Jerry Cotton Sonder-Edition 79 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sonder-Edition 79 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Die brüchige Stimme des Vorsitzenden verkündete: "Die Anklage gegen den FBI-Agent Jerry Cotton lautet auf vorsätzlichen Mord."
Das war die Rache der Mafia. Sie hatte es so gedeichselt, dass ich den Geschworenen als Schuldiger erscheinen musste. Ich hatte nur eine einzige Chance: Ich musste die Wahrheit ans Licht bringen ... und nichts als die Wahrheit!

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EPUB

Seitenzahl: 200

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Cover

Impressum

… und nichts als die Wahrheit

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelfoto: (Film) »John Fs. Kennedy – Tatort Dallas«/ddp-images

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-6466-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

… und nichts als die Wahrheit

1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.

Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:

»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«

Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.

Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.

1

»Erheben Sie sich von Ihren Plätzen!«

Füße scharrten. Das Stimmengewirr ebbte ab. Erwartungsvolle Stille. Reporter aus allen Teilen der Vereinigten Staaten, Beobachter aus Washington, Gerichtsleute und Zuschauer standen auf. Die meisten blickten zu mir herüber.

Ich wandte den Kopf ein wenig. Mein Blick ging durch alles hindurch.

»Der Staat und das Volk von New York gegen Jerry Cotton, bis zum Tag seiner Verhaftung Special Agent des FBI …«

Die Stimme des Richters hallte von den hohen Wänden wider. Er leierte die uralten Formeln herunter. Seine Stimme klang brüchig, sie drang nur wie von weither an mein Ohr. Ich sah hinüber zu der langen Reihe der hohen Fenster.

Draußen strahlte der Sonnenschein. Es war Anfang Mai. Im Central Park, am Washington Square, auf dem Rasen am Hudson-Ufer und auf den vielen anderen Grünflächen dieser herrlichen, gigantischen, wahnwitzigen Stadt mussten die Bäume und Sträucher in voller Blüte stehen.

Aber ich hatte in diesem Frühjahr noch keine zu Gesicht bekommen.

Langsam senkte ich den Kopf. Die Objektive der Kameras belauerten jedes Zucken in meinem Gesicht. Die brüchige Stimme drang wieder in mein Bewusstsein.

»Die Anklage gegen Jerry Cotton lautet auf vorsätzlichen Mord …«

Die Anklage

Mac Kinley kam von seinem Pult heran. Er war noch keine vierzig Jahre alt und hatte es doch schon zum Distrikt-Staatsanwalt in New York gebracht. Jede seiner Bewegungen verriet Energie.

Heute trug er einen dunkelblauen Anzug mit einer knallroten Krawatte. Sein dichtes schwarzes Haar war bürstenkurz geschnitten und zeigte an den Schläfen silbergraue Fäden. Sie glitzerten, wenn das Sonnenlicht darauf fiel. Sein wohlgenährtes Gesicht zeigte ein breites Kinn, das wuchtig wie ein Hammer vorsprang. Wenn er sich ärgerte, mahlten die Muskeln an seinen ausgeprägten Kiefern.

Ich hatte mich beharrlich geweigert, mir einen Rechtsanwalt als Verteidiger zu suchen. Ich kannte viele, aber ich wollte sie nicht behelligen. Und von sich aus war niemand gekommen. Obgleich ich bei einigen doch ein wenig damit gerechnet hatte. Deshalb war mir ein Pflichtverteidiger zugewiesen worden. Er hieß Dave Donegan.

Seine Bekannten nannten ihn schlichtweg »Double D«, Doppel-D. Es hörte sich nicht besonders respektvoll an.

Donegan trug jeden Tag denselben Anzug, einen schwarzen Einreiher mit altmodisch weit geschnittenen Beinen. Die Ärmelkanten waren durchgescheuert. Ich hatte den Verdacht, dass er die Scheuerstellen mit Tusche nachfärbte. Wenn er sich mit der knochigen Linken über seine dichte, lange weiße Löwenmähne strich, sah es manchmal so aus, als wollte er die ganze Geschichte aufgeben.

Jetzt fuhr er gerade wieder einmal mit den Fingern durch sein schlohweißes Haar, als er Mac Kinley herantänzeln sah.

