Jerry Cotton Sonder-Edition 78 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sonder-Edition 78 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Jahrelang hatten sie auf die Gelegenheit zu dem großen Coup gewartet. Als es losging, waren sie bis an die Zähne bewaffnet und bis ins Kleinste vorbereitet. Auch der spätere Rückzug war tadellos gesichert. Sie waren sechs Mörder. Aber sie hatten nur fünf Masken ...

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EPUB

Seitenzahl: 175

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Cover

Impressum

Sechs Mörder und fünf Masken

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelfoto: (Film) »Halloween IV«/ddp-images

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-6404-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Sechs Mörder und fünf Masken

1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.

Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:

»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«

Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.

Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.

1

Auftakt:

Bankhaus »Davidson Bros.«

Die beiden Männer trugen schwarze Anzüge und schwarze Krawatten. Jeder schob eine niedrige, zweirädrige Karre vor sich her. Die kleinen chromblitzenden Räder waren mit Vollgummi bereift. Sie verursachten nicht das leiseste Geräusch. Dafür rumpelte der Lift in dem alten Haus umso hörbarer.

In der vierten Etage drückten sie ihre kleinen Karren aus der Fahrstuhlkabine hinaus. Einer der beiden Schwarzgekleideten blieb stehen und brachte einen Zollstock aus seinem Jackett zum Vorschein. Er maß die Tiefe der Fahrstuhlkabine aus, schließlich ihre Diagonale.

»Es wird knapp werden«, sagte er.

Der andere runzelte die Stirn. Er hatte ein rundes, volles Gesicht mit einer breiten Knollennase. Auf dem linken Nasenflügel saß eine bräunliche Warze. Seine seeblauen Augen standen eng beieinander, sodass es manchmal schien, als schielte er.

»Irgendwie muss es gehen«, erwiderte er.

Sie gingen mit ihren Karren an der Reihe der dunkelbraunen Wohnungstüren entlang, bis sie das Schild mit der Aufschrift Joseph David Parker gefunden hatten. Der Erste zupfte seine weißen Handschuhe zurecht. Er war hagerer als sein Begleiter, aber breit in den Schultern und kräftig. Er klingelte.

Es dauerte lange, bevor die Tür geöffnet wurde. Eine üppige Vierzigerin in einem schwarzen Spitzenkleid sah die beiden Männer stumm an. Sie tupfte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Hinter ihr hörte man das leise Weinen von anderen Frauen.

»Guten Morgen, Ma’am«, sagten die beiden Männer, und der Hagere fügte mit einem verbindlichen Neigen des Kopfes hinzu: »Dürfen wir Ihnen noch einmal unser Beileid ausdrücken zu dem schweren Verlust, der Ihre Familie getroffen hat?«

»Danke«, erwiderte die Frau und unterdrückte ein Schluchzen. »Kommen Sie herein, bitte.«

Es war ein großes Wohnzimmer, das unmittelbar hinter der Flurtür begann. Die drei großen Fenster zur Straßenseite hin waren von Vorhängen verdeckt. An der Decke brannte das Licht in einem sechsarmigen Kronleuchter. Die Möbel waren alt, abgenutzt und zu den Wänden hin verschoben, damit Platz war für den Sarg, in dem Joseph David Parker die letzte Nacht in seiner Wohnung zugebracht hatte. Zwei Brüder des Toten, weißhaarige Greise, standen ein wenig verloren im Hintergrund. Einer spielte nervös an seiner dicken Uhrkette.

Neben dem Sarg knieten drei schwarz gekleidete Frauen. Sie sahen den beiden Männern entgegen, begriffen, dass der Tote weggebracht werden sollte, und weinten laut auf.

»Es … es kommt so plötzlich«, sagte die Üppige leise.

»Aber die Zeit war vereinbart«, erwiderte der mit der Knollennase.

