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Sie hießen Ernest Gale und James Kinner. Jeder von ihnen wollte die Macht über Manhattan. Die beiden belauerten sich wie hungrige Bestien. Und dann fielen sie übereinander her, von einer Stunde zur anderen. Männer starben schreiend in den Garben von Maschinenpistolen. Tankstellen brannten. Ein Nightclub flog in die Luft. New York wurde zum Schauplatz eines erbarmungslosen Gangsterkriegs. Phil und ich gerieten zwischen die Fronten. Doch unsere wahren Gegner in diesem teuflischen Spiel kannten wir noch nicht: die Cosa Nostra ...
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Seitenzahl: 221
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Die Cosa Nostra lässt schön grüßen …
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »The Marine«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6811-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Cosa Nostra lässt schön grüßen …
1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.
Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:
»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.
Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
Das Blitzlicht flackerte drei-, viermal. Die Augen des Mannes blieben offen. Seine Wimpern zuckten nicht, die Pupillen verengten sich nicht. Er war tot.
Ich packte den Fotografen an der Schulter und riss ihn zurück. Er stolperte gegen einen Tisch, stieß gegen einen Sektkühler, der scheppernd umfiel. Die Eisstücke rutschten übers Parkett bis an die Beine des toten Mannes.
»He, was soll’s?«, knurrte der Fotograf. »Nirgendwo hier steht Fotografieren verboten.«
»Sie verwischen die Spuren.«
Er lachte. »Welche Spuren? Sie hätten dabei sein sollen, als der Junge umfiel. Fünf Dutzend Leute trampelten schreiend über ihn hinweg in Richtung Ausgang.«
Der Tote lag am Rand der kleinen Tanzfläche neben einem umgestürzten Stuhl. Offenbar hatte er auf diesem Stuhl gesessen, als ihn die Kugel traf. Ein halb gefülltes Whiskyglas stand auf dem Tisch. Das Eis darin war noch nicht geschmolzen.
»Haben Sie gesehen, wie er getroffen wurde?«, fragte ich den Fotografen.
Er schüttelte den Kopf. »Ich war in einer anderen Ecke beschäftigt. Erst als die Frauen aufkreischten, wurde ich aufmerksam. Sehen Sie selbst. Jeder konnte auf den ersten Blick erkennen, was mit ihm passiert war.«
Die Kugel hatte den Mann in den Hals getroffen und die Schlagader zerrissen. Hemd und Vorderseite der Jacke waren blutgetränkt.
Außer dem Fotografen lehnte nur ein bleichgesichtiger Barkeeper hinter der Theke am Flaschenregal und kaute verzweifelt an seinen Fingernägeln. Er wusste, dass er eine Menge Schwierigkeiten zu erwarten hatte. Seine Kaschemme war illegal, namenlos, ohne Konzession und Leuchtreklame, ein sogenannter Point. Ein Punkt, an dem sich junge Frauen trafen, die Liebe verkauften. Kein Wunder, dass Käufer und Verkäuferinnen Hals über Kopf geflohen waren.
Draußen heulte eine Polizeisirene. Zwei uniformierte Cops kamen herein. Nach einem flüchtigen Blick auf den Toten ging einer sofort wieder hinaus.
Der Sergeant kam zu mir. »Sind Sie der G-man, Sir?« Ich nickte. »Irgendwelche Befehle, Sir?«
»Nein. Ihr Kollege alarmiert die Mordkommission?«
»Ja, Agent.«
»Kennen Sie den Toten?«
»Carlo DiBello, einer von Ernest Gales Muskelmännern. Gale kontrolliert diesen Bezirk. Vermutlich wissen Sie das, Agent.«
»DiBello! Diesen Namen nannte er, als er mich anrief«, bestätigte ich. »Ich wünschte, ich hätte ein paar Minuten früher hier sein können.«
»Wollte er auspacken?«, fragte der Fotograf.
»Sagen Sie mir Ihren Namen«, verlangte ich.
Er lächelte und zog aus der Innentasche seiner Jacke einen Presseausweis, ausgestellt von der Journalistenvereinigung des Staates New Jersey. Er lautete auf den Namen Harmon Loyd.
»Für welche Zeitung arbeiten Sie?«, wollte ich wissen.
