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Eine rätselhafte Mordserie beunruhigte Harlem. Die Opfer waren lauter Rauschgiftzwischenhändler. Ein neuer Mann schaltete alle Konkurrenten aus. Phil und ich ermittelten auf dem gefährlichsten Pflaster Manhattans. Und Schritt für Schritt brachten wir Licht in die bitteren Träume von Harlem ...
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Die bitteren Träume von Harlem
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »In America«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6290-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die bitteren Träume von Harlem
1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.
Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:
»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.
Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
»Da ist einer hinter uns her«, brummte Atlanta Smith. Er starrte in den rechten Seitenspiegel des schweren Fernlastzugs und verzog sein dunkelhäutiges Gesicht zu einer angsterfüllten Grimasse. »Du hast wieder deinen Gewerkschaftsbeitrag nicht bezahlt, Mister Tyler«, fügte er hinzu und rollte die großen Augen. »Und jetzt folgen die Jungs uns und werden uns ganz fürchterlich verhauen.«
»Hoffentlich«, knurrte Frank Tyler am Steuer des schweren Trucks. »Das täte dir mal richtig gut. Deine Seele ist doch so schwarz wie deine Haut.«
»Ja, Mister Tyler, du bist ein Weißer, und deshalb hast du immer recht, Mister Tyler. Aber sie sind trotzdem hinter uns her.«
»Na, sicher. Wir haben den Goldschatz von Fort Knox geklaut. Da müssen sie doch hinter uns her sein.«
Tyler drehte das Steuerrad. Seine schaufelgroßen Hände bewegten sich mit der Lässigkeit, die aus seiner Bärenkraft kam.
Er thronte wie ein Riese im Führerhaus des schweren Lastzugs. Atlanta Smith, sein farbiger Beifahrer, ließ sich aber auch jede Nacht etwas Neues einfallen, um die langen Fahrstunden zu verkürzen.
»Vielleicht sind es gar nicht die Jungs von der Transportgewerkschaft«, orakelte der Farbige jetzt düster. »Vielleicht sind es richtige Gangster, die uns den Goldschatz abnehmen wollen. Oh, Mister Tyler, ich habe schrecklich große Angst! Fünfhundert Mafiagangster gegen uns zwei. Mit hundert, da könnte man ja drüber reden. Aber gleich so viele!«
»Jaja.« Tyler schaltete am Berg einen Gang zurück. »Immer dieser Aufwand! Zünd mir mal eine Zigarette an, damit du auch mal was Nützliches für die menschliche Gesellschaft leistest.«
»Sofort, Mister Tyler.« Als er ihm die Zigarette zwischen die Lippen schob, sagte Smith: »Wenn’s im Hals kratzt, musst du husten, Mister Tyler. Das ging mir bei der ersten Zigarette auch so. Aber du brauchst keine Angst zu haben, ich verrate es deiner Mammy nicht.«
»Du bist ein lausiges Stinktier.« Frank Tyler grinste. Er hatte den stets zu Späßen aufgelegten Farbigen ins Herz geschlossen. Er zeigte ihm seine Zuneigung, indem er ihn mit Schimpfwörtern bedachte.
»Hast du Stinktier zu mir gesagt?«, fragte Atlanta Smith und fletschte sein Raubtiergebiss.
»Ja. Genau. Stinktier. Soll ich dir erklären, was das ist?«
»Nicht nötig, Mister Tyler. Ich war auf der Oberschule. Ich weiß, was ein Stinktier ist. Es ist ein sehr passender Ausdruck für mich. Ich bin ein Neger, und alle Neger stinken. Das weiß jedes Kind in Amerika.«
»Dann solltest du dich verdammt mal danach richten«, sagte Tyler. »Jetzt fahre ich seit über zwei Jahren mit dir diesen Schlitten, und du Saukerl stinkst immer noch nicht. Man kann sich auf gar nichts mehr verlassen.«
»Und dabei gebe ich mir so viel Mühe«, versicherte Atlanta Smith und sah wieder in den Seitenspiegel. »Mister Tyler, du hast sie noch nicht abgehängt. Sie sind immer noch hinter uns her.«
Frank Tyler warf einen schnellen Blick in den linken Seitenspiegel. Tatsächlich folgte ihnen seit etwa dreißig Meilen ein anderer Lastzug. Den Scheinwerfern nach konnte es ein Dodge sein, einer von den neuen mit den Halogenscheinwerfern. Der Kumpel musste ebenso schwer geladen haben wie sie selbst, sonst hätte er längst an ihnen vorbeiziehen können.
