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Als Mr High während der Einsatzbesprechung an die Karte trat und den Zeigefinger auf Honolulu legte, zuckten Phil und ich wie elektrisiert zusammen. Honolulu! Wir dachten an schlanke, braun gebrannte junge Frauen, an Palmen und weißen Sandstrand vor blauem Meer. Aber es kam ganz anders. Statt mit den Blumenkränzen der Hula Hula Girls bekamen wir es mit Millionen von "Blüten" zu tun, die sich in den Taschen brutaler Mörder befanden. Und statt nach hawaiianischen Klängen tanzten wir einen wahren Teufelstanz zum Stakkato hämmernder Maschinenpistolen ...
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Seitenzahl: 222
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Todesblüten im Paradies
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: RonBailey/iStockphoto
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6620-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Todesblüten im Paradies
1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.
Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:
»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.
Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
Der Name stand in nüchternen Schreibmaschinenbuchstaben auf dem Aktendeckel: Glendon Gardiner. Der Aktenordner war schmal, ein sicheres Zeichen dafür, dass wir wenig über den Mann wussten. Gardiner vermietete sich und seine Gang an Bosse, die entweder nicht über genug Leute verfügten oder die aus irgendwelchen Gründen in einem bestimmten Fall die eigenen Leute nicht einsetzen wollten. Seine Auftraggeber wechselten ebenso häufig wie der Schauplatz seiner Tätigkeit, aber sein Standquartier blieb New York. Er kehrte immer wieder in die luxuriöse Dreihundert-Quadratyard-Wohnung im sechzehnten und letzten Stockwerk eines Wolkenkratzers an der Paladino Avenue zurück.
War Glendon Gardiner ein Berufskiller? Wir glaubten, dass auch Mord auf seinem Lieferprogramm stand, aber wir hielten ihn für mehr als einen gewöhnlichen Auftragskiller. Bei ihm konnte man jede Art Verbrechen bestellen, vom illegalen Transport schwarzgebrannten Schnapses bis zum Mordanschlag auf einen Konkurrenten. Wenn unsere Vermutungen stimmten, dann musste Gardiner schon für mindestens ein Dutzend Gangsterbosse gearbeitet haben. Und wenn wir ihn fassen konnten, gingen mit ihm zwei Dutzend …
Ich legte den Aktenordner in das Schreibtischfach zurück. Niemand vom FBI hatte jemals mit Glendon Gardiner gesprochen. Ich hielt es für wichtig, mir den Mann, den ich jagen sollte, aus der Nähe anzusehen. Seine Telefonnummer stand in den Akten. Ich nahm den Hörer ab und wählte.
Drei- oder viermal hörte ich das Summen des ankommenden Rufs. Dann meldete sich eine Männerstimme mit einem »Hallo«.
»Sind Sie Mister Gardiner?«
»Ja. Wer sind Sie?«
»Cotton vom FBI. Ich will mit Ihnen sprechen, Gardiner.«
»Wollen Sie mich vorladen?«
»Zu einer Vorladung langt’s noch nicht.«
»Was liegt gegen mich vor?«, wollte der Mann wissen.
»Denken Sie mal selbst darüber nach. Sicher wird Ihnen das ein oder andere einfallen. Wann können Sie ins FBI-Hauptquartier kommen?«
»Zum Teufel, ich habe meine Zeit nicht gestohlen und kann es mir nicht leisten, sie in einem sinnlosen Geschwätz mit Ihnen zu vergeuden. Ich muss jetzt auflegen, G-man. An meiner Tür wird geklingelt.«
»Tut mir wirklich leid, Gardiner, aber ich muss unbedingt erfahren, was Sie im Februar in Alabama und im März in Salt Lake City getan haben.«
Er schwieg einige Sekunden lang, und in das Schweigen hörte ich das Läuten seiner Türklingel.
»Okay, ich weiß, dass man einen Schnüffler nur loswird, wenn man seine Nasenlöcher mit Alibis zukleistert. Verdammt, lassen Sie mich diese Tür öffnen, Agent. Der Kerl macht mich mit seinem Läuten verrückt.«
»Ich warte, Gardiner!«
Er überlegte es sich anders. »Sie bestehen darauf, mit mir zu sprechen, nicht wahr? Warum soll ich mich durch das miese Wetter in eure schäbige Bude bemühen? Wenn Sie mich sehen wollen, machen Sie sich auf die Socken und kommen Sie her.«
»Wann?«
»Meinetwegen sofort. Ich stehe zu Ihrer Verfügung, sobald ich diesen hartnäckigen Klingler in den Fahrstuhlschacht geworfen haben werde, wer immer es sein mag.« Er trennte die Verbindung.
