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Der Mann kam aus Los Angeles. Er hatte nicht viel Gepäck, aber es enthielt ein tödliches Arsenal. Sein Auftrag lautete: Mord. Er kam nach New York, um sein siebtes Opfer zu erledigen. Im letzten Augenblick wurden Phil und ich alarmiert und nahmen an einem rauschenden Fest der Unterwelt teil ... Und damit begann ein mörderisches Wochenende!
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Das siebte Opfer
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »Talkers«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4623-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Das siebte Opfer
1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.
Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:
»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.
Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
Es war Sonnabend. Mein Wecker klingelte um sieben Uhr früh. Ich wachte auf, gähnte und starrte zur Decke, um meine fünf Sinne zu sammeln.
Manchmal hatte selbst ein G-man ein freies Wochenende, nur gehörte ich in dieser Woche nicht zu den Glücklichen. Mein Name stand neben einigen anderen auf der Liste für die Bereitschaften, die von Samstag bis Montag früh neun Uhr im Distriktgebäude einsatzbereit zu sein hatten.
Eine Dreiviertelstunde später hielt ich an der Ecke, wo mein Freund immer zusteigt. Phil ließ mich geschlagene fünf Minuten warten, bevor er endlich aufkreuzte.
»Hast du gewartet?«, fragte er naiv.
»Nein«, erwiderte ich. »Ich habe hier übernachtet.«
»Scherzkeks«, sagte Phil, rekelte sich in seinem Polster und blinzelte hinaus auf die leeren Straßen. Es war prächtiges Wetter, Wochenende – und halb New York hatte sich schon gestern Abend aufgemacht, um entweder in die Berge der Adirondacks oder zum Strand von Long Island zu fahren. Alles sprach dafür, dass wir im Distriktgebäude zwei ruhige Tage verleben würden.
Kurz darauf stellte ich den Jaguar auf den Hof in den Schatten der Halle der Fahrbereitschaft ab. Für die frühe Stunde war es beachtlich warm, und es sah ganz danach aus, als erlebe New York wieder einmal einen dieser Tage, wo man fürchten musste, dass einem der Asphalt unter den Füßen wegschmolz.
Im Aufenthaltsraum für die Bereitschaften saßen Jimmy Stone, Joseph McGarry, Leon Eisner, Steve Dillaggio und George Baker. Kurz nach uns kam Zeerookah herein, ein Agent, der seiner Herkunft nach ein reinrassiger Indianer ist.
»Dann wollen wir mal!«, sagte Leon Eisner, kaum, dass sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.
Er zog ein Fünf-Cent-Stück aus der Hosentasche, wir losten aus, wer von neun bis zwölf Uhr die anfallende Arbeit zu übernehmen hatte. Zeery und ich blieben daran hängen.
Jimmy Stone rieb sich zufrieden die Hände. »Ich hab’s gewusst, dass ich heute Glück habe. Ich muss die Akten von meinem letzten Fall abschließen, und ich habe zugesagt, dass sie bis heute Mittag im Büro des Bundesanwaltes sein werden.«
Ich gab der Zentrale Bescheid, dass sie bis zwölf Uhr alle eingehenden Anrufe in mein Büro durchstellen sollte, dann begaben Zeery und ich uns dorthin.
Phil trottete hinter uns her. »Ich komme mit. Bei uns liegt auch noch eine Menge Papierkram herum, der mal aufgearbeitet werden müsste.«
Zeery war frisch aus dem Urlaub zurückgekommen und hatte keine Arbeit herumliegen, die auf ihn wartete.
»Ich«, sagte er grinsend, »ich werde mir mal den Luxus gönnen, während des Dienstes die Zeitung zu lesen.«
Er war über die zweite Seite noch nicht hinausgekommen, als das Telefon klingelte. Ich nahm den Hörer. Die Vermittlung kündigte mir ein Dienstgespräch vom FBI aus Los Angeles an.
Los Angeles?, dachte ich. Bei denen muss es fast noch Nacht sein.