»Ich will dir mal was sagen, du Rotznase«, verkündete Frank Tyler großartig.
»Au fein! Sag mir mal was, Mister Tyler!«
»Siehst du da unten schon unsere schöne Raststätte liegen? Da rechts, wo die roten Lichter sind?«
»Ja, Mister Tyler. Jedes Mal, wenn wir die Tour nach New York haben, ärgere ich mich über die rote Leuchtreklame. Ich muss immer an ganz was anderes denken als an eine Raststätte.«
»Egal, was du denkst. Jedenfalls werde ich dort ausscheren und in der Raststätte eine schöne Tasse Kaffee trinken. Und weißt du, was passieren wird? Unsere fünfhundert Mafiagangster werden an uns vorbeibrausen, und wir sind sie los.«
Frank schob den Blinkhebel abwärts, damit der Lastzug hinter ihnen gleich wusste, warum Frank die Geschwindigkeit bergab nicht erhöhte. Als sie auf dem Parkplatz vor der Raststätte ausrollten, kam der unbekannte Kollege hinter ihnen her.
»Uhuuuu!«, heulte Atlanta Smith. Er sprang mit einem großen Satz aus dem hochgelegenen Fahrerhaus hinunter auf die Erde. »Jetzt kommen die fünfhundert Gangster! Oh, Mister Tyler, ich verkrieche mich unter der Schürze der Wirtin.«
»Das könnte dir so passen«, meinte Frank, knallte die Tür zu und stiefelte mit seinen zweieinhalb Zentnern hinter seinem Beifahrer her. »Heute gibst du den Kaffee aus, du schwarzer Geizkragen. Gestern habe ich bezahlt.«
»Ich bin ein armer Neger und tue alles, was der große weiße Mister befiehlt.«
»Fein«, sagte Frank zufrieden. »Als zweites befehle ich dir, das Steuer zu übernehmen, wenn wir die letzten hundertachtzig Meilen runterreißen.«
»Dabei kann ich gar nicht Auto fahren«, erwiderte Atlanta Smith stöhnend.
»Das erste wahre Wort, das ich von dir höre. Junge, heute ist gar nichts los in diesem Schuppen. Nicht einmal Oklahoma-Bill ist da. Den Kerl beneide ich.«
»Warum, Mister Tyler?«
»Der fährt für ein Varieté. Im vorigen Sommer hatte er achtzehn bildhübsche Mädchen geladen, eine Rollschuhtruppe. Achtzehn Leckerchen! Und was kutschieren wir durch die Gegend? Verpackungsmaterial! Da soll einer noch Lust an der Arbeit haben. Kaffee, bitte. Zweimal. Der Stinker bezahlt.«
Sie nahmen ihre Becher und setzten sich an einen Ecktisch, nachdem Atlanta Smith gehorsam Münzen auf die Theke gezählt hatte. Ein paar Minuten hielt selbst er einmal den Mund, während er den Kaffee schlürfte. Dann beugte er sich vor und raunte geheimnisvoll: »Mir ist was aufgefallen, Mister Tyler.«
»Was denn?«
»Die fünfhundert Gangster sind nicht reingekommen!«
»Klar doch. Was sollen die hier drinnen? Die klauen doch inzwischen unsere wertvolle Ladung. Du weißt doch: den Goldschatz!«
»Verflucht«, brummte der Farbige. »Und dabei wollte ich mich nächste Woche mit meinem Anteil zur Ruhe setzen.«
»Daraus wird nichts. Du kannst wieder von vorn anfangen. Als Laufbursche für die Mafia. Hoffentlich kriegst du den Job. Die brauchen intelligente Leute.«
»Dann brauchst du dich ja gar nicht erst zu bewerben. Gehen wir?«
»Wir gehen. Damit wir pünktlich in New York sind.«
Sie brachen auf. Als sie die breiten Schwingtüren der Raststätte aufstießen, blieb Frank Tyler erschrocken stehen.
