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Eines Tages stand sie vor mir: Carol, die Tochter eines der wichtigsten US-Politikers. Die junge Frau war verwahrlost, abgemagert und kaum bekleidet. Ihre einstmals so schönen Augen flackerten wie die eines tödlich verwundeten Tiers. Erst viel später begriff ich, wo Carol gewesen war: in der siebten Hölle ...
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Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
In der siebten Hölle
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »Der Maschinist«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5326-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
In der siebten Hölle
1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.
Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:
»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.
Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
Eines jener Gesetze, durch das in den USA ein Verbrechen der Zuständigkeit der Bundesbehörden übertragen wird, nennt man bei uns den White Slavery Act. Es bestimmt, dass unter die Strafverfolgung durch das FBI fällt, wer »Frauen oder Mädchen zu unsittlichen Zwecken von einem Bundesstaat in einen anderen verbringt«.
Aufgrund dieses Gesetzes begannen wir am Dienstag, dem 10. Oktober, unsere Ermittlungen …
»Wissen Sie«, sagte die Blondine seufzend und mit einem leisen Kopfschütteln, »worauf Sie sich da eingelassen haben?«
Phil Decker sah starr geradeaus und gab keine Antwort. Er ließ den staubbedeckten Dodge vor den Zapfsäulen ausrollen. Es war Herbst, aber offenbar nur im Kalender. Die Luft flimmerte vor Hitze. Hinter den paar Schuppen und kleinen Gebäuden neben der schnurgeraden Straße erstreckte sich endlos weit die Wüste. Letzte Tankstelle vor der Wüste hatte auf dem großen Schild am Straßenrand gestanden.
Jetzt stieg Phil aus und reckte die steifen Glieder. Er saß seit achtzehn Stunden am Steuer. Die Blondine sah ihn vom Beifahrersitz her an. Sie war blass, nervös und trotzdem hübsch. Die knallrote Bluse klebte ihr am Körper wie eine zweite Haut. Die Frau hatte die obersten Knöpfe geöffnet.
»Bilden Sie sich bloß nicht ein, dass ich davon erbaut wäre!«, bemerkte Phil und schlug die Wagentür zu. Er stelzte steifbeinig um das Heck herum. »Tank voll!«, brummte er müde dem schlaksigen jungen Burschen entgegen, der aus der hinteren Tür eines zweistöckigen weißen Gebäudes herausgekommen war.
Der Junge trug enge, genietete Farmerhosen und ein verwaschenes Unterhemd. Unter den Achselhöhlen waren Schweißflecken zu sehen, der mit nichts mehr herauszuwaschen waren.
»Okay, Chef«, sagte der Junge. »Wollen Sie durch die Wüste?«
Phil starrte in die endlose Weite. »Hm«, machte er und dachte: Nein. Himmel, nein! Ich will mitten hinein. Verflucht und zugenäht! Ich könnte mich aufhängen, wenn ich bloß daran denke.
Der Junge arbeitete, als hätten sie bei den Tankstellen einen Bummelstreik. Phil steckte sich eine Zigarette an. Nach zwei Zügen schleuderte er sie fort. Getrockneter Kameldung an den Lagerfeuern von Beduinen konnte kaum schlechter schmecken.
Endlich war der Junge fertig. Phil prägte sich den Meilenstand ein, als er von der Tankstelle wieder auf die vierbahnige neue Straße hinausrollte.
»Das kann ja heiter werden«, sagte die junge Frau irgendwann gedankenverloren.
»Was?«
»Das mit Ihnen.«
»Ich habe es mir nicht ausgesucht.«
»Nein«, sagte sie leise. »Und es vergeht keine Minute, in der Sie es mich nicht spüren lassen.«
Phil wandte den Kopf. In ihren intelligenten blauen Augen standen Angst, Hoffnungslosigkeit und schiere Verzweiflung. Plötzlich hatte er Mitleid mit ihr. Sie hatte die Hölle vor sich, und sie wusste es. Es war verdammt nicht nötig, dass er es ihr noch schwerer machte.
