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Ich starrte in die Mündungen ihrer Revolver und in ihre gnadenlosen Gesichter. Sie wollten mich töten, die Männer in den Uniformen der New York City Police. Es war brutaler, eiskalter Mord. Aber sie nannten es Hinrichtung ...
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Die Hinrichtung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »Confidence«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6289-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Hinrichtung
1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.
Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:
»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.
Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
Es war ein brutaler, vorsätzlicher Mord. Sie vollzogen ihn wie eine Hinrichtung.
Die Müllkippe schob ihre Ausläufer weit in die Bucht. Zu Tausenden fielen die Möwen vom Sund her ein und erfüllten die Nacht mit ihrem schrillen Gekreisch. In der Ferne hing das dumpfe Brausen vom Lärm der Riesenstadt. Die Lichter aus Millionen von Fenstern und von Abertausenden von Laternen reichten nicht bis zum Abfallplatz. Hier regierte schwarze Finsternis.
Ein Station Wagon rumpelte von der Anfahrtsstraße quer über den Müll der Zivilisation. Leere, verbeulte Konservendosen schepperten blechern von unten her gegen die Karosserie. Weit draußen hielt der Wagen an. Seine abgeblendeten Scheinwerfer tasteten wie zwei bleiche Geisterfinger in die endlose Schwärze. Die erste Wagentür wurde aufgestoßen.
Lieutenant Ralph Matley wurde von kräftigen Armen herausgezogen. Über seinen Lippen klebte schwarzes Isolierband. Die dunkelblaue Schirmmütze hatte er verloren. Das blonde, kurz geschnittene Haar hing ihm mit zwei Strähnen in die schweißfeuchte Stirn. Seine Arme waren nach hinten gebogen, die Gelenke hielt ein Handschellenpaar zusammen.
Sie packten ihn zu zweit und führten ihn in den Lichtkegel der plötzlich aufflammenden Autoscheinwerfer. Zwölf Schritte vor dem Wagen blieben sie stehen und drehten ihn um. Für eine Sekunde schloss er die Augen vor dem grellen Licht. Dann öffnete er sie wieder und sah über den Wagen hinweg auf die fernen Lichter der Stadt.
Es war seine Stadt. Er war hier geboren und aufgewachsen. Hier war er als Patrolman durch die Straßen gegangen, und hier hatte er seine ersten Kontrollmärsche als Sergeant absolviert. In dieser Stadt hatten sie ihn zum Lieutenant der City Police gemacht, und in dieser Stadt wäre er eines Tages Captain geworden. Denn er war ein tüchtiger Cop, ein ehrlicher Cop, ein unbestechlicher. Deswegen stand er jetzt hier.
Sein Blick ging in eine Ferne, die namenlos war. Er wusste, was sie vorhatten, aber er war ein Cop, und er würde sterben wie ein Cop. Aufrecht und ohne zu zittern. Und in seinem Herzen war die Gewissheit, dass die Mörder nicht davonkommen konnten. Kein Copkiller kommt davon. Keiner.
Inzwischen waren auch die anderen ausgestiegen. Nun standen sie je zu dritt auf beiden Seiten des Wagens. Sie hoben die Arme. Jeder hielt einen Revolver in der Hand, einen 38er Smith & Wesson vom langläufigen Modell. Sechs Augenpaare zielten. Sechs Mörderhände drückten ab. Sechs Kugeln schlugen in die Brust von Lieutenant Ralph Matley.
Die Mörder ließen ihn liegen. Sie wandten sich stumm dem Lieferwagen zu und zogen die Türen auf, um einzusteigen. Die Innenbeleuchtung schaltete sich ein. In ihrem dünnen Licht erkannte man die Kleidung der Mörder: Jeder von ihnen trug die Uniform eines Sergeant der New York City Police.
***
Das größte Dienstzimmer im 72. Revier hatte seinen eigenen Namen: »der Appellplatz«. Denn hier pflegte der Revierleiter seine Cops antreten zu lassen, wenn er ihnen eine seiner markigen Reden halten wollte. Hier wurden die offiziellen Tadel ausgesprochen und die seltenen Belobigungen.