»Euer Ehren«, verkündete Kinley in einem Ton, als teilte er Geschenke an alle Anwesenden aus, »Euer Ehren, die Anklagevertretung hat keine Einwände gegen die letzten beiden Mitglieder der Jury.«

Richter Eagle blickte auf meinen Verteidiger. Ich kannte Eagle nun schon seit einer halben Ewigkeit. Eigentlich, seit ich beim FBI angefangen hatte. Jeder zweite Haft- oder Durchsuchungsbefehl war von ihm unterschrieben worden. Sicher war er mir wohlgesonnen. Aber er war Richter. Sicher würde er den eigenen Sohn für den Rest des Lebens ins Zuchthaus geschickt haben, wenn Recht und Gesetz es verlangten.

»Mit Ann Mary Stockton als Mitglied der Jury ist die Verteidigung ebenfalls einverstanden«, sagte Donegan in seiner bedächtigen, nach Worten suchenden Art. »An Mister Coolworth möchten wir dagegen ein paar Fragen stellen, bevor wir uns entscheiden.«

Für einen Augenblick wirkte es so, als atmete Richter Eagle auf. Endlich, so schien er zu denken, endlich macht Donegan von den Rechten der Verteidigung Gebrauch …

Double D legte seine knochigen Hände auf den Tisch. Die gespreizten Finger wirkten mit ihren deutlich ausgeprägten Gelenken noch länger als sonst. Er drückte sich am Tisch in die Höhe. Ich hatte gehört, er sei sechsundfünfzig Jahre alt. Als er sich hochstemmte, kam er mir eher wie siebzig vor.

»Mister Coolworth«, begann Donegan und betrachtete das glänzende Gesicht des Geschworenen. »Sie sind achtundvierzig Jahre alt, Besitzer eines Herrenoberbekleidungsgeschäfts, verheiratet und Vater von drei Kindern. Habe ich recht?«

»Ja, Sir«, sagt der rundliche Mann. Es war ihm anzumerken, dass er aufgeregt war. Vielleicht bekleidete er zum ersten Mal in seinem Leben ein Amt im Licht der Öffentlichkeit.

»Sie wissen, Mister Coolworth, worum es in diesem Prozess geht. Die Anklage lautet auf Mord. Ihr Urteilsspruch wird zusammen mit dem der anderen Geschworenen einen Menschen vielleicht für immer hinter Zuchthausmauern bringen. Sind Sie sich der Tragweite dieser Verantwortung bewusst?«

»Ich … äh … ich glaube schon, Sir.«

»Sind Sie ein prinzipieller Gegner der Todesstrafe, Mister Coolworth?«

»Nein, Sir.«

»Wenn – ich sage ausdrücklich: wenn – ein Polizeibeamter in der Ausübung seiner Pflicht einen Menschen tötet, finden Sie das verwerflich?«

»Einspruch, Euer Ehren«, schmetterte Mac Kinley mit der Schärfe einer Fanfare herüber. »Der Verteidiger versucht, das Ergebnis der Beweisaufnahme vorweg …«

»Dem Einspruch wird stattgegeben«, unterbrach ihn Richter Eagle. »Die Verteidigung wird ersucht, bei der Auswahl der Geschworenen nicht schon den Prozess vorwegzunehmen.«

Donegan hob sein zerknittertes Gesicht und blickte hinüber zu Mac Kinley. Es sah aus, als wollte die Anklagevertretung um Mitleid bitten. Eine ganze Weile blieb es still, bis sich die strichdünnen, blutleeren Lippen von Donegan wieder öffneten. Allen war klar, dass er Coolworth ablehnen würde. Coolworths Weltbild war zu simpel. In seiner bürgerlichen Enge war die Menschheit sauber geschieden in Teufel und Engel. Und die Teufel gehörten aufgehängt.

»Die Verteidigung«, meinte Donegan gemächlich, »ist mit Mister Coolworth als letztes Mitglied der Jury einverstanden.«

Eagles Stirn furchte sich. Er grübelte. Im Saal erhob sich Stimmengemurmel. Der Richter klopfte mit dem Hammer auf sein Pult.

»Die Zusammensetzung der Jury ist damit abgeschlossen. Die Verteidigung hat von ihrem Ablehnungsrecht keinen Gebrauch gemacht. Nach unserer Verfassung und nach den Rechtsgrundsätzen unseres Landes steht Agent Cotton ein fairer Prozess zu. Ich frage Sie, Mister Cotton: Wünschen Sie, einen Verteidiger selbst zu wählen, oder sind Sie mit einem Pflichtverteidiger einverstanden?«

Wieder war es totenstill. Ich spürte, dass alle mich ansahen. Einen anderen Rechtsanwalt? Ich zuckte fast unmerklich mit den Schultern. Wenn sich das noch lange hinschleppte, mochten sie mich meinetwegen verurteilen. Im Grunde war mir alles entsetzlich gleichgültig.