Ich ließ den Hörer auf die Gabel gleiten, meldete mich über die Hausrufanlage bei der Einsatzleitung ab und verließ das Hauptquartier. Der Jaguar brachte mich in knapp zehn Minuten zur Paladino Avenue. Die aluminiumverkleidete Kabine des Selbstbedienungslifts schoss mich in die sechzehnte Etage hoch.
Diese Etage gehörte Glendon Gardiner allein. Der Eingang zu seiner Wohnung lag dem Lift unmittelbar gegenüber. Die Messingbuchstaben, die auf der weißen Türfüllung seinen Namen formten, glänzten wie poliertes Gold.
Ich klingelte. Niemand öffnete, und nach einer Minute klingelte ich wieder und nachdrücklicher. Mein Blick fiel auf einen runden Gegenstand vor meinen Füßen. Ich bückte mich und hob ihn auf. Es war ein schäbiger, mittelgroßer Mantelknopf. Als ich ihn zwischen den Fingern drehte, färbten sich meine Fingerkuppen rot.
Ich warf mich gegen die Tür. Sie gab nicht nach. Ich trat sechs- oder siebenmal gegen das Schloss, bis endlich die Lasche ausriss.
Der Anblick nahm mir den Atem. Glendon Gardiner lag in einer Blutlache. Die Wände, die Möbel, die weißen Türen zu den anderen Räumen waren blutbespritzt. Der Mörder hatte sich nicht damit begnügt, ihn zu töten. Er musste auf den längst toten Mann wie ein Rasender eingeschlagen haben.
Ich ging langsam um den Toten herum. Es war schwierig, nicht in Blut zu treten. Auf der Suche nach einem Telefon stieß ich der Reihe nach die Türen auf. Die vierte Tür führte in Gardiners Wohnraum, ein großes Zimmer mit überdimensionaler Fensterfront zur Dachterrasse.
Der Mann stand mitten im Raum. Er hatte tiefschwarzes, glattes Haar, ein braunes Gesicht mit einer breiten Nase, einem dicklippigen Mund und dunklen, feuchten Augen. In einem verzerrten, festgefrorenen Lächeln zeigte er ein makelloses Raubtiergebiss. In den Händen hielt er eine unterarmlange Machete. Von der nach innen gekrümmten Spitze tropfte das Blut. Der graue, offene Regenmantel, die zerfransten Leinenschuhe, die blaue Hose – alles war blutbespritzt, ja blutgetränkt. Es gab keinen Zweifel, dass ich Gardiners Mörder gegenüberstand.
Ich griff nicht nach dem 38er. Der Mann war ein Verrückter, den der Anblick eines Revolvers nicht einschüchtern konnte.
»Hallo«, sagte ich halblaut. »Ich glaube, es wäre besser für uns beide, wenn du das Haumesser fallen ließest.«
Er reagierte nicht.
»Ich hoffe, du verstehst Englisch?«
Jetzt nickte er. »Malaoh will gehen«, stieß er hervor. »Mister lässt Malaoh gehen, bitte!«
»Leg jetzt die Machete aus den Händen!«
Er war nur mittelgroß. Auf den ersten Blick schien er nicht besonders muskulös, sondern eher ein wenig fett zu sein, aber seine Bewegungen hatten die Kraft und die Geschmeidigkeit einer zustoßenden Schlange. Mit fürchterlichem Schwung zerschnitt die Machete die Luft. Ich rettete mich mit einem mächtigen Rückwärtssatz. Meine Hand fuhr zum Jackenausschnitt hoch.
Gardiners Mörder drang weiter auf mich ein. Immer noch lag auf seinem Gesicht das gefrorene Lächeln, als wolle er ausdrücken, es handele sich nur um ein Spiel, aber es war kein Spiel. Er handhabte das Haumesser mit solcher Wucht, dass ein Hieb genügt hätte, mir einen Arm abzutrennen oder auch den Kopf.