»Es tut mir leid«, sagte er weich. »Wirklich, die verdammte Hitze …«
Sie sah wieder geradeaus. Es war nicht auszumachen, ob sie seine Entschuldigung akzeptierte. Durch die offenen Fenster fuhr der Fahrtwind, aber er brachte nicht viel Kühlung.
Phil spürte, wie die Müdigkeit aus seinen Gliedern nun auch in sein Gehirn geschwemmt wurde. »Erzählen Sie etwas!«, bat er.
»Ich habe Ihnen alles erzählt. Mehr als ich je irgendeinem Menschen erzählt habe.«
»Na schön, dann erzählen Sie es noch mal!«
Sie schwieg ein paar Sekunden, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich mag nicht.«
Schon achtundzwanzig Meilen hinter der Tankstelle. Vierundachtzig Meilen weniger … Wenn wir bloß erst da wären.
Eine geschlagene Stunde lang sprach keiner von ihnen ein Wort. Dann ging Phil mit der Geschwindigkeit herunter. Ein paar Fahrzeuge überholten den Dodge. Später tauchte die Abzweigung vor ihnen auf. Die neue Straße ging in einer kaum merklichen Kurve nach links. Rechts zweigte die alte Wüstenstraße ab. Jetzt war sie mit rot-weißen Barrieren gesperrt. Ein großes Schild verkündete, dass der Verkehr auf der neuen Straße zu bleiben hatte. Phil hielt an.
»Ich mach das schon«, sagte die junge Frau schnell und stieg aus.
Ihre plötzliche Hilfsbereitschaft überraschte ihn. Er sah, wie sich ihre schwarzen Hosen bei jedem Schritt spannten.
Sie schob zwei Barrieren auseinander, sodass der Doge durchfahren konnte. Er wartete, bis sie die Barrieren wieder zurechtgerückt hatte und eingestiegen war.
»Jetzt sind es nur noch einundfünfzig Meilen«, sagte er, und es klang, als wären es fünfhundert. »Ich bin müde. Können Sie aufpassen, dass ich nicht einschlafe?«
Er spürte ihre kühlen Lippen auf seiner Wange. Es war nicht mehr als ein Hauch.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, flüsterte sie. »Auch wenn es manchmal nicht so aussehen mag.«
»Ist ja gut«, sagte er. »Sie und ich, wir werden es schon schaffen.«
Sie gab keine Antwort. Der weich schnurrende Motor ihres Wagens fraß die Meilen mit der Geduld seelenloser Maschinen. Eine Weile blieb es still. Bis ein schmerzliches Seufzen Phil aufhorchen ließ.
Die junge Frau weinte. Und sie gab sich keine Mühe, das zu verbergen. Darüber war sie längst hinaus. Phil hätte sie gern getröstet, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Die Chancen standen 100:1. Gegen sie. Und sie wussten es beide.
***
Ich legte das erste Foto auf den Tisch.
»Da«, sagte ich. »Jane Ashley, siebzehn Jahre alt, blond.« Ich packte das zweite Bild daneben. »Mary Louisa Crispott, neunzehn Jahre alt, brünett.« Der dritte Abzug. »Mildred Wambleton, achtzehn Jahre alt, rothaarig …«
So ging es weiter. Bild neben Bild, Name um Name, ein unbekanntes Schicksal nach dem anderen. Als ich fertig war, klappte ich die Mappe zu, legte sie ebenfalls auf den Schreibtisch und stand auf.