»Nein, Euer Ehren«, antwortete ich halblaut. »Ich möchte keinen anderen Anwalt.«

Mac Kinley hütete sich, den Triumph im Gesicht zu zeigen, der in seinen Augen stand. Richter Eagle presste die Lippen aufeinander.

In der ersten Reihe der Zuschauerbänke schloss mein alter Freund und Kampfgefährte Phil Decker die Augen und schüttelte den Kopf. Wenn nicht einmal er mich verstand – ich konnte es nicht ändern.

Es ging weiter. Die Belehrung der Geschworenen ließ sich Richter Eagle ungewöhnlich viel Zeit kosten. Danach wurde vertagt. Ich kam zurück in meine Zelle, schlang irgendetwas hinunter, das ein Abendessen sein sollte, und danach streckte ich mich auf meiner Pritsche aus und starrte zur Decke. Ich rechnete nicht mit einem Besuch meines Verteidigers. Er kam auch nicht.

In der Nacht quälten mich wüste Träume. Ich jagte über Feuertreppen, ich schoss und wurde beschossen, ich stürzte aus schwindelnder Höhe hinunter in einen Hof, alles drehte sich, und ich wachte schweißgebadet auf.

Am nächsten Morgen saß ich wieder auf der harten Holzbank. Vor mir zog sich die gedrechselte Balustrade hin. Sie hatten um neun anfangen wollen. Reporter und Zuschauer waren längst versammelt. Aber die Uhr zeigte auf sechzehn Minuten nach neun, als mein Verteidiger immer noch nicht eingetroffen war. Vielleicht hatte Double D verschlafen.

»Tut mir verdammt leid«, knurrte eine leise Stimme neben mir.

Double D war gekommen. Ich sah auf den kleinen, gebeugten weißhaarigen Mann hinunter. Er wich meinem Blick aus.

»Mein Hemd war noch nass vom Waschen«, murmelte er. »Und ich hab nur das eine gute.« Er fing an, in seinen Papieren zu kramen.

Richter Eagle erschien gleich nach Donegan. Der Prozess begann. Mac Kinley reckte in einer dramatischen Geste den Arm in meine Richtung:

»Ladys und Gentlemen«, fing er halblaut an und ließ eine spannungsgeladene Pause eintreten, bevor er mit gespieltem Wohlwollen in der Stimme rhetorisch geschickt fortfuhr. »Dieser Mann gehörte zu den fähigsten Beamten des FBI. Er war ein geschätzter und hochgeachteter Kollege unter den G-men, ein ebenso gefürchteter Gangsterjäger für die Unterwelt. Er hat Kidnapper aufgespürt und Mörder gejagt. Niemals hat er seine Person geschont, im Gegenteil. Alle, die es wissen müssen, bestätigen, dass er oft bis zur Grenze der Erschöpfung die aufgenommene Spur verfolgte, die begonnene Jagd weiterführte, den entstandenen Kampf bis zum bitteren Ende durchkämpfte. Zahlreiche Narben von zum Teil schwerwiegenden Verletzungen beweisen es. Seine Verdienste um die Sicherheit der Gesellschaft sind unbestritten.«

Mac Kinley machte eine Pause.

»Er fährt schweres Geschütz auf«, flüsterte Donegan. »Gleich wird er Sie in der Luft zerreißen, Cotton.«

Der Anklagevertreter reckte sein wuchtiges Kinn vor.

»Warum haben wir uns dann trotzdem hier zusammenfinden müssen?«, fuhr er jetzt wieder in seinem gellenden Fanfarenton fort. »Es ist nicht das erste Mal, dass einer unserer Polizeibeamten einen schießwütigen Verbrecher in Notwehr töten musste. Noch niemals ist dafür ein Prozess von diesen Ausmaßen angestrengt worden. Auch für Jerry Cotton brauchte man einen solchen Prozess nicht, wenn er in Notwehr und Pflichterfüllung einen Gangster erschossen hätte.«

Ich wusste schon, was jetzt kommen würde.

