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Sie legten Brände, zündeten Bomben, warfen Rauschgift auf den Markt und begingen Morde. Ihre Verbrechen schienen sinnlos. Sie waren nur von Hass diktiert - Hass auf Amerika, Hass auf Andersdenkende, Hass auf die Freiheit. Unsere Ermittlungen gegen die Gang liefen unter dem Zeichen, das sie immer am Tatort hinterließen: Kennwort Roter Drache ...
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Kennwort Roter Drache
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »Jagd am Limit«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5841-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Kennwort Roter Drache
1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.
Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:
»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.
Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
Jim Kwang starrte auf die altmodische Pendeluhr, als hypnotisiere sie ihn. Minutenlang stierte er auf das monotone Schwingen des Pendels, auf das langsame Vorwärtskriechen des Minutenzeigers. Er hörte das leise Ticken aus dem Gehäuse, und ihm war, als hacke das Pendel mit jeder Bewegung ein Stück seines Lebens ab.
Seine kleine Kellerwerkstatt war peinlich sauber wie immer. Auf einem Bügel hing die maßgeschneiderte Uniform des Air Force General Walt Cramer, die Jim Kwang gestern Abend fertiggestellt hatte. Auf dem Zuschneidetisch lag Marinetuch für die Uniform von Korvettenkapitän Ralph P. McKenzie. In der Nähmaschine hing die Hose für Colonel Richard Crailing. Und in seinem Büchlein standen die Maße von vier weiteren Offizieren, die ihre Uniformen bei Jim Kwang bestellt hatten, weil er ein hervorragender Uniformschneider und dennoch sehr preiswert war. Über Mangel an Arbeit brauchte er sich wirklich nicht zu beklagen.
Jim Kwang war Chinese, aber sein Vater war schon vor achtzig Jahren in die Vereinigten Staaten eingewandert. Jim Kwang wäre nie auf die Idee gekommen, zu behaupten, dass er Chinese wäre. Er war Amerikaner, das verstand sich von selbst, denn er war hier geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen und lebte hier. Von China wusste er kaum mehr als irgendein anderer Amerikaner.
Als die Pendeluhr anfing, elf Uhr vormittags zu schlagen, sprang Jim Kwang auf. Zwei hochgelegene Fenster ließen den Blick frei auf den verwinkelten Hinterhof. Eines stand offen. Aber auf dem Hof war niemand zu sehen. Dort war Chinatown, das Chinesenviertel von Manhattan, und dort wurde um diese Zeit gearbeitet. Die Leute erlaubten es sich nicht, um elf Uhr vormittags auf den Höfen herumzusitzen wie etwa die Arbeitslosen in Harlem.
Jim Kwang konnte sich augenblicklich nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Er ging unruhig in der kleinen Schneiderwerkstatt auf und ab. Vielleicht war dieser Anruf gestern Abend nur ein dummer Scherz gewesen. Vielleicht kamen sie gar nicht. Er blieb stehen, starrte wieder hinauf zur Uhr und wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn.
Da hörte er ein Geräusch in seinem Rücken. Etwas Scharfes, Metallisches.
Er warf sich herum. Nur vier Yards von ihm entfernt ragte die Mündung einer Pistole in das offen stehende Fenster. Jim Kwang öffnete die schmalen Lippen, er wollte etwas rufen, einen Irrtum berichtigen, um sein Leben bitten – aber da knallte es schon. Eine bläuliche Stichflamme schoss aus der schwarzen Mündung, und Jim Kwang wurde zurückgeworfen wie durch die Gewalt unsichtbarer Riesenfäuste. Er schlug hart mit dem Rücken gegen die schwere Nähmaschine. Seine Linke flatterte in einer ziellosen Gebärde des Schmerzes empor. Dann stürzte er schwer nach vorn. Neben seinem Kopf klirrte etwas auf den kahlen Betonboden. Jim Kwang hörte es nicht mehr. Er war tot, um 11:01 Uhr vormittags.
Ein paar Sekunden herrschte Stille in der Werkstatt. Dann flog die Metalltür auf.
Suki Chong blickte aus großen, starren Augen auf den Toten. Sie war achtzehn Jahre alt und von der faszinierenden Schönheit einer Eurasierin. Die fast europäisch geschnittenen Augen verrieten die amerikanische Mutter, während die leicht hervortretenden Wangenknochen auf den mongolisch-chinesischen Vater hindeuteten.