»Neunzehn«, sagte ich. »Neunzehn Mädchen aus vierzehn Bundesstaaten innerhalb von vier Monaten. Die jüngste siebzehn, die älteste kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag.«
Der Dicke hinter dem Schreibtisch hatte jedes einzelne Foto genau betrachtet. Obgleich es bei ihm Hunderte von Bildern weiblicher Schönheiten an allen vier Wänden seines Arbeitszimmers gab. Manche von ihnen zeigten die strahlenden Gesichter inzwischen weltbekannt gewordener Stars. Fast alle Fotos waren signiert und trugen die Widmung Für Laury. Denn ich saß im Office von Lawrence D. Lenoir, einem unserer bekanntesten Schauspielerinnen-, Mannequin- und Fotomodell-Agenten.
»Bei mir war keine Einzige von denen«, brummte Lenoir und betrachtete immer noch die Bilder.
»Das hatten wir auch nicht angenommen«, gab ich zu. »Bevor ich zu Ihnen kam, haben wir die üblichen Erkundigungen über Sie eingezogen. Das FBI ist davon überzeugt, dass Sie eine blütenweiße Weste haben.«
Lenoir sah mich überrascht an, Dann grinste er plötzlich. Sein Doppelkinn geriet dabei in Bewegung.
»Das freut mich«, meinte er. »Endlich einmal eine Behörde, die einem ein Lob ausspricht. Dabei bin ich der pünktlichste Steuerzahler von Manhattan. Ich zahle nämlich immer eine Woche vor Fälligkeit. Angewohnheit. Was erledigt ist, kann nicht vergessen werden. Aber das mit den Mädchen … Ich weiß nicht. Wir haben fast zweihundert Millionen Einwohner. Verschwinden da nicht dauernd Leute?«
»Natürlich«, gab ich zu. »Aber wenn neunzehn hübsche und blutjunge Mädchen verschwinden, weil sie auf ein Inserat geschrieben haben, in dem nette Girls für eine Karriere bei Bühne, Film und Fernsehen gesucht werden, dann sieht das verdammt nicht mehr nach einem Zufall aus.«
Lenoir streckte den wurstförmigen Zeigefinger aus. »Die haben alle auf ein Inserat geantwortet?«
»Alle«, sagte ich. »FBI-Agents in vierzehn Bundesstaaten haben das in mühevoller Ermittlungsarbeit herausgefunden. Freundinnen oder Freunde, ein Großvater oder der Postverwalter in einem Dorf – irgendjemand wusste davon, dass das verschwundene Mädchen auf ein solches Inserat schreiben wollte oder geschrieben hat.«
»Dann könnten noch viel mehr junge Frauen verschwunden sein, von denen man nur nicht weiß, dass sie geschrieben haben«, stellte Lenoir scharfsinnig fest.
Ich nickte. »Sie haben es erfasst. Unser Computer in der Zentralkartei in Washington hat nur die Mädchen aussortiert, von denen wir wissen, dass sie auf dieses mysteriöse Inserat geantwortet haben oder antworten wollten.«
»Das stinkt wirklich zum Himmel.«
»Sie sagen es.«
»Und bisher hat man von keinem dieser Mädchen eine Spur gefunden?«
»Ein paar Anfangsspuren existieren hier und da«, erwiderte ich. »Die jungen Frauen haben mit mehr oder minder großem Gepäck ihren Heimatort verlassen. Aber alle Spuren verlaufen im Sande. Spätestens an der nächsten Busstation mit Umsteigemöglichkeiten verliert sich alles.«
Lenoir hatte die Stirn gerunzelt. »Und was ist mit dem Inserat?«
Ich winkte ab. »Das haben wir geprüft, soweit wir es konnten. Es gibt, wie ich gehört habe, an die vierzigtausend Agenturen im ganzen Land, die alle ab und zu Inserate aufgeben. Da finden Sie mal das eine, auf das diese Frauen geschrieben haben! In ein paar Fällen, wo wir glaubten, die richtige oder wenigstens eine verheißungsvolle Spur zu haben, war der Faden abgeschnitten. Das Inserat war von irgendeinem unbekannten Mann in der Geschäftsstelle aufgegeben und bar bezahlt worden.«
»Womit für die entsprechende Zeitung oder Zeitschrift der Fall erledigt war.«
»Richtig«, sagte ich. »Niemand muss seine Adresse angeben, wenn er ein Inserat in eine Zeitung setzen lässt.«
Lenoir nickte ein paarmal. Dann wandte er mir wieder sein gutmütiges, rotes Gesicht zu. »Schön. Aber warum kommen Sie damit zu mir? Ich habe nachgedacht, und ich sehe keine Möglichkeit, wie ich dem FBI in dieser Geschichte helfen kann. Meine Agentur besteht seit fast vierzig Jahren. Unlautere Machenschaften hat es bei mir nie gegeben. Nie. Das dürfen Sie mir glauben.«
Ich setzte mich wieder ihm gegenüber an den Schreibtisch. Nachdenklich betrachtete ich sein rundes, volles Gesicht, dem man die sechzig Jahre Alter nicht ansehen konnte. Vier Tage lang hatten wir jede Information ausgebuddelt, die über Lawrence D. Lenoir nur zu haben war.
