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Um zwölf Uhr mittags erlag der langjährige Boss der New Yorker Hafenarbeiter-Gewerkschaft einem Herzanfall. Zwei Stunden darauf begannen die internen Machtkämpfe um seine Nachfolge. Und acht Stunden später geschah der erste Mord. Wir ahnten gleich, dass er ein Opfer der Mafia war: der Tote auf Pier 17 ...
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Der Tote auf Pier 17
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »Jill Rips«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5923-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Der Tote auf Pier 17
1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.
Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:
»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.
Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
Am Dienstagmittag um 12:41 Uhr verbreitete sich die Eilmeldung, dass Tom Winston, biederer, raubeiniger, langjähriger Boss der New Yorker Hafenarbeiter-Gewerkschaft, einem Herzanfall erlegen sei.
Zwei Stunden darauf begannen die internen Machtkämpfe um die Nachfolge. Und acht Stunden später geschah bereits der erste Mord.
***
Als Joe Martin seinen Spind aufschloss, um die lederne Arbeitsjacke hineinzuhängen, klebte ein Zettel an der Innenseite der Tür, mit Kaugummi angeheftet:
WER CLEVER IST, LEBT LÄNGER.
Joe runzelte die Stirn. In seiner bedächtigen Art griff er nach dem Zettel und hielt ihn ins Licht, das durch die verstaubten Fenster einfiel. Die Schrift kannte er nicht. Außerdem waren es Druckbuchstaben, von einer ungelenken Faust grob hingemalt. Aber was hieß das schon? Ungelenke Fäuste hatten sie hier alle. Dazu war diese Arbeit zu hart.
Ein paar Sekunden lang betrachtete Joe den Wisch. Dann zerknüllte er ihn in seiner schwieligen Hand und schleuderte ihn achtlos beiseite. Wenn das eine Warnung sein sollte, durften sie sich mit so etwas nicht gerade an ihn wenden. Von einem anonymen Zettel ließ sich ein Joe Martin nicht beeindrucken.
Er verließ den Schuppen und schloss ihn ab. Der Pier lag verlassen vor ihm. Joe war wie immer der Letzte, der nach Hause ging. Für einen Vorarbeiter gehörte es sich nicht anders.
Er stieg in den Bus, setzte sich in die hinterste Ecke und faltete die Abendzeitung auseinander, die er an der letzten Ecke mitgenommen hatte. Die Fahrzeit hatte er im Gefühl. Als er ausstieg, hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Die Straßenlaternen brannten bereits.
Joe Martin klappte den Kragen seiner dicken Joppe hoch. Seit fast dreißig Jahren lebte er nun in dieser schmalen Straße mit den alten Mietshäusern. Dies war immer noch Hafen, auch wenn die Piers eine Meile entfernt lagen.
Als er die Haustür aufschloss, fielen ihm Licht und Wärme entgegen. Joe blieb breitbeinig in der offenen Tür stehen. Ein paar Herzschläge lang betrachtete er das vertraute Bild, das sich ihm bot. Jenny, seine Älteste, zog dem vierjährigen Enkelsohn Patrick die Stiefelchen aus. Mit dem ganzen Stolz des glücklichen Großvaters grinste Joe, als ihm der kleine Patrick mit den Patschhändchen zuwinkte.
»Tag, Mutter«, sagte Joe und legte seiner rundlichen Frau die Hand auf die Schulter. Sie stand am Herd und rührte in der Fleischsuppe. Als sie in sein von grauen Bartstoppeln übersätes Gesicht blickte, stutzte sie. Ihr konnte man nichts vormachen. Sie wusste, wenn in ihm etwas vorging. Er schüttelte unmerklich den Kopf. Nicht jetzt, hieß das. Nach dem Essen. So war es seit dreißig Jahren.
