Jerry Cotton Sonder-Edition 66 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sonder-Edition 66 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Sie kidnappten Männer, Frauen und Kinder. Es kam ihnen nicht darauf an, ob sie einen berühmten Wissenschaftler, einen betrunkenen Penner oder ein hilfloses Baby erwischten. Die Entführten verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Auf ihre Spur brachte uns erst ein Brief, ein Nachruf aus der Hölle ...

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EPUB

Seitenzahl: 201

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Cover

Impressum

Nachruf aus der Hölle

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelfoto: PeopleImages/iStockphoto

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-5554-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Nachruf aus der Hölle

1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.

Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:

»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«

Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.

Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.

1

Die Stimme aus dem Telefonhörer klang heiser und kurzatmig. Man konnte die schnaufenden Atemzüge hören, mit denen der Mann seine Meldung unterbrach.

»Sergeant Ray Allen, Agent«, stieß er hervor. »Prospect-Park-Revier in Brooklyn. Wir haben gerade ein Kidnapping beobachtet.«

Ich fuhr aus meiner bequemen Haltung hoch und tat drei Dinge gleichzeitig: Ich presste den Hörer mit der Schulter gegen das Ohr, kritzelte Kidnapping auf einen Zettel und fragte dabei: »Wann und wo, Sergeant? Die Einzelheiten, bitte, im Telegrammstil.«

Ich schob den Zettel über den Schreibtisch hinweg meinem Freund und Partner Phil Decker zu. Er warf nur einen Blick auf den Zettel, dann sprang er auf und riss unsere Mäntel und Hüte von den Haken der Bürotür.

Inzwischen vollendete der Sergeant seine Meldung. »Ein Mädchen, Agent, ungefähr siebzehn, blond, lange Mähne, weißer Pullover, kurzer schwarzer Rock. Mindestens drei Täter, männliche Personen, in einem cremegelben Chevrolet. Sie haben sich im Neubaugelände unter dem Expressway verschanzt. Einen Steinwurf südlich des Prospect Park, Ecke Caton Avenue/Ocean Parkway. Sie sind bewaffnet und haben uns beschossen. Aber sie können nicht mehr raus.«

»Das Mädchen ist noch bei ihnen?«, fragte ich.

»Ja, Agent. Leider.«

»Nichts unternehmen, Sergeant! Wir kommen sofort. Abriegeln und stillhalten, verstanden?«

»Okay, Agent.«

Ich unterbrach die Verbindung und drehte den Hausanschluss vom Einsatzleiter. »Cotton«, sagte ich. »Kidnapping in Brooklyn. Ich brauche ein paar G-men aus den Bereitschaften.«

Das Wort »Kidnapping« bringt die ganze Maschinerie des FBI auf Hochtouren, wenn es sein muss, in Sekundenschnelle.

»Vierundzwanzig Mann in sechs Wagen«, erwiderte der Einsatzleiter, ohne eine Sekunde zu zögern. »Besondere Ausrüstung?«

»Tränengas, Gasmasken, Maschinenpistolen, jeder vierte ein Gewehr mit Zielfernrohr«, gab ich zurück. »Ein Wagen mit Lautsprecheranlage. Die Täter sind bereits von einer Streife der City Police festgenagelt, haben sich aber verschanzt und das Opfer bei sich. Eventuell müssen wir uns auf eine Belagerung einrichten. Falls wir sie des Mädchens wegen ziehen lassen müssen, muss die Überwachungsabteilung vorbereitet sein, damit wir ihre Spur nicht verlieren.«

»Ich werde die Jungs auf Trab bringen. Die Adresse?«

Ich wiederholte die Ortsangaben der Sergeants und fügte hinzu: »Phil und ich fahren voraus. Die Kollegen sollen nachkommen. Alarmieren Sie die zuständige Feuerwehrabteilung, falls wir ihre Leitern brauchen. Ein Rettungswagen mit Arzt soll in die Nähe beordert werden.«

»Wird sofort veranlasst, Cotton.«

»Also dann«, sagte ich und warf den Hörer auf die Gabel.