Wir wussten, dass seine Eltern aus Frankreich gekommen waren, als er noch nicht geboren war. Wir wussten, welche Schulen er besucht hatte und mit welchem Erfolg. Wir kannten seinen beruflichen Werdegang und die Steuern, die er in den letzten Jahren bezahlt hatte. Wir kannten die Vertragsformulare, die von seiner Agentur verwendet wurden, das Lokal, wo er wochentags zu essen pflegte, und den Schneider, der ihm die Anzüge machte.
Wir hatten sogar herausgefunden, was anscheinend kaum jemand in New York wusste, nämlich, dass er einen unehelichen Sohn in Kalifornien hatte, dem er regelmäßig Geld schickte und zum Geburtstag einen Extra-Scheck. Für die Polizei gab es nichts im Leben dieses Mannes, das einen hätte stutzig machen können.
Ich beugte mich vor. »Trotzdem hängen Sie mit drin, Lenoir«, sagte ich ernst.
Er fuhr zurück. Aus den rehbraunen Augen starrte er mich ein paar Herzschläge lang verdattert an.
»Wenn das ein Witz sein soll, verstehe ich ihn nicht«, brummte er dann. »Wenn es keiner ist, verstehe ich es noch weniger.«
Ich versuchte, es ihm zu erklären. »Im Zusammenhang mit diesen Mädchen fiel an einer bestimmten Stelle Ihr Name, Lenoir. Halt, warten Sie! Bevor Sie sich aufregen, lassen Sie mich aussprechen! Wir behaupten nicht, dass Sie Ihre Finger beim Verschwinden der jungen Frauen im Spiel hätten. Wir glauben nicht einmal, dass Sie irgendetwas von diesen Mädchen wissen. Aber es bleibt die Tatsache, dass Ihr Name genannt wurde.«
»Von wem?«, wollte er wissen.
»Das darf ich nicht sagen. Es spielt auch keine Rolle.«
Die Tür zum Vorzimmer ging auf, und die rothaarige Sekretärin, die mich angemeldet hatte, steckte den Kopf durch den Türspalt. »Wenn es Ihnen recht ist, Mister Lenoir, würden wir jetzt unsere Mittagspause machen.«
»Hm«, brummte er und nickte geistesabwesend. Die Sekretärin verschwand und zog lautlos die Tür hinter sich zu.