Ich bekam etwas Luft, als ich den Schreibtisch zwischen ihn und mich bringen konnte. Im passenden Augenblick benutzte ich ihn als Rammbock. Die Kante traf den Fremden in Höhe der Magengrube. Er knickte zusammen. Die Luft blieb ihm für Sekunden weg. Ich ließ den Tisch los, packte mit beiden Fäusten den Schreibtischsessel und ging auf den Mann mit der Machete los.
»Ich glaube, du solltest jetzt aufgeben«, sagte ich ruhig.
Er sprang mich an. Das schwere Buschmesser sauste nieder. Ich wich nicht mehr aus, sondern fing den Hieb mit dem Stuhl ab. Holz krachte, als die Machete eine Querleiste durchschnitt. Er riss die Waffe zurück, aber ich ließ ihm nicht die Zeit für einen neuen Hieb. Ich schlug ihm den Schreibtischsessel um die Ohren. Die Machete klirrte auf den Boden. Der Mann taumelte, stürzte. Ich ließ den Stuhl fallen. Als er sich aufrichtete, stand ich schon vor ihm. Meine Faust explodierte an seinem Kinn. Er wurde herumgeschleudert, krachte auf den Rücken und blieb mit ausgebreiteten Armen liegen.
Ich legte das Haumesser auf die Mahagoniplatte des Schreibtischs. Das Telefon lag auf dem Boden, aber es funktionierte noch. Ich rief das Hauptquartier an und ließ mich mit Phil verbinden.
»Komm zur Paladino Avenue, Dresher House, sechzehnter Stock, Wohnung von Glendon Gardiner.«
»Der Mann, der zurzeit auf deinem Jagdprogramm steht?«, fragte mein Partner.
»Die Jagd ist zu Ende. Gardiner wurde vor zehn Minuten ermordet. Der Mörder hat eine Machete benutzt.«
»Eine was?«
»Ein Haumesser.«
»Verdammt exotische Waffe für einen Mord in New York.«
»Der Mörder ist ein Exote, Phil.«
»Kennst du ihn?«
»Er war noch da, als ich kam, und er ist auch jetzt noch hier. Ich fürchte, er wird erneut verrücktspielen, sobald er wieder zu sich gekommen ist. Also beeil dich!«
Ich legte auf. Ich hätte mir gern das Blut von den Händen gewaschen, aber ich fürchtete, die Bewusstlosigkeit des Machetenmörders würde nicht lange anhalten. Schon zuckten seine Augenlider.
Die Tür zur Diele stand offen. Von Gardiners Körper konnte ich die Beine sehen und dahinter den Flur. Der Lift kam nach oben. Ich hörte die Stimmen von Männern.
Drei Männer erschienen in der Türöffnung. Beim Anblick von Gardiners Körper geriet ihr Gespräch ins Stocken. Sekundenlang starrten sie auf den Toten.
»Das ist Glen«, sagte einer halblaut.
Gardiners Mörder machte eine Bewegung und lenkte damit meine Aufmerksamkeit auf sich. Er richtete den Oberkörper auf.
»Bleib, wo du bist«, befahl ich. »Steh nicht auf!«
Als ich den Kopf hob, standen die drei Männer in der Türöffnung. Jeder hielt eine Waffe in der Hand.
»Beweg dich nicht«, verlangte der vorderste Mann. Er war ungefähr so groß wie ich, dreißig Jahre alt, mit dichtem blondem Haar und einem scharf geschnittenen Gesicht. »Hast du Glen gekillt?«
»Unsinn! Du bist Art Ranger?«
Er nickte. Über Arthur Ranger wussten wir, dass er als Gardiners rechte Hand galt. Als Jugendlicher hatte er sich an einer Serie von Verbrechen beteiligt, die sich durch ungewöhnliche Brutalität und Gewaltanwendung auszeichneten. Später hatte er noch einmal wegen eines Überfalls auf eine Tankstelle, bei dem die Frau des Pächters vergewaltigt worden war, vor Gericht gestanden. Ein tüchtiger Rechtsanwalt hatte ihn vor dem Gefängnis und vielleicht vor dem elektrischen Stuhl bewahrt. Vermutlich hatte Gardiner den Anwalt bezahlt, denn seit diesem Prozess gehörte Ranger zum Gardiner-Verein.