Den Hut stülpte mir Phil auf, während wir durch den Flur liefen. Weit entfernt hörten wir das Schrillen des Alarms in den Bereitschaftsräumen. Im Lift zog ich meinen Mantel über.

»Und das am Montagmorgen«, knurrte Phil. »Ich dachte, es gäbe mal eine ruhige Woche.«

Wir liefen durch die Halle auf den hinteren Ausgang zu. Im Hof stand mein roter Jaguar, frisch gewaschen, aufgetankt und gründlich inspiziert wie nach jedem Wochenende. Wir kletterten in die niedrige, lang gezogene Kiste, während aus der Halle der Fahrbereitschaft schon der Lautsprecherwagen herausgefahren wurde. Phil schaltete das Warnlicht und die Sirene ein, als ich auf die Ausfahrt zukurvte.

Durch die 69th Street krochen vier Autoschlagen nebeneinander. Es war ein trüber, regnerischer Vormittag. Unser Warnlicht streute zuckende Geisterfinger über die nassen Autodächer hin. Ein Taxifahrer hielt sich für wichtiger als unseren Einsatz und musste unbedingt noch vor uns an der Ausfahrt vorbei. Ich riss das Steuer herum, ließ den Jaguar zwei Wagenlängen über den menschenleeren Gehsteig schießen und rumpelte knapp vor dem Taxi auf die Fahrbahn. Der Driver hupte vor Wut. Er war der Einzige, der sich nicht um unser Warnlicht und die gellende Sirene kümmerte.

Als ich auf die Kreuzung der First Avenue hinausschoss, winkte uns ein Cop der City Police gegen die Ampeln die Fahrbahn frei. Ein knappes Handzeichen von mir dankte dem aufmerksamen Kollegen. Im Rückspiegel sah ich, wie er sich das Taxi vornahm. Unwillkürlich musste ich grinsen.

Indessen hatte Phil das Mikrofon des Funksprechgeräts an sich gezogen. »Wagen Cotton«, sagte er. »Alarmeinsatz wegen Kidnapping. Erbitten Verbindung mit Sergeant Ray Allen, Streifenführer vom Prospect-Park-Revier in Brooklyn. Ich wiederhole: Kidnapping! Erbitten Vorrang für all unsere Gespräche.«

Aus dem Lautsprecher drang die Stimme des Kollegen aus der FBI-Funkleitstelle. »Kidnapping, verstanden. Verbindung wird gesucht. Gehen Sie auf Q für Vorrang.«

Phil drückte eine Taste am Funksprechgerät. In diesen Augenblicken mussten ein Dutzend oder mehr Telefon- und Funkgespräche durch den Äther, alle beschäftigt mit einem einzigen Problem, alle konzentriert zur knappsten Form, alle bezogen auf eine Ecke in Brooklyn, wo sich drei oder mehr Männer mit einem sechzehn- oder siebzehnjährigen Mädchen verschanzt hatten. Vielleicht wussten die Eltern der Kleinen noch nichts. Und vielleicht würden sie ihre Tochter nur noch als Leichnam wiedersehen. Es hing von tausend Umständen ab, und wir konnten nicht alle beeinflussen.

Im Grunde konnten wir nur eines: mit allen Kräften versuchen, nicht zu spät zu kommen. Ich trat das Gaspedal tiefer, sobald ich nur hundert Yards freie Fahrbahn vor mir hatte, und ich musste bremsen, wo der Stau keinem eine Chance gab, uns die Straße freizumachen. Der Uhrzeiger am Armaturenbrett ruckte unbeirrt vorwärts.

Es gibt ein halbes Dutzend Möglichkeiten, von Manhattan hinüber nach Brooklyn zu kommen. Brooklyn liegt im Südosten. Aber der kürzeste Weg ist nicht immer der schnellste. Statt nach Süden war ich nach Norden eingebogen. In der 72nd Street ging es nach Westen. Das Metropolitan Museum tauchte im Regenschleier halbrechts vor uns auf.