»Dad«, kreischte Peggy, seine siebzehnjährige Jüngste mit dem ihr eigenen übersprudelnden Temperament. »Dad, ich …«
»Peggy, du hältst den Mund«, sagte Joes Frau ruhig. »Wenn Vater von der Arbeit kommt, sollt ihr ihn ein paar Minuten in Ruhe lassen.«
Joe zog seine Joppe aus und hängte sie an den Nagel hinter der Tür. Die sechsjährige Angela hielt die Hände hinter dem Rücken versteckt und konnte doch nicht verhindern, dass Joes große Pantoffeln auf beiden Seiten hervorlugten.
»Rate mal, was ich habe?«, fragte seine Enkelin und legte das Köpfchen schief, sodass ihre blonde Haarflut ihr fast das Gesicht verdeckte.
Joe bückte sich, hob die Kleine hoch und schwenkte sie im Kreis.
»Ich vermute, dass du meine Pantoffeln hast«, sagte er glücklich.
»Woher weißt du das immer?« Das Schmollmündchen der Kleinen zog den üblichen Flunsch.
Joe drückte die Kleine an sich. »Weil du mir jeden Abend die Pantoffeln bringst«, sagte er. »Hab ich recht?«
»Ich bringe dir die Pantoffeln nicht mehr«, verkündete die Kleine energisch.
Joe setzte sich auf seinen Stuhl am Esstisch und zog das Mädchen auf seine Knie. Seine Frau stellte die Teller für das Abendessen zurecht. Joe zog einen abgebrochenen Taschenkamm und begann, der Kleinen die langen, blonden Haare zu kämmen.
»So«, sagte er. »Du bringst mir meine Pantoffeln nicht mehr. Darf man sich die Frage erlauben, warum das Fräulein mir die Pantoffeln nicht mehr bringen will? Hm?«
»Weil du mir keine Geschichten mehr erzählst, wenn ich ins Bett muss.«
»Das könnte dir so passen. Jedes Mal, wenn du schlafen sollst, fällt dir ein, dass Opa dir erst noch eine Geschichte erzählen soll. Du bist ein durchtriebener Racker. Das bist du. Und jetzt gib meine Pantoffeln her.«
»Nein.«
»Miss Angela, das sind meine Pantoffeln, und ich will sie jetzt haben.«
»Du kriegst sie aber nicht.«
Angela lachte, dass ihre Zähnchen blitzten. Auch das gehörte zum abendlichen Ritual. Joe schloss einen Augenblick die übermüdeten Augen. Er liebte diese Minuten, wenn er nach Hause kam. Aber heute war er nur halb bei der Sache.
»Da, Joe«, sagte eine weiche Stimme neben ihm. Seine Frau hielt ihm die Pantoffeln hin. »Wir können essen.«
Joe nickte. Sein Blick ging durch alles hindurch. Mein Gott, dachte er, achtundfünfzig Jahre, das ist doch kein Alter …
Winny, Joes Frau, stand links neben Joes Platz und füllte die Teller auf. Neben ihr hatte sich Jenny hingesetzt und klopfte dem voreiligen kleinen Patrick auf die Finger. Rechts von Joe saßen Peggy und Angela. Eine Familie, in der nur einer fehlte: Jennys Mann.
Joe musterte seine älteste Tochter verstohlen. Jenny war jetzt fünfundzwanzig und hatte seit drei Jahren keinen Mann mehr. Manchmal konnte Joe einen bitteren Zug um ihren Mund entdecken. Heute war er nicht da, heute war ihr Gesicht so glatt und sanft, wie Winny seinerzeit ausgesehen hatte, als Joe ihr das erste Mal begegnet war.
Er räusperte sich, nickte und sprach das Tischgebet. Dann sagte er »Mahlzeit« und nahm seinen Löffel. Die anderen begannen, zu essen. Joe rührte in seiner Suppe herum und sah gar nicht, was vor ihm auf dem Tisch stand.
Ihm fiel der Zettel aus seinem Spind wieder ein. WER CLEVER IST, LEBT LÄNGER. Was sollte das heißen? Und was war schon clever? Klug, gescheit, geschickt, auf seinen Vorteil bedacht? Welche Vorteile hat ein Vorarbeiter im Hafen, die er sich nicht in jahrzehntelanger, harter Arbeit erworben hätte?