»Hier ist Cotton«, sagte ich. »Geht ihr da drüben überhaupt nicht mehr ins Bett?«
Durch die Leitung drang eine müde Männerstimme, die überraschend nah klang, wenn man überlegte, dass immerhin rund viertausend Meilen zwischen uns lagen.
»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Cotton«, sagte die Stimme. »Ich bin seit gestern Früh nicht aus den Schuhen gekommen. Wegen einer Rauschgiftgeschichte. Übrigens: Sie sprechen mit Agent Forrester.«
»Schön. Und was können wir für euch tun?«
»Vor einer halben Stunde bekam ich in einer Kneipe einen Tipp, der euch da drüben am Atlantik interessieren müsste. Sagt Ihnen der Namen Gal Flint etwas?«
»Nein. Wer ist das?«
»Hier an der Pazifikküste ist der Name ziemlich bekannt. Flint ist siebenundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, schlank und fast hager. Gewicht höchstens hundertvierzig Pfund. Er hat braune Augen und kurzes dunkelblondes Haar. Am linken Handgelenk besitzt er eine kleine Tätowierung, nicht größer als ein Daumennagel. Sie stellt eine Schlange dar, die sich um einen Dolch windet.«
Ich hatte die Angaben mitgeschrieben. »Was ist mit diesem tätowierten Burschen? Ist er euch abhandengekommen?«
»Er müsste jetzt schon in New York sein. Angeblich will er eure Stadt mit seinem Besuch beehren. Da es heißt, dass er schon sechs Morde auf dem Gewissen hat, werdet ihr euch über so einen Besucher bestimmt freuen.«
»Was will er hier?«
Durch die Leitung drang ein deutliches Schnaufen. »Was soll er wollen? Seinem Job nachgehen, vermute ich. Er ist der zurzeit gefährlichste Killer an der Westküste!«
***
»Zeery und ich müssen raus«, sagte ich am Haustelefon. »Wer ist nach uns an der Reihe?«
»Phil und Steve«, erwiderte Jimmy Stone aus dem Aufenthaltsraum.
»Phil sitzt schon hier. Schick Steve in unser Büro!«
»Okay.«
Ich griff nach dem Hut. Zeery stand bereits in der Tür.
»Feine Sache«, sagte er, während wir das Distriktgebäude verließen. »Siebenundzwanzig Jahre, mittelgroß und schlank. Dunkelblondes Haar und braune Augen. Alltäglicher geht’s nicht mehr. Da könnte jemand stundenlang neben ihm im Flugzeug gesessen haben, und er würde sich nicht an ihn erinnern. Wenn er wenigstens zwei Nasen im Gesicht hätte.«
»Ein Vollbart bis zum Bauchnabel genügt auch schon«, sagte ich.
Wir stiegen in den Jaguar. Nach der angenehmen Kühle unseres Büros kam es mir jetzt schon spürbar wärmer vor als bei unserer Ankunft. Ich bedachte Zeerys Seidenhemd mit einem misstrauischen Blick.
»Keine Angst«, tröstete Zeery und grinste. »Ich habe vier frische Hemden mitgebracht.«
»Die amerikanische Textilindustrie sollte dir einen Orden verleihen.«
Wir fuhren die Park Avenue hinauf nach Norden. Vor einer kleinen Bierkneipe hielt ich an
»Bleib im Wagen!«, sagte ich. »Wenn wir zu zweit hineingehen, riechen sie gleich, von welcher Firma wir kommen.«
Zeery nickte und zog seine Bügelfalten gerade. Ich gab meinem Hut einen kleinen Stoß, damit er ein wenig ins Genick rutschte, sah mich flüchtig um und schob die Schwingtür der Kneipe auf.
Wer aus dem hellen Sonnenschein kam, hätte in der Bude eine Taschenlampe brauchen können. Ich musste ein paar Sekunden warten, bis sich meine Augen an das düstere Zwielicht gewöhnt hatten. Im Grunde war dies keine Kneipe, sondern eine Höhle aus der Steinzeit.