Ich raste in den Central Park hinein. Die Scheibenwischer klackten. Bäume, Büsche und Gras duckten sich unter der Last des trommelnden Regens. Die Fahrbahn glänzte schwarz und schimmernd vor Nässe.

Ich drosselte die Geschwindigkeit ein wenig, bevor ich auf die Kreuzung jenseits des Parks hinausschoss. Weit vor uns ragten die Pfeiler in den trübgrauen Himmel, die die Hudson-Uferstraße tragen.

Der West Side Express Highway, wie sie die Uferstraße hier nennen, ist als Stadtautobahn ausgebaut. Hier kann man jede Minute doppelt herausfahren, die man durch den Umweg verlor. Ich drückte stärker aufs Gaspedal. Die Tachonadel fing zu zittern an. Mit zufriedenem Schnurren fraß der Jaguar die Meilen.

»Sergeant Allen«, krächzte eine heisere Männerstimme aus dem Lautsprecher.

»Agent Decker. Wir sind unterwegs, Sergeant. Wie ist die Lage bei Ihnen?«

»Wir haben Verstärkung von vier Streifenwagen. An ein Rauskommen ist für die Kidnapper nicht mehr zu denken. Aber wir kommen auch nicht hinein. Die Kerle halten das Gelände ringsum den Neubau unter Beschuss.«

»Beschreiben Sie uns die Örtlichkeit, Sergeant.«

»Außen herum ein Bauzaun, etwa mannshoch. Es wird nicht gearbeitet, vielleicht wegen des Regens. Vom Zaun zur Baustelle sind ungefähr achtzehn Yards freier Raum. Ringsum. Das Gebäude hat vier Stockwerke, aber noch keine Wände. Nur Betonpfeiler und eingezogene Decken. Wir …«

Aus dem Lautsprecher drang der entfernte Lärm eines Schusses, das laute Pling von getroffenem Blech und ein bösartiges Sirren.

»Verdammt noch mal!«, fluchte der Sergeant. »Die Hunde haben mir ein Loch in die Tür geschossen. Dabei ist der Wagen noch keine drei Wochen alt.«

»Denken Sie lieber an sich selbst, Sergeant«, rief Phil. »Sind Sie ausreichend in Deckung? Sonst brechen wir das Gespräch ab.«

»Ich bin auf der anderen Seite ausgestiegen. Jetzt hocke ich zwar im Regen, aber ich habe den ganzen Wagen als Deckung.«

»Haben Sie schon versucht, die Täter anzusprechen?«, wollte mein Partner wissen.

»Nein, Agent. Sie haben doch gesagt …«

»Okay«, unterbrach Phil. »Halten Sie weiterhin Ihre Leute zurück. Wenn sich etwas Besonderes tut, rufen Sie Wagen Cotton auf Q.«

»Ja, Agent. Wie lange dauert’s noch?«

»In ein paar Minuten haben wir die Einfahrt zum Brooklyn Tunnel.«

»Hoffentlich kriegen Sie die Burschen bis heute Nachmittag zur Vernunft, dass sie das Mädchen laufen lassen, Agent. Meine Familie wartet nach Feierabend auf mich. Kindtaufe von meinem ersten Enkelsohn. Neun Pfund! Wenn das kein Cop wird, dann weiß ich auch nicht.«

Phil lachte leise. Für einen Augenblick waren Dienstnummern und Funktionen in den Hintergrund gerückt. Cops, die eine Uniform trugen, gewannen aus der Anonymität ihres Berufs die menschlichen Züge von Vätern und Großvätern. Cops mit Revolver und Dienstabzeichen, aber Menschen wie du und ich.