»Jetzt passen Sie mal auf!«, fuhr ich fort. »Wir tappen genauso im Dunkeln wie Sie. Die Frage ist, ob jemand Ihren Namen missbrauchen könnte. Vielleicht sogar jemand aus Ihrem Umfeld. Oder ob hinter Ihrem Rücken fragwürdige Dinge abgewickelt werden. Etwas in der Preislage.«
Er schob seine fleischige Unterlippe vor und dachte angestrengt nach. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein. Das glaube ich nicht. Meine Leute im Büro sind seit Jahren bei mir, und ich halte sie für verlässlich und sauber. Natürlich kann ich nicht hinter ihre Stirnen blicken, aber ich habe Menschenkenntnis. Die braucht man in meiner Branche, glauben Sie mir! Aber es gibt da etwas anderes …«
Er stemmte sich ächzend aus seinem schweren Lehnstuhl hoch und lief mit einem entenhaften Gang zu dem großen Fenster, das auf den Broadway zeigte. Ich sah ihm gespannt nach.
»Ich habe keine Ahnung, wie es mit Ihrer Geschichte zusammenhängen könnte«, meinte er. »Und es ist ja auch gar nicht gesagt, ob es einen solchen Zusammenhang überhaupt gibt. Ich erzähle es Ihnen nur, weil es das Einzige ist, was mir je in meinem Leben unerklärlich vorkommt. Ich begreife es nicht. Es fällt ganz und gar aus dem Rahmen.«
»Dann schießen Sie mal los!«, bat ich.
Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und watschelte im Zimmer auf und ab, mit der etwas zurückgeneigten Haltung aller übermäßig Dicken.
»Das war vor ungefähr vier Monaten. Komisch, nicht? Bei Ihnen fängt es ja auch vor ungefähr vier Monaten an … Also da rief jemand bei mir an. Abends gegen zehn. Ich kannte den Mann nicht, jedenfalls die Stimme nicht.«
»Nannte er seinen vollständigen Namen?«, wollte ich wissen.
»Nein. Er sagte nur ›Hier ist Mac‹. ›Mac was?‹, habe ich gefragt, aber darauf ging er nicht ein. ›Ich habe da sechs Mädchen‹, fuhr er fort. ›Die wären was für Sie. Zwei bringen die ideale Figur für ein Mannequin mit, eine hat die richtige Stimme für eine Rundfunksprecherin, und die drei anderen geben gute Fotomodelle ab. Natürlich müssen sie alle noch etwas abgeschliffen werden, aber aus den Girls ist was zu machen. Ich schicke sie Ihnen morgen Früh vorbei. Sie werden sagen, dass sie von Mac kommen. Vermittlungsgebühr will ich nicht haben, also tun Sie was für die Mädchen, wenn Sie können!‹ Und bevor ich Mampf sagen konnte, hatte er schon eingehängt.«
»Und?«, fragte ich.
Lenoir watschelte zu seinem Schreibtisch zurück und fing an, in seinem Terminkalender zu blättern, wobei er Zahlen auf einen Zettel kritzelte und sie schließlich zusammenrechnete.
»Dieser Mac ist ein Phänomen«, sagte er. »Bis heute hat er mir sechsundneunzig junge Frauen geschickt. Jedes Mal auf dieselbe Tour wie beim ersten Mal. Einfach so am Telefon angekündigt. Und das Verrückte daran ist: Rund fünfzig Prozent seiner Mädchen sind tatsächlich zu gebrauchen.«
»Rund die Hälfte?«, wiederholte ich.
»Sie machen sich falsche Vorstellungen! Die Quote liegt bei uns ungefähr bei zehn Prozent. Sie haben ja keine Ahnung, was uns alles die Türen einrennt, um Schauspielerin oder Fotomodell zu werden. Manchmal kann man nur den Kopf schütteln. Wie gesagt, neunzig Prozent müssen wir wieder nach Hause schicken. Aber nicht bei Mac. Bei dem ist jede zweite brauchbar. Der Kerl muss etwas von unserer Branche verstehen. Wenn er eine Vermittlungsgebühr genommen hätte, wäre er schon um eine nette Summe reicher geworden.«
»Und er hat nie einen anderen Namen genannt?«
»Nie. Immer nur Mac. Das macht mich schon kribbelig. Mac. Mac was, zum Teufel! Ich wollte mich mit ihm treffen. Er hat nur gelacht. Ich bot ihm einen guten Vertrag als Talentsucher. Abermals Gelächter. Immer nur Mädchen schicken, nichts dafür haben wollen und nie mehr als Mac sagen! In vierzig Jahren ist mir so etwas Verrücktes noch nie untergekommen.«
Mac, dachte ich. Eine Spur? Ein Anhaltspunkt, der Klarheit darüber bringen kann, wie neunzehn Mädchen spurlos verschwinden konnten?
