein Stück vor dem gesuchten Haus am Straßenrand stehen und ging zu Fuß weiter. Die Nebelfetzen lösten sich allmählich auf, aber der Himmel blieb wolkenverhangen, grau und trostlos. Wahrscheinlich gab es einen regnerischen Tag.
Es war eins der Häuser, die sich tagsüber Fahrstuhlführer leisten, aber jetzt waren die vier Lifts auf Selbstbedienung umgestellt. Ich betrat einen, drückte den Knopf für die 5. Etage und fuhr hinauf. Im ganzen Haus war es mäuschenstill. Nach kurzen Suchen fand ich das hinter einer feuerfesten Tür verborgene Treppenhaus.
Leise huschte ich die Treppe bis zur 4. Etage hinab. Den Flur schritt ich einmal in beide Richtungen ab, las dabei die Namen an den Türen und stieß nirgendwo auf Huck Fulton. Aber es gab eine Tür, die kein Namensschild trug. Und Steve hatte gesagt, der Bursche wohnte hier in der 4. Etage. Also blieb nur diese eine Tür ohne Namen.
Ich drückte den Klingelknopf. Das Summen hinter der Tür war deutlich zu hören. Dennoch rührte sich nichts. Ich klingelte noch einmal. Und ein drittes Mal. Dann probierte ich den runden Türknauf. Er ließ sich drehen, und die Tür schwang lautlos nach innen.
Ich blieb trotzdem auf der Schwelle stehen. »Mister Fulton!«, rief ich.
Alles blieb still. Ich betrat die Wohnung. Schließlich ging es um das Verschwinden eines Kollegen, der wahrscheinlich in Lebensgefahr schwebte, und Fultons Name war die einzige Spur, die wir hatten.
Ich ging in das geräumige Wohnzimmer. Links gab es eine offen stehende Tür, die in ein Schlafzimmer führte. Im Türausschnitt konnte ich das Fußende eines breiten Bettes und ein Stück von einem Kleiderschrank sehen.
Die Einrichtung wirkte standardisiert und stammte garantiert von einem der Warenhäuser, die Apartments einrichten. Ich wandte mich dem kleinen Schreibtisch zwischen den beiden Fenstern zu.
Ein gerahmtes Foto stand darauf. Ich nahm es in die Hand. Es zeigte das hübsche, schmale, von schwarzen Haaren eingerahmte Gesicht einer jungen Frau. Sie mochte um die zwanzig Jahre alt sein. Älter war sie bestimmt noch nicht.
Ich drehte den Rahmen um und zog die Fotografie heraus. Auch auf der Rückseite gab es keine Widmung. Ich stellte das Bild auf den Schreibtisch zurück. Ich ging ins Schlafzimmer. Weit kam ich nicht. Etwas Hartes krachte mir auf den Kopf und trieb mir den Hut über die Augen. Mein Bewusstsein empfahl sich.
***
Im Zimmer von Mr High waren alle wichtigen Leute schon versammelt: der Leiter des Nachtdienstes dieser Woche, der Einsatzleiter, der Leiter der Fahndungsabteilung und natürlich Mr High selbst. Phil nickte ihnen zu. Als er die Tür hinter sich schloss, fragte der Chef: »Wo ist Jerry?«
Phil setzte sich und legte seinen Hut auf das rechte Knie. »Wir trafen Steve Dillaggio im Fahrstuhl«, berichtete er. »Steve erzählte, dass er in der vorigen Woche zusammen mit Brian auf der Fährte von Jim Hayes gewesen sei. Sie kennen doch Jerry. Er ist einfach losgebraust und will mit Hayes reden.«
Mr High atmete hörbar aus. Er schüttelte leicht den Kopf. »Ausgerechnet Hayes! Selbst wenn er bei Brians plötzlichem Verschwinden die Finger im Spiel hätte, würde er es Jerry doch nicht auf die Nase binden.«
»Das sicher nicht«, gab Phil zu. »Andererseits aber hat Jerry durchaus die richtige Nase. Wenn Hayes in der Sache drinsteckt, wird Jerry das spüren.«
Einen Augenblick sah Mr High nachdenklich vor sich hin.