Hinter dem Mädchen wurde Lärm im Treppenhaus laut. Suki Chong schluckte, holte Luft, bekam keinen Ton über die Lippen, räusperte sich und holte erneut Luft.
»Hilfe!«, rief sie. »Hilfe!«
Hinter ihr erschienen zwei stämmige Männer im Türrahmen.
»Oh verdammt«, sagte der eine leise.
Der andere schob sich an dem Mädchen vorbei. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und sah sich um. »Die Fenster sind alle geschlossen«, brummte er.
Suki Chong sah auf. Sie blinzelte und runzelte die Stirn, als verstünde sie die Bedeutung seiner Worte nicht. Aber er hatte recht. Die Fenster waren alle geschlossen. Die Klappriegel lagen in den eisernen Krampen der beiden Fensterrahmen.
»Und hier ist niemand rausgekommen«, fuhr der Mann fort. »Sonst hätte ich es sehen müssen.«
Er trug einen sandfarbenen Overall über einem schreiend bunt karierten Baumwollhemd. Älter als vierzig konnte er kaum sein, trotz der vielen Fältchen in seinem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht.
Jetzt wandte er sich ganz dem Mädchen zu, schüttelte den Kopf und fragte leise: »Warum hast du ihn umgebracht, Kleine? Der alte Mann konnte keiner Fliege mehr was tun. Warum hast du ihn umgebracht?«
***
»Lieutenant Easton von der Mordabteilung der City Police hat angerufen«, sagte unser Distriktchef. »In Chinatown ist etwas passiert, von dem er meint, es könne das FBI interessieren. Ich habe die Adresse notiert. Fahrt hin und seht nach, ob es tatsächlich etwas für uns ist.« Mr High schob einen Zettel über seinen Schreibtisch.
Mein Freund und Partner Phil Decker nahm ihn, warf einen kurzen Blick darauf und fragte: »Hat Easton nicht wenigstens angedeutet, worum es geht?«
»Nein. Ich hatte den Eindruck, dass er am Telefon nicht deutlicher zu werden wünschte. Vielleicht waren unbefugte Zuhörer in seiner Nähe.«
Ich stand auf und nickte. »Okay, Chef. Wir fahren nach Chinatown und sehen uns die Geschichte mal an. Sobald wir zurück sind, erhalten Sie unseren Bericht.«
Es war um die Mittagszeit, und wenn bei Easton keine zeitraubende Arbeit für uns anfiel, konnten wir die Gelegenheit nutzen, ein schönes chinesisches Essen zu uns zu nehmen. Als G-man muss man die Feste feiern, wie sie fallen.
Wir verließen das Distriktgebäude durch den Hinterausgang und stiegen im Hof in meinen roten Jaguar. Über New York hing ein seidiger Frühherbsthimmel, kein Wölkchen war zu sehen, und der Temperatur nach hätte es ebenso gut ein schöner Frühlingstag sein können. Nur die ersten gelben Blätter an den Bäumen im Central Park verkündeten, dass der Sommer schon im Ausklingen war.
Chinatown im südlichen Manhattan gehört genauso zu den Touristenattraktionen von New York wie etwa Greenwich Village oder Harlem. Und seit die New York Telephone Company bei irgendeinem chinesischen Neujahrsfest als Gratisgabe alle öffentlichen Telefonzellen in Form kleiner Pagoden bauen ließ, hat dieses Viertel einen Anziehungspunkt mehr.
Mein misshandelter Flitzer musste im Schritttempo hinter einem Rundfahrtbus mit gläsernem Aussichtsdach herkriechen. Durch die geöffneten Seitenfenster hörten wir Satzfetzen in vielen Sprachen.
»Da vorn steht Ed Schulz«, rief Phil und deutete nach links.
Ich entdeckte den hünenhaften Detective Sergeant, Eastons Stellvertreter, im selben Augenblick. Schulz zeigte mit dem Daumen in eine Einfahrt hinein.