»War es immer dieselbe Stimme, die sich als Mac meldete?«, fragte ich.
»Immer.«
»Und wo kamen die Mädchen her?«
»Aus allen Teilen des Landes. Kreuz und quer aus den Staaten.«
»Können Sie mir eine Liste machen lassen?«, bat ich. »Eine Liste mit den Namen und den derzeitigen Adressen aller Frauen, die Ihnen von Mac geschickt worden sind.«
»Das wird ein oder zwei Tage dauern. Aber Sie sollen Ihre Liste haben. Was, glauben Sie, könnte denn mit den verschwundenen Mädchen passiert sein?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Da ist alles möglich. Buchstäblich alles. Aber …«
Es klopfte. Wir sahen beide zur Tür, und Lenoir rief etwas. Die Vorzimmertür ging auf. Eine stupsnasige, hübsche junge Frau mit graugrünen Augen reckte den Kopf durch den Türspalt. Sie sah uns einen Augenblick groß an, dann stieß sie die Tür ganz auf, schob zwei große Koffer vor sich her und kam herein.
Sie war gewiss nicht älter als neunzehn. Unter dem hellgrünen, nicht zu kurz gehaltenen Kleid zeichnete sich eine schlanke, wohlproportionierte Figur ab. Ein paar Sommersprossen standen in dem sympathischen, frischen Gesicht.
»Gott sei Dank«, seufzte sie. »Ich dachte, Sie wären vielleicht schon zum Lunch weggegangen. Ich bin Lilly Ferguson.«
»Aha«, meinte Lenoir. »Und was kann ich für Sie tun?«
Sie runzelte die Jungmädchenstirn. »Hat er denn noch nicht angerufen? Er wollte doch meinetwegen anrufen.«
»Bei mir hat niemand angerufen, Miss. Wo kommen Sie denn her?«
Sie sah uns groß an. Mit der unschuldigsten Miene der Welt sagte sie: »Wo soll ich herkommen? Von Mac natürlich!«
2
Das Ziel war erreicht, der Wagen stand. Phil und die junge Frau starrten erschöpft auf die Ansammlung kleiner, niedriger Bungalows, die neben der alten Wüstenstraße lagen. Die Fenster waren blind, offenbar seit Monaten oder gar Jahren nicht mehr geputzt.
Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Es herrschte die typische Stille der Wüste: heiß und lähmend und doch auf eine geheimnisvolle Weise von Leben erfüllt. Als das Mädchen die Wagentür aufstieß und die Füße mit den dünnen Sandalen hinausschwenken wollte, stieß es einen dünnen Schrei aus und fuhr zurück.
»Was ist los?«, fragte Phil.
»Ein Tier! Eine Tarantel oder so was. Direkt neben dem Wagen.«
»Bleiben Sie sitzen!«
Phil stieg aus und ging um den Wagen herum. Als seine Hand das Heck streifte, zog er erschrocken die Finger zurück. Das lackierte Blech war heiß wie eine Kochplatte.
Er blieb stehen.
Vor der offen stehenden Beifahrertür hockte das riesige Insekt reglos im Sand: schwarz, behaart und handtellergroß. Phil wusste, wie gefährlich ihr Gift war. Er hätte sie zertreten können, aber er war so müde, dass er sich keinen Fehltritt erlauben konnte. Sicher war das Biest schneller als er, wenn er es nicht sofort richtig traf. Also griff er in die Achselhöhle. Was tat es schon, wenn es in dieser tödlichen Stille einmal krachte? Er zog den Revolver, zielte kurz und drückte ab.