Atlanta Smith rieb sich die Augen, schluckte, blinzelte und fragte heiser: »Wie lang ist unser Zug, Mister Tyler?«
»Über fünfundsechzig Fuß.«
»Und wie hoch?«
»Mehr als dreizehn.«
»Das dachte ich doch. So ein Ungetüm kann man nicht übersehen. Aber siehst du unsere schöne Mühle?«
»Nein«, sagte Frank Tyler tonlos. »Unser Zug ist nicht mehr da …«
***
Bud Nolan zog die Handbremse fest. Die Scheinwerfer ihres schweren Dodge-Zugs strahlten die weiß leuchtenden Stämme des Birkenwäldchens an, das nur zwei Meilen neben dem großen Highway lag. Nolan trug einen dunkelbraunen Rollkragenpullover. Das verdammte Ding geriet in kratzenden Konflikt mit seinen Bartstoppeln am Hals.
»Sieh nach, ob er kommt«, knurrte er, während er sich den geröteten Hals rieb. »Oder bist du auch dazu noch zu faul?«
Dominguez Salvatore spuckte das Streichholz aus, dessen Ende er zu Fasern zerkaut hatte. »Halt dein dämliches Maul! Arbeitest du dich tot, hä?«
»Werd bloß nicht frech, Nigger!«
»Ich bin kein Neger! Ich bin Puerto Ricaner. Soll ich dir den Unterschied erklären?«
»Ach ja. Tu das mal.«
Der Puerto Ricaner hatte die rechte Tür bereits aufgestoßen, sodass die Beleuchtung des Führerhauses eingeschaltet worden war. Jetzt drehte er sich zu Nolan um, der am Steuer saß. Für ein paar Sekunden starrten sie sich hasserfüllt an. Nolan hatte Vorurteile gegen alles und jedes, und Salvatore besaß die Heißblütigkeit eines leidenschaftlichen Temperaments.
»Eines Tages schlitz ich dir den Bauch auf«, zischte Salvatore heiser vor Wut.
»Angeber«, knurrte Nolan. Seine tückischen Augen glitzerten. Die rote Narbe an seinem Kinn hatte sich dunkler gefärbt.
Von hinten überflutete sie Scheinwerferlicht. Das schwere Rumpeln vom Motor des herankommenden Lastzugs riss sie aus ihrem Streit.
»Er ist da«, knurrte Nolan. »Los, an die Arbeit. Und beweg dich, du fauler Drecksack. Ich habe keine Lust, alles allein zu machen!«
Er sprang vom Fahrerhaus hinunter. Genau hinter ihnen hielt der zweite Lastzug. Die Scheinwerfer wurden ausgeschaltet. Nick Castello schwang sich aus dem Fahrerhaus und fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißfeuchte niedrige Stirn.
»Das Kurzschließen war kein Problem«, sagte er. »Aber ich hatte Angst, dass die Kerle zu früh aus der Raststätte kämen. Los, reißt eure Ladetüren auf.«
Auf dem vordersten Lastwagen waren leere Kartons, ein paar Ballen alte Zeitungen und einige zerfledderte Taschenbücher geladen. Nolan und Salvatore warfen das ganze Zeug raus. Dann machten sie sich über die Ladung des zweiten Zugs her und verstauten sie auf dem ersten. Anschließend schoben sie ihren wertlosen Krempel auf die Ladefläche des zweiten Zugs. Als sie fertig waren, schwitzten alle drei.
»Dass mir jetzt keiner mit einer Zigarette herumfummelt«, warnte Castello und kletterte mit einem Vier-Gallonen-Kanister auf den zweiten Zug. Er kippte Benzin über die leeren Kartons, die Bücher und die Zeitungsballen. Als er wieder heruntersprang, rief er Nolan zu: »Fahr vor, aber lass mich auf der Straße vorbei. Und halte Abstand. Verstanden?«
»Bin ich denn blöd?«, rief Nolan zurück, während er wieder ins Führerhaus des vorderen Lastzugs kletterte.