Phil machte eine knappe Handbewegung. »Was mich am meisten interessiert, ist die Frage, wieso Brians Verschwinden erst heute früh bekannt wurde, wenn er doch schon seit gestern Abend überfällig ist. Wie ist das möglich?«
»Ich weiß, Phil«, seufzte Mr High. »Brian hatte täglich bis zehn Uhr abends ein bestimmtes Objekt im Auge zu behalten. Danach konnte er nach Hause gehen. Ich wollte ihm ersparen, abends noch zum Field Office zu kommen, nur um in eine bestimmte Akte einzutragen, dass nichts Besonderes vorgefallen sei. Also gab ich ihm die Erlaubnis, unmittelbar von seinem Standort nach Hause zu fahren.«
»Aha«, brummte Phil. »Und genau das also hat er gestern Abend nicht getan?«
»Nein. Er kam nicht nach Hause. Leider verständigte uns seine Frau erst gegen 5.30 Uhr heute Morgen. Wir waren die ganze Nacht mit dem Großeinsatz in Harlem beschäftigt und dachten nicht im entferntesten daran, dass mit Brian etwas nicht in Ordnung sein könne.«
»Okay. Nun zu den Fakten, Chef. Mit welchem Fall war Brian betraut? Was ist das für ein Objekt, das er täglich vierzehn Stunden zu beobachten hatte? Wer hat zuletzt mit ihm gesprochen? Was hatte er vor, und wo wurde er das letzte Mal gesehen?«
Mr High warf Norman Hail, dem Einsatzleiter, einen auffordernden Blick zu. Der räusperte sich, zögerte aber ein paar Sekunden.
Schließlich zuckte er mit den Achseln und meinte: »Wir müssen ihn natürlich einweihen, Chef.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Mr High, und in seiner Stimme schwang etwas wie Ungeduld mit. »Natürlich müssen wir Phil einweihen, wenn er Brian suchen soll.«
Phil blickte gespannt zu Norman Hail.
»Ich brauche die Skizze, wenn ich Phil die Örtlichkeit beschreiben soll«, meinte Norman Hail.
»Ach ja, richtig.«
Der Chef stand auf und ging zu einer Tür, die in die Wandvertäfelung seines Arbeitszimmers eingelassen war. Dahinter wurde die graugrüne Front eines Panzerschranks sichtbar. Er öffnete ihn und nahm ein kleines Buch aus dem Schrank, trug die Öffnungszeit ein und signierte seine Eintragung.
Phil wusste, dass mit dem Panzerschrank irgendein Gerät gekoppelt war, das automatisch die Uhrzeiten jeder Schranköffnung registrierte. Bei den regelmäßigen Kontrollen mussten die Eintragungen im Buch mit den Zeiten übereinstimmen, die das Gerät registriert hatte.
Mr High kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Er brachte eine Tuscheskizze mit. Phil beugte sich vor. Die Skizze sah aus wie ein Stück von einem Stadtplan. Links oben gab es einen Stempel: Vereinigte Staaten von Amerika Ministerium für Verteidigung. Quer durch den Stempel gingen zwei Unterschriften. Phil konnte bei der zweiten die charakteristische Schrift von Mr High erkennen. Darunter aber sprangen ihm dicke rote Buchstaben förmlich ins Gesicht: Top Secret!
Einen Augenblick starrte Phil auf die großen Buchstaben. Der Einsatzleiter begann seine Erklärungen. Schweigend hörte Phil zu. Jedes Wort konnte eine Spur sein, die zu dem verschwundenen Kollegen führte.
Als alles gesagt war, telefonierte Mr High mit der Abwehr. Phil verließ stumm das Dienstzimmer des Chefs und ließ sich im Hof von der Fahrbereitschaft einen neutralen Wagen zuweisen.
Um 6.44 Uhr wurde er in das Büro des zuständigen Abwehroffiziers geführt.