Captain Patrick O’Connors war nicht nur Ire, er sah auch so aus. Über dem kantigen Schädel klebte eine struppige, fuchsrote Haarpracht, in der die ersten silbrigen Fäden glänzten. Tiefe Furchen liefen von den Nasenflügeln hinab zu dem wuchtigen Kinn. Das sonnengebräunte, faltenreiche Gesicht aber wurde von den strahlend grünen, scharf blickenden Augen beherrscht. Wenn O’Connors einen seiner Cops ansah, hatte der noch im Wintermantel das Gefühl, nackt und wehrlos zu sein.
Der Captain regierte über eine Streitmacht von hundertachtzig Cops und einundzwanzig Revier-Detectives, die in drei Schichten arbeiteten. Zum Revier gehörten fünfzehn Streifenwagen und drei schwere Motorräder. O’Connors befehligte sie als gottgewollte Obrigkeit.
Als er den Appellplatz betrat, standen die sechzig Cops der Nachtschicht in zehn Gliedern zu je sechs Mann. Sie standen wie Gardegrenadiere, und O’Connors ließ seinen Blick eine geschlagene Minute lang über sie hingleiten. Ein Härchen auf einem Uniformjackett hätte eine Katastrophe ausgelöst. Aber der Captain fand kein Härchen.
Als der Captain vorging und auf das Podium trat, knarrten die Bretter unter seinen Füßen. Er war nicht einmal sechs Fuß groß, aber er wog zweihundertzwanzig Pfund, und von denen war nicht eine Unze überflüssiges Fett.
Mit zeitraubenden Schnörkeln hielt sich O’Connors niemals auf. Deswegen begann er seine Ansprache auch nicht mit einem Gruß. Sie sahen und hörten ja, dass er da war.
»Wir haben sechs neue Cops bei uns«, sagte er mit seiner sonoren Bassstimme. »Sie sind frisch von der Polizeischule zu uns gekommen und werden sich im zweiundsiebzigsten Revier ihre ersten Sporen verdienen. Dazu möchte ich etwas Grundsätzliches sagen.«
Der Captain machte eine Pause und legte seine Schirmmütze auf das kleine Rednerpult, neben dem er sich postiert hatte. Seit Jahr und Tag war dies das Zeichen für den wachhabenden Lieutenant, die versammelten Männer zu einer bequemeren Stellung zu veranlassen.
Lieutenant Ben Morris machte im vordersten Glied eine stramme Kehrtwendung. »Rührt euch!«, rief er.
Ihre Beine flogen schlagartig auseinander. Bei O’Connors ging es militärisch zu, und wer das nicht mochte, der durfte kein Cop werden. Ganz einfach.
»Die Bürger dieser Stadt«, fuhr der Captain fort, »nennen uns Cops. Aber sie haben auch noch einen anderen Namen für uns: ›New Yorks Feinste‹. Die Feinsten, das bedeutet, dass eure Stiefel in jedem Augenblick glänzen wie Lackschuhe. Es bedeutet, dass eure Uniform täglich frisch aufgebügelt ist und man mit einer Lupe keinen Fleck finden könnte. Es heißt, dass es selbstverständlich keinen Cop gibt, der es wagen würde, Bartstoppeln spazieren zu tragen. Wir sind New Yorks Feinste, und die Cops des zweiundsiebzigsten Reviers sind die Feinsten der Feinsten.«
Wieder ließ der Captain eine kleine Pause eintreten. Sie sollten begreifen, dass er jedes Wort buchstabengetreu ernst und haargenau so meinte, wie er es aussprach. Als nach seiner Meinung genug Zeit verstrichen war, um über seine ersten paar Sätze nachzudenken, setzte er seine Ansprache fort.