»Ich halte nichts von festen Bindungen. Ich verkaufe meine Fotos an jeden, der sie haben will. Das bringt mehr ein.«
»Ich verstehe. Es müssen nicht unbedingt Zeitungen sein, denen Sie Ihre Schnappschüsse anbieten. Manche Leute mögen es gar nicht, wenn sie in gewissen Situationen fotografiert werden. Sie zahlen gut, besonders für das Negativ.«
Loyd grinste fröhlich. Er besaß ein gut geschnittenes Gesicht mit kühlen grauen Augen. Das dichte blonde Haar trug er lang und sorgfältig gescheitelt. Nach dem Geburtsdatum im Presseausweis war er zweiunddreißig Jahre alt.
»In einem Point ist das Risiko für einen Mann Ihres Berufs hoch. Wenn Sie von Gales Leuten erwischt werden, enden Sie in einem Krankenhaus oder im Hudson.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin leidlich trainiert und ungefähr gleich schnell im Zuschlagen wie im Weglaufen. Es kommt auf die Situation an.«
»Geben Sie mir den Film aus Ihrer Kamera.«
»Es ist nichts darauf außer den Fotos von dem Toten. Ich bin vorher nicht zum Schuss gekommen.«
»Trotzdem!«
Schulterzuckend spulte er den Film zurück, öffnete die Kamera und übergab mir die Kassette. »Schade. Ich hatte gehofft, die Bilder an eine Zeitung zu verkaufen.«
»New Yorks Zeitungsleser sind übersättigt mit Bildern von umgebrachten Leuten.«
Eine Gruppe Männer betrat den Point, begleitet von einem halben Dutzend uniformierter Polizisten: die Beamten der Mordkommission. Sie bauten ihre Geräte auf. Zum zweiten Mal flackerten Blitzlichter. Der Kommissionsarzt beugte sich kurz über den reglosen Körper.
»Tod durch Gewalteinwirkung«, verkündete er, wie es die Vorschrift verlangt.
Fünf Minuten später entdeckte ein Beamter der Spurensicherungsgruppe die Waffe, mit der Carlo DiBello getötet worden war. In einem der drei Zimmer, zu denen von der Kaschemme eine Treppe hinaufführte, fand er ein Dreyton-Gewehr mit Schalldämpfer. Da die Tür des Zimmers auf eine schmale Balustrade hinausging, von der aus man in den Saal hinuntersehen konnte, bestand kein Zweifel, dass DiBello von diesem Zimmer aus erschossen worden war.
Ich nahm mir den Keeper vor. »DiBello kassierte bei dir die Schutzgebühr?«
Nicht einmal beim Sprechen nahm er die Finger aus den Zähnen. »Ich weiß nichts«, nuschelte er.
»Wo ist das Telefon?«
Er wies mit dem Kopf auf die Stirnwand. »Dort ist ein Automat.«
Ich betrat die Zelle, nahm den Hörer ab, warf eine Münze ein und wählte Phils Nummer. Vermutlich hatte mich DiBello von diesem Apparat aus angerufen. Ungefähr zehn Minuten vor seinem Tod.
Phil meldete sich.
»Hast du die Hosen noch an?«, fragte ich.
»Frag mich nicht solche Sachen in Gegenwart einer Lady«, empörte sich mein Freund. Im Hintergrund kicherte eine junge Frau. Bei Phil war der Frühling schon seit einigen Wochen ausgebrochen, obwohl New York noch unter einer Decke von schmutzigem Schneematsch lag.
»Bestell der Kleinen ein Taxi und schick sie heim zu Mami. Fahr ins Hauptquartier und bring das Tonbandgerät aus der Einsatzzentrale in den Silver Strike Nightclub.«
»Zu Ernest Gale?«
»Genau.«
»In fünf Minuten.«
Bevor ich auflegte, bekam ich noch zwei Sekunden vom Protest der jungen Frau mit. Es klang wie das enttäuschte Miauen einer Katze.
***
Ein silbriger Neonblitz zuckte in Sekundenabständen über dem Eingang des Silver Strike Club. Der Portier legte die Hand an die goldbetresste Mütze. Ein Garderobengirl in Netzstrümpfen und einer Goldbrokatweste nahm mir den Hut ab, ein befrackter Kellner wollte mich zu einem Tisch geleiten.