An der Theke hockten trotz der frühen Vormittagsstunde schon an die fünfzehn Männer. Die meisten waren unrasiert, und viele von ihnen waren entweder noch oder schon wieder betrunken. In einer Ecke saß ein ältlicher Mann schwer bestimmbaren Alters an einem runden Tisch, auf dem sechs vertrocknete Scheiben Weißbrot und ein kleiner Berg von Wurstresten lagen. Neben seinem Stuhl lehnten zwei Besen an der Wand.
Ich schob mich zur Theke durch, an ein paar Männern vorbei, die einen Spielautomaten umstanden, und bestellte einen eisgekühlten Fruchtsaft. Der Wirt streifte mich mit einem forschenden Blick. Er war ein Kerl von mehr als zweihundert Pfund Gewicht. Wortlos schob er mir das Glas hin. Ich rutschte auf einen Barhocker und zündete mir eine Zigarette an.
Ich hatte gerade ausgetrunken, als der Alte in der Ecke sein Frühstück beendete. Er kam zur Theke.
»Ich fege dir jetzt den Hof, Eddy«, sagte er zum Wirt. »Soll ich anschließend den Gehsteig machen?«
»Wenn du schon dabei bist, Rip. Hier, rauch eine Zigarre!«
»Oh, danke.«
Der Mann griff lächelnd nach der langen Virginia, klemmte sich die beiden Besen unter den Arm und schlurfte zum Hinterausgang, wo man zu den Toiletten und auf den Hof gelangen konnte. Ich ließ noch einmal fünf Minuten verstreichen, bevor ich mich umsah, als ob ich den Weg zu den Toiletten suchte.
Es gab nur zwei Kabinen, eine davon war bereits besetzt. Ich betrat die andere, riegelte ab und pfiff irgendetwas, während ich mit dem Fuß ein bestimmtes Signal klopfte.
»Okay, G-man«, kam die Stimme des Alten durch die dünne Holzwand von nebenan. »Ich habe schon gewartet. Was ist los?«
»Schon mal den Namen Flint gehört?«, fragte ich leise.
»Nein. Wer ist das?«
»Jemand von der Westküste. Er soll nach New York gekommen sein. Wir möchten wissen, wo er sich aufhält. Und wir möchten es möglichst schnell wissen.«
»Was ist euch die Information wert?«
Es hatte keinen Zweck, mit dem alten Rip zu feilschen. Es war so viel wert, wie wir zu investieren bereit waren. Rip ernährte sich davon, dass er von einer Kneipe zur anderen zog und mit seinen Besen in Aktion trat. Er kannte Gott und die Welt und hörte mehr, als ihm die meisten zutrauten.
»Was überlegen Sie so lange?«, fragte er, während ich nachdachte.
»Rip, die Sache ist ernst«, erwiderte ich. »Flint ist ein Killer.«
Nebenan wurde ein leiser, aber scharfer Pfiff laut.
»Wenn er nach New York gekommen ist«, fuhr ich leise fort, »um einen Auftrag auszuführen, dann möchten wir Flint kriegen, bevor er dazu kommt. In dem Falle ist es uns zwanzig Bucks wert.«
»Ich könnte ein paar Freunde mobilisieren«, meinte Rip. »Aber da brauche ich einen Vorschuss. Ihre Taubheit hört erst auf, wenn sie einen Dollar in der Tasche haben.«
Ich kramte und schob eine Fünfer-Note unter der Zwischenwand hindurch, die eine Handbreit über dem Fußboden endete. Der Geldschein kam postwendend zurück.
»Fünf einzelne«, verlangte Rip. »Es fällt auf, wenn ein Mann wie ich irgendwo einen Fünfer wechseln will.«
Daran hätte ich selbst denken müssen. Ich durchsuchte noch einmal mein Bargeld und schob ihm die Summe hinüber.
»Sobald ich was höre, rufe ich an«, versprach Rip.