»Iss, Vater«, sagte Winny leise und strich scheu über seine Hand.
Er schrak aus seinen Gedanken auf. »Ja, natürlich, Mutter.«
Aber nach dem zweiten Löffel klingelte das Telefon.
»Ich gehe schon ran«, meinte er.
Er sieht müde aus, dachte seine Frau, sehr müde. So abgespannt, wie ich ihn nur damals gesehen habe, als er nach Hause kam und Jenny erzählen musste, dass ihr Mann nicht wiederkommen würde.
»Joe Martin«, sagte er in den Hörer.
»Hallo, Joe«, erwiderte eine heisere, irgendwie unnatürliche Stimme.
»Wer spricht da?«
»Das wollen wir mal vorübergehend aus dem Spiel lassen, Joe. Winston ist heute Mittag gestorben …«
»Das weiß ich«, entgegnete Joe hart, und seine Kiefermuskulatur trat wie gemeißelt hervor. »Das weiß ich verdammt genau.«
»Schön, Joe. Lassen Sie mich ausreden! Ich hörte, dass Sie sein Nachfolger werden. Nun kommen Sie mir bloß nicht mit der Wahl. Das ist eine Formalität. Jeder im Hafen weiß, dass Winston Sie gern als Nachfolger haben wollte, und was Winston wollte, wird wohl auch jetzt noch gemacht werden.«
»Na und?«, fragte Joe. »Er hat uns ein Leben lang gut vertreten.«
»Das bestreitet ja keiner. Aber rechnen Sie mal, Joe. Sie sind zweiundfünfzig. Das ist nicht gerade ein Jünglingsalter.«
»Das hat auch niemand behauptet.«
»Warum wollen Sie sich nicht zur Ruhe setzen, Joe? Warum wollen Sie sich den ganzen Ärger an den Hals laden, den so ein Job nun mal mit sich bringt? Machen Sie Schluss, Joe! Für zehntausend im Jahr kann man ohne Sorgen aussteigen, finden Sie nicht?«
Joe schluckte. Die Schläfenadern an seinem kantigen Schädel fingen an, zu züngeln. Seine Stimme klang dunkler als sonst.
»Jetzt hören Sie mal genau zu!«, knurrte er wie eine gereizte Dogge. »Ich habe mit dreizehn Jahren angefangen, im Hafen zu arbeiten. Mein Vater war wieder einmal von seinem Freitag-Schnaps-Ausflug nicht nach Hause gekommen. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Aber bei mir zu Hause saßen sechs hungrige Kinder und eine verweinte Mutter. Ich bin in den Hafen gegangen und habe jede Arbeit gemacht, die sie für mich hatten.«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung schwieg.
»Bis auf den heutigen Tag kam immer mal wieder irgendein dreckiger Halunke und bot mir das und bot mir jenes für irgendeine Schweinerei«, fuhr Joe fort. »Warum kommen Sie nicht mal selbst her und sagen es mir ins Gesicht, dass ich für eine Rente von zehntausend im Jahr meine Kollegen im Stich lassen soll? Warum sagen Sie mir das nicht mal selbst ins Gesicht statt am Telefon, hä?«
»Ich bin kein Selbstmörder«, tönte es leise aus dem Hörer, und dann war die Verbindung unterbrochen.
Wütend starrte Joe auf die Muschel, aus der nur noch ein schwaches, atmosphärisches Knistern drang. Er legte auf und ging zum Tisch zurück. Seine Frau war blass. Jenny sah ihn besorgt an. Peggy hatte vor Neugierde den Mund offen stehen, wagte aber noch nicht, ihrem Temperament die Zügel schießen zu lassen.
Der kleine Patrick hielt seinen blonden Wuschelkopf über den Suppenteller gebeugt. Das Engelsgesichtchen von Angela sah ratlos in die Runde.