»Ich bin Cotton vom FBI«, sagte ich. »Fuchtelt hier nicht mit Kanonen herum!«
Rangers Blicke richteten sich auf den Mann im schmutzigen Regenmantel. »Hat er Glen gekillt?«
»Ich sagte, dass ihr die Schießeisen verschwinden lassen sollt«, wiederholte ich. »Das ist ein FBI-Befehl!«
Die Blicke des Blonden lösten sich nicht von dem Farbigen, der reglos auf dem Boden hockte. »Du Bastard …«, zischte er. »Du dreckiger, verdammter Bastard!«
Ich versuchte, die Hand in den Jackenausschnitt zu bringen.
Einer der beiden Begleiter, ein untersetzter, bulliger Bursche mit krausem schwarzen Haar und einer knallgelben Krawatte unter dem Ambosskinn, warnte: »Es knallt!« Er hielt einen 45er Colt in der klobigen Hand, eine Kanone, die ein Nashorn nachdenklich stimmen konnte.
»Hör zu«, fauchte ich Ranger an. »Ich werde dir jetzt den FBI-Ausweis zeigen.«
»Ich will deinen Ausweis nicht sehen«, erwiderte er. »Dieser Bastard hat also Glen erledigt.« In einem flüchtigen Grinsen zeigte er seine Zähne, die lückenhaft und ungepflegt waren. »Ich hätte nie geglaubt, dass Glen sich von ‘nem Mann mit ‘nem Messer erledigen ließe. Ich hätte gewettet, dass man gegen ihn mindestens einen Panzer auffahren müsste.« Er machte zwei Schritte auf den Mörder zu.
»Fass den Mann nicht an, Ranger«, knurrte ich.
Er wandte den Kopf. Die graugrünen Augen verengten sich zu Schlitzen. »Willst du ‘nen Mörder schützen, G-man? Ich bin im Süden aufgewachsen. Wir machen keine langen Geschichten mit einem Dunkelhäutigen, der einen weißen Mann umgebracht hat. Wir lynchen ihn, und genau das werden Burt, Harry und ich jetzt mit diesem Nigger tun.«
»Du irrst dich. Erstens liegt New York nicht im Süden. Zweitens werden auch im Süden Verbrecher von Gerichten verurteilt. Richter Lynchs Zeiten sind vorbei!«
»Wir werden dir das Gegenteil beweisen«, gab Ranger zurück.
»Wenn einer von euch den Mann anfasst, gibt es Ärger!«
»Kannst du nicht sehen, G-man? Wir halten die Kanonen in den Händen. Deine Finger sind leer.«
»Das spielt keine Rolle.«
Ranger leckte sich über die Lippen. »Burt, kauf dir den Nigger!«
Der untersetzte, bullige Krauskopf ging auf den Mann zu. Ich vertrat ihm den Weg.
»Geh zur Hölle!«, grunzte er.
Ich bewegte mich nicht. Er wandte sich zu Ranger um, und der Blonde nickte. Der Krauskopf stieß mir den Lauf des Elefantencolts in die Magengrube. Ich traf mit einem harten Kantenschlag sein Handgelenk. Er röhrte auf. Der Colt polterte auf den Boden.
Voller Wut schlug er mit der linken Faust nach mir. Ich nahm den Kopf zur Seite weg, konterte, vermied den nächsten, viel zu weit hergeholten Schwinger und konterte noch einmal.
»Der Bastard türmt«, schrie Ranger. Ich warf mich herum. Gardiners Mörder war aufgesprungen. In langen Sprüngen hetzte er auf den Tisch zu, auf dem die Machete lag.
Ein wuchtiger Hieb traf meinen Nacken und warf mich aufs Gesicht. Schüsse krachten. Ich wälzte mich auf den Rücken und riss den 38er aus dem Holster.
Eine Kugel traf den Mann im grauen Regenmantel ins Knie. Das linke Bein knickte unter ihm weg. Er stürzte und rutschte auf dem glatten Parkettboden bis zur großen Fensterwand an der Stirnseite des Raums. Zwei der großen Schiebefenster waren zurückgezogen, und der Weg auf die Dachterrasse lag offen.
Ich feuerte im Liegen auf Ranger und den dritten Mann. Ich zielte auf ihre Hände und ihre Waffen. Ich verfehlte Ranger, aber ich traf die Hand des dritten Mannes. Seine Waffe flog gegen einen Schrank. Dabei löste sich ein Schuss.