»Wir werden versuchen, was wir für Ihre Kindtaufe tun können, Sergeant. Wenn es nicht klappt, verschwinden Sie auf jeden Fall, sobald Ihre Schicht Feierabend hat. Wir bringen genug Leute mit.«

»Nein, Agent. Daran ist nicht zu denken. Was meine Streife angefangen hat, führt sie auch zu Ende.«

»Das müssen Sie entscheiden, Sergeant. Haben Sie die Identität des Mädchens feststellen können?«

»Nein, Agent«, antwortete der Sergeant. »An der Stelle, wo es in den Kidnapperwagen gezerrt wurde, kannte es keiner der Leute, die es zufällig beobachtet haben.«

»Mit was für Waffen schießen die Täter? Können Sie es sehen oder nach dem Klang der Schüsse vermuten?«

»Jedenfalls keine Gewehre, Agent.«

»Gibt es eine Möglichkeit, auf dem Dach des Gebäudes mit einem Hubschrauber zu landen?«, fragte Phil weiter.

»Ich weiß nicht, Agent. Sieht so aus, als sei oben noch keine Decke eingezogen. Und zwischen den aufragenden Betonpfeilern wird der Platz zu eng sein, fürchte ich.«

Phil warf einen kurzen Blick durch das regenbesprühte Seitenfenster. »Okay, Sergeant«, sagte er. »Wir fahren gleich in den Brooklyn Battery Tunnel ein. Ich glaube nicht, dass die Verbindung im Tunnel eine Fortsetzung unseres Gesprächs erlaubt. Aber jetzt sind es ja ohnedies nur noch ein paar Minuten bis zu Ihnen. Also, bis gleich.«

»So long, Agent. Ende.«

Phil drückte das Mikrofon in die Halterung am Armaturenbrett. Von den Tunnelwänden hallte unsere Sirene doppelt laut wider. Hier war die Fahrbahn ein trockenes, mattgraues Band im Gegensatz zu der schwarz glänzenden Nässe draußen. Wir schossen an den Wagen vorbei, die vor unserem Warnlicht und der gellenden Sirene die Schnellspuren geräumt hatten.

»Das Ganze sieht nicht nach der Arbeit von Profigangstern aus«, brummte Phil.

»Nein«, gab ich zu. »Es sieht verdammt nach blutigen, verfluchten Amateuren aus. Mit Gangstern kann man reden. Bei Amateuren weiß der Teufel, wie sie reagieren werden.«

Der Tunnel schien kein Ende zu nehmen. Mit dreitausendneunundfünfzig Yards ist er der längste Unterwassertunnel der Welt. Uns wäre der kürzeste lieber gewesen. Über unseren Köpfen huschten die Lampen dahin, die ihn beleuchten, Tag und Nacht, Sommer und Winter, anscheinend für die Ewigkeit.

Endlich zeigte sich fern der Ausgang, ein graues Loch, das größer wurde und uns entgegenzurasen schien. Ich tupfte kurz auf die Bremse, bevor wir wieder auf die nasse Fahrbahn gerieten. Der Regen trommelte aufs Dach, in monotonem Rhythmus nahmen die Scheibenwischer wieder ihre Arbeit auf.

Eine halbe Meile vor unserem Ziel begann ich, das Bremspedal anzutippen, wieder freizugeben und erneut anzutippen. Die Tachonadel fiel zurück.

Phil blickte angestrengt durchs Seitenfenster. Dann rief er, indem er nach rechts zeigte: »Da unten!«

Unter der Hochstraße erstreckte sich nach rechts ein Baugelände. Stahlgeflecht lag gestapelt. Zwei Baubuden klebten wie viereckige Schildkröten auf dem aufgeweichten Grund. Drei gebrechlich wirkende, dürre Krangerüste ragten hoch über den Neubau hinaus. Das vorläufig oberste Geschoss sah von Weitem aus wie ein Nagelbrett, so gespickt war es mit Betonpfeilern. Nichts zu machen für einen Hubschrauber.

»Der Streifenwagen«, sagte Phil und deutete auf das rotierende Warnlicht einer schwarzen Limousine, die hinter dem Bauzaun in unser Blickfeld geriet. Und da tauchten auch schon vier weitere Streifenwagen auf. Jetzt konnten wir die ersten Cops sehen, die hinter Sandhaufen, den Baubuden, den Baustahlmatten, den Krangerüsten und anderen Gelegenheiten Deckung gesucht hatten.