»Aber wenn nun die Dinge anders liegen, wenn ein geschulter und erfahrener Special Agent des FBI einen Menschen erschießt, der unbewaffnet ist, der ihn demnach ernstlich nicht bedrohen kann, wenn sich ein Mann wie Jerry Cotton zu einer solchen Tat hinreißen lässt, dann allerdings wird dieser Prozess hier gegen einen solchen Mann zu Recht geführt. Dann sitzt Jerry Cotton mit Recht auf der Anklagebank. Und dann mag ihn, trotz all seiner Verdienste, die ganze Schwere des Gesetzes treffen. Denn ein fairer Prozess, Ladys und Gentlemen, bedeutet, dass man einem populären Mann nicht großzügig nachsehen kann, was man bei einem unbekannten Mann von der Straße unverzeihlich fände. Jerry Cotton hat Anspruch auf einen fairen Prozess. Wir werden uns bemühen, ihm diesen fairen Prozess zu liefern.« Jetzt trat Kinley auf den Richtertisch zu. Er deutete eine Verbeugung zu Richter Eagle hin an. »Mit Ihrer Erlaubnis, Euer Ehren, möchten wir Jerry Cotton in eigener Sache in den Zeugenstand rufen und damit die Vernehmung der Zeugen der Anklage beginnen.«

Im Saal brach ein Radau aus, der minutenlang anhielt. Kinley hatte nach anglikanischem Gesetz das Recht, mich als Zeugen in eigener Sache zu vernehmen. Dass er damit anfing, statt mit der Reihe seiner Belastungszeugen, das jedoch war ungewöhnlich. Richter Eagle hatte Mühe, die Ruhe wiederherzustellen. Unterdessen war ich längst hinüber zum Zeugenstuhl gegangen. Als es wieder einigermaßen still geworden war, schwor ich, die Wahrheit zu sagen, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Mac Kinley baute sich dicht vor mir auf. Mir war klar, was jetzt folgte. Wenn ich es auch nicht so schnell erwartet hatte.

»Jerry Cotton«, sagte Mac Kinley betont langsam. »Ich habe Ihnen einen fairen Prozess versprochen, wie er jedem Bürger der Vereinigten Staaten zusteht. Meine Fairness wird weitergehen, als es üblich ist. Ich beginne deshalb nicht mit der Vernehmung der Belastungszeugen. Nein. Sie selbst sollen uns erzählen, wie es dazu kam, dass Sie heute hier als Angeklagter sitzen. Berichten Sie uns, was sich an jenem entscheidenden Tag zugetragen hat …«

2

Es geschah am Dienstag, dem vierten März. Gegen halb neun Uhr vormittags holte ich meinen roten Jaguar aus der Inspektion.

»In ein paar Wochen werden Sie neue Reifen brauchen«, hieß es in der Werkstatt. »Sollen wir einen Satz bestellen?«

Ich nickte. »Sicher. Er kann doch nicht barfuß fahren.«

Ich setzte mich ans Steuer. Der brave knallrote Schlitten glänzte taufrisch. Aber sie hätten sich nicht die Mühe zu machen brauchen, den Wagen zu waschen. Über New York hing eine schwarze Regenwand. Vielleicht stand uns die zweite Sintflut bevor. Es sah ganz danach aus.

Ich fädelte mich in den zähflüssigen Verkehr ein. An sich holte ich jeden Morgen meinen Freund Phil ab. Heute musste er sehen, dass er mit U-Bahn oder Bus oder Taxi ins Office kam. Bei diesem Verkehr wäre es Irrsinn gewesen, jetzt noch umzukehren und Phil abzuholen.

Eingekeilt in endlose Autoschlangen rollte ich von Ampel zu Ampel. Ich schaltete den Polizeifunk der Stadtpolizei ein. Wenn es Stau gab, konnte es nützlich sein, davon früher als andere zu erfahren. Aus dem Communication Center der City Police tönten pausenlos die Befehle für ein Heer von Streifenwagen.