»Fahren Sie langsam«, rief er mir durch das offene Fenster zu. »Es geht um achtzehn Ecken.«
Ich bremste und ließ den Riesen der Einfachheit halber vor dem Jaguar hergehen. Vor uns öffnete sich ein Hof- und Hinterhausgewirr, wie es nur Chinatown zu bieten hat. Zunächst einmal klebte an jedem Vorderhaus nach hinten ein Anbau, an dem ein Anbau klebte. Dazwischen gab es Käfige, Holzställe und Verschläge, in denen Ziegen, Hunde, Schlangen, Gänse, Enten, Vögel, Fische gezüchtet wurden, anscheinend Gottes gesamtes Tierreich. Wo noch ein Quadratfuß Platz frei geblieben war, hatte ein freundlich grinsender Chinese eine Miniaturwerkstatt eingerichtet. Elfenbeinschnitzer, Gold-, Silber- und Kupferschmiede, Teppichknüpfer und Brokatsticker, Töpfer und Porzellanmaler waren eifrig dabei, die Souvenirläden mit Nachschub zu versorgen.
Nachdem ich das Lenkrad unzählige Mal nach links und ebenso oft wieder nach rechts gekurbelt hatte, lief mir der Schweiß von der Stirn. Wir stiegen aus und schüttelten Ed Schulz die mächtige Pranke.
»Wie seid ihr bloß mit euren Wagen hier durchgekommen?«, fragte ich bewundernd, als ich die Ansammlung von Fahrzeugen bemerkte, die zu Eastons Mordkommission gehörten.
»Ich werde knieweich, wenn ich nur daran denke, dass wir auch wieder aus diesem Gewirr hinausfahren müssen«, meinte Ed Schulz. Er zeigte auf zwei Kellerfenster in der Front eines schmalen, aber dreistöckigen Hauses. »Da unten ist es. Der Eingang liegt auf der linken Seite.«
An meinem Bein rieb sich schnurrend ein strohgelber Kater. Ich hatte keine Zeit, sein Zärtlichkeitsbedürfnis zufriedenzustellen, aber er folgte mir mit gravitätischer Würde. Eine offen stehende Tür brachte uns in ein enges Treppenhaus. Ausgetretene Stufen führten links empor, rechts dagegen abwärts zum Kellergeschoss. Ed Schulz stapfte vor uns die kurze Treppe hinab und zog die einzige Metalltür auf, die es hier unten gab.
Die herumhängenden Kleidungsstücke verrieten auf den ersten Blick, dass man sich in einer Uniformschneiderei befand. Detective Lieutenant Harry Easton saß auf einem Zuschneidetisch und hatte offenbar nur auf uns gewartet. Neben ihm standen zwei weiße Männer, die bunte Hemden und sandfarbene Overalls trugen. In einer Ecke arbeiteten zwei Kollegen vom Spurensicherungsdienst. Arzt und Fotograf waren nicht mehr zu sehen.
»Tag, Easton«, sagte ich.
Er begrüßte uns mit einem stummen Nicken und zeigte mit dem Kopf zu einer Nähmaschine. Auf dem kahlen Betonfußboden lag ein alter Chinese. Rings um seinen Oberkörper hatte sich eine Blutlache gebildet. In der Herzgegend war eine Einschusswunde zu erkennen. Dicht neben seinem Kopf lag etwas Glänzendes.
Ich ging in die Hocke.
Das glänzende Ding war ein aus Messing gestanzter, mit rotem Lack überzogener Drache. Phil und ich tauschten einen stummen Blick. Das hatte uns gerade noch gefehlt! Vor vier Wochen hatte eine Höllenmaschine den Verkehr einer Subway-Linie für neunzehn Stunden lahmgelegt. Zwischen den Trümmern hatte man eine Messingplakette gefunden, die einen roten Drachen darstellte. Vierzehn Tage später war in Queens ein Großbrand ausgebrochen. Als die Feuerwehr der Flammen endlich Herr geworden war, fanden die Brandsachbearbeiter der City Police gleich ein halbes Dutzend von diesen verdammten Metallviechern. Und nun lag der rote Drache neben einem Ermordeten.
Easton klärte uns zunächst über die Person des Opfers auf: »Er heißt Jim Kwang und ist Uniformschneider, wie Sie sehen können. Die Werkstatt betreibt er allein, und nach seinem Auftragsbuch gehören seine Kunden zu den hohen bis höchsten Offizierskreisen. Bei der First National hat er ein Guthaben von etwas über elftausend Dollar. Ich habe zwei Mann zu seiner Wohnung geschickt. Merkwürdigerweise wohnt er nämlich nicht hier in Chinatown, sondern oben im Westen in der 64th Street. Das ist alles, was wir bisher über ihn in Erfahrung bringen konnten.«
Phil hatte sich ein paar Notizen gemacht für unseren Bericht.