Der Rest der Mahlzeit verlief schweigsam, was die Erwachsenen anging. Nur Patrick und Angela plapperten gelegentlich ein wenig drauflos, aber sie wurden durch scheue Gesten der Frauen bald zum Verstummen gebracht. Eine gedrückte Stimmung breitete sich mehr und mehr aus, bis sie mit dem Essen fertig waren.
Peggy räumte die Teller weg. Jenny holte ihre Zigaretten. Joes Frau schenkte den obligaten Kaffee ein. Man spürte, dass sie alle auf das warteten, was nun endlich kommen musste.
Joe räusperte sich. Er rieb sich über die Augen, sah zur Decke hinauf. »Onkel Winston ist heute Mittag gestorben«, krächzte er rau.
Einen Augenblick war es totenstill.
Dann flüsterte seine Frau tonlos: »Großer Gott, Joe … Das … das tut aber weh …«
Joe zog sein großes rotes Taschentuch und schnäuzte sich geräuschvoll. »Tom Winston«, sagte er dann mit klarer Stimme. »Tom Winston … Er war der beste Freund, den ich je gehabt habe. Der beste Mann, den die Arbeiter im Hafen je hatten. Und er ist noch keine vierundzwanzig Stunden tot, da kommen schon ein paar Hyänen und streiten sich um das zurückgebliebene Aas!«
Joes Frau war aufgestanden. Sie holte eine Ginflasche aus dem Kühlschrank und schenkte ein Wasserglas halbvoll ein. Schweigend stellte sie es vor Joe auf den Tisch. Aber er schob es zur Seite und fuhr sich wieder über die Augen. An diesem Tisch hatten sie vor nicht einmal vier Monaten Toms Geburtstag gefeiert. Nicht in einem großen Hotel, wie es sich der Boss der Hafenarbeiter allemal hätte leisten können. Nein, hier, in der Küche von Joe Martin.
Peggy hatte Tränen in den Augen. Ihre Stimme klang dünn und zaghaft. »Dad, ich weiß vielleicht nicht, wie dir jetzt zumute ist, aber ich … ich … ich wollte dir …« Sie fing zu weinen an.
Joe strich ihr unbeholfen über den Kopf. Jenny hatte die beiden Kinder nach nebenan gebracht, wo sie vor dem Schlafengehen noch eine Märchensendung im Fernsehen schauen durften. Die Stimmen aus dem Fernsehgerät hallten undeutlich herüber. Jetzt kam Jenny zurück an den Tisch und griff nach dem Ginglas.
»Jenny«, zischte Joes Frau scharf.
»Lass sie nur, Mutter!«, sagte Joe. »So was muss jeder auf seine Art abmachen.«
»Ich kann’s einfach nicht glauben«, sagte Joes Frau. »Ich kann’s nicht glauben, Joe. Ich kann’s einfach nicht …«
Joe nippte an seinem Kaffee. Er atmete einmal tief. »Wir können jetzt den Kopf nicht hängen lassen«, sagte er mit neuem Mut. »Aus irgendwelchen Rattenlöchern werden sie jetzt natürlich kommen. Wer die Gewerkschaft der Hafenarbeiter hat, der hat verdammt viel Macht in dieser Stadt in der Hand. Tom hatte eine saubere Gewerkschaft aufgebaut. Wir werden jetzt darum kämpfen müssen, dass sie sauber bleibt.«
Seine Frau legte ihre Hände auf seine schwielige Faust. Sie strich fast scheu über die hornhautbedeckten Finger. Es war die Hand eines Mannes, der ein Leben lang hart für seine Familie gearbeitet hatte. Vielleicht keine Hand für Zärtlichkeiten, aber die verlässliche Hand ihres Joe.