»FBI«, sagte ich. »Ich brauche den Chef.«
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht wie ausgeknipstes Licht. »Ich weiß nicht, ob Mister Gale im Hause ist«, lispelte er. Er kam nicht zurück.
An seiner Stelle erschien Nelson Giordano, Gales Sekretär, Leibwächter und gefährlichster Killer. Er war ein vierschrötiger, schweigsamer Mann, dessen schwarzes Kraushaar tief in die niedrige Stirn wucherte.
»Komm«, knurrte er. Durch die marmeladenrote Beleuchtung des Hauptraums führte er mich an der Bühne vorbei, auf der sich ein grell angestrahltes Mädchen aus den Kleidern wand. Die Strips des Silver Strike Club zählten zu den heißesten Shows in New Yorks kalten Winternächten.
Giordano öffnete eine Tapetentür. Der Gang dahinter war notdürftig erhellt und endete vor einer Mahagonitür, gegen deren Füllung Giordano respektvoll klopfte. Ein Grunzen antwortete.
Ich durfte eintreten.
Ernest Gale war ein Gebirge von einem Mann. Er war einen halben Kopf größer als ich, ein Dutzend Zoll breiter und mindestens vierzig Pfund schwerer. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er seine Körperkräfte benutzt, um Gegner aus dem Weg zu räumen. Später ließ er andere die schmutzige Arbeit machen und verließ sich auf die Einfälle seines Gehirns. Er war schlau, gerissen und skrupellos.
Der Silver Strike Club war seine Visitenkarte für die Öffentlichkeit. Hinter dieser Fassade dirigierte der riesige Mann eine Gangsterorganisation, die Gewinne aus jedem Verbrechen zog, das zwischen der 7th Avenue und dem Roosevelt Drive verübt wurde. Das FBI hielt Ernest Gale für den Boss mehrerer Racketbanden, die ihren fragwürdigen Schutz an Geschäftsinhaber jeder Größenordnung verkauften. Er verlangte einen Anteil am Gewinn der Bordelle und Points und kassierte bei den Wetten der illegalen Buchmacher mit.
»Hallo, G-man«, dröhnte er, ohne sich aus dem Sessel zu rühren, in dem er mit weit von sich gestreckten Beinen lag. Auf seinem mächtigen Schädel wuchsen nur noch ein paar einzelne Haare. Ein massiges Kinn, die aufgedunsenen Wangen und die kleinen, schräg stehenden Augen verliehen seinem Gesicht tatarische Züge. Auf Kleidung legte er nicht den geringsten Wert. Er steckte in seinem sackweiten Anzug wie ein Elefant in den Falten seiner Haut. »Wollen Sie einen Drink, Agent?« Er wartete die Antwort nicht ab, drückte auf einen Knopf an der Armlehne seines Sessels und sagte: »Whisky, Eis, Soda!«
Zwei Minuten später öffnete sich die Tür. Ein Brokatwesten-Mädchen schob einen Servierwagen herein, füllte Eis und Whisky in ein Glas und griff mit einem fragenden Blick nach der Sodaflasche. Ich verneinte. Lautlos verschwand die junge Frau.
»Bedienen Sie sich, Agent. Ich muss verzichten. Dem Arzt gefällt meine Leber nicht. Habe anscheinend früher zu viel von dem Zeug geschluckt.«
Ich rührte das Glas nicht an. Gale musterte mich aus den Augenwinkeln, grinste und drückte auf einen anderen Knopf an der Sessellehne. An der linken Seitenwand des Zimmers schob sich ein großes Gemälde in die Höhe und gab ein Fenster frei. Der Raum, in den man durch dieses Fenster blickte, war die hell erleuchtete Umkleidegarderobe der Tänzerinnen.
»Mir macht es einfach keinen Spaß mehr zuzusehen, wenn sie wissen, dass zugesehen wird«, erklärte er. »Wenn sie sich unbeobachtet glauben, gewinnt die Sache einen neuen Reiz, finden Sie nicht auch? Sie ziehen sich gerade für die Mitternachtsshow um. Ich kann Ihnen auch den Ton liefern. Ganz interessant, was sich die Mädchen gegenseitig anvertrauen.«
Eine groß gewachsene und absolut unbekleidete Frau trat dicht an das Fenster heran, schien uns anzustarren und begann, ihr Gesicht zu schminken.