»Auf dem Hudson schwimmt einer der modernsten Polizeikreuzer der Welt. Das Schiff trägt den Namen Patrolman Talkowski. Es ehrt das Andenken eines New Yorker Cops, der im Kampf gegen Gangster gefallen ist. Ich will, dass in der Brust eines jeden Cops vom zweiundsiebzigsten Revier dieser Name unauslöschlich weiterlebt. Wir sind Soldaten in einem Krieg, der nie zu Ende geht. Wir haben die Bürger dieser Stadt vor den Ratten und Hyänen der Gesellschaft zu schützen.«
Die Männer hörten aufmerksam zu.
»Ihr werdet Jugendlichen entgegentreten müssen, die euch in sechsfacher Übermacht mit Schnappmessern und Fahrradketten angreifen. Es kann sein, dass ihr allein auf einem finsteren Hinterhof einem Burschen nachgehen müsst, der nur auf eine Gelegenheit wartet, euch abzuknallen wie einen tollwütigen Hund. Ihr seid oft die Ersten, die ein Feuer entdecken. Ihr werdet ohne Schutzmasken in eine Hölle aus Flammen und Rauch springen müssen, um eine bettlägerige Frau, ein ohnmächtiges Kind oder einen sinnlos betrunkenen Mann herauszuholen. Sie werden euch deshalb keinen einzigen Dollar mehr Gehalt bezahlen. Aber ihr werdet es tun, wie es Talkowski und all die anderen getan haben, weil ihr Cops seid, weil ihr zu New Yorks Feinsten gehört, und weil ihr Cops des zweiundsiebzigsten Reviers seid.«
Abermals machte O’Connors seine Pause. Lieutenant Morris wusste aus zwölfjähriger Erfahrung, dass nun der dritte und letzte Teil seiner Ansprache fällig war.
»Ich verlange von jedem Cop des zweiundsiebzigsten Reviers das Beste, das er zu geben hat, das heißt: alles. Aber ihr müsst in jedem Augenblick wissen, dass ich für euch da bin. Für jeden Mann, in jeder Lage und zu jeder Sekunde. Wer Hilfe oder einen Rat braucht, in welcher Angelegenheit auch immer, der kommt zu mir. Ich bin dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr zu sprechen, und ich bin vierundzwanzig Stunden am Tag zu erreichen. Lieutenant, lassen Sie die Leute an ihre Arbeit gehen.«
Mit schweren, wuchtigen Schritten marschierte Captain O’Connors hinaus. Lieutenant Morris ließ die Männer wegtreten. Sechzig Cops drängten zur Tür, alte und junge, erfahrene und Neulinge.
Einer der letzten war ich: Jerry Cotton, seit zwei Tagen blond und mit einem volleren Gesicht, aber jetzt zum ersten Mal als Jerry Gordon in der Uniform eines frisch gebackenen Patrolman. Das Dienstschild auf meinem Uniformrock glänzte so neu, wie ich es am Nachmittag von der Kleiderkammer im Hauptquartier erhalten hatte. Und nicht einmal Captain O’Connors wusste, dass ich gar kein richtiger Streifenpolizist war, sondern in Wahrheit einer von sechstausend G-men, ein Special Agent des FBI.
***
Im Bezirk des 72. Reviers leben rund neunzigtausend Menschen. Der Revierbereich umfasst schier endlose Straßenzüge mit Geschäften und Wohnblocks. Aber es gibt auch an die hundertvierzig kleine und mittlere Fabriken, Kai- und Hafenanlagen am East River und ein paar Hochhäuser von den Hauptverwaltungen einiger Versicherungsgesellschaften.
Und es gibt, dicht am Fluss, die große Brauerei. Vierfach strahlt von den Hauswänden und von einem gewaltigen Fabrikschornstein die blau-weiße Reklame in die Nacht: WW-Bier – Amerikas Bier.
William Walker stemmte die Fäuste dorthin, wo vor zwanzig Jahren einmal seine Taille gewesen war, und sah hinauf zu dem hochragenden Schornstein. WW, das hieß: William Walker. Und William Walker war verdammt stolz darauf.
»Hallo, Mister Walker«, sagte eine frische Jungmännerstimme hinter ihm.