»Ja. Natürlich. Trotzdem kommt es irgendwie … ach, ich weiß auch nicht. Haben Sie nicht noch ein paar Minuten Zeit? Vielleicht möchten Sie in der Küche eine Tasse Kaffee trinken?«

Die beiden Männer tauschten einen schnellen Blick.

Der Hagere schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Ma’am«, gab er gedämpft zurück. »Aber wir müssen in einer Stunde schon den nächsten … Hm, Sie verstehen?«

Die Frau nickte ein paarmal, während ihr große Tränen über die Wangen liefen. Sie rang die Hände, raffte sich zu einem Entschluss auf und beugte sich über die mittlere der drei Frauen, die vor dem Sarg knieten.

»Ella«, sagte sie schluchzend, »Ella, du musst jetzt Abschied nehmen … Komm … Sei tapfer, Ella …«

Die Frauen weinten lauter. Die beiden Männer wandten sich diskret zu den Vorhängen vor den Fenstern. Zwei, drei Minuten verstrichen, in denen man nur das Weinen der Frauen hörte. Schließlich drehte sich der Hagere um. Die Frauen neben dem Sarg waren aufgestanden. Der Hagere stieß seinen Begleiter an.

Sie schlossen den Sarg und schoben an beiden Enden ihre Karren darunter. Mit einer stummen Verbeugung gegen die Leidtragenden rollten sie den Sarg mit gemessenen Schritten hinaus. Eine Frau wollte ihnen nachlaufen, aber sie hörten, wie die Üppige sie zurückhielt. Die Wohnungstür schloss sich hinter ihnen. Die Fahrstuhlkabine erwies sich als ein Problem. Sie nahm die Länge des Sarges nicht auf.

»Verdammt«, knurrte der Hagere leise. »Pack an.«

Sie schoben den Sarg schräg hinein, aber sie mussten ihn am Kopfende noch anheben, bevor sich die Fahrstuhltür schließen ließ. Im Erdgeschoss wandten sie sich nach links zum Hofausgang. Ächzend trugen sie die Last vier ausgetretene Stufen hinunter. Der schwarze Buick nahm den Sarg auf. Sie schlugen die Türen zu und streiften ihre weißen Handschuhe ab. Der Hagere setzte sich ans Steuer. Er blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk.

Es war 9:12 Uhr am Vormittag des 25. April.

***

Hoffentlich kommen sie pünktlich, dachte Bankdirektor Frank R. Sheridan und ging nervös in seinem großen Arbeitszimmer hin und her. Die Zeit spielte eine entscheidende Rolle. Eine sehr entscheidende. Mit fahriger Geste fuhr er sich über das Doppelkinn. Die Aufregung tat ihm nicht gut. Er spürte wieder einmal sein Magengeschwür.

Durch das große vergitterte Fenster blickte er hinauf zu dem wolkenverhangenen, grauen Aprilhimmel. Es sah nach Regen aus. Fielen nicht schon die ersten Tropfen auf das flache Dach im Nebenhof? Sheridan schaute hinüber zu der Reihe der vier Garagen. Die Türen standen offen, die Boxen waren leer. Natürlich. Die Wagenbesitzer gingen ihrer Arbeit nach. Zum letzten Mal in dieser Woche. Es war ja Freitag. Sheridan schob seine Brille mit den dicken Gläsern höher. Stand da nicht vor den Garagen? Tatsächlich, ein schwarzer, großer Buick. Ein Leichenwagen.

Dann war der gute, alte Parker nebenan wohl doch von seinem Krebsleiden erlöst. Sheridan seufzte. Sein Magengeschwür, das Wetter, der Anblick des Leichenwagens, sie brachten ihn in eine melancholische Stimmung. Wofür rackerte man sich eigentlich ab? Am Ende stand unerbittlich der große, schwarze Buick mit den goldenen Palmenzweigen auf den Seiten.