»Keine Angst, Agent«, grunzte Gale. »Auf der Garderobenseite ist es ein normaler, undurchsichtiger Spiegel. Ein alter technischer Trick.«
»Warum haben Sie Carlo DiBello töten lassen, Gale?«, fragte ich.
Er öffnete den Mund und blickte mich überrascht an. »Carlo? Ist Carlo tot?« Er drückte auf den Knopf, ohne hinzusehen. Das Bild sank herab und verdeckte das Fenster.
»Vor knapp einer halben Stunde in einem Point Ihres Bezirks erschossen! Aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen eine Neuigkeit erzähle.«
»Ich hatte keinen Grund, Carlo umlegen zu lassen.«
»Er war anderer Meinung.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Gale.
»Er hat mit mir telefoniert. Er sagte, dass er auspacken wollte, weil Sie ihn auf die Abschussliste gesetzt hätten. Seine Stimme verriet Angst.«
Eine rote Lampe glühte auf.
»Ja. Ich höre«, sagte Gale.
Giordanos knarrige Stimme drang aus einem Lautsprecher. »Noch ein G-man, Boss.«
»Wir sind verabredet«, meinte ich.
»Schick ihn rein.«
Phil trug das Tonbandgerät in der Hand. Er nickte Gale zu, sah mich an, öffnete den Deckel und drückte die Abspieltaste.
Für alle Hauptanschlüsse in der FBI-Zentrale gibt es die Möglichkeit, Telefongespräche auf Tonbändern festzuhalten. Bei den Apparaten der Einsatzleitung werden alle Gespräche automatisch mitgeschnitten. In dieser Nacht war ich einer der Beamten des Bereitschaftsdienstes gewesen und hatte DiBellos Anruf angenommen. Das Band hatte jede Phase des Gesprächs aufgezeichnet. Schon in meine übliche Meldung »FBI-Hauptquartier, Agent Jerry Cotton« schlug die erregte Stimme des Anrufers: »Kommen Sie her, G-man! Holen Sie mich hier raus! Ich soll abgeknallt werden.«
»Nennen Sie Ihren Namen.«
»DiBello. Ich bin einer von Gales Leuten. Der Bastard hat mich auf die Abschussliste gesetzt. Er behauptet, ich hätte nicht korrekt abgerechnet.«
»Wo sind Sie?«
»East vierundfünfzigste Straße zwei-sechs-vier. Es ist ein Point. Sie müssen durch die Toreinfahrt gehen. Beeilen Sie sich!«
Auch das Knacken, als der Anrufer auflegte, war zu hören.
Über Gales Gesicht breitete sich ein Grinsen, das so überdimensional war wie der ganze Mann. »Sehr schön! Ich habe dem FBI bessere Tricks zugetraut. Das ist nicht Carlos Stimme.«
»Fällt Ihnen keine bessere Ausrede ein?«
»Fragen Sie andere, Cotton.« Er beugte sich vor und rief in das Mikrofon der Sprechanlage: »Nelson, komm rein.« Sekunden später schob sich Giordano in den Raum. »Spielt ihm euer Märchen noch einmal vor.«
Ich beobachtete Gales Rechte-Hand-Mann scharf.
Als der Name DiBello fiel, zog Giordano die Augenbrauen hoch. »Dreckiger Bluff!«, knarrte er. »Das ist nicht Carlo!«
»Zufrieden, Agent? Nein, warten Sie. Nelson, schick Claire her! Sie kennt Carlos Stimme besser als wir alle. Sie würde sogar sein Schnarchen erkennen. Sie schläft mit ihm.«
»Im besten Fall schlief sie mit ihm«, murmelte Phil.
»Wollen Sie nicht meinen Whisky versuchen?«, erkundigte sich Gale. »Er ist besser als mein Ruf.« Er belachte seinen Witz ausgiebig und dröhnend.
Dann kam die junge Frau.
»Claire Meola«, stellte der Nightclub-Besitzer mit einer Handbewegung vor. »Ich zähle sie zu den zehn schönsten Mädchen, die je bei mir gearbeitet haben. Carlo DiBello war verrückt nach ihr. Ihretwegen prügelte er sich immer wieder mit anderen Verehrern. Nicht wahr, Claire?«
Sie antwortete nicht, sondern blickte Phil und mich an. Claire Meola war eine hochgewachsene junge Frau von vier- oder fünfundzwanzig Jahren. Sie trug einen weiten grellbunten Umhang, der ihre Figur bis zu den hochhackigen Sandaletten verhüllte, und darunter trug sie vermutlich nicht viel. Die dicke Schicht Bühnenschminke verdeckte den Ausdruck ihres Gesichts und ließ es starr wirken, aber unter den dick nachgezogenen Brauen musterten uns graugrüne, hellwache Augen.