Art Ranger reagierte schnell, aber völlig anders, als ich erwartet hatte. Er ließ seine Kanone fallen, spreizte die Hände zur Seite und schrie: »Schieß nicht, G-man!«
Ich sprang auf. Gardiners Mörder hatte die Terrasse schon erreicht. Er kroch auf die Brüstung zu. Das linke Bein schleifte er nach. Er zeichnete eine Blutspur über die weißen Marmorplatten der Terrasse. Ich rannte. Er drehte den Kopf nur einmal, schnellte dann unter Aufbietung aller Kräfte seinen Körper nach vorne und erreichte die Brüstung. Er zog sich daran hoch. In einem langen Hechtsatz warf ich mich über die ganze Breite der Terrasse. Ich krachte mit voller Wucht gegen die Brüstung. Ich glaube, dass noch der Saum seines langen grauen Regenmantels meine Finger streifte, aber ich kam zu spät, um ihn aufzuhalten.
Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis ein Körper sechzehn Stockwerke tief fällt. Er schrie nicht. Der graue Mantel flatterte wie ein zerrissenes Segel. Dann kam der Aufschlag auf dem Beton des kleinen Innenhofs. Das dumpfe Geräusch ging unter im Rauschen des Verkehrs auf der Paladino Avenue.
***
Ich stand auf. Ich hatte den 38er fallen lassen. Er lag an der Schwelle zum Zimmer. Ich hob ihn auf.
Ranger hielt immer noch die Hände zur Seite abgespreizt. Der kraushaarige Schläger starrte dumpf geradeaus, und der dritte Mann, ein großer, starkknochiger Bursche mit einem hässlichen Pferdegesicht, hielt mit der linken seine rechte Hand hoch, von der das Blut tropfte. Ein Strom unflätiger Flüche ergoss sich über seine Lippen wie Schmutzwasser aus einer Kloake.
»Ich verhafte dich wegen versuchten Mordes«, schnauzte ich Ranger an. »Dich und deine Kumpane!«
»Red keinen Unsinn, Agent. Wir haben dir geholfen, einen flüchtenden Mörder zu stoppen.«
»Du hattest vor, diesen Mann zu lynchen.«
»Lynchen. He, Burt, Harry, hat einer von euch das Wort ›lynchen‹ gehört?«
»Stellt euch mit dem Gesicht zur Wand«, befahl ich.
Auf einen Wink von Ranger gehorchten die anderen. Ich sammelte die Kanonen ein. Das Pferdegesicht sagte zwischen zwei Flüchen »Ich brauche ‘nen Arzt, G-man«. Während ich noch einsammelte, kam Phil. Auch in seinem Gesicht malte sich nacktes Entsetzen beim Anblick von Gardiners Leiche.
»Warum wurde er so zugerichtet?«, fragte er leise.
»Der einzige Mann, der die Frage beantworten könnte, liegt sechzehn Etagen tiefer auf dem Beton des Hofs. Sorg dafür, dass diese Typen abtransportiert werden. Ich alarmiere die Mordkommission der City Police.«
2
Vier Stunden später wussten wir, dass Gardiners Mörder zur Besatzung eines Schiffs gehörte, das vor rund vierundzwanzig Stunden an einem Pier des New Yorker Hafens festgemacht hatte. Sein vollständiger Name lautete Malaoh Hakaulai, und trotz dieses seltsamen Namens war er amerikanischer Bürger, denn er stammte von den Hawaii-Inseln. Der Mann hatte erst in New Orleans auf dem Schiff angeheuert. Niemand wusste, wie und wann er von Hawaii nach New Orleans gelangt war.
Wir suchten nach einer Erklärung, was den Hawaiianer bewogen hatte, Glendon Gardiner auf so bestialische Weise umzubringen. Einen Hinweis auf mögliche Beziehungen zwischen Mörder und Ermordeten entdeckten wir, als wir in Gardiners Papieren eine Quittung fanden, ausgestellt vom Reisebüro Haddican’s World Service, zwei Monate alt und über einen Betrag von achthundert Dollar. Wir riefen die Firma an und erhielten die Antwort, die wir erwartet hatten. Gardiner hatte vor rund acht Wochen einen Hawaii-Trip im Reisebüro gebucht.
Am frühen Nachmittag ließ ich Art Ranger in unser Büro holen. »Dein Chef war vor sechs Wochen auf Hawaii. Hast du ihn begleitet?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Glen flog allein.«
»Zu welchem Zweck?«, wollte ich wissen.