»Du wirst es schaffen, Joe«, sagte sie überzeugt. »Du wirst es ganz bestimmt schaffen …«
Joe nickte und lächelte ihr zu. Er war stolz auf seine Familie. Auf seine Winny. In dreißig Jahren hatte sie neben ihm gestanden, in Not und Hungerzeiten. Sie hatte begriffen, wenn ein Streik noch eine Woche fortgeführt werden musste, obgleich sie längst keinen Cent mehr im Haus hatten. Und wenn jetzt die Zeiten des Kampfes wiederkommen sollten – Winny würde neben ihm stehen, wie sie dreißig Jahre lang neben ihm gestanden hatte.
Er bückte sich und zog sich die Schuhe wieder an. »Ich habe Mac, Bill und die anderen in die Eckkneipe bestellt«, erwiderte er. »Wir wollen überlegen, auf was wir uns vorbereiten können. Die Gangster sollen unsere Gewerkschaft nicht bekommen. Sie hatten keine Chance, solange Tom am Leben war, und – bei Gott! – sie sollen keine Chance haben, solange ich am Leben bin!« Er fuhr in seine Joppe.
Plötzlich sprang Peggy auf, stürzte zu ihm und hing an seinem Hals. »Oh, Dad«, rief sie, »ich bin so stolz auf dich. Und du … du musst auch stolz auf mich sein, Dad.«
Er tätschelte ihr die schlanken Mädchenschultern. »Aber das bin ich doch, Peggy«, sagte er unbeholfen.
»Ich halt’s nicht mehr aus, Dad«, sagte seine Jüngste mit glühenden Wangen. »Ich muss es dir sagen. Sie haben mir heute die Redaktion unserer Schülerzeitung übertragen! Dad, weißt du, was das bedeutet? Ich mache jetzt die Zeitung für sechstausend Oberschüler! Dad, ist das nicht eine großartige Aufgabe?«
Joe drückte sie von sich weg, damit er sie besser ansehen konnte. »Peggy, Mädel«, sagte er rau, »jetzt … jetzt bin ich aber verdammt stolz auf dich.« Er drückte sie noch einmal an sich, dann legte er die Hand auf den Türknauf. »Bis nachher, Mutter«, wandte er sich an seine Frau und ging hinaus.
Eine Stunde später, gegen acht Uhr abends, klingelte es an der Tür zu Joes Wohnung. Winny Martin band sich den blau karierten Küchenkittel ab und zog die Tür auf.
Ein rundlicher Mann in einem hellen Kamelhaarmantel stand vor ihr. Er trug einen braunen Filzhut mit einer ungewöhnlich breiten Krempe. Höflich lüftete er seine Kopfbedeckung.
»Guten Abend«, begrüßte er sie. »Verzeihen Sie die Störung. Ich suche Joe Martin.«
Winny nickte und faltete die Hände vor ihrem rundlichen Leib. »Das ist mein Mann, Mister«, sagte sie schlicht und doch stolz.
»Kann ich ihn bitte einen Augenblick sprechen?«
Hinter ihr ging eine Tür.
Die kleine Angela kam barfuß in ihrem rosaroten Schlafanzug angelaufen. »Ist Opa wieder da?«, rief sie. »Er hat mir heute noch keine Geschichte erzählt!«
»Angela! Du sollst doch im Bett bleiben! Jenny! Jenny!«
Aus dem Wohnzimmer tauchte die Mutter der Kleinen auf. Kopfschüttelnd hob sie ihre Tochter hoch, um sie ins Bett zurückzubringen.
Winny Martin wandte sich wieder dem freundlich lächelnden Besucher zu. »Entschuldigen Sie, Sir. Die Kleine will und will abends nicht ins Bett.«
»Ja, das ging uns doch allen mal so, nicht wahr?«
»Ja«, seufzte Winny. »So sehr ändert sich die Welt gar nicht. Aber was machen wir denn jetzt, Sir? Mein Mann ist da drüben im Hinterzimmer von Cornan’s Lokal. Sie haben dort eine Gewerkschaftsbesprechung.«
»Das ist aber ärgerlich«, erwiderte der Besucher. »Es ist nämlich dringend. Ich komme aus dem Sekretariat von Tom Winston. Ich habe eine wichtige Nachricht für Ihren Mann.«
»Gehen Sie doch hinüber«, schlug Joes Frau arglos vor.