»Cotton an Leitstelle«, sagte ich ins Mikrofon. »Kidnapping-Einsatz in Brooklyn …« Ich las den Namen der Abfahrt vor, die unsere nachfolgenden Kollegen benutzen sollten. Phil hatte für mich den Revolver aus dem Schulterholster geangelt und besah sich die Mechanik. Anschließend prüfte er seine eigene Waffe.

Wir hatten es schon Hunderte und Aberhunderte Mal getan. Jedes Mal mit einem eigenartigen Gefühl. Aus diesem kleinen, brünierten Stück Stahl würde in den nächsten Minuten Tod und Verderben schießen. Ausgelöst von einem Druck des gekrümmten Zeigefingers.

Ich trat auf die Bremse und ließ den Jaguar neben dem Bauzaun ausrollen. Phil sah mich ernst an. Wie auch immer sich die Geschichte entwickeln mochte, uns blieb die Verantwortung. Für Menschenleben, mit denen wir nie zuvor in Berührung gekommen waren.

»Also los, alter Junge«, brummte ich. »Es wird schon schiefgehen.«

Wir stiegen aus. Der Regen peitschte uns ins Gesicht. Aus der unteren Bucht jagten Sturmböen herauf und heulten durch die endlosen Straßenschluchten des größten Ballungszentrums dieser Erde. Rings um uns arbeiteten, lachten, liebten, aßen, tranken und schliefen in diesen Augenblicken Millionen Menschen. Und dennoch war es, als befänden wir uns auf einer einsamen Insel, allein mit einer Handvoll Cops, einem jungen Mädchen und einigen Männern, die den Wind gesät hatten und nun wohl den Sturm ernten würden.

An einer Stelle hatten sie ein Tor aus dem Bauzaun ausgehängt. Ich peilte vorsichtig die Lage. Bis zu der einen Limousine, die sich am weitesten vorgewagt hatte, waren es ungefähr zwölf Schritte. Zwölf Schritte durch aufgeweichten Lehmboden, Pfützen und Unebenheiten, während man für die Burschen da oben in dem Betonkasten wie auf einem Präsentierteller war.

»Du gibst mir Feuerschutz«, sagte ich zu Phil. »Gönn mit eine Minute zum Verschnaufen, wenn ich bei dem Streifenwagen angekommen bin. Dann kommst du, während ich Feuerschutz gebe.«

Phil nahm den Revolver und nickte. Ich zog den Hut tiefer in die Stirn und spurtete los. Die Halbschuhe sanken im Morast ein und wurden wie von hundert Saugnäpfen festgehalten. An Laufen war gar nicht zu denken. Ich hatte drei Schritte getan, als es das erste Mal oben krachte. Die Kugel platschte einen Yard zu kurz in eine Pfütze. Ich hörte, wie Phil schoss, während ich vorwärts stapfte.

»Hier, Agent«, rief ein Cop, der hinter dem Heck der Limousine auftauchte. Unter der Schirmmütze wurde ein wettergegerbtes, faltendurchzogenes Antlitz sichtbar. Stahlgraue Augen blinzelten gegen den Regen, der ihm ins Gesicht prasselte. Sie waren eine motorisierte Streife und trugen nicht die wetterfesten, unförmigen Regenmäntel, mit denen sich ihre nicht motorisierten Kollegen gegen die Unbilden der Witterung schützen konnten. Die Uniform des Sergeants klebte ihm längst durchnässt am Leib. Ich kam bei ihm an, ohne dass ein weiterer Schuss gefallen wäre.

»Hallo, Sergeant«, begrüßte ich ihn und bot ihm die Hand. »Ich bin Agent Cotton vom FBI. Danke, dass Sie uns gleich benachrichtigt haben.«

»Sergeant Allen«, stellte er sich vor, während er meinen Händedruck kraftvoll erwiderte. »Warum suchen sich diese Idioten nicht wenigstens besseres Wetter aus?«

»Wir werden sie nachher fragen«, knurrte ich, nahm meinen Revolver und ging neben dem Streifenwagen in die Hocke, sodass ich über die Kühlerhaube hinweg die oberen drei Etagen einigermaßen sehen konnte. Mit der Linken winkte ich meinem Freund. Phil stapfte heran. Ich sah eine undeutliche Bewegung hinter einem Pfeiler im dritten Stockwerk und zog zweimal durch. Der Krach der beiden Schüsse hallte in unseren Ohren nach. Aber es blieb ruhig da oben.