»Ausspannen. Erholen. Amüsieren. Er muss auf seine Kosten gekommen sein, wenn nur die Hälfte von dem, was er mir erzählt hat, stimmt. Die Luft, die Musik, der Blumenduft, das alles betäubt die Frauen wie Äther.« Er fuhr sich durch das dichte blonde Haar. »Verdammt, so sagte er wörtlich, ohne zu ahnen, dass er vom letzten Spaß seines Lebens gesprochen hat.«
»Der Mann, der ihn tötete, war ein Hawaii-Matrose. Ohne Zweifel besteht ein Zusammenhang zwischen dem Mord und Gardiners Aufenthalt in Hawaii.«
»Wen interessiert das noch? Glen ist tot, und der Bastard, der ihn killte, brach sich das Genick.«
Das Telefon läutete. Ich hob ab.
»Der Anwalt Russel Dankowsky will den untersuchenden Beamten wegen seiner Mandanten Ranger, Smith und Drew sprechen«, meldete die Zentrale.
»Schick ihn rauf. Ranger ist gerade in meinem Büro.« Ich legte auf. »Dein Anwalt kommt, Ranger.«
»Wer ist es?«
»Hast du ihn nicht gerufen?«
»Ihr habt mich eingelocht, ohne mir eine Chance für ein Telefongespräch zu geben.«
Ein kleiner, dicker, glatzköpfiger Mann platzte ins Büro, ohne seine Finger durch Klopfen zu strapazieren. Er trug eine Aktenmappe aus hellem Schweinsleder, die voller Flecken war, als transportierte er darin uneingewickelte Käsebrötchen. Wie einen Sandsack, hinter dem er nötigenfalls in Deckung gehen konnte, baute er die Mappe auf dem Schreibtisch auf.
»Mein Name ist Russel Dankowsky«, kläffte er asthmatisch. »Ich fordere Sie auf, die Gentlemen Arthur Ranger, Burton Smith und Harry Drew, die Sie unberechtigt festgenommen haben, sofort auf freien Fuß zu setzen.« Mr Dankowskys Englisch verriet, dass in seinem Elternhaus irgendeine slawische Sprache gesprochen worden war, die ihm einen unauslöschlichen Akzent aufgeprägt hatte.
»Sie sollten wissen, dass der Untersuchungsrichter über Berechtigung und Aufrechterhaltung der Haft entscheidet«, erwiderte ich.
»Ich weiß.« Er lächelte ölig. »Aber vielleicht, Sie und ich, wir könnten uns einigen.«
»Wer hat Sie beauftragt, Mister Dankowsky?«
»Telefonanruf.«
»Das ist keine befriedigende Antwort.«
»Jemand rief an, nannte keinen Namen, sondern versprach, Dollars zu schicken, wenn ich Arthur Ranger und seine Freunde raushole. Es ist mein Beruf, Agent, Leute bei Gericht und der Polizei rauszuhauen und ein paar Dollars dafür zu bekommen.« Er wandte sich an den blonden Gangster. »Sie sind Ranger?« Aus der fettigen Aktenmappe holte er ein Formular, nahm von meinem Schreibtisch einen Kugelschreiber und hielt beides dem Gangster hin. »Unterschreiben Sie die Vollmacht!« Ranger unterschrieb. Dankowsky wedelte mit der Vollmacht wie mit einer Parlamentärsfahne. »Ich habe Anspruch auf eine ungestörte, zeugenlose Unterredung mit meinem Mandanten.«
»Mich stört die Gegenwart des Agent nicht«, sagte Ranger. »Er weiß ohnedies, wie es sich zugetragen hat. Er war ja dabei.« Aus der Rocktasche zog er ein Zigarettenpäckchen, klopfte sich eine Zigarette heraus und ließ sich vom Anwalt Feuer geben. »Wir kamen in die Wohnung von Gardiner. Wir fanden ihn in seinem Blut. Im Wohnzimmer stießen wir auf zwei Männer. Einer behauptete, er wäre G-man, aber er bewies es uns nicht.«
Ich schüttelte stumm den Kopf.