»Nein, das möchte ich nicht. Es … es ist sehr vertraulich, und man braucht mich nicht zu sehen, verstehen Sie? Könnten Sie nicht …?« Der Mann sah sie unter seinem breitkrempigen Hut her freundlich bittend an.
»Natürlich«, antwortete Winny. »Ich sage Joe Bescheid. Sie können ja vor dem Lokal warten.«
»Das ist aber nett von Ihnen.«
»Ach, nicht der Rede wert. Wir brauchen nur über die Straße zu gehen.«
Winny Martin ließ die Tür hinter sich angelehnt. Neben dem fremden Mann überquerte sie die Straße, die feuchtschwarz im Licht der Laternen glänzte.
Winny Martin stolperte über den losen Bordstein. Der Fremde griff gewandt nach ihrem Arm und stützte sie aufmerksam.
»Danke«, sagte Winny erschrocken. »Da wäre ich beinahe in den Pfützen gelandet. Seit drei Wochen ist der Stein lose. Ich möchte wissen, wann sich endlich jemand darum kümmert.«
Zum Eingang der Kneipe führten ein paar ausgetretene Stufen hinauf. Sie lagen im geisterhaften Licht der roten Leuchtreklame.
»Ich warte hier, wenn es Ihnen recht ist«, meinte der Fremde.
Winny nickte. »Ja. Ich komme gleich mit meinem Mann zurück.«
Winny betrat das Lokal. Ein paar Männer aus der Nachbarschaft grüßten sie. Winny nickte ihnen freundlich zu, während sie auf das Hinterzimmer zuging. Ein junger Hafenarbeiter lehnte neben der Tür und kaute auf einem Streichholz.
»Oh, hallo, Mrs Martin«, sagte er und stieß sich von der Tür ab. »Ihr Mann ist da drin. Soll ich ihn rausrufen?«
»Ja, bitte, Johnny. Ich muss mit ihm sprechen. Es ist dringend.«
Der junge Arbeiter nickte und verschwand durch die Doppeltür. Gleich darauf kam Joe heraus. mit seinen fast sechseinhalb Fuß überragte er jeden Mann im Lokal. Das eisengraue Haar glitzerte im Lichtschein.
»Was ist denn, Mutter?«, fragte er schnell. »Ist etwas mit den Kindern?«
»Aber nein, Joe«, erwiderte sie. »Draußen steht ein Mann aus Winstons Büro. Er hat eine dringende Nachricht für dich, aber er möchte nicht gesehen werden.«
Joe durchquerte das Lokal so schnell, dass seine Frau Mühe hatte, ihm zu folgen. Erst an der Tür holte sie ihn ein, weil er die Tür, auf sie wartend, aufhielt. Sie schob sich hindurch. Auf den ausgetretenen Treppenstufen stand der fremde Mann in dem hellen Kamelhaarmantel.
»Joe Martin?«, fragte er.
Joe nickte.
»Ja, das bin ich. Was ist …?«
Er kam nicht weiter. Der Fremde hatte rasch unter seinen Mantel gegriffen. Als er die Hand wieder hervorzog, lag ein schwerer Colt in seinen Fingern.
»Nein!«, schrie Winny und stürzte vorwärts.
Der Mann drückte dreimal ab. Feuer schoss aus der Mündung des Colts. Der Krach der Schüsse übertönte für drei Sekunden das schrille, gellende Schreien der Frau. Joe Martin wurde zurückgeworfen. Seine Linke fuhr hoch und suchte vergebens in der Luft nach einem Halt.
»Joe!«, schrie seine Frau und klammerte sich an ihn. »Joe, um Gottes willen, Joe!«
Ihre Hände fuhren in verzweifelter Angst über sein Gesicht. Er knickte mit dem linken Knie ein und neigte sich nach vorn. Seine Frau wollte ihn festhalten, aber der schwere Körper zog sie mit sich. Sie rutschten die Stufen hinab und stürzten auf den Gehsteig.