Hintereinander rumpelten die beiden schweren Lastzüge den Waldweg entlang, bis sie nach knapp einer Meile auf den Zubringer zum Highway stießen. Nolan ging rechts heran und ließ Castello mit dem anderen Zug vorbei. Der Zubringer in dieser ländlichen Gegend war zu dieser morgendlichen Stunde kaum befahren. Castello ließ eine schwere, schnelle Limousine vorbei und fuhr langsamer, bis ihre rot glühenden Heckleuchten in der Nacht verschwunden waren.
Dann steuerte er den Zug auf den massiven Betonpfeiler der Überführung zu. Er bückte sich und schob die Kante des schweren Bausteins, den er im Führerhaus liegen hatte, auf das Gaspedal. Der schwere Quader drückte das Pedal nieder. Mit aufröhrendem Motor gewann der Zug rasch an Geschwindigkeit. Castello stieß die Fahrertür auf. Er saß schräg am Steuer und sah, wie der riesige Betonpfeiler näherkam.
Jetzt packten die linken Räder den Grünstreifen. Castello hielt das Steuer mit aller Kraft fest. Noch zwanzig Yards – fünfzehn – zwölf – zehn – acht …
Nick Castello ließ das Steuer los und stieß sich mit beiden Füßen ab. In einem weiten Bogen flog er auf den breiten Rasenstreifen, überschlug sich und verlängerte seinen Sturz durch eine geschickt angehängte Rolle. Aus den Knien federte er hoch.
Vor ihm krachte der Lastzug frontal gegen den Pfeiler. Einen Augenblick sah es so aus, als wollte der Zug auf Castellos Seite kippen.
Castello spurtete los. Mit weiten Sätzen sprang er aus der Gefahrenzone. Er sah sich um. Nolan mit seinem Zug war noch gut sechzig Yards entfernt. Feiger Drecksack!, dachte Castello wütend. So groß brauchte der Abstand nicht zu sein.
Warum fängt das Miststück nicht zu brennen an? Castello kramte in fieberhafter Eile seine Zigaretten hervor, zündete eine an und näherte sich dem Heck des Zugs bis auf ungefähr drei Yards. Die rechte Hälfte der Ladetür war von dem Aufprall aufgeklappt. Castello schnippte die Zigarette auf die benzingetränkte Ladung.
Eine Stichflamme schoss empor, sodass Castello erschrocken zurückwich. Er rannte auf die Fahrbahn, überquerte sie und lief Nolans Zug entgegen. Salvatore hielt ihm die Tür des Führerhauses auf. Im Fahren kletterte Castello hinauf.
»Mann«, keuchte er. »Erstklassige Arbeit, was? Wer macht mir das nach? Sieh dir das an, die Mühle brennt wie Zunder.«
»Verschluck dich bloß nicht«, brummte Nolan und gab Gas. Jetzt kam es nur noch darauf an, dass sie so schnell wie möglich wegkamen. Er schaltete und konzentrierte sich auf die Straße. In weit geschwungenem Bogen führte sie wieder hinauf zu dem Highway, den sie drei Meilen vorher am Wäldchen verlassen hatten.
Castello war mit sich zufrieden. Er hatte den gefährlichsten Teil ihres Jobs erledigt, und er hatte ihn gut erledigt. Jetzt hatte er sich eine Zigarette verdient. Als er den ersten Rauch ausblies, lachte er plötzlich.
»Was ist los?«, fragte Salvatore übermütig. »Wenn ich mir das so richtig überlege: Ich hab ja weiß Gott schon manches Ding gedreht. Aber so was?«
»Hast du noch nie ’nen Truck geklaut?«, fragte Nolan.
»Mehr als du. Aber hast du schon mal über drei Millionen leere Milchtüten geklaut?«, fragte Castello und lachte wieder. »Drei Millionen Milchtüten!« Er lachte, bis ihm die Tränen übers Gesicht liefen.