»Okay. Strengen Sie sich an, Rip! Es geht um ein Menschenleben.«
»Ich tue, was ich kann, Agent. Bei so einer Geschichte nicht mal des Geldes wegen. Ich kann zur Not noch begreifen, wenn jemand mit Temperament mal zu hart zuschlägt. Aber einen wildfremden Menschen umbringen, weil man dafür bezahlt wird? Nein, da hört mein Verständnis auf.«
»Okay, Rip. Also dann!«
Ich verließ das alte Original, das uns schon oft wertvolle Dienste geleistet hatte.
***
Eine halbe Stunde später stoppte ich den Jaguar auf dem Parkplatz vor der großen Empfangshalle des La Guardia Airports. Der Flughafen im Norden von Queens ragt in die Flushing Bay hinein und dient dem inneramerikanischen Reiseverkehr. Es war anzunehmen, dass Flint hier angekommen war. Die Frage war nur, ob wir jemanden auftreiben konnten, der ihn gesehen hatte.
»Nimm dir die Taxis vor, Zeery!«, bat ich meinen Kollegen. »Ich sehe mich drinnen um.«
Flint war zuletzt am gestrigen Tag gegen sieben Uhr Ortszeit in Los Angeles in einem Restaurant gesehen worden. Rechnete man den Weg vom Lokal zum Flugplatz hinzu, so konnte er kaum vor halb acht abgeflogen sein. Ich musste also zunächst einmal feststellen, wie viele Maschinen seit gestern Abend um halb acht Uhr in Richtung New York gestartet waren.
Als ich die Zahl zusammen hatte, seufzte ich. Es kamen neun Flugzeuge infrage. Vier davon gehörten verschiedenen europäischen Linien an und waren samt und sonders weitergeflogen nach London, Paris, Frankfurt und Rom. Mir wurde klar, dass sie damit für mich ausschieden, denn wenn sie nach Europa flogen, mussten sie auf dem Kennedy Airport gelandet sein und nicht hier in La Guardia.
Also blieben für fünf Maschinen übrig. Es kostete mich eine gute halbe Stunde, um herauszufinden, was aus den Maschinen geworden war. Zwei befanden sich zur technischen Wartung in den Hangars der zuständigen Gesellschaften. Zwei andere waren auf der Rückreise nach Los Angeles. Und die letzte schließlich würde in etwa zwanzig Minuten starten.
Nachdem ich meinen Dienstausweis vorgezeigt hatte, telefonierte der Schalterbeamte und ließ die beiden Stewardessen kommen. Es waren hübsche und intelligente junge Frauen. Sie glaubten, ziemlich sicher sagen zu können, dass ein Passagier, auf den Flints Beschreibung zutraf, auf dem Flug von Los Angeles nicht unter ihren Fluggästen gewesen sei. Natürlich hatte es keinen Sinn, in der Passagierliste nachzusehen. Wenn Flint wirklich in New York einen Mordauftrag ausführen wollte, würde er sich hüten, unter seinem richtigen Namen zu reisen.
Ich fragte, wo die Stewardessen der beiden Maschinen, die jetzt gerade in den Hangars gewartet wurden, zu finden seien. Ein Achselzucken war die Antwort. Die beiden Flugzeuge starteten erst am Nachmittag und am Spätnachmittag wieder, die Stewardessen mussten jeweils eine Stunde vor dem Start da zu sein. Und was sie bis dahin taten, war ihre Privatangelegenheit. Das Einzige, was mir übrigblieb, war, am Nachmittag wiederzukommen.
Ich schrieb mir die Startzeiten auf, bedankte mich und wollte wieder hinausgehen, als mir noch etwas einfiel. Ich suchte den Gepäckschalter für die zuletzt eingetroffene Maschine. Ein Farbiger mit mausgrauem Haar klebte gerade ein paar Gepäckzettel an prall gefüllte Reisetaschen. Als er fertig war, sah er mich fragend an.
»Waren Sie schon hier, als die letzte Maschine von Los Angeles landete?«, wollte ich wissen.
»Ja, Mister«, sagte er.