»Als mein Freund Burton Smith ihn festhalten wollte, schlug er ihn nieder«, fuhr Ranger fort. »Gleichzeitig versuchte der andere Mann, zu fliehen. Wir stoppten ihn, und ich glaube, es war Harry Drew, der ihn ins Knie trat. Darauf zog der Agent seine Kanone, zwang uns, die Waffen fallen zu lassen, verwundete Harry, und während er sich mit uns völlig sinnlos beschäftigte, türmte Glens Mörder über die Brüstung.«
Dankowsky stieß einen Jubelschrei aus. »Der Richter wird sich entschuldigen und Sie auf Staatskosten mit einem Taxi nach Hause bringen lassen.«
»Ranger verschweigt Ihnen, dass er und seine Kumpane Gardiners Mörder lynchen wollten.«
»Davon ist kein Wort wahr«, erklärte Ranger lächelnd. »Das Verhältnis der Zeugen ist drei zu eins.«
»Okay, okay.« Dankowsky riss die Aktenmappe vom Tisch. »Ich werde sofort mit dem Richter sprechen.« Grußlos, wie er gekommen war, stürmte er aus dem Zimmer.
»Wer bezahlt den Anwalt für dich, Ranger?«, erkundigte ich mich.
»Keine Ahnung, Agent.«
»Gardiner war immer ein Spezialist für Schmutzarbeit. Du warst seine rechte Hand, und ich denke darüber nach, ob du den Mann, der ihn erledigt hat, nicht zu ihm geschickt hast. Du kamst mit Smith und Drew zu spät, aber früh genug, den Mörder anzutreffen und ihn beim Fluchtversuch zu töten.«
»Ich habe ihn nicht gekillt, Agent. Er sprang freiwillig über die Brüstung.«
»Mein Auftauchen in Gardiners Wohnung war nicht einkalkuliert«, hielt ich dagegen.
»Warum hätte ich Gardiner aus dem Weg räumen sollen?«
»Um sein Nachfolger zu werden.«
Er kniff die grünlichen Augen zusammen. »Kein schlechter Gedanke, Agent. Soweit ich über Glens Familienverhältnisse Bescheid weiß, hinterlässt er keine Erben.«
Ein Sergeant brachte Ranger in die Zelle zurück. Wenig später rief der Richter an, bei dem Dankowsky aufgekreuzt war, und bat um Zustellung aller Unterlagen. Er nannte den Distriktanwalt, der die Anklage vertreten sollte. Damit stand fest, dass Ranger und seine Freunde gegen die Zahlung einer Kaution bis zum Verhandlungsbeginn auf freien Fuß gesetzt wurden.
Ich erledigte die Formalitäten, schickte die Protokolle durch einen Boten ins Büro des Distriktanwalts und kletterte in den Jaguar.
***
Das Reisebüro Haddican’s World Service unterhielt ein großes Office mit vier Schaufenstern im Parterre eines Hochhauses auf der West 14th Street, nur ein paar Dutzend Yards von der 8th Avenue entfernt. Im ersten Schaufenster standen vier braunhäutige, lächelnde, blumenbekränzte Hula-Mädchen, zwar aus Pappe, aber lebensgroß und farbenfroh. Eine Überschrift lockte: Besuch Hawaii und triff uns.
Im zweiten Fenster ritt ein muskelbepackter Wellenreiter durch eine schäumende Brandung. Lernen Sie surfen bei mir am Strand von Waikiki. Auch das dritte Fenster lockte mit einem Foto von Honolulu und des Diamond Head. Einen Urlaub in Hawaii werden Sie nie vergessen. Ich ging auch am vierten Schaufenster vorbei. Seine Dekoration galt nicht Hawaii, sondern dem Rest der Welt.
Nach so viel Hawaii-Reklame hätte es mich nicht gewundert, im Office von Hula-Mädchen bedient zu werden. Die jungen Frauen hinter den Tischen des Reisebüros waren zwar hübsch, aber durchaus amerikanisch angezogen und frisiert. Eine Blondine kümmerte sich um mich.
»Ich denke, ich sollte mit Mister Haddican selbst sprechen«, sagte ich.
»Mit dem Chef? Das ist Mrs Haddican.«
Sie telefonierte, meldete mich an und führte mich in ein Büro, das durch eine Glaswand mit dem Hauptoffice verbunden war. Eine kräftige, dunkelhaarige Frau saß hinter einem Schreibtisch. Die Wände waren mit Prospekten von Ferienorten und Hotels tapeziert. Die Frau lächelte. Sie war wenig geschminkt. Ich schätzte sie auf ungefähr fünfundvierzig Jahre.
»Ich bin Helen Haddican«, begrüßte sie mich mit einer Stimme, die für eine Frau zu tief lag.