»Verflucht noch mal«, brummte Phil, als er uns erreicht hatte. »Warum macht man so etwas nicht in einer Badehose?« Er duckte sich hinter dem Wagen, streifte den rechten Schuh ab und ließ das Wasser herauslaufen. »Sie sind Sergeant Allen, was?«, fuhr er fort, indem er dem Mann zunickte. »Ich heiße Agent Decker. Wir hätten Bürohengste werden sollen, Sergeant, in irgendeinem gemütlichen, geheizten Office der Stadtverwaltung.«

Allen wischte sich den Regen aus dem Gesicht und grinste. »Aber wir sind’s nicht geworden, Agent«, erwiderte er. »Irgendwie hat’s uns die frische Luft eben angetan.«

»Ein Naturschwärmer«, sagte Phil kopfschüttelnd. »Bei dem Wetter! Ich wette, Sergeant, dass Sie im Urlaub Camping machen.«

»Niemals, Agent. Meine Frau hat was gegen Ameisen.«

Wir hockten neben und halb hinter dem Streifenwagen, auf dessen Dach der Regen mit hundert Fingern trommelte. Die Sturmböen jaulten durch die offenen Geschosse des Betongerippes, das vorläufig nur aus einer Unzahl von Betonpfeilern mit eingezogenen Decken bestand. Vermutlich wurde das einer der Kästen, die außen nur aus Glas zu bestehen scheinen. Der trübe Himmel und der dichte Regen erschwerten die Sicht. Gegen das Heulen des Sturms und das Klatschen der Regenböen ließ sich ohne künstliche Stimmverstärkung nicht anschreien. Sie würden uns da oben nicht einmal richtig hören können.

»Wir müssen warten, bis die Kollegen eintreffen«, entschied ich. »Ohne Lautsprecherwagen können wir die Kerle nicht ansprechen.«

Allen hatte sich auf die hintere Stoßstange gesetzt. Seine kräftigen Hände bildeten einen windgeschützten Hohlraum, als er sich eine Zigarette anzündete. Sie verschwand fast zwischen seinen kräftigen, großen Fingern.

»Meine Tochter ist zwanzig«, sagte er nachdenklich. »Sie hat auch blondes Haar.«

Wir starrten hinüber zu dem Betongerippe, das dunkelgrau in das hellere Grau des Himmels ragte. Ein blondes Mädchen. Irgendwo da oben. War sie überhaupt noch am Leben? Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Kidnapper ihr Opfer sofort nach der Entführung ermordet hätten.

Aus der Ferne ertönten Polizeisirenen, die sich rasch näherten. Wir sahen zu der Hochstraße hinauf. Da kamen sie. Vierundzwanzig Agents in sechs Wagen. Sechs rotierende Warnlichter, sechs schrille Sirenen. Der vorderste Wagen mit dem Lautsprecheraufbau. Sie bogen in die weit geschwungene Abfahrt ein und verschwanden hinter dem Häuserblock jenseits des Baugeländes.

»Rufen Sie Ihre Leitstelle, Allen«, bat ich den Sergeant. »Unser Lautsprecherwagen soll ohne anzuhalten bis zu dem Bau vordringen. Wir geben Feuerschutz.«

Allen nickte, zog die vordere Tür auf und das Mikrofon heraus, das griffbereit auf dem Fahrersitz lag. Phil und ich lugten hoch und suchten Bewegungen. Wir hörten, wie der Sergeant ins Mikrofon sprach. Draußen hinter dem Bauzaun quietschten die Bremsen unserer Einsatzwagen. Dann erschien der Kühler des Lautsprecherwagens in der Öffnung, wo sie das Tor ausgehängt hatten. Rumpelnd arbeitete sich das Fahrzeug durch den knöcheltief aufgeweichten Morast.