Der Brauereibesitzer drehte sich um. Über sein kugelrundes Gesicht lief ein breites, joviales Grinsen.
»Delanoy«, polterte er und streckte die Hand aus. »Wie geht’s, mein Junge? Auf Streife?«
»Ja, Sir«, erwiderte Jack Delanoy, ein Cop des 72. Reviers. »Wollen Sie so spät noch arbeiten?«
»Wir arbeiten in drei Schichten«, verkündete WW stolz. »Amerikas Durst ist nicht zu stillen. Rauchen Sie eine gute Zigarre, mein Junge?«
»Wenn ich sie aufheben darf, bis mein Dienst beendet ist, gern, Sir.«
WW stopfte zwei fleischige Finger in die obere Brusttasche seines Jacketts und brachte eine lange, dunkle Zigarre zum Vorschein, die sich nicht einmal ein unverheirateter Cop hätte leisten können. Bevor er sie dem jungen Streifenbeamten gab, zeigte er mit ihr hinauf zu der gleißenden Reklame am Schornstein.
»Ich hab was draus gemacht«, sagte er. »WW-Bier. Vor vierzig Jahren kannte es kein Mensch. Heute schuften an die dreitausend Leute unter diesem Zeichen. Ja, mein Junge, ich habe ganz unten angefangen. In der Gosse, wenn Sie so wollen. Aber ich hab’s geschafft. Jetzt bin ich nicht mehr aus dem Geschäft zu drängen. Von niemandem.«
William Walker war seine Zigarre losgeworden und stemmte die Fäuste wieder in die Hüften.
Plötzlich lachte er schallend. »Dabei hat mein Vater mitten in der Prohibition angefangen, als von der Regierung die große Trockenperiode über Amerika verhängt war. Da haben wir angefangen, Bier zu brauen. Können Sie sich das vorstellen, mein Junge?« WW klatschte dem jungen Cop die Hand auf die muskulöse Schulter und lachte so schallend, dass ihm die Tränen über die feisten Wangen rollten. »In der Prohibitionszeit angefangen, Bier zu brauen«, wiederholte er. »Wenn man so zurückdenkt, sollte man’s nicht für möglich halten.«
Delanoy grinste ein wenig verlegen. Natürlich war das längst kein strafbarer Tatbestand mehr, aber es berührte ihn doch peinlich, dass er sich als Cop ein solches Geständnis anhören musste.
»Na, auf jeden Fall ist es mir lieber, dass ich jetzt mein Bier nicht mehr heimlich in einem Keller herstellen muss«, fuhr WW fort. »Solche Abenteuer machen einem Spaß, solange man jung ist. In meinem Alter muss man nach dem Gesetz leben, damit man seine Ruhe hat. Keine Aufregungen, das schadet dem Herzen, hab ich recht?«
»Ganz bestimmt, Sir. Aber ich muss weiter. Das Revier erwartet meinen Routineanruf. Also nochmals vielen Dank für die gute Zigarre, Sir. Und gute Nacht.«
»Gute Nacht, mein Junge, gute Nacht«, sagte Walker mit jovialem Nicken. Er sah dem Cop nach, bevor er seine Sprungdeckeluhr aufklappen ließ und nach der Zeit schaute. Es war kurz nach Mitternacht, und also wurde es höchste Zeit für WW, an seine Verabredung zu denken.
Er stapfte am Pförtnerhäuschen vorbei und nickte gedankenvoll auf den Gruß des Pförtners. Im Hof rangierten zwei große Fernlastzüge. Sie brachten Hopfen aus Kansas. WW hörte die Rufe der Männer, die Fässer über die Laderampe rollten. Aber seine Gedanken waren nicht bei seinem Geschäft, wenigstens nicht beim Biergeschäft. William Walker hatte noch andere Interessen, größere, kühnere, bedeutend kühnere …
Er betrat die Brauhalle, nickte den Arbeitern von der Nachtschicht flüchtig zu und wandte sich nach links. Im gekachelten Treppenhaus führten Stufen auf die Kontrollgalerie und hinab in den Keller, wo Hopfen und andere Ingredienzien gelagert wurden.