Er drehte sich um und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Die Arbeit musste getan werden, auch wenn man wieder einmal seine trübsinnigen Gedanken hatte. In letzter Zeit hatte er sie viel zu oft. Waren es die Vorboten des Alters, die unbarmherzig auf ihn zukamen? Er drückte die Taste an seiner Vorzimmer-Gegensprechanlage.

»Ist Miss Longdale da?«, fragte er.

»Ja, Sir«, tönte es aus dem grauen Kunststoffgehäuse.

»Gut«, sagte er »Sie wissen ja, auf wen ich warte. Unterbrechen Sie sofort, wenn die Gentlemen kommen. Inzwischen schicken Sie Miss Longdale herein.«

Er sah zur Tür. Vor fast vierzig Jahren hatte es bei ihm auch einmal so begonnen. Wie die Zeit verflogen war. Er sah sich noch als aufgeregter Junge im Vorzimmer. Irgendwie war das ganze Theater lächerlich gewesen. Lieber Gott, was geschah denn schon? Man hatte die Schule hinter sich gebracht und trat eine Lehre in einer Bank an. Etwas ganz Alltägliches. Warum mussten dabei nur so große Worte gemacht werden? Er beschloss, es anders zu machen und auf keinen Fall pathetisch zu werden.

Als die Tür aufging, weiteten sich seine Augen hinter den dicken Brillengläsern. Er vergaß immer wieder, dass die Jugend heutzutage schneller reifte, als er es aus seinen Kindertagen in Erinnerung hatte. Das blonde, stupsnasige Mädchen, das hereingekommen war, konnte nicht viel älter als sechzehn Jahre sein. Auf Sheridan wirkte sie wie eine Zwanzigjährige.

Sie trug einen lindgrünen Minirock, der ihre schlanken Beine freizügig sehen ließ. Der blütenweiße, flauschige Pullover umhüllte jugendlich straffe Formen. Die großen grünen Augen blickten ihm unbefangen entgegen.

»Guten Morgen, Sir«, sagte die Kleine und hielt ihm die schlanke Mädchenhand hin. »Da bin ich also.«

»Ja … äh«, erwiderte Sheridan und suchte nach Worten. Er sah die Sommersprossen auf der kecken Stupsnase, er entdeckte einen dezent aufgetragenen Lippenstift, und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass die jungen Mädchen heute weitaus hübscher wirkten als zu seiner Zeit. »Nehmen Sie bitte Platz, Miss Longdale. Ich möchte keine großen Worte machen. Als ich seinerzeit meine Lehre antrat, wurde mir eine lange Rede gehalten. Zum Schluss, glaube ich, habe ich gar nicht mehr zugehört.«

»Das geht mir auch immer so«, meinte Cherry Longdale in entwaffnender Ehrlichkeit. »Oh, ich hasse diese salbungsvollen Reden! Sie hätten hören sollen, was da bei unserer Schulentlassungsfeier zusammengeredet worden ist. Mir tat der Po weh vom langen Sitzen. Können Sie sich das vorstellen?«

Sheridan hielt eine Sekunde die Luft an. Unwillkürlich streifte sein Blick über die wohlgerundeten Hüften des Mädchens, das schon so viel reife Weiblichkeit ausstrahlte.

Er räusperte sich. »Hm. Ja. Also. Was ich sagen wollte. Sie haben sich entschlossen, das Bankhandwerk, wenn ich mal so sagen darf, zu erlernen. Sie haben sich für einen schönen und verantwortungsvollen Beruf entschieden, Miss Longdale.« Er machte eine Pause, weil ihm eingefallen war, dass er doch nicht pathetisch werden wollte. »Aber selbstverständlich ist es nur ein Beruf wie tausend andere auch«, fügte er, gegen seine Überzeugung, hinzu.

Sie lächelte ihn an.