An der Kreuzung des Broadway mit der Fünften Avenue blockierte ein schwerer Lastwagen mit Achsenbruch sämtliche auf die Kreuzung mündende Straßen. In Harlem gab es den obligaten Zimmerbrand. An der Battery tobten fünf Jugendliche mit Fahrradketten. Im Central Park war ein Kinderwagen mit einem Baby verloren gegangen. Ein Hospital im Norden brauchte dringend eine bestimmte Blutkonserve. Irgendwo in den Siebzigerstraßen hatte eine alte Frau versucht, sich vor ein Auto zu werfen. An einer anderen Stelle dieser hektischen Stadt hatte es gleich eine Serie von Auffahrunfällen gegeben. In der Nähe vom Radio Center war ein Mann in der achtunddreißigsten Etage auf einen Fenstersims geklettert und drohte, sich in die Tiefe zu stürzen. In einer Kneipe auf der Bowery schlugen sich bereits am frühen Morgen irische Matrosen mit amerikanischen Dauersäufern.

Fünfundzwanzigtausend Polizisten versuchten, Ordnung in einem Ballungszentrum aufrechtzuerhalten, in dem es von Menschen wie von Ameisen wimmelte.

Ich musste wieder einmal auf die Bremse treten. Weit von vorne sah man das grüne Licht einer Ampel, trotzdem fuhr unsere Kolonne nicht. Wütendes Hupkonzert setzte ein. Ich reckte den Kopf und wollte die Ursache suchen. Schräg vor mir ragte die rußgeschwärzte Backsteinfassade des Bloome empor. Vor der bis zum Straßenrand vorgespannten Markise des Hotels lief der Regen in kleinen Bächen. Auf den Gehsteigen beherrschten Regenmäntel und Regenschirme das Bild.

Der Wagen vor mir rollte endlich weiter. Ich gab ebenfalls Gas. Wenn es in diesem Tempo weiterging, konnte ich das Mittagessen in unserer Kantine jetzt schon über Funk abbestellen. Ich trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad. Aus dem Lautsprecher quollen nach wie vor Befehle für die Streifenwagen der Stadtpolizei. Aber was nützen Warnlicht und Sirene, wenn die Straßen so verstopft sind, dass niemand, auch nicht beim besten Willen, einem Streifenwagen Platz machen kann?

»Achtung! An alle! An alle!«, tönte es plötzlich aus dem Lautsprecher.

Obgleich der Ruf nur die Stadtpolizei betraf, spitzte ich die Ohren. Rufe »an alle« betreffen meist ausgefallenere Dinge als das tägliche Einerlei des polizeilichen Dienstes.

»Wir haben einen anonymen Anruf erhalten, dass der bekannte Gangsterboss Allan Hasfield aus New Jersey umgebracht werden soll«, hallte es laut durch meinen Wagen. »Hasfield soll sich im Augenblick im Hotel Bloome in der Zweiten Avenue aufhalten, Zimmer drei-vier-sechs. Welche Wagen stehen nahe desHotels? Erbitten dringend Standortmeldung!«

Ich stieß einen leisen Pfiff aus. An dem Hotel war ich gerade vorbeigekommen. Näher konnte ein Streifenwagen nicht stehen, sonst hätte ich ihn sehen müssen. Ich setzte den Blinker, ließ den Jaguar vorsichtig auf den breiten Gehsteig hinaufrumpeln und zog das Mikrofon des Funkgeräts aus der Halterung.

»Cotton an Leitstelle«, meldete ich mich. »Bitte kommen.«

»Leitstelle an Cotton. Was ist los?«

»Habt ihr den Ruf ›An alle‹ von der City Police gerade mitbekommen?«

»Wir bekommen jeden Ruf der Stadtpolizei mit, Cotton.«

»Ich bin keine hundert Yards von dem erwähnten Hotel entfernt. Soll ich nachsehen?«

»Wenn es darum geht, einen Mord zu verhindern, spielen Zuständigkeiten keine Rolle. Sehen Sie, was Sie tun können.«

»Okay«, erwiderte ich, drückte das Mikrofon in die Aufhängung und sprang schon aus dem Wagen. Der Regen klatschte mir wie aus einer Gießkanne ins Gesicht. Und ich Trottel hatte in der Autowerkstatt meinen Trenchcoat ausgezogen und auf den Beifahrersitz gelegt. Ich spurtete los.

»Sie hätten einen Mantel anziehen sollen, Sir«, sagte der goldbetresste Hüne vor dem Hotel.

»Kleiner Schäker«, knurrte ich und stieß die Schwingtür auf.

In der Halle roch es muffig. Ein riesengroßer Teppich hatte nach Jahrzehnten vergeblichen Bemühens den Kampf um seine Farbechtheit aufgegeben und sich scheuerhadergrau geärgert. Eine Standuhr neben dem Fuß einer Treppe schien aus Pioniertagen zu stammen. Das Pendel war von grünlicher Patina überzogen. Mein Blick suchte einen Lift.