»Ich bin nicht sicher, ob mein Freund mitgekommen ist«, sagte ich, »weil ich ihn verpasst habe …« Ich beschrieb Flint. »Können Sie sich zufällig daran erinnern, ob so ein Mann hier Gepäck abgeholt hat, nachdem die Maschine aus Los Angeles gelandet war?«
»Sie haben Glück, Mister. Ich kann mich erinnern. Weil nämlich mit dem Gepäck etwas nicht stimmte.«
»Wieso?«, hakte ich nach.
»Na, ich bin seit sechzehn Jahren in diesem Job. Ich habe es im Gefühl, wenn ein Koffer Übergewicht hat. Und der hatte Übergewicht, und nicht zu knapp. Aber die Esel in Los Angeles müssen geschlafen haben, als sie den Koffer auf der Waage hatten. Acht Pfund Übergewicht, und für kein Gramm bezahlt!«
»Aber der Mann mit besagtem Koffer sah so aus, wie ich ihn beschrieben habe?«
»Er sah nicht so aus, Meister, er war es. Ich habe die Tätowierung am linken Handgelenk gesehen.«
2
Steve Dillaggio betrat das Büro, wo Phil Decker auf ihn wartete. Steve hatte zwar einen italienisch klingenden Familiennamen, sah aber mit seinem flachsblonden Haar eher wie ein Skandinavier aus.
»Was ist denn heute Früh los, dass Jerry und Zeery schon rausmussten?«, fragte er, als er die Tür hinter sich zuzog.
»Los Angeles hat uns einen Killer signalisiert.«
»Einen Killer?«, wiederholte Steve und ließ sich in den Drehstuhl hinter dem freien Schreibtisch fallen. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Und ich hatte mich auf ein ruhiges Wochenende gefreut.«
Phil machte eine vage Geste. »Vielleicht ist der Bursche nur zum Vergnügen nach New York gekommen. Nimm die Liste unserer V-Leute, Steve! Wir rufen sie der Reihe nach an, um sie auf den Killer anzusetzen.«
»Okay«, seufzte Steve. »Wie sieht der Kerl überhaupt aus?«
Phil beschrieb ihn. »Eine Leitung müssen wir freilassen«, sagte er abschließend, »falls uns jemand anrufen will. Nimm den zweiten Apparat und ruf die ersten zwanzig V-Leute an! Dann löse ich dich ab und übernehme die nächsten zwanzig.«
»Okay, Phil.«
Steve machte sich an die Arbeit. Für Anrufe konnte es keine bessere Zeit geben als den frühen Samstagvormittag. Steve konnte fast alle auf der Telefonliste stehenden Verbindungsleute erreichen.
Unterdessen ging bei Phil der erste Anruf von außerhalb ein. Er meldete sich. Im Hörer wurde die Stimme einer alten Lady durch irgendeine technische Panne so von Knistern und Nebengeräuschen zugedeckt, dass Phil sie nur mit Anstrengung verstehen konnte.
»Augenblick!«, fiel er ihr ins Wort. »Würden Sie mir bitte zunächst einmal Ihren Namen und Ihre Anschrift nennen?«
»Ja, ja, natürlich«, ertönte es entfernt. »Ich heiße Eleanore B. Lester. Meine Wohnung liegt am Central Park South, nicht weit vom Columbus Circle. Die Hausnummer ist 210.«
Central Park South war nur ein anderer Name für einen Abschnitt der 59th Street, und dieser Abschnitt war eine verdammt vornehme Gegend. Wer dort wohnt, dachte Phil, während er mitschrieb, der kann jedenfalls nicht unter Mangel an Kleingeld leiden.
»Sie sprechen mit Agent Decker«, wiederholte Phil. »Würden Sie mir jetzt bitte sagen, was wir für Sie tun können?«
»Nun, ich fürchte, das wird selbst für die Bundespolizei nicht ganz einfach sein, Agent Decker …«
»Wir wollen mal sehen. Lassen Sie hören!«
»Es handelt sich um Maxie, Agent Decker. Oder eigentlich mehr um Lora. Ach, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen das erzählen soll.«
Die Stimme klang traurig, sehr alt, sehr zart, und Phil stellte sich unwillkürlich eine alte Lady vor, die sehr ehrwürdig aussah, gebrechlich war und vermutlich auch recht einsam.