»Und wie sieht es mit Täterspuren aus?«, fragte ich.
Harry Easton kratzte sich in seiner blonden Bürstenfrisur. Wir kannten ihn nun schon seit einer ganzen Reihe von Jahren und hatten ihn selten ratlos erlebt. An diesem Tag erschien er jedoch so.
»Wenn es euch recht ist«, sagte er, »dann tut mir einen Gefallen und bildet euch selbst ein Urteil. Hier drin ist nichts verändert worden, und da stehen die einzigen beiden Zeugen, die wir bisher auftreiben konnten. Redet selbst mal mit ihnen.«
Ich sah ihn an. Er grinste fast ein wenig verlegen. Ich zuckte mit den Schultern. Wenn ein Mann wie Easton mit einer so seltsamen Bitte ankam, hatte er seine Gründe.
»Okay«, sagte ich. »Du siehst dich hier drin um, Phil, und ich rede mit den Zeugen.«
Ich zückte meinen Dienstausweis, nannte meinen Namen und erfragte die ihrigen. Die beiden Männer in den Overalls waren Maurer und hatten den Auftrag, das Treppenhaus auszubessern.
»Wir waren seit ungefähr zehn auf dem Absatz der ersten Halbetage«, berichtete der ältere. »Und seitdem ist niemand hier in den Keller gegangen.«
»Sind Sie sicher?«, fragte ich.
»Wir hätten es sehen müssen. Die Kellertreppe lag genau vor unseren Augen. Und die Hoftür ebenfalls. Es ist auch niemand von oben an uns vorbeigegangen.«
»Okay. Kommen wir zu dem Schuss. Sie haben ihn gehört?«, wollte ich wissen.
»Natürlich«, antwortete der Mann. »Es hat ja laut genug geknallt. Allerdings dachten wir zuerst, es wäre über uns gewesen. Ich weiß auch nicht, wieso, aber es hörte sich eben so an.«
»In diesen verschachtelten Häusern kann man leicht vom Schall getäuscht werden, das kennen wir aus Erfahrung«, erwiderte ich. »Also, Sie hörten den Knall – und was taten Sie?«
»Wir liefen drei, vier Stufen hinauf, dann blieben wir stehen und lauschten«, antwortete jetzt der jüngere Maurer. »Und da hörten wir unten die Haustür gehen. Wir machten kehrt und rannten hinunter. Na ja, dann rief das Mädchen um Hilfe.«
»Welches Mädchen?«
»Eine kleine Chinesin. Oder Halbchinesin. Jedenfalls ein verdammt flotter Käfer. Sie stand hier in der offenen Tür. Wir haben sie festgehalten und die Polizei angerufen.«
»Festgehalten? Warum?«, hakte ich nach.
Der Jüngere sah mich entgeistert an. »Na, weil sie doch den Alten umgebracht hat!«
»Wie kommen Sie zu dieser Behauptung?«, fragte ich.
»Wer soll’s denn sonst gewesen sein? Es ist doch sonst niemand ins Haus gekommen.«
»Aha«, sagte ich und fügte hinzu: »Einen Augenblick. Ich komme zurück.« Ich durchquerte die Werkstatt und ging zu Phil, der gerade ein Fenster untersuchte, das nur aus einem schwenkbaren Flügel in einem eisernen Rahmen bestand. »Wie sieht’s aus?«, fragte ich.
»Außer der Tür, durch die wir gekommen sind, gibt es keinen weiteren Zugang«, sagte mein Freund. »Und die Fenster sind von innen mit diesen Klappriegeln geschlossen. Von außen kann der Schuss also nicht gekommen sein.«
»Hm«, brummte ich und kehrte zu den beiden Arbeitern zurück. »Also, noch einmal: Von zehn Uhr an ist niemand in den Keller gegangen?«
»Niemand«, bestätigten sie unisono.
»Wie viele Sekunden können vergangen sein, nachdem der Schuss fiel, bis zu dem Augenblick, da Sie hier in der Tür auf das Mädchen stießen?«
»Höchstens zehn«, meinte der ältere.