»Wünschen Sie ein Zimmer, Sir?«, krähte eine hohe Fistelstimme hinter einem Pult. Ich sah undeutlich weißes Haar schimmern im düsteren Zwielicht der Hotelhalle.

»Cotton, FBI«, rief ich ihm zu, während ich schon auf die Treppe zulief.

»Das macht nichts, Sir«, rief der Alte.

Ich stutzte, dann hastete ich weiter. Vielleicht spielten Sekunden eine wichtige Rolle. Ich nahm vier Stufen auf einmal. Auf der Treppe lag ein roter Läufer aus Kokosfasern. In der Mitte waren sie so durchgetreten, dass man grauen Zement durchschimmern sah.

Wenn sich dieses Hotel an bewährte Gebräuche hielt, musste Zimmer 346 im dritten Stock liegen. Ich kam atemlos in dieser Etage an. Wie konnten die Kerle nur das Licht ausschalten. Selbst am Tag war es in der Halle und in den Korridoren so finster, dass man nicht einmal die Schlagzeilen auf einer Zeitung hätte erkennen können. Ich wandte mich nach links, suchte die erste Tür und las 311. An der nächsten Tür stand 312. Ich unterdrückte einen Fluch und machte kehrt.

War das ein Schrei gewesen? Ich blieb stehen, reckte den Kopf vor und lauschte. Hatte ich mich getäuscht? Ich lief weiter in die Düsternis des Flurs hinein, der von der Treppe aus nach rechts führte. Die Zahlen auf den Zimmertüren musste man fast mit der Nasenspitze abtasten, um sie überhaupt erkennen zu können. 331, 332. Ich lief weiter.

Das Zimmer lag nach hinten hinaus. Drinnen polterte etwas. Normalerweise hätte ich einen Durchsuchungsbefehl gebraucht. Aber nach dem bei der Stadtpolizei eingegangenen Anruf mussten wir mit einer Gefahr für Leib und Leben rechnen. Also durfte ich eindringen. Sollte ich klopfen? Wenn ein Mörder im Zimmer war, konnte er sich auf mein Eintreten vorbereiten.

Dann war dieses Klopfen vielleicht das letzte in meinem Leben. Ich legte die Hand auf den Türknauf und drehte, während ich mit der Rechten den Dienstrevolver aus dem Schulterholster zog.

Ich schleuderte die Tür mit einem kräftigen Stoß nach innen. Sie muss gegen die Wand knallen. Dann weiß man, dass niemand dahinter steht.

Mit zwei Sprüngen war ich im Zimmer. Rechts stand eine Tür zu einem Badezimmer offen. Es roch nach Parfüm und Weiblichkeit. Der Duft übertönte den Geruch von muffigen Polstermöbeln, der eigentlich zu diesem Zimmer gehörte. Ich sah ein breites, zerwühltes Doppelbett.

Der Mann, der darauf lag, mochte an die fünfzig Jahre alt sein. Sein Kopf hing vom Bett herab. Blut lief von der Brust über den Hals herunter und tropfte vom Kinn weg auf den Boden. Die Wunde in der Herzgegend verriet alles. An den stumpfen Augen konnte ein Laie erkennen, dass der Mann tot war.

Ich hielt den Revolver schussbereit. Einen Schritt neben dem Bett führte das Zimmer in einem Winkel von neunzig Grad nach rechts. Ich sah die linke Hälfte eines Farbfernsehers, daneben in einem Sektkübel eine geöffnete Flasche. Zwei Gläser standen auf einem runden Tisch. In einem war noch ein Schluck Sekt, aber er perlte nicht mehr. Ich hielt den Atem an, während ich mich mit dem Rücken eng an der Wand entlang auf die Ecke zuschob. Der Mann auf dem Bett konnte keine fünf Minuten tot sein.

Merkwürdigerweise konnte ich deutlich das Rauschen des Regens hören. Stand eine Balkontür in jenem Teil des L-förmigen Zimmers offen, den ich noch nicht einsehen konnte? Ich lauschte.