»Da!«, rief Phil und schoss.

»Komm nach«, brüllte ich gegen den Sturm an und stapfte geduckt hinter dem Lautsprecherwagen her.

Ich hatte Mühe, den Fuß wieder freizukriegen aus dem aufgeweichten Lehmboden, der zäh wie Leim festzuhalten suchte, was einmal in ihn hineingestampft war.

In meinem Rücken krachte der dumpfere Lärm eines Schusses aus dem Revolver des Sergeants. Auch oben in dem Neubau krachte es. Und weiter links. Und rechts hinter dem fast mannshohen Baustahlstapel. Zwei Minuten lang krachte es von allen Seiten pausenlos. Dann kehrte auf einmal die unnatürliche Stille ein, in der die Ohren klingen vom Nachhall des Höllenzaubers.

Ich zog die Beifahrertür auf und quetschte mich schnell neben den Kollegen, der dort saß. Es war Zeery, und wegen seiner verdammten Eitelkeit rutschte er sofort von meinem lehmbeschmierten Mantel weg. Am Steuer saß Steve Dillaggio und sah mich vorwurfsvoll an.

»Du hättest Amphibienfahrzeuge anfordern sollen, Jerry. Das hier ist nur ein gewöhnliches Auto.«

»Mach gefälligst meinen neuen Anzug nicht schmutzig«, sagte Zeery und zupfte sich die Manschetten zurecht, als hätte er gleich seinen großen Auftritt im Salon seiner Herzdame.

»Ihr könnt mich«, brummte ich und schaltete den Lautsprecher ein. »Das nächste Mal lasse …«

Das krachende Pling ließ unsere Trommelfelle zittern. Steve Dillaggio sackte plötzlich nach vorn. Schräg durch sein flachsblondes Haar zog sich eine blutige Spur. Vom Wagendach hing ein Fetzen des Kunststoffhimmels herab. Ich stieß die Tür auf und brüllte hinaus: »Feuerschutz!«

Zeery zeigte, dass er bei aller Eitelkeit ein G-man war. Er kletterte über die Sitzlehne nach hinten, stieß die Tür auf, sprang hinaus in aufgeweichten Lehm und peitschenden Regen und zog Steve zur Fahrertür heraus. Ich nahm das Mikrofon in die Hand und ging halb unter dem Armaturenbrett in Deckung.

»Achtung! Achtung!«, sagte ich langsam ins Mikro, selbst überrascht von der hallenden Stärke meiner Lautsprecherstimme. »Hier sind bewaffnete Einheiten des FBI und der City Police! Wir haben das Baugelände mit mehr als dreißig Mann umstellt. Ihr habt keine Chance! Verschlimmert eure Lage nicht durch sinnlosen Widerstand. Schickt zuerst das Mädchen raus. Kommt einzeln und mit erhobenen Händen hinterher. Ich wiederhole: Schickt zuerst das Mädchen raus. Kommt einzeln und mit erhobenen Händen hinterher.«

Ich lauschte, ob sie uns eine Antwort geben würden. Bei einem raschen Blick hinaus sah ich Steve neben einem Pfeiler des Erdgeschosses liegen. Zeery kniete mit seinem neuen Anzug neben ihm. Seine Jacke lag achtlos im Morast. Zeery riss gerade seinen linken Hemdsärmel ab, um Steves Kopf zu verbinden. Um meine Mundwinkel zuckte es. Der Junge ließ sich seine Hemden maßschneidern!

Wenn sie auf unser Angebot nicht eingingen, mochte der Teufel wissen, wie wir das Mädchen heil hier rausbringen sollten. Sie brauchten nicht mehr als einen Sekundenbruchteil, um sie in Wut oder Panik zu erschießen. Ich sah auf die Uhr. Auf sein Zeitgefühl kann man sich in solchen Augenblicken nicht verlassen. Da kommen einem zwanzig Sekunden wie fünf Minuten vor.