»Ich denke, dass unsere verdiente Miss McDouglas Sie an den ersten Tagen am besten einführen kann. Miss McDouglas ist eine unserer treuesten Mitarbeiterinnen. Sie ist schon über zwanzig Jahre bei uns. Ich hoffe, Miss Longdale, dass Sie gut mit ihr auskommen werden. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie sich bei uns wohlfühlen und Ihnen der Beruf, den Sie nun erlernen werden, Freude machen wird.«

»Ich denke schon«, sagte Cherry Longdale trocken.

Sheridan drückte auf einen der Knöpfe an der Gegensprechanlage und sagte vorgebeugt: »Miss McDouglas, wenn Sie sich einmal zu mir bemühen wollen? Ich möchte Sie mit unserem neuen Banklehrling bekannt machen.«

»Gewiss, Sir«, krächzte eine scharfe, weibliche Stimme aus dem Gehäuse. »Ich komme sofort, Sir. Auf der Stelle. Einen Augenblick.«

Nun überschlag dich nur nicht, dachte Cherry Longdale und blickte erwartungsvoll zur Tür. Ihre schlimmste Ahnung wurde übertroffen. Denn Dorothy McDouglas besaß nicht nur eine scharfe Stimme. Sie war außerdem auch eine fleischgewordene düstere Vision in Grau: Nicht nur Rock, Strickjacke und Schuhe zeigten graue Farben, auch ihr Haar, selbst die Farbe des hageren Gesichts mit der spitz vorspringenden Nase war grau.

Sheridan übernahm die Vorstellung. Die Augenbrauen von Miss McDouglas hüpften in die Höhe, als sie das Mädchen sah. Die Missbilligung in ihrem Habichtgesicht war überdeutlich.

»Na«, krächzte sie mit scharfer Stimme, »dann kommen Sie mal mit.«

»Klar«, sagte Cherry und lächelte dem Bankdirektor einen freundlichen Abschiedsgruß zu.

Die altjüngferliche Miss McDouglas bemerkte es mit aufkeimender Empörung. Nach zwanzig Jahren Mitarbeit in der Bank hätte sie sich nicht erlaubt, den Direktor derart vertraulich anzulächeln. Und dieses blutjunge Mädchen – schon dieser unmöglich kurze Rock, dann dieses respektlose Lächeln und überhaupt. Miss McDouglas rauschte in ihr Büro. Sie wies ungnädig auf einen altmodischen Schreibtisch, der unbenutzt an der Wand stand.

»Dort können Sie sitzen«, verkündete sie. »Fangen wir gleich an. Was sagt Ihnen der Begriff Storno?«

Cherry Longdale runzelte die Stirn und reckte das Stupsnäschen nachdenklich in die Höhe. Da an der weißen Decke des Büroraums keine befriedigende Antwort stand, wandte sie den Kopf und blickte suchend zum Fenster. Ein großer, schwarzer Leichenwagen stand im Hof des Nachbargebäudes. Nur was Storno hieß, das stand nirgendwo.

»Ist das nicht ein Fluss in Afrika?«, mutmaßte sie.

Miss McDouglas schloss die Augen, faltete die Hände und sandte einen Dulderblick nach oben, als sie die Augen wieder aufschlug. »Kongo«, sagte sie betont. »Das ist ein Strom in Afrika. Ich sehe schon. So hat es keinen Zweck. Ich kann mich auch nicht den ganzen Tag um Sie kümmern. Lesen Sie erst einmal diese Merkblätter durch. Aber aufmerksam, wenn ich Ihnen das raten darf.«

Sie zog einen verstaubten Aktenordner aus dem Regal hinter ihrem Drehstuhl und reichte ihn an das Mädchen weiter. Man sah der Mappe an, dass sie nicht eben häufig benutzt wurde.

Cherry Longdale klappte den Deckel auf. Sie bekam große Augen.

»Meine Fresse«, rief sie beeindruckt.