»In zehn Minuten muss ich auf die Bühne«, sagte sie. Ihre Stimme klang leicht heiser.
Phil spielte das Tonband ab. Claire Meola hörte mit unbewegtem Gesicht zu. »Das ist nicht DiBellos Stimme«, meinte sie dann. Als einzige benutzte sie nicht den Vornamen.
»Die Befürchtungen, die der Anrufer äußerte, verwirklichten sich« versetzte ich. »Fünf Minuten nach diesem Anruf wurde Carlo DiBello in genau dem Point, dessen Adresse er nannte, erschossen.«
Die Tänzerin zuckte nicht mit der Wimper.
»Aber nicht ich habe ihn umlegen lassen!«, brüllte Gale los. »Irgendwer versucht, mir mithilfe des Telefongesprächs Carlos Tod in die Schuhe zu schieben.«
»Und wer außer Ihnen hatte einen Grund, ihn zu töten?«, fragte Phil.
Der Gangboss schnaufte verächtlich. »Pah, es gibt keinen anderen Grund, als mir Schwierigkeiten zu machen. Carlo war der Handlanger, den es als Ersten traf. Jeder Krieg fängt damit an, dass irgendein Soldat erschossen wird.« Er zog die Lippen von den starken gelben Zähnen. »Generale kommen erst später an die Reihe. Ich bin General, Agent!«
»Wer ist der Gegner?«, wollte ich wissen.
Er wuchtete sich aus seinem Sessel hoch. »Warum finden Sie nicht lieber heraus, wer Carlo abgeknallt hat? Wenn Sie dazu fähig wären, würden Sie mir ’ne Menge Ärger ersparen.«
»Kann ich gehen, Chef?«, fragte Claire Meola.
»Okay, Mädchen.« Er legte die riesige Pranke auf die Schulter der Tänzerin. »Tut mir leid, dass Carlo Pech hatte, aber die Jungs werden sich zerfleischen um seinen Platz an deiner Seite. Sie werden dir das Vergessen leicht machen.« Das Öl in seinen Worten hätte ausgereicht, einen Traktor zu schmieren. Außerdem schien er selbst zu glauben, was er sagte. Wie viele brutale Typen besaß auch Gale eine ausgeprägte sentimentale Ader. Als sich die Tür hinter dem Mädchen geschlossen hatte, wandte er sich an uns. »Noch Fragen, Agents?«
Ich lächelte. »Einen Sack voll, aber ich weiß, dass Sie keine mit der Wahrheit beantworten werden.«
»Genau. Warum halten Sie sich also noch hier auf, zumal Sie auch meinen Whisky nicht mögen?«
»Das FBI wird den Ausbruch eines Gangsterkriegs nicht einfach hinnehmen«, erwiderte ich.
»Carlo DiBello stand auf meiner Lohnliste. Niemand hat das Recht, Leute abzuknallen, für die ich mich verantwortlich fühle.« Er stampfte zur Tür, riss sie auf und machte eine knappe Kopfbewegung. »Alles, was Sie hier noch tun können, ist, sich die Show des Silver Strike Club anzusehen«, knurrte er. »Meinetwegen auf Rechnung des Hauses.«
Im Flur begegnete uns Nelson Giordano. Ihm folgten zwei Männer in Straßenanzügen, massige Gestalten mit harten Gesichtern. Kein Zweifel, dass sie zu Gales Schlägergarde gehörten.
Wir durchquerten den Klub. Im grellen Scheinwerferlicht stand Claire Meola auf der Bühne, jetzt ohne Umhang. Jede Starre war von ihr abgefallen. Sie lächelte. Lippen und Zähne schimmerten feucht. Ihr einziges Requisit war ein großer, mit Flittern besetzter Ball. In diesen Flittern aus reflektierendem Metall vervielfältigte sich das Scheinwerferlicht zu Kaskaden winziger blendender Lichtblitze.