Auf der anderen Straßenseite flog die Tür auf. Peggy stürzte heraus. »Mutter!«, gellte ihre helle Mädchenstimme.
»Joe! Joe! Joe! Joe!«, schrie Winny Martin, bedeckte das Gesicht ihres Mannes mit Küssen, schrie ohne Unterlass, fühlte das warme, fließende Blut von Joe über ihre Hände strömen und schrie und schrie.
Oben an der Kreuzung gellte eine Polizeisirene auf. Zuckendes Warnlicht raste die Straße herab. Aus der Kneipe stürzten Männer heraus. Fenster flogen auf, neugierige Rufe wurden laut. Und auf dem Gehsteig kniete Winny Martin neben ihrem Mann und schrie sich ihren letzten, unmenschlichen Schmerz aus der Seele.
Der Streifenwagen, vom Lärm der Schüsse aufmerksam geworden, schoss heran. Die Bremsen kreischten, die Reifen quietschten, als er vor der Treppe zur Kneipe jäh stoppte. Zwei Cops sprangen heraus. Einer bückte sich und packte die Frau am Arm.
»Hören Sie auf«, sagte er. »Hören Sie auf. Lassen Sie ihn los!«
Peggy hatte in fliegender Hast die Straße überquert. Vier Schritte vor ihrer unaufhörlich schreienden Mutter blieb sie plötzlich stehen. Ein rauer Laut brach aus ihrer Kehle.
»Hören Sie auf«, wiederholte der Cop.
Winny Martins Stimme hatte alles Menschliche verloren. Sie klammerte sich an ihren Mann, als wollte sie mit der Kraft ihrer liebenden Hände sein Leben festhalten.
Der andere Cop nahm eine Taschenlampe. Er knipste sie an und bückte sich. »Großer Gott«, murmelte er. »Dem kann niemand mehr helfen …«
2
Der Himmel über New York war aschgrau. Im Osten zeigte sich ein erster fahler, gelber Streifen. Dünner Nieselregen fiel. Ich ließ den Jaguar durch die Einfahrt rollen und hielt an der gewohnten Stelle.
Als wir die Halle durchquerten, zeigte die elektrische Uhr 5:02 Uhr morgens.
Mr High saß hinter seinem Schreibtisch. In seinem Rücken zog sich die lange Glastafel mit dem aufgemalten Stadtplan von New York City hin. An einer Stelle oben im Norden flackerte ein Lämpchen. Anzeichen für einen Einsatz von FBI-Kollegen in Harlem.
»Guten Morgen, Jerry«, sagte Mr High und deutete auf die Besuchersessel. »Guten Morgen, Phil.«
»Guten Morgen, Chef«, erwiderten wir gleichzeitig.
Mr High schob ein paar Papiere über den Schreibtisch. »Eure Mitgliedskarten für die Hafenarbeiter-Gewerkschaft. Das Arbeitsbuch. Eine Verdienstbescheinigung der Malcolm-Werft.«
»Weiß die Personalabteilung der Werft Bescheid?«, fragte ich.
»Selbstverständlich. Alle Rückfragen dort werden in unserem Sinne beantwortet. Und dann hier noch die Sozialversicherungskarten. Sie heißen ab sofort nicht mehr Jerry Cotton, sondern Jerry Stone. Und Sie sind nicht mehr Phil Decker, Sie sind jetzt Phil Baker.«
»Na, da haben wir aber mal hübsche Namen«, brummte ich. »Stone und Baker. Das ist ja noch einfallsreicher als Cotton und Decker.«
Mr High lächelte. »Nicht zufrieden?«
»Wo werde ich denn?«, meinte ich. »Ein G-man ist überhaupt immer zufrieden: mit der Arbeitszeit, mit den Arbeitsbedingungen, mit dem Gehalt, mit den Dienstvorschriften, mit den ungeschriebenen Dienstvorschriften, mit den Anweisungen aus Washington, mit den …«
»Wollen Sie heute früh noch im Hafen anfangen?«, fragte Mr High gelassen.