Ich nickte. »Aber vorher hörten Sie, wie die Hoftür ging?«
»Ja. Kurz nach dem Schuss. Deswegen liefen wir ja hinunter.«
»Dann müsste aber das Mädchen doch erst nach dem Schuss gekommen sein«, dachte ich laut.
»Sie kann ja vor zehn schon hier unten gewesen sein«, wandte der jüngere Maurer ein.
»Das ist wahr«, räumte ich ein. »Wer hat dann aber die Hoftür bewegt, wenn es nicht das Mädchen war?«
Sie zuckten stumm mit den Schultern. Ich bedankte mich für die Auskünfte und ging zu Easton, der noch auf dem Zuschneidetisch saß und die Beine baumeln ließ.
»Wo ist das Mädchen, von dem die beiden geredet haben?«, fragte ich.
»Unterwegs zu meiner Dienststelle. Wir müssen sie verantwortlich vernehmen, ein Protokoll aufsetzen und ihre Fingerabdrücke abnehmen.«
»Hatte sie eine Waffe bei sich, die als Tatwaffe infrage käme?«
Easton schüttelte den Kopf. Er hielt mir auf der flachen Hand ein bizarr geformtes Elfenbeinstück hin, das etwa die Größe eines Silberdollars hatte.
»Das ist alles, was sie bei sich hatte«, berichtete er. »Außer den üblichen Utensilien natürlich wie Taschentuch, Hausschlüssel und Lippenstift.«
Ich besah mir das glänzende Elfenbeinplättchen. »Was ist das?«
»Keine Ahnung. Die Kleine sagte, sie habe es vor ein paar Wochen auf der Straße gefunden und eingesteckt, weil es Elfenbein ist.«
»Wie heißt sie?«
»Suki Chong. Oberschülerin, achtzehn Jahre alt und bildschön. Lebt bei ihren Eltern, die Mutter ist Amerikanerin. Der Vater besitzt ein Dutzend chinesische Restaurants in allen Teilen der Stadt. Sie macht einen sehr guten Eindruck.«
»Was hat sie ausgesagt?«, fragte ich weiter.
»Sie sei dabei gewesen, den Hof zu überqueren, weil da links drüben eines der Lokale ihres Vaters liegt, als sie den Schuss hörte. Sie sei hier ins Haus gerannt, habe den Leichnam gesehen und um Hilfe gerufen. Im selben Augenblick waren die beiden Arbeiter hinter ihr, hielten sie fest und riefen die Polizei.«
»Gibt es irgendeinen Beweis dafür, dass sie nicht schon vor zehn Uhr in dieser Werkstatt war?«
»Ja. Dieser Punkt ist einwandfrei geklärt und unantastbar. Um die Zeit war sie noch in der Schule, wie zwei Lehrerinnen und ungefähr dreißig andere Schülerinnen bezeugen.«
»Aber wenn sie nicht vor zehn Uhr hier unten war, kann sie es nicht gewesen sein, denn die Arbeiter haben sie nicht vor dem Schuss kommen sehen.«
»Deswegen wollte ich ja, dass ihr euch die Sache selbst anseht. Das Mädchen kann es nicht gewesen sein, denn sie ist nicht vor dem Schuss in den Keller gegangen. Andrerseits kann es nur das Mädchen gewesen sein, denn außer ihr ist überhaupt niemand in den Keller gegangen. Sie kann es also erstens nicht gewesen sein, und sie muss es zweitens doch gewesen sein. Welche dieser beiden Möglichkeiten soll ich mir jetzt aussuchen?«
»Da bin ich überfragt«, gab ich zu. »Hast du irgendwas gefunden, Phil?«
Mein Partner schüttelte den Kopf. »Nichts, was auch nur die Idee einer verheißungsvollen Spur sein könnte. Durch die Fenster ist der Schuss jedenfalls nicht gekommen. Haben die Leute Ihrer Mordkommission die Wände abgeklopft, Easton?«
»Sicher doch. Zollweise. Es gibt keine beweglichen oder hohlen oder sonst wie verdächtigen Stellen. Auch nicht im Fußboden oder in der Decke.«
»Dann gibt es nur eine vernünftige Erklärung«, meinte ich. »Der Täter war vor zehn in der Werkstatt, weil ihn sonst die beiden Arbeiter hätten kommen sehen. Als er geschossen hatte, rannte er hinaus. Genau in diesen wenigen Sekunden liefen die Arbeiter nämlich die Treppe hinauf, weil sie zuerst fälschlich annahmen, der Schuss wäre irgendwo oben im Haus gefallen. Hat das Mädchen jemanden gesehen, als es ins Haus kam?«
»Nein«, sagte Easton.