***
Ich hatte darauf verzichtet, die Sirene an meinem Jaguar einzuschalten. Es war halb fünf in der Frühe, und die Leute in New York brauchten ihren Schlaf. Aber das Warnlicht auf dem Dach rotierte und sandte seine geisterhaften Strahlen über die dunklen Fassaden der Häuser, an denen wir vorbeifegten.
Phil Decker, mein Freund und Berufskollege, brütete auf dem Beifahrersitz dumpf vor sich hin. Vielleicht war er noch nicht richtig wach. Es ist nicht jedermanns Sache, mit vier Stunden Schlaf auszukommen. Und in der letzten Zeit hatten sie uns wieder mal verdammt hart rangenommen.
»Was für eine Straße?«, fragte ich.
»Nine-sixth«, erwiderte Phil.
»Dann pass doch mal auf. Wir müssten gleich da sein.«
»Das da war die Eighty-eighth Street.«
Ich zählte die Querstraßen weiter, gab Blinkzeichen und bog mit kreischenden Reifen nach rechts ab. Meine Scheinwerfer rissen ein paar dunkelhäutige Gesichter in einem Hauseingang jäh aus der Finsternis. Vielleicht waren es Liebespärchen, vielleicht Obdachlose, vielleicht Kokser. Hier war alles möglich. Hier war Harlem, finsteres, tiefes Harlem. Slums, übervölkertes Farbigenviertel. Abfallhaufen einer Millionenstadt.
»Da unten«, meinte Phil.
»Ich seh’s.«
Hundertfünfzig Yards vor uns zuckten andere Warnlichter. Sechs oder sieben Wagen standen dicht beieinander. Alles Limousinen, bis auf den großen Kastenwagen der Mordkommission. Wären wir am Times Square, in der 42nd Street oder in Downtown, würde es hier längst von Reportern wimmeln. Aber wer interessiert sich schon für einen Mord in Harlem? Hier gab es jede Nacht Schlägereien, Messerstechereien, Schießereien, öfter mal Totschlag und ab und zu Mord. Das war so, und das würde aller Voraussicht nach so bleiben. Wer sollte sich darüber aufregen?
Ich ließ den Jaguar neben der Reihe der Polizeifahrzeuge ausrollen, drehte den Zündschlüssel und zog ihn ab. Wir stiegen aus. Vom East River wehte ein kalter Nachtwind herauf. Ich schlug den Mantelkragen hoch.
»Da seid ihr ja«, sagte Harry Easton, seines Zeichens Detective Lieutenant in der Kriminalabteilung der City Police und seit Jahr und Tag erprobter Leiter der zweiten Mordkommission. Seine blonde Bürstenfrisur glänzte im Widerschein der Standscheinwerfer.
»Tag«, brummte ich. »Was ist los?«
»Der schon zur Gewohnheit gewordene Mord in den Morgenstunden«, erwiderte Easton gallebitter. »Ich weiß ein neues Gesellschaftsspiel: Morgenstunde – Mörderrunde. Ist das eine Idee?«
»Großartig«, lobte ich. »Das wäre dann der vierte innerhalb von sechs Wochen. In Ihren Kollegenkreisen haben Sie so einen treffenden Spitznamen Easton. Sie heißen Cleary, weil Sie angeblich jeden Mordfall aufklären. Was ist plötzlich los mit euch?«
»Ich passe«, knurrte Easton wütend. »Zum ersten Mal, seit ich eine Mordkommission am Hals habe, geb ich auf. Soll sich doch das FBI mit diesen verdammten Fällen herumärgern! Dreimal haben wir nichts Gescheiteres tun können, als eine Leiche wegzukarren. Jedes Mal zweihundert neugierige Gaffer, aber nicht einen Zeugen. Zweihundert dunkelhäutige Gesichter, und keiner hat was gesehen oder gehört. Hier können Sie auf offener Straße zehn Mann umlegen, und niemand wird etwas davon gesehen haben. Mir steht’s bis hier.«
»Ich sehe aber keine zweihundert Gaffer.«
»Ausnahmsweise mal nicht, Cotton«, gab Easton zu. »Es muss daran liegen, dass die Leiche gefunden wurde, kaum, dass sie tot war.«
»Oha«, sagte ich überrascht. »Und wer hat sie gefunden?«
Easton drehte sich um. An dem großen Einsatzwagen der Mordkommission lehnte ein Fahrrad. Es hatte ein schweres Paket Zeitungen auf dem Gepäckträger und ebenfalls prall mit Zeitungen vollgepackte Seitentaschen am Hinterrad. Neben dem Fahrrad stand Ed Schulz, Eastons hünenhafter Stellvertreter. Er gab gerade einer jungen farbigen Frau Feuer. Sie steckte in umgekrempelten, an den Schenkeln hauteng sitzenden Bluejeans. Über den gut gewachsenen Oberkörper spannte sich ein schwarzer Pullunder. Für die Kälte, fand ich, etwas wenig.