Bei Phils Eintritt hob dieser den Kopf, um flüchtig zu nicken, dann zeigte er auf einen Stuhl und brummte schläfrig: »Also Sie sind der G-man Phil Decker?«
»Ja.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Er hielt es nicht für nötig, seinen eigenen Namen zu nennen, sondern fuhr fort: »Ich brauche Ihren Daumen, nur den rechten, bitte.«
Er zeigte auf eine Art Stempelkissen und ein danebenliegendes weißes Kartonblatt mit glatter Oberfläche. Phil drückte gehorsam seinen rechten Daumen erst auf das Farbkissen und danach auf den weißen Karton. Ein bildschöner Daumenabdruck kam zustande. Der Dicke schob ihm ein Schälchen mit chemisch reinem Benzin und einen Lappen hin.
Während Phil seinen Daumen säuberte, brummte der Abwehroffizier mit seiner träge wirkenden Stimme: »Wundern Sie sich nicht über diese Prozedur, Agent Decker! Aber wir müssen sichergehen. Nun erzählen Sie mir bloß nichts von Ihrem Dienstausweis! Einen Ausweis kann man fälschen. Einen anderen Daumen aber kann man sich nicht so schnell besorgen. Keine Angst, in Washington liegt Ihre Fingerabdruckkarte schon bereit. Wir arbeiten mit Bildfunk, und innerhalb von fünf Minuten ist der Fall erledigt. Gedulden Sie sich ein bisschen!«
Er stemmte sich ächzend an seinem Schreibtisch in die Höhe, nahm das Kartonblatt mit Phils Daumenabdruck und brachte es hinaus. Gleich darauf kehrte er zurück, ließ sich wieder in seinen Drehstuhl fallen und fragte schläfrig: »Wozu eigentlich das plötzliche Theater? Was ist los?«
»Agent Brian Roberts ist überfällig. Er war zuständig für …«
Der Dicke winkte ab: »Ich weiß. Schließlich habe ich vor ein paar Tagen seinen Daumen prüfen lassen. Also Roberts ist verschwunden?«
»Ja. Schon seit gestern Abend.«
»Schöne Schweinerei«, sagte der Mann von der Abwehr so gleichmütig, als spräche er vom Wetter des vergangenen Jahres. »Und Sie wollen ihn jetzt suchen?«
»Selbstverständlich.«
Der Dicke nickte wieder. Geschlagene drei Minuten lang sprach er kein Wort mehr. Phil schwieg ebenfalls. Dann brachte eine grauhaarige, farblos wirkende Frau von ungefähr 50 Jahren einen Zettel herein und legte ihn auf den Schreibtisch. Phil trommelte unruhig mit den Fingerspitzen auf die Stuhllehne. Vielleicht war Brian in Gefahr, vielleicht hing alles davon ab, dass man ihn schnell genug fand, und er musste hier die Zeit mit bürokratischem Geplänkel vertun. Der Dicke las den Zettel. Er zog die Schreibtischlade auf. Den Zettel fegte er hinein wie eine tote Fliege. Dafür brachte er zwei rote Karten in Cellophan zum Vorschein.