Auf dem obersten Druckblatt stand in großen Buchstaben:

FEDERAL BUREAU OF INVESTIGATION. Ratschläge zum Verhalten von Bankangestellten bei Überfällen – FBI-69/114.

Cherry begann, interessiert zu lesen. Ihre jugendlich-üppige Fantasie übersetzte die einzelnen Verhaltensmaßregeln sofort in Traumbilder. Sie sah sich unerschrocken hinter einem Kassenschalter einem Maskierten die Stirn bieten. Sie sah ihr Bild in den Zeitungen, ihren Namen in fett gedruckten Zeilen darunter. Mitten im Lesen sah sie plötzlich auf.

»Wo ist das Telefonbuch?«, fragte sie.

Miss McDouglas runzelte die ohnedies faltenreiche Stirn. »Wozu?«, fragte sie. »Privatgespräche während …«

»Ich will nicht telefonieren«, fiel Cherry ihr ins Wort. »Hier steht, dass man sich die Telefonnummer des FBI oder der nächsten Polizeidienststelle einprägen soll. Ah, da liegt ja ein Teilnehmerverzeichnis …«

Cherry Longdale hatte ein zerfleddertes Telefonbuch gefunden. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Schon auf der ersten Seite stand in dicken Buchstaben:

FBI, 201, East 69th Street … … … 535-7700.

Das Mädchen sah auf die Armbanduhr. Es war fünfzehn Minuten nach neun. Nun bin ich schon eine Viertelstunde Banklehrling, dachte Cherry Longdale. Aber statt, dass mir einer die Geheimnisse des Aktienmarkts oder sonst etwas Bedeutendes beibringt, sitze ich in einem nach hinten gelegenen Büro und muss eine Telefonnummer auswendig lernen. Na schön. Aller Anfang ist eben schwer. Sie schloss die Augen und begann, sich die Nummer vorzusagen. Bis sie die 535-7700 tatsächlich auswendig konnte.

***

Der Mann trug einen Overall. An den Armen und dem Oberkörper waren zusätzlich rot-weiß gestreifte Überzüge befestigt, wie sie Straßenarbeiter aus Sicherheitsgründen tragen.

Als der Hausmeister der Bank endlich vor ihm stand, sagte der Mann: »Können Sie uns das Tor auf dem Hof aufschließen?«

Der Hausmeister hatte Rheuma, mausgraues Haar und einen mürrischen Charakter. Aus einem ihm selbst nicht bekannten Grund lag er ständig mit Gott und der Welt in Zwietracht.

»Welches Tor?«, knurrte er.

»Da gibt’s ja nur eins«, brummte der Mann im Overall. »In der Mauer zum Nachbargrundstück hin, stimmt’s? Ein großes Metalltor.«

»Ich bin seit acht Jahren hier Hausmeister. Das Tor war noch nie aufgeschlossen. Noch nie!«

Der Mann im Overall ging neben dem Hausmeister in die Einfahrt hinein, die zu den Kundenparkplätzen an der Rückfront des Bankgebäudes führte. Er stopfte die Hände bis fast zu den Ellenbogen in die ausgebeutelten Taschen des sandfarbenen Overalls.

»Es ist mir schnurzegal, ob das Tor schon mal auf war oder nicht«, sagte er. »Sie müssen es für uns aufschließen. Wir sollen da hinten vermessen. Durch geschlossene Eisentüren hindurch können wir das nicht.«

»Was gibt’s denn bei uns zu vermessen? Wenn die bauen wollen, wüsste ich es.«

»Alleswisser, was? Nun machen Sie mal einen Punkt. Bei der Stadt werden neue Straßen geplant, Durchgangsstraßen und all so’n Quatsch. Was weiß ich? Ich bin nicht der Stadtbaudezernent. Ich weiß nur, dass wir heute da hinten vermessen müssen.«

Sie hatten die Rückfront des breiten dunkelgrauen Bankgebäudes erreicht, das noch aus der Zeit vor der Jahrhundertwende stammte. Simse und unnötiges Geschnörkel an der Fassade verrieten sein Alter. Den Nachbarhof trennte eine knapp neun Fuß hohe Backsteinmauer ab, die von einem schweren Metalltor unterbrochen wurde. Der Mann zeigte auf das Tor.