Der Revolver klang anders, als Phil es gewohnt war. Leiser, bellender, ohne den scharfen Knall, der sekundenlang in den Ohren widerhallt. Vielleicht lag es daran, dass sich der Schall hier, anders als in den Häuserschluchten New Yorks, nach allen Seiten hin gleichsam verflüchtigen konnte.
Eine kleine Staubfontäne stob auf. Unter dem Wagen raschelte etwas. Neben Phil schnellte sich etwas Gelbes, Längliches blitzschnell vorbei und verschwand irgendwo in der sandfarbenen Öde zwischen den Bungalows. Eine Schlange oder sonst was. Der Teufel mochte es wissen.
Phil behielt den Revolver in der Hand und bückte sich. Als er sich aufrichtete, schob er den Revolver zurück ins Schulterholster.
»Sie können aussteigen«, sagte er und fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Im Augenblick kann ich in unserer Nähe nichts entdecken.«
Die junge Frau trat angewidert über die tote Tarantel hinweg. »Ich wusste nicht, dass Sie einen Revolver tragen.«
Phil zuckte mit den Schultern und drückte mit spitzen Fingern den Kofferraumdeckel hoch.
»Pure Gewohnheit«, sagte er. »Ein G-man ohne 38er? Man käme sich ja nackt vor.«
Er lud das Gepäck aus dem Kofferraum und nahm die drei Koffer von der hinteren Sitzbank. Als Phil fertig war, lief ihm der Schweiß aus allen Poren. Der Agent schirmte die Augen mit der Hand ab und schaute sich um.
»Da hinten steht ein Jeep«, sagte das Mädchen. »Da, neben dem zweiten Haus, sehen Sie?«
Phil folgte ihrer Blickrichtung. »Tatsächlich«, brummte er. »Na schön. Er musste ja da sein. Kommen Sie!«
Sie tappten durch den Sand. Phil sah aufmerksam nach rechts und links. Sie waren für diesen verfluchten Ausflug vorbereitet, aber Schlangenserum hatten sie nicht in ihrem Gepäck. Das muss ein Kerl sein, dachte Phil. Hört den Krach von meinem Revolver und kümmert sich einen Dreck darum. Lieber Gott, was haben sie mir da aufgeladen!
Der vorletzte Bungalow war größer als alle anderen. Aber die Fenster waren ebenfalls blind, und ein paar Stufen, die zu ihm hinaufführten, waren schon halb vom Wüstensand zugeweht.
Die äußerste Tür war nichts als ein Holzrahmen, der mit Moskitodraht bespannt war. Phil zog den Rahmen auf. Die Angeln quietschten abscheulich. Dahinter gab es eine weiß lackierte Tür. Sie stand offen und führte in einen Raum, in dem dämmeriges Zwielicht herrschte. Holzbretter knarrten unter ihren Schritten. Vor dem einzigen Fenster hing ein orangefarbener Vorhang. Als Phil mit dem linken Arm gegen irgendetwas stieß, fuhr er herum.
Auf dem wippenden Zweig einer kleinen Stechpalme glotzte ihm der weit aufgesperrte Rachen einer Klapperschlange entgegen. Phils Hand hatte den Revolver schneller herausgerissen als je zuvor in seinem Leben. Schon krümmte sich der Finger am Abzug, als er merkte, dass es eine ausgestopfte Schlange war.
»Sehr witzig«, knurrte er wütend.
»Man gewöhnt sich daran«, kicherte eine Fistelstimme rechts von ihnen.