Der Keller erstreckte sich unabsehbar weiträumig unter der großen Halle. Kisten und Fässer waren zu Stapeln aufgetürmt. Kreidezeichen gaben Auskunft über Inhalt und Lagertermin. WW hatte das Licht eingeschaltet. Zweihundertvierunddreißig Neonröhren verbreiteten Tageshelle.
Seine Schritte hallten laut durch die Stille. Aus dem runden Gesicht war jeglicher Ausdruck von Jovialität verschwunden. Jetzt wirkte es ernst, gesammelt, konzentriert – und brutal. Es war nicht nur geschäftliche Tüchtigkeit gewesen, die William Walker hatte groß werden lassen.
Am Ende des langen Kellers gab es eine Metalltür. Sie war nur mit einem Vierkantschlüssel zu öffnen, und WW blickte noch einmal auf die Uhr, bevor er den Schlüssel hervorkramte und aufschloss.
Ein finsterer Betonkorridor von knapp dreiunddreißig Fuß Länge öffnete sich vor ihm. WW zog die Tür hinter sich zu, ließ sie aber angelehnt. Er stapfte kurzatmig durch den Gang. An seinem Ende öffnete sich ein riesiger U-Bahn-Tunnel vor ihm. Die Geleise lagen zu sechst nebeneinander. Rechts in der Ferne schimmerten die Lichter der nächsten Haltestelle. Links leuchteten die Zeichen von vier Weichen mit ihren Vorsignalen.
WW steckte sich eine Zigarre an und wartete. Eigentlich hätte der Kerl schon da sein müssen, mit dem er sich an diesem ungewöhnlichen Ort treffen wollte. Aber es gab tausend Möglichkeiten, die ihn aufgehalten haben konnten. Kommen würde er auf jeden Fall. Dessen war sich WW absolut sicher.
Aus der Ferne näherte sich ein ansteigendes Brausen. Dann tauchten die Scheinwerfer eines U-Bahn-Zugs auf. Donnernd dröhnte er an WW vorbei durch den Tunnel und verschwand in der Schwärze. Das Brausen verklang nur langsam, und die Luft schien noch nach einer halben Minute zu vibrieren.
Es kam ein Zug aus der Gegenrichtung. Die beleuchteten Fenster rasten an dem Brauereibesitzer vorüber wie eine einzige Lichterkette. Bei der Geschwindigkeit blieben die Passagiere im Zug verschwommene Gestalten.
WW blickte ungeduldig in die Richtung, wo die nächste Station lag. Nun wurde es aber wirklich allmählich Zeit. Oder bildete sich der Kerl etwa ein, er könne einen Mann wie William Walker absichtlich warten lassen? Wollte er damit andeuten, dass er sich nicht einschüchtern ließ? WW paffte grimmig eine Rauchwolke vor sich hin. Nun, man würde diesem Peter Turner schon zeigen, wer den Ton angab.
Walker kniff die Augen zusammen. Bewegte sich da hinten nicht ein Schatten? Tatsächlich. Dort näherte sich ein Mann durch den Tunnel. Manchmal schob sich seine Silhouette vor den hellen Hintergrund des Stationslichts. Dann verschwand er wieder für ein paar Sekunden im Dunkeln, um erneut aufzutauchen. WW wartete.
Es war Peter Turner, wie man ihn aus einigen Klatschspalten der Gesellschaftspresse kannte: in den besten Jahren, knapp vierzig, jugendlich straff, mit den beiden typischen Falten an den Mundwinkeln, die ihn so aussehen ließen, als lächelte er ständig. Er wirkte wie ein großer Junge, als er geblendet die Hand hob, um sich gegen das unverhoffte Licht aus Walkers Taschenlampe zu schützen.
»Na endlich!«, knurrte der Brauereibesitzer.