Da war ein Scharren. Ein deutliches, nicht zu überhörendes Scharren. Ich stieß mich von der Wand ab und sprang zur Seite. Breitbeinig, geduckt, bereit, im Bruchteil einer Sekunde zu schießen, starrte ich in den Seitenflügel des verwinkelten Zimmers. Aber meine sichernde Haltung währte nur für die Dauer eines Herzschlags. Dort hinten stand ein breites Fenster offen, ein Mann kletterte gerade hinaus. Von schräg oben her sah man das stählerne Gerüst einer Feuertreppe herunterkommen.

»FBI!«, rief ich gellend. »Halt! Stehen bleiben, oder ich schieße!«

Er zog trotzdem sein rechtes Bein hinaus und warf sich herum. Ich sah die schwarze Mündung eines Revolvers und schnellte wie ein Panther in die Deckung hinter der Zimmerecke. Es krachte. Der Knall klang in meinen Ohren nach, während ich über den abgenutzten Teppich rutschte und gegen das Fußende des Bettes stieß. Ich fing mich, drehte mich um und war mit einem weiten Schritt wieder an der Ecke. Auf den stählernen Stufen der Feuertreppe klapperten Schritte. Ich sprang wieder vor und hastete zum Fenster.

Der Regen kam gallonenweise herein. Ich schob den Kopf hinaus. Die Feuertreppe reichte nur zwei Stockwerke tiefer. Dort endete sie auf dem Dach einer Garagenreihe. Ich kletterte zum Fenster hinaus. Als ich den ersten Absatz der stählernen Treppe hinuntergesprungen war, geriet der Flüchtende in mein Blickfeld. Er lief über das Garagendach.

»Stehen bleiben!«, brüllte ich. Ich kniete auf dem Treppenabsatz nieder, legte den linken Arm auf das Geländer und die Revolvermündung in die Ellenbogenbeuge. G-men werden darauf gedrillt, niemals im Laufen zu schießen.

Er warf sich herum und sah hinauf zu mir. Der Regen klatschte in sein junges Gesicht. Kaum älter als zwanzig, schoss es mir durch den Kopf. Ich lauerte. Wenn er bereit war, aufzugeben, gab es für mich keinen Grund, zu schießen. Wenn er weiterlief, musste ich es tun.

Er wollte aufgeben. Seine Arme krochen langsam in die Höhe. Ich richtete mich auf und wollte zu ihm hinuntersteigen. Aber dazu musste ich vom Absatz her die Treppe nach links hinab, während der vorherige Abschnitt von rechts kam. Für eine Sekunde würde die Feuertreppe ihn meinen Blicken entziehen.

»Drehen Sie sich um!«, rief ich. »Keine Bewegung!«

Er wandte mir gehorsam den Rücken zu. Ich machte einen weiten Satz die Feuertreppe hinunter. Ich reckte den Kopf nach rechts, zum Dach der Garage hinab – und da stand er vorgebeugt und schoss und schoss.

Die Kugeln knallten mit metallischem Pling ins Gestänge der Feuerleiter. Eine schlug neben mir Funken aus der Hauswand. Eine dritte Kugel sirrte so nah an meinem Kopf vorbei, dass ich den heißen Luftzug spürte. Ich landete sieben oder acht Stufen tiefer, rutschte aus, stürzte und glitt auf den regennassen Stufen weiter bis zum nächsten Absatz. Der Sturz gegen die Metallkanten der Stufen dröhnte mir durch den Rücken und ließ eine Schmerzwelle bis in mein Hirn zucken. Trotzdem konnte ich mich nicht um meinen Rücken kümmern. Ich schoss gegen alle Regeln noch aus meinem Aufprall heraus, nur um ihn daran zu hindern, auf mich zu schießen. Als ich mich aufrichtete, sah ich, wohin er lief: Am anderen Ende des Garagendachs lief eine zweite Feuertreppe an der Rückfront eines sechsstöckigen Gebäudes herunter. Er hielt darauf zu.

Ich schätzte die Tiefe unter mir. Es musste gehen. Ich flankte über das Geländer und flog ein Stockwerk tief. Der Aufprall vibrierte mit hartem Stoß durch meinen ganzen Körper. Ich schnellte aus den federnden Knien hoch und riss den Revolver mit. Er hatte den Fuß der Feuertreppe erreicht und zog sich hoch. Ich zielte. Das Regenwasser lief mir übers Gesicht. Ich wischte es mir aus den Augen, um besser zielen zu können. Inzwischen hatte er einen Treppenabsatz bewältigt.