»Ist ja gut«, knurrte der Hausmeister. »Wenn die Stadt nichts Besseres zu tun hat, als überflüssigen Kram zu planen, aus dem sowieso nichts wird, soll es mir recht sein. Ich schließe Ihnen das Tor auf.«

Es war leichter gesagt als getan. Der Schlüssel, den der Hausmeister aus dem großen Schlüsselkasten im Flur holte, passte kaum noch in das verrostete Schloss. Als er endlich drinsteckte, ließ er sich nicht bewegen. Der Hausmeister musste eine Brechstange holen und sie als Hebel benutzen. Er schob sie durch den Schlüsselring und drehte mit aller Kraft. Nach einem grässlich schrillen Quietschen schnappte das Torschloss endlich zurück.

Sie zogen die beiden Torflügel auf. Rückwärtsfahrend stieß aus dem Nebenhof ein neu wirkender Lieferwagen auf den Hof hinter der Bank. Es war ein großer hellroter Buick. An den Türen stand New York City Planning Board.

Der Hausmeister beäugte mürrisch die Ankunft der fremden Männer. Sie trugen alle die auffällig gestreiften Schutzbezüge an den Ärmeln und Oberkörpern. Aus dem Wagen luden sie die nötigen Gerätschaften aus und stellten ein Bauzelt auf, in das sie ein paar Kisten trugen. Eine Weile sah ihnen der Hausmeister zu, dann fielen ihm seine eigenen Pflichten wieder ein. Er blickte auf seine Uhr.

Es war 9:18 Uhr.

2

Cherry Longdale hatte das letzte Merkblatt für Bankangestellte sorgfältig durchgelesen. Jetzt klappte sie den Aktenordner zu. Der Deckel war so verstaubt, dass sie die Nase rümpfte und über die Fingerspitzen blies.

»Sind die Schotten wirklich geizig?«, fragte sie plötzlich.

Miss McDouglas hob den hageren Kopf. Cherrys grüne Augen waren unschuldig fragend auf sie gerichtet.

»Die Schotten? Geizig? Wieso fragen Sie mich? Woher soll ich das wissen?«

»Sie haben doch einen schottischen Namen.«

Dorothy McDouglas holte empört Luft. Es war wirklich unglaublich, was sich die heutige Jugend an Respektlosigkeit erlaubte.

»Wir sind bereits in der achten Generation in Amerika«, verkündete sie würdevoll.

»So alt sehen Sie wirklich nicht aus«, sagte Cherry Longdale mit dem naivsten Gesicht der Welt.

Dorothy McDouglas ließ den Kugelschreiber fallen. Sie schloss die Augen und rang um Fassung. Sollte sie diesem ungezogenen Gör ein für allemal – aber nein. Das war ihrer nicht würdig.

»Miss Longdale«, sagte sie steif.

»Sie können ruhig Cherry zu mir sagen«, erwiderte das Mädchen, gab seinem Drehstuhl einen Stoß und ließ sich kichernd vor Freude dreimal um die eigene Achse wirbeln. »Das ist lustig«, stellte sie gleich darauf atemlos fest.

»Haben Sie nichts zu tun, Miss Longdale?«, kreischte Dorothy McDouglas und war nun wirklich kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

»Nein«, sagte Cherry. »Aber das macht ja nichts.«

Das Mädchen stand auf und stellte sich vor das Fenster. Mit dem spitz ausgestreckten Zeigefinger fuhr sie am Rahmen entlang. Danach betrachtete sie die Fingerkuppe aus nächster Nähe. Die Stupsnase rümpfte sich wieder.