»Die Kleine«, sagte Easton. »Sie heißt Dorothy Palmer, ist neunzehn Jahre alt und fährt jeden Morgen die Zeitungen aus. Sie hat einen Schock erlitten. Ich habe Ed gesagt, dass er sie beruhigen soll.«
»Haben Sie schon mit ihr gesprochen?«, wollte ich wissen.
»Nein. Sie könnte etwas gesehen haben. Sie sprang auf die Straße und winkte mit rollenden Augen und hysterischen Gesten einem Streifenwagen, der oben um die Ecke gekommen war. Die Cops riefen uns an. Ich bin diese Häufung gleichartiger Morde hier oben leid. Deshalb habe ich das FBI um Unterstützung gebeten.«
»Mal sehen, ob man jetzt mit ihr reden kann«, schlug ich vor.
Wir gingen hinüber zu dem Einsatzwagen. Die Seitentür stand offen. In dem winzigen Büro, das der Wagen enthielt, hockte ein Mann der Mordkommission und hämmerte auf die Reiseschreibmaschine ein, die zum Inventar gehört.
»Guten Morgen«, sagte ich, nickte Ed Schulz zu und wandte mich gleich darauf an die junge Frau. »Wir sind Special Agents des FBI, Miss Palmer. Das ist Agent Decker, ich bin Agent Cotton. Fühlen Sie sich besser?«
Sie war gertenschlank und doch gut proportioniert. Der rassige Kopf mit der Stupsnase und dem breiten Mund zeigte Spuren von Panik. Die Hand, mit der sie die Zigarette hielt, zitterte. Vielleicht fror sie.
»Möchten Sie meinen Mantel?«, erkundigte sich Phil.
Sie blickte ruckartig zu ihm hin. »Wie? Nein, danke. Ich friere nicht. Und auf dem Rad wird mir schon warm. Ich muss mich beeilen, morgens, wenn ich die Zeitungen ausfahre. Da kommt man nicht zum Frieren.«
»Könnten Sie uns jetzt erzählen, was passiert ist, Miss Palmer?«, fragte Easton.
»Ach so, ja, natürlich. Ich kam mit dem Rad die Straße runter. Da lief hier aus der Einfahrt ein Mann heraus.«
»Können Sie ihn beschreiben?«, wollte Easton wissen.
»Beschreiben? Ich weiß nicht. Es ging alles so schnell.«
»War es ein Farbiger? Haben Sie das erkennen können?«
»Nein, es war ein Weißer.«
»Sind Sie sicher?«, hakte Easton nach.
»Ganz sicher. Ein Weißer. Warum? Muss ein Mörder immer ein Nigger sein?«
»Davon hat kein Mensch gesprochen, Miss Palmer. War er groß? Mittelgroß? Oder eher klein?«, fragte ich.
»Groß. Sehr groß, glaube ich. Sechs Fuß bestimmt. Ich wollte mit dem Rad in die Einfahrt, als er rauskam.«
»Dann müssen Sie ihn eigentlich mindestens einen Augenblick lang im Licht Ihrer Fahrradlampe gesehen haben«, meinte ich.
»Ja, sicher.«
»Hat er einen Hut getragen?«, fragte ich weiter.