Es war mehr als eine gewöhnliche Stripnummer. Ihre Show war atemberaubend und ästhetisch zugleich. Auch Phil und ich wurden von diesem Spiel zwischen Nacktheit und Licht gefesselt. Wir blieben zwischen den Tischen stehen. Drei, vier Gäste, denen wir die Sicht verdeckten, röhrten empört auf. Jemand schrie: »Aus dem Weg, Mann! Keinen Quadratzoll von der Haut dieses Girls lass ich mir nehmen!« Sie zwangen uns zum Rückzug.
Vom Ausgang her bekamen wir den Schluss der Show mit. Er war albern und banal. Der Ball blieb, aufgefangen von einer aus den Kulissen vorschnellenden Papphand, in der Luft hängen. Claire tat, als merke sie den Verlust mit Verspätung, kreischte auf, verschränkte die Arme vor den Brüsten und hastete in die Kulissen, begleitet von Klatschen, Pfiffen und Gelächter. Als sie wiederauftauchte, trug sie den Umhang. Die Papphand ließ den Ball fallen. Sie fing ihn auf und verneigte sich. Jetzt lächelte sie nicht mehr.
Das Garderobenmädchen gab mir meinen Hut.
»Der Tod ihres Freunds war keine Überraschung für sie«, stellte Phil fest.
»Auf jeden Fall kein Grund zur Trauer«, gab ich zurück. »Wir werden uns mit Miss Meola noch einmal unterhalten müssen. Bist du mit dem FBI-Wagen gekommen?«
»Nein, mit dem Taxi.«
»Dann komm mit. Ich fahre noch einmal zum Point zurück.«
Wir stiegen in den Jaguar.
Phil hielt das Tonbandgerät auf den Knien. Er tippte mit dem Finger darauf. »Lügen sie alle? War es nicht DiBello, der dich angerufen hat?«
»Für Gale ist es leicht, seinen eigenen Leuten das Lügen zu befehlen. Wenn er es wünscht, würden sie nicht einmal die Stimme des Präsidenten der USA erkennen. Aber vielleicht sagen das Mädchen, Giordano und Gale auch die Wahrheit, und es ist tatsächlich nicht DiBellos Stimme.«
»Die des Mörders, natürlich etwas verstellt und durch eine dieser Vibrationskapseln verzerrt.«
»Warum soll dich der Mörder unter dem Namen seines Opfers anrufen? Es erhöht sein Risiko. Du hättest auch rechtzeitig kommen können.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sein Zeitplan stimmte. Er rief an, ging in das Zimmer auf der ersten Etage, schoss und verließ in der ausbrechenden Panik unerkannt und vermutlich sogar unbemerkt das Haus. Er hatte drei Möglichkeiten: Er konnte sich einfach den türmenden Gästen anschließen. Er konnte auch den zweiten Ausgang benutzen, der von dem Zimmer aus über ein Treppenhaus erreicht werden kann. Außerdem führt eine Feuerleiter am Fenster des Zimmers vorbei.«
»Okay, aber warum hat er angerufen?«
»Stell dir vor, was geschehen wäre, wenn wir nichts von diesem Mord erfahren hätten. Der Keeper des Point hätte Gale angerufen, und Gale hätte ein paar Leute losgeschickt, die DiBellos Leiche eingesammelt und beseitigt hätten. Der Mord wäre vertuscht worden, und Gale hätte freie Bahn für einen Rachefeldzug gehabt. Jetzt muss er uns einkalkulieren. Das zwingt ihn zur Vorsicht. Sein Gegner benutzt uns als Deckung.« Ich wandte den Kopf und ergänzte meine Ausführungen mit einem Schulterzucken. »Falls es diesen Gegner wirklich gibt. Lass uns versuchen, es herauszufinden!«
Die Wagen der Mordkommission blockierten noch die Toreinfahrt zu dem Hinterhof. Eine Kette aus Cops hielt die Neugierigen zurück. Zwei Standscheinwerfer erhellten die Toreinfahrt. Wir begegneten zwei Männern des Unfalldienstes. Auf einer verdeckten Bahre transportierten sie DiBellos Leiche ab.
Die Blutlache begann, zu trocknen, und nahm eine stumpfe Purpurfarbe an.