Es kam keine Antwort. Dafür ging plötzlich die rechte Tür auf, und Phil kroch herein. Der Regen tropfte von seinem Kinn.

»Hast du was abgekriegt?«, fragte er besorgt. »Es kam mir vor, als hätten sie diesen Wagen getroffen.«

»Steve«, sagte ich. »Hoffentlich nur ein Streifschuss. Aber ich weiß es nicht.«

»Was nun?«, wollte Phil wissen.

»Ich wiederhole unsere Aufforderung und gebe ihnen diesmal drei Minuten.«

»Wenn sie nicht reagieren, Jerry?«

»Dann sollen die anderen ab und zu mal auf einen Pfeiler schießen.«

»Und wir?«

»Wir sind jetzt nah genug dran. Wir werden sie suchen. Vor allem das Mädchen. Wenn wir die Kleine haben, ist das Schlimmste überstanden.«

»Okay. Also sag’s ihnen.«

Ich griff erneut zum Mikrofon. Als ich den Mund öffnete, krachte es wieder einmal. Unwillkürlich hatten wir die Köpfe eingezogen. Hinter uns tröpfelte Regenwasser durch das Einschussloch im Dach. Ein Glück, dass sie den Lautsprecher nicht getroffen hatten.

»Ich sehe inzwischen nach Steve«, sagte Phil und schob sich wieder hinaus.

Ich zog das Mikrofon erneut näher und erzählte, was erzählt werden musste. Dass wir Tränengas, Maschinenpistolen und Gewehre mit Zielfernrohr mitgebracht hatten. Dass sie schon gegen die fünf Streifen der City Police keine Chance gehabt hatten, aber jetzt natürlich überhaupt keine mehr besaßen. Dass jede weitere Minute Widerstand für sie die Situation nur verschlimmerte. Dass sie aufgeben und das Mädchen herausschicken sollten. Und dass wir ihnen nur noch drei Minuten ließen.

Als ich das letzte Wort gesagt hatte, als es vom Lautsprecher verstärkt hinausgedröhnt war, als plötzlich nur wieder das Trommeln des Regens und das Fauchen des Windes zu hören waren, wusste ich plötzlich mit intuitiver Sicherheit, dass es vorbei war. Sie würden aufgeben. Sie würden nicht mehr schießen, und wir brauchten es folglich also auch nicht mehr zu tun. Ich kann nicht erklären, wieso, ich es fühlte. Es schien in der Luft zu liegen.

Ich schob mich aus dem Wagen hinaus. Der Regen stach wie mit Eisnadeln. Der Sturm war ein wenig abgeflaut und heulte nicht mehr mit klatschenden Böen durch die Etagen des Neubaus. Ich hob den Kopf und blickte hoch.

Und da stand sie. Neben einem Pfeiler der dritten Etage. Ihr weißer Pullover fiel sofort auf. Das lange blonde Haar flatterte wie die Mähne eines Tiers. Ihre Stimme klang dünn und kindlich zu uns herab. »Nicht schießen! Ich komme jetzt runter. Nicht mehr schießen!«

Ich nahm den Hut ab und wischte mir den Regen aus dem Gesicht. Vom Pfeiler her winkte mir Steve Dillaggio mit einem verbissenen Grinsen zu. Also doch nur ein Streifschuss.

Und das Mädchen kam zu uns. Offenbar unverletzt. Keine Toten. Keine schweren Verwundungen. Nichts als ein paar durchnässte Männer und ein paar Löcher im Blech zweier Autos. Ich atmete tief. Es hätte schlimmer kommen können. Unendlich viel schlimmer. Zufrieden drehte ich mich um, weil mir Allens Kindtaufe eingefallen war.

Der Sergeant war nicht zu sehen. Ich runzelte die Stirn. Der Regen lief mir im Genick hinab und seitlich am Hals entlang. Ich hatte eiskalte, nasse Füße. Aber es war ja ausgestanden. Allen konnte beruhigt seinen Enkelsohn taufen lassen.