Allmählich hatten sich ihre Augen nach der gleißenden Helle draußen an das dämmerige Zwielicht hier drinnen gewöhnt. Zu ihrer Rechten gab es eine Art Empfangstisch, hoch wie eine Bartheke, und dahinter richtete sich ein Männchen mit dem hageren Kopf eines Totenschädels auf. Die Augen lagen so tief in den Höhlen, dass man sie kaum sehen konnte. Selbst die spindeldürren Finger erinnerten mehr an ein Skelett als an ein Lebewesen.
»Wir sind da«, sagte Phil und schob den Revolver in das schweißfeuchte Schulterholster.
»Ich sehe es«, rief das Männchen mit seiner Fistelstimme. Er trug ein kariertes Baumwollhemd und erreichte mit dem Kinn gerade die Tischkante.
»Haben Sie alles besorgt?«, fragte Phil.
»Haben Sie das Geld mitgebracht?«, entgegnete das Männchen.
»Erst zeigen Sie mir, ob alles da ist!«
»Erst das Geld!«, keifte das Männchen.
Phil zögerte. Dann drehte er sich um, ging hinaus und stapfte um die Hausecke auf den grüngrauen Jeep zu. Er beugte sich hinein und zog den Zündschlüssel ab. Er vergaß nicht, dem Männchen den Schlüssel zu zeigen, bevor er 120 Dollar auf den Tisch zählte.
»Die Miete für zehn Tage«, sagte er. Dann legte er noch zwei Hunderter daneben. »Die Prämie dafür, dass sich niemand – niemand, wohlgemerkt! auch Sie nicht – in den nächsten zehn Tagen hier sehen lässt.«
»Wie vereinbart«, bestätigte das Männchen. Er knöpfte sich sein Hemd auf und zog einen Lederbeutel heraus, den er an einer Kordel um den Hals trug. Mit den dürren Fingern stopfte er das Geld hinein. Dann griff er zu einem großen Schlüssel. »Kommen Sie, Sir!«
Der Weg führte von den Bungalows zurück bis fast zu der Stelle, wo der Dodge im gleißenden Sonnenlicht stand. Das Männchen lief die vier Stufen zu einem der niedrigen Häuschen hinauf.
»Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad und Kochnische«, sagte der kleine Mann.
»Okay. Schließen Sie auf!«
Dumpfe, heiße Luft lag dick wie Sirup in den Räumen. Die Einrichtung war nicht luxuriös, aber es reichte für ihren Zweck. Alle Vorhänge waren zugezogen. Phil drehte den Wasserhahn im Badezimmer, weil ihm etwas eingefallen war. Kühles, klares Wasser strömte in das verstaubte Becken.
»Wo kommt das Wasser her?«, fragte er.
»Aus unserem Brunnen. Eine elektrische Pumpe füllt einen Vorratsbehälter und schaltet sich selbst ein, sobald zwei Drittel aus dem Tank heraus sind.«
»Und das Licht?«, wollte Phil wissen.
»Haben Sie die Leitungsmasten neben der Straße nicht gesehen?«
»Ah, ja. Wird uns der Strom garantiert nicht abgedreht?«, hakte Phil nach.
»Frühestens in einem Monat, wenn wir die Rechnung nicht bezahlen«, kicherte das Männchen.
»Okay. Warten Sie zehn Minuten in Ihrem Zoo bei den ausgestopften Viechern! Dann kommen Sie ans Wohnzimmerfenster! Ich gebe Ihnen ein Päckchen. Sie müssen es für mich zur Post bringen.«
»Vorn an der neuen Straße ist ein großer Briefkasten, der jeden Abend geleert wird, für die durchfahrenden Touristen.«
»Gut. Wo sind die Vorräte?«
Das Männchen riss die Türen der Wandschränke in der Kochnische und im Wohnzimmer auf. Auch der große Kühlschrank war bis obenhin vollgestopft. Phil zog eine Liste aus der Brieftasche. Er wandte sich an das Mädchen. »Wollen Sie mir helfen?«
»Gern. Was kann ich tun?«