Turner kam noch zwei Schritte näher. Er trug einen dunkelblauen Smoking. Wahrscheinlich kam er wieder von irgendeiner Party. Wenn man dem Klatsch glauben durfte, trieb er sich ja mehr auf den Partys herum, als hinter seinem Anwaltsschreibtisch zu sitzen.
»Machen Sie doch die Funzel aus«, sagte Turner. »Was soll das?«
»Ich muss mich vergewissern, dass der richtige Mann vor mir steht«, erwiderte WW und zog den Rechtsanwalt in den kurzen Betongang. »Jetzt hören Sie mir mal zu. Ich muss Ihnen ein paar Dinge erklären, und ich habe keine Lust, morgen früh noch hier herumzustehen. Hier zieht’s ja wie in einem Windkanal.«
»Augenblick, Mister Walker«, gab Turner betont zurück. »Sie haben mich angerufen und mir diesen seltsamen Treffpunkt vorgeschlagen, zu einer ebenfalls seltsamen Zeit. Und mit der noch seltsameren Bedingung, dass mich keiner sehen dürfte. Deshalb musste ich vorhin auf dem Bahnsteig warten, bis keine Leute mehr herumstanden. Ich bin all Ihren merkwürdigen Aufforderungen nachgekommen, obgleich ich keinen Grund dazu hatte.«
WW gab einen grunzenden Laut von sich.
»Natürlich tut man einem Mann wie Ihnen einen Gefallen«, sprach Turner weiter. »Aber in der Hoffnung, dass ein Geschäft dabei herauskommt. Und wenn Sie mit mir ein Geschäft vorhaben, dann werden Sie sich einen freundlicheren Ton angewöhnen müssen. Ich mag es nicht, wie von einem Sergeant herumkommandiert zu werden. Meinen Militärdienst habe ich bereits hinter mir.«
»Halten Sie den Mund«, bellte WW. »Sie tun, was ich Ihnen sage, oder Sie sind morgen früh Ihre Anwaltsgeschichten los und stehen binnen weniger Wochen obendrein noch vor Gericht. Sie haben die Mündelgelder von Jean Collins unterschlagen. Ich habe die nötigen Beweise in meinem Safe liegen. Ich kann Sie jeden Augenblick hochgehen lassen.«
Walker konnte nicht sehen, wie Turner auf diese Mitteilung reagierte. Hier im Gang war es so dunkel, dass man die Hand nicht vor Augen hätte sehen können. Aber Turners betroffenes Schweigen war beredter als Worte. Außerdem dröhnte im Tunnel sowieso gerade wieder ein Zug vorbei, und sie mussten warten, bis der Lärm in der Ferne allmählich abklang.
»Wie sind Sie dahintergekommen?«, fragte Turner schluckend und mit heiserer Stimme. »Woher wissen Sie …?«
»Meine Sache«, antwortete WW genüsslich. »Jedenfalls ist Ihnen klar, dass ich Sie in der Hand habe.«
Turner zündete sich eine Zigarette an. Im Licht des Streichholzes konnte Walker sehen, dass der Rechtsanwalt blass geworden war, leichenblass. Die Maske des sorglosen Playboys war von ihm abgebröckelt wie der schadhafte Verputz einer alten Hausfassade.
»Und«, krächzte Turner, »und was haben Sie vor?«
WW zog an seiner Zigarre. Der Widerschein der roten Glut huschte über sein rundes Gesicht. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, aber dann sagte er knapp und präzise: »Ich will Sie zum Bürgermeister von New York machen.«
»Was?«, fragte Turner. »Wie? Sind Sie verrückt?«
»Natürlich nur als mein Mann«, erwiderte WW kalt. »Sie sind der Typ, mit dem man Wahlen gewinnen kann, wenn man entsprechend nachhilft. Sobald Sie auf dem Stuhl des Bürgermeisters …« Walkers Worte gingen unter im Dröhnen des nächsten U-Bahn-Zugs.