»Wie wär’s«, schlug Phil freundlich vor, »wenn Sie mir erst einmal sagen, wer Maxie und Lora sind?« Vermutlich ihre Enkelkinder, dachte er, mit denen sie irgendwelche Sorgen hat. Sorgen, die sie jetzt beim FBI abladen möchte.
»Ja«, erwiderte die alte Lady. »Ja, das werde ich tun. Natürlich können Sie nicht wissen, wer Maxie und Lora sind. Wie dumm von mir! Aber ich bin wirklich noch völlig durcheinander. Es ist nämlich so, Agent Decker: Vor einer halben Stunde ungefähr kam ich von meinem kleinen Morgenspaziergang zurück. Wegen des warmen Wetters hatte ich das Fenster im Wohnzimmer offenstehen lassen, als ich hinausging. Ich kam zurück und rief Maxie. Das ist mein Siamkater, müssen Sie wissen. Aber Maxie kam nicht. Ich habe ihn gesucht, aber Maxie war nicht in der Wohnung!«
»Ich verstehe«, sagte Phil, um irgendetwas zu sagen. »Und was ist mit Lora?«
»Ja, das fiel mir als Nächstes auf, Agent Decker. Lora war auch nicht da! Wahrscheinlich ist sie aus dem Fenster geflogen …«
»Ist Lora ein Vogel?«, fragte Phil.
»Oh, habe ich das nicht erwähnt? Lora ist mein Papagei. Aber wer kann der armen Lora den Käfig aufgemacht haben? Er war nämlich verschlossen, als ich das Haus verlassen habe …«
»Ach«, sagte Phil.
»Ja, und deshalb rufe ich Sie an, Agent Decker. Ich weiß nicht, wie weit ein Papagei fliegen kann, aber er müsste nur über den Hudson fliegen, und schon wäre er in einem anderen Bundesstaat, nicht wahr? Ich dachte, das FBI ist da besser als die City Police. Vielleicht können Sie Ihre Herren drüben in New Jersey verständigen, dass sie mich anrufen, wenn dort irgendwo ein zugeflogener Papagei gemeldet wird.«
»Ah, ja«, sagte Phil, griff unwillkürlich nach seinen Zigaretten und versprach der alten Lady, dass man alles tun werde, was möglich sei. Er spürte förmlich, wie sie neue Hoffnung schöpfte. Auch der Siamkater, meinte Phil schließlich, werde sich vielleicht wieder einfinden. Tiere fänden ja mitunter sehr überraschende Wege, um einen Ausflug in die Freiheit zu unternehmen.
»Sie sind sehr verständnisvoll, Agent Decker«, sagte die alte Dame. »Ich danke Ihnen sehr. Und, nicht wahr, Sie rufen mich an, sobald Sie etwas von Maxie oder Lora hören?«
Phil versprach auch dies und legte mit einem Seufzer auf. Einer von tausend verrückten Anrufen, die jährlich bei der Polizei oder anderen Behörden eingehen, dachte er. In diesem Augenblick klingelte das Telefon erneut.
»Decker«, sagte Phil.
»Das 73. Revier ersucht um FBI-Unterstützung. Es meldet eine Schießerei zwischen zwei Banden jugendlicher Strolche!«
Phil drückte seine Zigarette aus. »Wir kommen.«
Und damit waren Maxie und Lora vorläufig vergessen. Der Zettel mit der Adresse der alten Dame blieb auf dem Schreibtisch liegen.
***
Als ich aus der Halle hinaus in den strahlenden Frühlingstag trat und mich nach meinem Kollegen umsah, flimmerte die Luft über dem Flugfeld vor Hitze. Ich blieb im Schatten des überstehenden Dachs stehen und hielt Ausschau.