»Ja. Weit ins Genick geschoben.«
Ich beugte mich vor. »Was für einen Hut? Einen Filzhut? Grau? Blau? Dunkel? Vielleicht schwarz?«
»Ich weiß nicht.«
»Hatte er eine Narbe?«, versuchte ich es weiter. »Hatte er eine Brille? Einen Bart? Irgendetwas Auffälliges im Gesicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Keine Narbe, keine Brille, keinen Bart.«
»Fiel Ihnen gar nichts an ihm auf?«, schaltete sich der Lieutenant ein. »Manche Leute hinken, laufen krumm …«
»Halt«, fiel sie Easton ins Wort. »Er hatte eine schiefe Haltung. Er … er hatte die rechte Schulter hochgezogen. Ja, jetzt erinnere ich mich wieder.«
Na also, dachte ich, man muss sie nur immer nach der alten Methode ansprechen und alles aufzählen, dann fällt ihnen einiges wieder ein. Sechs Fuß groß, rechts hochgezogene Schulter. Besser als gar nichts. Easton forschte weiter. Es ergab sich aber nichts mehr, das für uns von Interesse war.
»Geben Sie Sergeant Schulz bitte Ihre Adresse«, sagte Easton abschließend. »Wir werden Ihre Aussage zu Protokoll nehmen müssen. Ed, kümmern Sie sich darum.«
»Klar, Chef.«
Wir gingen an den Polizeifahrzeugen vorbei in die Einfahrt hinein.
Unsere Schritte hallten von den hohen Brandmauern der Nachbarhäuser wider. Ungefähr zwanzig Schritt hinter der Einfahrt lag der Tote, mit den Füßen zu uns. Als wir in den hellen Lichtkreis traten, den die Standscheinwerfer ausstrahlten, schluckte ich unwillkürlich.
»Oh«, bemerkte Phil tonlos.
»Ein verstümmeltes Gesicht und keine Hände mehr, also auch keine Fingerabdrücke«, meinte Easton zornig. »Nicht der kleinste Papierschnipsel. Da identifizieren Sie mal einen Toten!«
Ich griff nach meinen Zigaretten und drehte mich um. Und das auf nüchternem Magen! Warum, zum Teufel, war ich eigentlich nicht Briefträger geworden oder Beamter auf dem Katasteramt? Ich holte das Feuerzeug hervor und schnipste. Der Wind vom East River hatte zugenommen. Fauchend pfiff er in die Einfahrt.
Der vierte in sechs Wochen, dachte ich.
»Komm, Jerry.« Phil zupfte mich am Ärmel.
»Wo wollt ihr hin?«, fragte Easton.
»Wir sind gleich wieder da«, erwiderte ich.
Im Jaguar war es eine Idee wärmer. Wir zogen die Türen sorgfältig zu.
»Jerry, ich habe schon beim Zweiten gesagt, dass das kein Zufall sein kann.«
»Hast du. Aber die Kerle haben unseren Schutz abgelehnt, oder? Und wir hatten nichts gegen sie in der Hand. Noch kann man bei uns niemanden nur auf blauen Dunst hin festnehmen. Selbst nicht, wenn man vermutet, dass er möglicherweise umgelegt werden soll.«
»Eigentlich sind nur zwei übrig«, meinte Phil nachdenklich. »Die anderen zählen nicht. Die sind Gesocks.«
»Du denkst an Louis Copera und an den Aal?«
»Natürlich, Jerry.«
»Das können wir rauskriegen.«
Ich griff zum Mikrofon unseres Funksprechgeräts und rief unsere Funkleitstelle. Der Aal hieß eigentlich Joseph Mitlander, aber in New York sagte jeder, der ihm je begegnet war oder auch nur von ihm gehört hatte, der Aal. Der Name klebte an ihm wie das graue Bärtchen auf seiner Oberlippe.
»Legt mir einen Anruf an Joseph Mitlander rein«, bat ich die Funkleitstelle. »Ihr braucht nicht zu warten, bis er sich meldet. Schaltet euch in drei Minuten wieder ein.«
»Okay, Jerry.«