»Dann muss der Täter buchstäblich einen Sekundenbruchteil vor dem Mädchen hinausgekommen sein. Gleich darauf kam das Mädchen herein, sah die Leiche und rief um Hilfe, und in dem Augenblick tauchten auch schon die Arbeiter hinter ihr auf und hielten sie für die Mörderin.«
Easton seufzte. »Jetzt bin ich zufrieden«, meinte er. »Genauso hatte ich es mir nämlich überlegt. Gegen die Täterschaft des Mädchens spricht der Umstand, dass sie keine Zeit gehabt hätte, die Mordwaffe verschwinden zu lassen. Sobald die Kleine das Protokoll über das Auffinden des Leichnams unterschrieben hat und wir ihre Fingerabdrücke abgenommen und mit den hier unten vorgefundenen verglichen haben, kann sie von mir aus nach Hause …« Er brach ab. Neben der Tür schrillte das altmodische Wandtelefon. Eilig lief Easton hin, nahm den Hörer und sagte nur: »Ja, bitte?« Drei Sekunden später wich die Spannung aus seinem Gesicht. »Am Apparat«, sagte er. »Was gibt es denn, Myers?«
Wir beobachteten ihn stumm.
Easton hörte eine halbe Minute zu, dann rief er wütend: »Ich komme!« Er knallte den Hörer zurück und wandte sich uns zu. »Verdammte Schweinerei«, schimpfte er. »Der Dienstwagen musste vor einer roten Ampel anhalten. Die Kleine nutzte die Gelegenheit, sprang auf die Straße und verschwand im nächsten Haus. Jetzt steht sie auf einem Fenstersims in der vierunddreißigsten Etage und droht, sich in die Tiefe zu stürzen!«
2
Die Autos standen in sechs Reihen nebeneinander. Hier nützten auch Warnlicht und Sirene nichts mehr. Ich bugsierte den Jaguar vorsichtig auf den breiten Gehsteig und ließ ihn dort stehen. Wir liefen zu Fuß weiter.
»Hoffentlich kommen wir nicht zu spät!«, keuchte Phil atemlos.
Ich sagte nichts. Je näher wir dem Gebäude kamen, umso mehr neugierige Gaffer hatten sich versammelt. Wir mussten die Ellenbogen benutzen, um uns durchzuarbeiten. Ich sah das glänzende Rot von zwei Feuerwehrwagen. Dann tauchten vor uns die ersten dunkelblauen Uniformen von Cops auf. Sie drängten die Gaffer zurück und räumten einen Platz für die Feuerwehrleute, die ein Sprungtuch ausspannen wollten. Ich bedachte sie im Vorüberhasten mit einem skeptischen Blick. Ihre Mühe erschien mir überflüssig angesichts einer Höhe von vierunddreißig Etagen.
In der Halle des Gebäudes schnatterten mehr als hundert Leute durcheinander. Die ersten Reporter waren bereits eingetroffen und redeten lautstark auf die Cops ein, die kurzerhand alle Fahrstühle sperrten. Zwei der uniformierten Riesen schienen Phil und mich zu kennen. Sie winkten uns zu. Wir drängten uns durch die Menge.
»Sie können bis zur dreißigsten Etage durchfahren«, sagte einer der Cops. »Dort müssen sie umsteigen.«
»Danke, Kollege«, rief ich und schob mich zwischen den beiden hindurch.
Der Expressaufzug brachte uns schnell nach oben. Im 30. Geschoss wechselten wir den Aufzug, in der 34. Etage rannten wir durch einen Flur, entdeckten, dass es der falsche sein musste, liefen zurück und gelangten endlich in den richtigen.