Zeery hatte mich entdeckt und kam von den Taxiständen herüber.
»Mann«, sagte er. »Das wird noch eine schöne Hitze geben heute Nachmittag.«
»Hast du etwas erreicht?«
Zeery schüttelte bedauernd den Kopf. »Bis jetzt noch nicht. Aber ich habe noch nicht alle Wagen durch. Mindestens ein Dutzend sind unterwegs. Ich werde warten, bis sie wieder eintreffen, aber ich habe wenig Hoffnung, Jerry. Flints Beschreibung ist zu alltäglich. Und wem wird er schon das linke Handgelenk hinhalten, um seine Tätowierung zu zeigen?«
Ich nickte zur Halle hin.
»Komm mit!«
Zeery bedachte mich mit einem fragenden Blick. Aber ich sagte nichts, und so ging er stumm neben mir her. Am Gepäckschalter suchte ich ein 50-Cent-Stück hervor und winkte dem Farbigen, der mich jetzt mit einem ausgesprochen misstrauischen Blick bedachte.
»Es ist wegen meines Freundes«, sagte ich. »Wir haben vor fünf Minuten miteinander gesprochen. Sie wissen schon, der Mann mit dem überschweren Koffer.«
Der Alte schüttelte jäh den Kopf. »Ich weiß nichts, Mister. Vorhin, das … Also, ich muss mich geirrt haben.«
Ich zog mein Etui hervor und klappte es auf. Blausilbern schimmerte der Stern des FBI.
»Oh«, sagte der Farbige und schluckte.
»Nur ein paar Auskünfte«, beruhigte ich ihn und steckte die Marke weg. »Dieser Mann, von dem wir sprachen, welche Kleidung trug er? Versuchen Sie, sich möglichst genau zu erinnern!«
Der Alte nickte. Den halben Dollar hielt er noch immer in der Hand, und es sah so aus, als wisse er nicht genau, ob er mir die Münze zurückgeben sollte.
»Ja, also«, sagte er langgezogen. »Also, er hatte einen Anzug an.«
»Einreihig?«
»Ja. Einen hellgrauen, einreihigen Anzug. Schon fast weiß, so hell war der.«
»Trug er eine Krawatte?«
»Oh ja, Agent. Er sah überhaupt sehr vornehm aus. Der Schlips war gelb. Vielleicht orangefarben. Etwas in der Art.«
»Hatte er einen Hut auf?«
»Nein, Agent. Ganz bestimmt nicht. Das weiß ich genau. Aber seine Schuhe sind mir aufgefallen. Sie waren zweifarbig. Braun und weiß.«
»Können Sie sich sonst noch an irgendetwas erinnern?«
»Höchstens an den Stock, Agent.«
»Was für ein Stock?«
»Einen Spazierstock, nur dünn, eben vornehm. Mit einem Griff aus Silber. So etwas sieht man nicht alle Tage.«
Endlich etwas Auffälliges. Hätte ich etwas von dem Stock gewusst, als ich mit den Stewardessen sprach, hätte ich das zum Hauptpunkt gemacht. Wir stellten dem Mann noch ein paar Fragen, aber es kam für uns nichts mehr dabei heraus. Wir verließen die Halle.
»Das mit dem Stock gefällt mir«, meinte Zeery. »Damit ist etwas anzufangen. Ich gehe noch einmal zu den Taxiständen. Vielleicht sind inzwischen ein paar Wagen zurückgekommen. Und dann will ich die anderen Fahrer, mit denen ich schon gesprochen habe, noch einmal auf den Spazierstock hinweisen.«
»Okay, Zeery. Da kommt gerade ein Stadtbus. Ich werde mal sehen, ob ich da etwas erfahre.«
In der 38th Street in Manhattan, an der Ecke zur First Avenue, gibt es einen Busbahnhof, der ausschließlich den Zubringerdiensten für die beiden großen Flugplätze im Osten dient. Ich wartete, bis alle Fahrgäste ausgestiegen waren. Dann kletterte ich in den großen Bus.