»Ich dachte mir, dass Sie es eilig hätten, als Sie sich telefonisch anmeldeten. Sonst wären Sie ja nicht schon in dieser Herrgottsfrühe aufgekreuzt. Deshalb hatte ich alles vorbereitet. Hier sind die Ausweise für die unterirdische Kernforschungsanlage. Für Sie und Ihren Kollegen.«
Er schob Phil die Karten hin. Phil runzelte die Stirn. Der Dicke grinste: »Unterirdische Kernforschungsanlage. Nun ja, so nennen wir den Laden. Passt gut? Ist ’ne richtige kleine Stadt für sich. Sie haben ein winziges Kino dort, eine Bar, Einkaufsläden, ein Hotel, sogar ein kleines Hallenbad, wie ich hörte, und natürlich haben sie eine eigene Bank.«
Er machte eine Pause, sah Phil nachdenklich an und fügte leise hinzu. »Nur einen Friedhof haben sie natürlich nicht.«
2
Ich hatte schon Schlimmeres erlebt. Zwar gab es auf meinem Hinterkopf eine Stelle, wo ich das Gefühl hatte, als säße dort ein Gartenzwerg und versuchte, mit einer elektrischen Bohrmaschine meine Schädeldecke zu durchlöchern, aber der Schmerz blieb auf diese Stelle beschränkt.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in Fultons Schlafzimmer auf der meerblauen Bettumrandung und brauchte nicht einmal mehr nachzudenken, was passiert war. Mein Erinnerungsvermögen war sofort wieder da. Behutsam tastete ich meinen Schädel ab. Auf dem Hinterkopf spürte ich eine hübsche Beule, und die Haare dort fühlten sich klebrig an.
Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Ich hörte eine halblaute Männerstimme: »Verdammt, woher sollte ich denn wissen, dass er ein Kerl von der Bundespolizei ist! Als ich ihm die Kanone aus dem Schulterhalfter zog und den Prägestempel FBI auf dem Lauf entdeckte, habe ich mir gewünscht, ich hätte ihn zu einem Whisky eingeladen, statt ihm eins auf die Rübe zu geben. Aber jetzt liegt er da! Was soll ich mit ihm anfangen?«
Ich tastete in meine linke Achselhöhle. Tatsächlich, der 38er war verschwunden. Einen Augenblick stand ich unentschlossen herum, dann kramte ich meine Zigaretten hervor und steckte eine an. Ich schlich mich leise zur Tür und stellte mich dahinter. Wenn Fulton schon telefonisch Anweisungen über die Gestaltung meines Schicksals einholte, konnte es nicht schaden, es mit anzuhören.
»Ich kann nicht behaupten, dass mir dieser Vorschlag gefällt«, sagte Fulton nach einer Weile.
Ich wurde hellhörig.
»Also gut«, sagte Fulton nebenan. »Aber ich tu’s nicht gern.« Das hörte sich ja heiter an. Ich ließ mir blitzschnell den Anblick des Hauses von der Straße her durch den Kopf gehen. Es war sinnlos. Die Front war so glatt wie ein Rasierspiegel.
»Gut, ja«, sagte Fulton nebenan ungeduldig. »Ich habe gesagt, dass ich es tue, also tue ich es auch. Ja, zum Teufel! So long, Chef.«
Ich hörte, wie der Hörer aufgelegt wurde. Die vom Teppich gedämpften Schritte näherten sich der Tür, hinter der ich stand.
»Nanu!«, kam es erstaunt von der Türschwelle her.
Manchmal gibt es doch etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit. Fulton war so verblüfft, als er sah, dass der seiner Meinung nach bewusstlose G-man sich in Luft aufgelöst hatte, dass er völlig verdattert zwei Schritte ins Schlafzimmer herein machte. Genau wie ich vorher. Diese Chance musste ich nutzen. Schließlich hatte der Gangster mich niedergeschlagen und mir die Waffe weggenommen, und nach dem Telefongespräch musste ich mit allem rechnen.
Ich holte aus und schlug ihn genau auf den Punkt. Fulton torkelte vier Schritte nach rechts, stürzte gegen den schweren Kleiderschrank, die Knie sackten ihm einfach weg, und mit der Stirn rutschte er an der Schranktür hinab. Aus seiner rechten Hand löste sich ein Revolver und kam noch vor ihm auf dem Boden an.
Der heftige Schlag hatte mir von der Beule her eine stechende Schmerzwelle durch den ganzen Körper getrieben. Ich musste zweimal tief atmen, bevor ich imstande war, zu Fulton zu gehen. Aber als ich mich dann bückte, um meinen 38er aufzuheben, musste ich mich am Schrank festhalten, sonst hätte ich mich neben Fulton gelegt.
Ich wollte mich gerade um den Bewusstlosen kümmern, da ertönte der Summer von der Wohnungstür. Ich überlegte einen Augenblick, dann ging ich nachsehen.