Als der letzte Wagen kaum vorbei war, rief Turner: »Was haben Sie gesagt?«
»Sie bekommen eine Liste der Leute, die Sie einsetzen und ernennen werden, sobald die Wahl vorbei ist. Den Polizeipräsidenten an erster Stelle.«
»Aber das ist doch hirnverbrannter Wahnsinn! Ich bin politisch noch nie in Erscheinung getreten. Ich kann die Wahl nicht gewinnen, ich kann überhaupt nicht kandidieren, es ist aussichtslos!«
»Was WW anfängt, ist niemals aussichtslos. Außerdem, wer sagt denn, dass Sie die absolute Mehrheit erreichen sollen? Hauptsache, Sie sind in der Wahlkampagne tüchtig dabei. Wir werden Sie groß herausstellen. Ein paar Weiber fallen allemal auf Ihre hübsche Visage rein. Und hinterher muss man ein paar Leute haben, die genau wissen, dass sie Ihre Person gewählt haben. Für eine Mehrheit lassen Sie mich mal sorgen. Ich mache das schon.«
»Aber wie …?«
»Mann, ich denke, Sie sind ein intelligenter Bursche. Die Geschichte ist ganz einfach. Die Leute geben in den Wahllokalen ihre Stimme ab. Geheim natürlich. Also kann niemand im Voraus wissen, wie das Wahlergebnis aussehen wird.«
»In meinem Fall könnte ich es Ihnen aber voraussagen«, meinte Turner kopfschüttelnd. »So einen Blödsinn habe ich in meinem Leben noch nicht gehört. Mich zum Bürgermeister von New York machen! Da müssten Sie verdammt viele Stimmzettel austauschen. Das wäre die einzige Möglichkeit, mich durchzukriegen, verlassen Sie sich drauf.«
»Endlich kommen Sie dahinter. Austausch der Stimmzettel, mein Lieber – genau das haben wir vor.«
Turner verschlug es die Sprache. Er zog an seiner Zigarette und schleuderte sie ungeduldig fort, als er in der Feme erneut das Brausen eines Zugs hörte. Erst als auch dieser Lärm wieder abgeklungen war, ergriff er das Wort.
»Das ist … Na, verrückt ist schon kein Ausdruck mehr. In jedem Wahllokal steht ein Cop und passt auf, dass alles sauber und ordentlich zugeht. Bei Wahlschluss wird die Urne versiegelt. Da gibt es überhaupt keine Möglichkeit, zu manipulieren.«
»Während der Wahl nicht.«
»Danach? Großer Gott, wie stellen Sie sich das denn vor? Im Rathaus sitzen ein paar Hundert vereidigte Wahlhelfer. Alle Stimmen werden kontrolliert und wahrscheinlich zwei- oder dreimal gezählt.«
»Ein Anwalt sollte in der Lage sein, logisch zu denken und nicht sprunghaft«, brummte WW selbstzufrieden. »Wir haben den Plan vor neun Jahren ausgearbeitet. Neun Jahre lang haben wir unmerklich unsere Vorbereitungen getroffen. Jetzt ist es so weit. Wir werden die Wahlscheine auf dem Weg zwischen Wahllokal und Rathaus austauschen. Haben Sie’s begriffen?«
»Aber die Urne wird von einem Cop zum Rathaus gebracht! Er lässt die Urne nicht eine Sekunde aus den Augen!«
»Braucht er ja auch nicht«, sagte William Walker und lachte kalt. Turner fröstelte unwillkürlich, während WW fortfuhr. »Die Hauptsache ist nur, dass der richtige Cop die richtige Urne zum Rathaus bringt. Ich werde dafür sorgen, dass es der richtige Cop ist. Wenigstens in so vielen Stimmbezirken, dass sie für eine Mehrheit ausreichen. Finden Sie sich mit zwei Dingen ab, Turner: Sie werden Bürgermeister in diesem Millionennest. Und Sie werden als Bürgermeister tun, was Sie von uns gesagt bekommen. Dafür erfährt kein Mensch von Ihrer Veruntreuung. Na, mein Junge? Ist das ein Geschäft?«