Vor einer Tür standen wieder zwei Cops. Sie kannten uns nicht, und deshalb mussten wir die Dienstausweise zücken, um eingelassen zu werden. Es war ein großer Wohnraum. In einer Ecke hockte eine schluchzende alte Dame, die in einem fort versicherte, sie habe das Mädchen nicht zurückhalten können, weil sie viel zu schnell zu dem offen stehenden Fenster gerannt und hinausgeklettert sei. Ein schwergewichtiger Detective neben ihr versuchte, sie zu beruhigen.
Phil und ich eilten zum Fenster.
Ein junger Revierlieutenant trat uns schnell in den Weg. »Was haben Sie hier …?«
Ich unterbrach ihn: »Cotton, FBI. Das ist Special Agent Decker. Wie lange steht sie jetzt draußen?«
»Keine Viertelstunde«, kam es zur Antwort.
»Ist noch jemand draußen?«
»Ja. Sergeant Frowley. Er hat sechs Kinder. Eine Tochter in ihrem Alter.«
»Da sind keine Pubertätsprobleme zu lösen, Lieutenant«, brummte ich. »Sagen Sie dem Sergeant, er soll hereinkommen.«
Der junge Lieutenant runzelte die Stirn. »Aber wir können sie nicht einfach da draußen stehen lassen.«
»Das haben wir auch nicht vor. Nun machen Sie schon!«
Der junge Police Offizier reckte den Kopf vorsichtig zum offen stehenden Fenster hinaus. Ich blickte neben ihm in die Tiefe. Die Autos waren nur noch Spielzeuge, die Leute kaum mehr als Punkte. Es musste einige Herzschläge dauern, bis man da unten ankam.
»Sie lässt niemanden zu sich«, krächzte eine ältere Stimme.
Ich sah auf. Der Sergeant war ungefähr Mitte vierzig, und sein verwittertes Gesicht war von einem Schweißfilm überzogen.
»Näher als bis auf vier Yards lässt sie einen nicht heran«, fuhr er heiser fort. »Ich habe alles versucht. Ich weiß nicht, was ich noch sagen könnte.«
Der Sims war ungefähr zwölf Inch breit. Auf der Erde mögen einem zwölf Inch breit genug vorkommen. Hier oben erschien es mir verdammt schmal. Ich drückte mich mit dem Rücken gegen die Hauswand, bevor Phil, der Sergeant und der Lieutenant richtig begriffen hatten, dass ich schon draußen war.
»Jerry!«, rief Phil besorgt.
»Halt die Daumen und deinen Mund«, knurrte ich, während ich nach links blickte und mich langsam weiterschob.
Sie stand breitbeinig, mit dem Rücken gegen die Mauer. Sie trug einen schwarzen, der Mode entsprechend kurzen Rock und eine weiße Bluse. Der Figur nach hätte sie zwanzig sein können. Aber als sie den Kopf in meine Richtung drehte, sah ich das junge blasse Gesicht, das rein, fast kindlich wirkte und ihre achtzehn Jahre verriet. Das Leben hatte noch keine Spuren in diesem schönen Antlitz hinterlassen.
»Hallo«, sagte ich, und meine Stimme kam mir fremd vor. »Ich bin Jerry Cotton vom FBI.«
Hier oben pfiff ein frischer Wind. Ihr schwarzes Haar flatterte wie ein Wimpel. Die großen tiefbraunen Augen sahen mich erschreckend ernst an. Mir war sofort klar, dass sie nicht bluffte. Sie würde springen. Wenn nicht ein Wunder geschah. Wenn mir nicht die richtigen Worte einfielen. Wenn irgendeine Kleinigkeit den letzten Anstoß gab. Ich spürte, wie sich meine Kopfhaut zusammenzog.
»Kommen Sie mir nicht zu nahe!«, sagte sie. Es war die weiche, gepflegte Stimme einer Frau, die im Gegensatz zu ihrer Jugend stand.
»Ich habe auch gar nicht die Absicht«, erwiderte ich und wich ihrem Blick nicht aus. »Ich wollte Ihnen nur schnell etwas sagen. Ich komme aus Chinatown. Von der Werkstatt des Uniformschneiders Jim Kwang. Lieutenant Easton hatte uns verständigt.«
Ihr Gesicht blieb unbeweglich. Der Wind zauste in ihrem herrlichen blauschwarzen Haar. Plötzlich entdeckte ich, dass sie zitterte.
So oder so, lange konnte sie es einfach nicht mehr durchhalten.