»Cotton vom FBI.« Ich zeigte ihr meinen Ausweis, den sie sorgfältig prüfte.
»Was kann ich für Sie tun, Agent Cotton?«
»Ihr Büro vermittelt ausschließlich Reisen nach Hawaii?«
»Wir erfüllen die Wünsche unseres Präsidenten. Er möchte, dass die Touristendollars im Land bleiben. Wir verkaufen den Leuten ein Ferienziel weit draußen im Pazifik, aber innerhalb des Hoheitsgebiets der USA. Abgesehen davon ist meine Firma an einem großen Hotel in Honolulu beteiligt. Ich bemühe mich, für möglichst viele Gäste zu sorgen.«
»Sie verkaufen Arrangements?«
»Von acht Tagen bis zu drei Monaten Aufenthalt, einschließlich Ausflugsprogramm, Folklore und Hula-Hula-Lehrgang«, antwortete sie. »Wenn Sie höhere Ansprüche haben, besorgen wir Ihnen auch einen Einzelbungalow, ein Motorboot zu Ihrer Verfügung und einen garantiert echten Hawaii-Ureinwohner als Diener und Führer.« Sie lächelte. »Einen fast echten Ureinwohner. Unsere Vertragsbutler haben meistens einige Prozente chinesisches Blut.«
»Welches Arrangement haben Sie für Glendon Gardiner gebucht?«
Sie runzelte die starken Augenbrauen. »Nach dieser Buchung wurde heute schon einmal gefragt, nicht wahr?« Sie beugte sich über das Mikrofon einer Sprechanlage: »Cynthia, bring mir die Unterlagen der Buchung D-vier-null-zwei-zwei.«
»Sofort«, antwortete eine Mädchenstimme aus dem Lautsprecher.
»Warum interessiert sich das FBI für diese Reise?«, fragte Mrs Haddican. »Darf ich es erfahren?«
»Sie werden es morgen in den Zeitungen lesen. Glendon Gardiner wurde ermordet.«
»Sicherlich sehr schrecklich, Agent Cotton, aber ich nehme an, es geschieht nicht zum ersten Mal, dass jemand kurz nach einer Urlaubsreise umgebracht wurde.«
»Der Mörder war ein Matrose aus Hawaii.«
Eine junge Frau betrat das Büro, und sie war erschütternd hübsch. »Meine Tochter Cynthia«, stellte Mrs Haddican vor. »Cynthia, das ist Agent Cotton vom FBI.«
Cynthia Haddican war zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt. Für eine Frau war sie ziemlich groß, und genau der richtige Anteil ihrer Größe entfiel auf die Länge ihrer Beine. Sie hatte helle Haut, strahlend blaue Augen unter dunklen Brauen und schwarzen Wimpern. Ihr Haar besaß einen natürlichen Goldton. Es fiel üppig in weichen Wellen bis zu den Schultern. Als sie lächelte, blitzten weiße Zähne auf, die für jede Zahnpastawerbung ein ideales Anschauungsobjekt gewesen wären.
Sie legte einen schmalen Aktenordner auf den Schreibtisch. Ihre Mutter setzte eine Brille auf.
»Mister Glendon Gardiner, Paladino Avenue«, las sie vor. »Einzelzimmer in der Luxuskategorie. Aufenthaltsdauer drei Wochen. Cynthia, du hast die Quittung ausgeschrieben. Kannst du dich an Miste Gardiner erinnern?«
»Nicht an den Namen.«
Ich besaß ein Foto von Gardiner. »Vielleicht an das Gesicht?«
Cynthia warf einen Blick auf die Fotografie. Sie errötete und presste die Lippen zusammen. »Ja, diesen Mann kenne ich«, sagte sie leise.
»Geschah irgendetwas Ungewöhnliches?«, wollte ich wissen.
»Er versuchte, mit mir zu flirten.«
Helen Haddican lachte. »Was ist daran ungewöhnlich? Alle unsere männlichen Kunden versuchen, mit dir zu flirten.«
Cynthia lachte nicht mit. Die Begegnung mit Gardiner schien sich ihr als unangenehmes Erlebnis eingeprägt zu haben.
Ihre Mutter nahm die Brille ab. »Danke, Cynthia. Oder wollen Sie ihr noch Fragen stellen, Agent Cotton?«
»Flirtete Gardiner mit Ihnen, Miss Haddican, oder machte er Ihnen handfeste Vorschläge?«