»Ich weiß ja nicht, wer hier saubermacht«, erklärte Cherry Longdale. »Aber wenn ich den Boss das nächste Mal sehe, werde ich ihn darauf hinweisen, dass sie es nicht allzu genau nehmen. Ehrlich gesagt, Miss McDouglas: Staub hasse ich!« Sie schien keine Antwort zu erwarten, denn sie reckte den Oberkörper vor und drückte sich nun beinahe die Nase an der Fensterscheibe platt. »Ich werd verrückt«, behauptete sie.

Miss McDouglas erflehte die Geduld himmlischer Heerscharen.

»Was ist denn nun schon wieder?«, fragte sie seufzend.

»Da! Sehen Sie mal zum Fenster hinaus!«

Miss McDouglas dachte nicht daran. Sie wollte etwas Scharfes erwidern. Aber das Gesicht des Mädchens machte sie doch neugierig. Mit einem auf Unüberhörbarkeit angelegten Seufzer schob sie ihren Schreibtischstuhl zurück und stand auf. Aus zwanzigjähriger Gewohnheit schielte sie an sich hinunter, um vorsichtshalber zu prüfen, ob der Rock auch weit genug über die Knie rutschte, wie es die Schicklichkeit erforderte. Danach erst stapfte sie mit ihrem unweiblichen Gang zum Fenster.

Der Himmel war grau wie all die letzten Tage. Es sah entschieden nach Regen aus. Im Nachbarhof standen noch die Pfützen vom Regen der vergangenen Tage. Es war schon eine Plage mit dem Aprilwetter.

»Was sagen Sie jetzt?«, rief Cherry Longdale erwartungsvoll.

Miss McDouglas wurde rot. Richtig, ja, sie hatte sich noch gar nicht um das welterschütternde Ereignis gekümmert, das die Jungmädchenaugen von Miss Longdale erspäht haben mussten. Dorothy McDouglas wandte die Aufmerksamkeit vom Himmel weg und der Erde zu.

Das Tor in der Mauer war geöffnet worden. Die beiden Flügel standen quer von der Mauer ab. Aber Tore sind schließlich dafür da, dass sie gelegentlich geöffnet werden. Was sonst konnte sie entdecken? Es gab einen knallrot lackierten Wagen mit einer Aufschrift. Miss McDouglas kniff die Lider ein wenig zusammen. Sie war ein bisschen kurzsichtig, aber sie wollte es nicht eingestehen.

New York City Planning Board stand in großen Buchstaben an den Türen des roten Autos. Ein paar Männer liefen auf dem Hof herum, sie errichteten ein Bauzelt. So etwas konnte man täglich hier oder da sehen. Miss McDouglas wusste wirklich nicht, was Cherry meinte.

»Ich werde auf der Stelle anrufen«, sagte Cherry Longdale.

»Wen denn?«, erkundigte sich Dorothy McDouglas.

»Na, das FBI!«, rief Cherry.

»Großer Gott!«, sagte Miss McDouglas erschrocken. »Warum denn?«

»Jetzt bin ich platt«, erwiderte Cherry entgeistert, »platt wie ’ne Flunder. Bin ich denn hier die Einzige, die diese Merkblätter gelesen hat? Hier … warten Sie.«

Cherry Longdale lief zurück zu ihrem alten Schreibtisch, klappte den Ordner auf und begann, zu blättern.

Während ihr Zeigefinger über die Seiten glitt, erschien die rosa Zungenspitze zwischen ihren Lippen. Über der Nasenwurzel hatte das Mädchen jetzt eine steile Falte, die sofort verschwand, als sie gefunden hatte, was sie suchte.

»Da«, rief die Kleine triumphierend. »Da steht es! Wenn etwas Ungewöhnliches in der Bank oder in deren Umgebung geschieht, soll man sofort die Polizei verständigen.«

Miss McDouglas kehrte zu ihrem Platz zurück.