»Ach so, ja«, sagte ich und betrachtete mir meine Hände. »Kisten und Ballen schleppen, vermute ich. Na ja, ist ja nicht das erste Mal, dass mir die Haut in Fetzen von den Fingern hängen wird. Komm, Phil Baker, mach nicht so ein verdrießliches Gesicht. Arbeit schändet schließlich nicht.«
»Du mich auch, Jerry Stone«, sagte mein alter Freund und Kampfgenosse.
Wir steckten unsere Papiere für unsere neue Existenz ein. Mr High deutete auf zwei ehemalige Seifenkartons, die jetzt prall gefüllt und mit billigem Bindfaden verschnürt neben seinem Schreibtisch standen. »Der mit der grünen Schrift ist für Phil, der rote für Jerry.«
»Wie symbolisch«, sagte ich und hob meinen Karton auf. »Also dann, Chef. Wir haben ja gestern schon alles besprochen. Wenn wir was brauchen, melden wir uns irgendwie.«
»Ja, aber seien Sie vorsichtig!«
»Ich weiß schon«, erwiderte ich. »Der Staat hat wieder kein Geld für Staatsbegräbnisse.«
Mr High war aufgestanden und streckte Phil die Hand hin. »Sie haben eine schwere Aufgabe«, sagte er. »Aber ich bin sicher, dass Sie es schaffen werden. Machten Sie’s gut, Sie beiden!«
Für einen Augenblick hatte ich etwas in der Kehle. Schräg hinter Mr High stand die Flagge der USA, und daneben hing eine Tafel an der Wand. Sie trug die Namen der Kameraden, die einmal genau wie wir dem Chef die Hand gedrückt hatten – und die dann auf einer Bahre zurückgebracht worden waren.
»Dann wollen wir mal«, brummte Phil.
Und damit marschierten wir hinaus. Im Lift stießen wir auf Steve Dillaggio. Sein schütteres flachsblondes Haar glänzte wie verdünnter Whisky.
»Sie müssen sich geirrt haben«, sagte er steif. »Die Bowery ist weiter im Süden.«
Ich täuschte eine Linke, setzte ihm eine freundschaftliche Rechte in die kurzen Rippen und sagte: »War Ihr Name nicht Al Capone?«
»Sie verwechseln mich mit meinem großen Bruder«, erwiderte Steve.
Er sollte uns mit einem neutralen Dienstwagen hinunter zum Hafen fahren. Mit dem roten Jaguar konnte ich da ja kaum als Hafenarbeiter antanzen. Wir verstauten unsere Seifenkartons, kletterten selbst in den Wagen und baten Steve, vorsichtig zu fahren, weil wir schließlich wichtige Leute seien.
»Verschluck dich nur nicht«, erwiderte er und ließ den Dienstwagen zur Einfahrt hinausrollen.
Der Nieselregen hatte immer noch nicht aufgehört. Ich rechnete mir aus, dass wir acht Stunden lang vermutlich im Freien würden schuften müssen. Und das bei diesem verdammten Regen. Na ja, ich musste ja auch unbedingt auf Phil hereinfallen und zum FBI gehen. Dabei gab es so hübsche, gemütliche Büros in der Stadtverwaltung.
»Beim FBI beginnen die offiziellen Dienststunden um neun Uhr«, murrte Phil. »Wieso, zum Teufel, fangen die Hafenarbeiter um sechs an?«
»Nun heul doch nicht gleich«, erwiderte ich. »Ein paar Leute müssen schließlich arbeiten, damit die übrigen leben können.«
»Deine Sprüche sind mal wieder hinreißend.«
»Sag mal Mist, mein Kleiner.«
»Mist!«, sagte Phil.
»Großartig«, lobte ich. »Und jetzt sag mal verdammter Hurensohn.«
»Verdammter Hurensohn. Warum?«
»Na ja«, brummte ich. »Vielleicht wird aus dir doch noch ein Hafenarbeiter.«