Im Flur stand ein Bote der Telegrafengesellschaft. »Ich soll das hier abgeben«, sagte er und drückte mir einen Zettel in die Hand.
Ich warf einen Blick auf die Uniform des Boten, der sich schon zum Gehen wandte. An der Brust hing ein Schildchen mit der Nummer 355.
Im Wohnzimmer faltete ich den Zettel auseinander. Es gab weder eine Anschrift noch eine Anrede. Mit einem grünen Kugelschreiber war hastig eine einzige Zeile auf den Zettel gekritzelt: Ecke Central Park 9.14 Uhr.
Ich faltete den Zettel wieder zusammen. Der Central Park bedeckt eine Fläche, auf der man eine Kleinstadt ansiedeln könnte, und folglich gibt es viele Ecken. Der Himmel mochte wissen, welche gemeint war. Was mich aber stutzig machte, war die Uhrzeit. Nicht 9.15 Uhr, nein, 9.14 Uhr.
Aus dem Schlafzimmer kam ein leises Geräusch. Ich ging hinein.
Huck Fulton lag auf der Seite und hatte die Augen noch geschlossen, aber über seine strichdünnen, leicht geöffneten Lippen kam ab und zu ein erbärmliches Stöhnen. Ich setzte mich auf das Fußende vom Bett und wartete.
Fulton ließ sich Zeit. Er klapperte mit den Lidern, bevor er sich entschloss, sie endgültig offen zu lassen. Dann brauchte er noch eine Weile, bis er sich erinnern konnte. Mit einer schmerzlichen Gebärde fuhr er sich an den Hals. »Mann!«, stöhnte er dabei. »Haben Sie einen Schlag!«
Er schien ein bisschen wehleidig zu sein. So schlimm, wie er es machte, konnte es gar nicht sein. Ich sagte nichts. Er rieb sich ein Weilchen vorsichtig die leichte Schwellung an seinem Hals. Dann drückte er den Oberkörper zu einer hockenden Haltung empor.
»Was zum Teufel wollen Sie hier?«, knurrte er unfreundlich.
Unter seinen Vorfahren musste es Mexikaner gegeben haben. Die Hautfarbe hatte diese charakteristische, fast olivbraune Tönung. Auch der Schnitt seines Gesichts sprach dafür. Und die schwarzen Augen.
»Empfangen Sie jeden Besucher gleich mit einem Schlag auf den Hinterkopf?«, erkundigte ich mich.
Er rappelte sich endgültig hoch. Sein Gesicht wirkte blass, als er sich am Kleiderschrank festhielt. Ich war sehr wachsam. Aber vorläufig blieb er friedlich.
»Verdammt, Agent, es war ein Irrtum«, brummte er und wankte auf unsicheren Beinen zu dem Sitzkissen, auf dem er sich ächzend niederließ. »Es war ein Irrtum, glauben Sie’s mir! Ich bitte in aller Form um Entschuldigung. Ich habe Sie verwechselt.«
»Mit wem denn?«, fragte ich interessiert.
»Das tut doch nichts zur Sache. Eben mit einem Burschen, der mir nicht wohlgesonnen ist. Ich wollte ihm zuvorkommen. Was kann ich dafür, dass Sie gerade aufkreuzten?«
Mir fielen die beiden Männer ein, die ich beim Betreten des Hauses rechts und links neben der großen Schwingtür gesehen hatte. Ihre Gesichter waren nicht gerade freundlich gewesen. Hatten sie etwa auf Fulton gewartet, weil sie mit ihm irgendeine Rechnung begleichen wollten?
»Okay«, meinte ich. »Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten, Fulton.«
»Ich bin doch gar nicht so«, behauptete Fulton. »Wenn Sie sich mit mir unterhalten wollen, na schön, warum eigentlich nicht? Nur darf es nicht allzu lange dauern, Agent. Ich habe noch ein paar dringende Dinge zu erledigen.«