Harmon Loyd, der Fotograf, saß an einem Tisch zwischen zwei Polizisten und vor einem Vernehmungsbeamten. Als er mich sah, rief er: »He, G-man. Legen Sie ein gutes Wort für mich ein und sagen Sie Ihren Kollegen, sie sollen mich laufen lassen. Ich habe nur mit ’ner Kamera auf den Mann geschossen, und da war er schon tot.«
»Wird er verdächtigt?«, fragte ich den Vernehmungsspezialisten.
»Nicht mehr als jeder, der sich hier aufhielt, als der Schuss fiel, aber auch nicht weniger. Wir brauchen seine Aussagen, um möglichst viele Leute, die sich hier trafen, zu finden.«
»Ich kann nichts für Sie tun, Loyd. Der Leiter der Kommission entscheidet, was mit Ihnen geschieht. Sie haben Ihre Nase selbst hineingesteckt. Beklagen Sie sich also nicht, dass man Ihnen noch nicht erlaubt hat, sie wieder herauszuziehen.«
Er blinzelte. »Ich möchte sie im Gegenteil noch tiefer hineinstecken, aber ich kann’s nicht, solange ich hier festgenagelt werde.«
»Viel gesünder für Sie«, erwiderte ich.
Der Leiter dieser Abteilung der Mordkommission war Charles Lenton, ein junger Lieutenant des Kriminaldienstes der City Police.
Lenton knetete persönlich den Keeper des Point. Der Mann, ein magerer, schmuddeliger Bursche, war schweißüberströmt.
»Er ist zäh«, sagte Lenton, »aber inzwischen hat er die ersten Töne gesungen. Offenbar erhielt er nur ein paar Prozente. DiBello kam jeden Abend und holte die Einnahme ab. Das scheint zu stimmen, denn wir fanden achthundert Dollar in seinen Taschen und fast nichts in der Kasse des Point. Außerdem hatte DiBello Interesse an mehreren Ladys. Vermutlich erpresste er sie auf eigene Rechnung.«
»Seit wann kassierte DiBello?«
»Ungefähr seit drei Monaten.«
»Kommt er seit Eröffnung des Ladens?«, wollte ich wissen.
»Nein. Der Point existiert seit fast einem Jahr. In den ersten Monaten lief das Geschäft nur dünn. Der Gangster, der damals zur Abrechnung kam, hieß Hank Mirsky. Eines Tages blieb er aus, und Carlo DiBello hielt an seiner Stelle die Hand auf.«
»Gehörte Mirsky zur Gale-Organisation?«
»Ich habe in der Zentrale zurückgefragt. In unserer Kartei gilt er als ein Mann der Feather-Gang.«
Ich pfiff leise durch die Zähne. »Wenn der Laden früher von The Feather organisiert und in Betrieb gehalten wurde, später aber ein Gale-Mann aufkreuzte, gibt es eine einfache Erklärung für den Mord. The Feather überlässt einem Konkurrenten nichts, das er als sein Eigentum betrachtet.«
2
Es gab keine Adresse, unter der James Kinner, The Feather, mit Sicherheit zu erreichen gewesen wäre, aber es gab ein Dutzend Adressen, unter denen man ihn vielleicht erreichen konnte – die Wohnungen seiner Freundinnen nicht mitgerechnet. Einem Irrlicht ähnlich geisterte er durch New York.
Er unterhielt ein großes Büro in einem Hochhaus der West 14th Street, in dem angeblich Grundstücksgeschäfte abgewickelt wurden, aber es war durchaus möglich, dass er dieses Büro erst gegen Mittemacht betrat und zu keinem anderen Zweck, als eine Stunde im Schreibtischsessel zu schlafen.
Gewöhnlich allerdings schlief er in Betten, die in Wohnungen standen, für die er zwar die Miete zahlte, an deren Türen aber nicht sein Namensschild hing. Was Mädchen anging, verhielt sich Kinner absolut verrückt. Manche Leute behaupteten, sie hätten ihn noch nie ohne ein weibliches Wesen in Reichweite gesehen. In gewissem Sinn waren auch Kinners Mädchen allesamt von einer Sorte. Alle waren einen Kopf größer als er, und die Kurven waren immer atemberaubend. Kinner interessierte sich nicht für die Haarfarbe und schon gar nicht für den Verstand seiner Freundinnen.
Er selbst war kaum größer als fünf Fuß, wenn man die Blockabsätze seiner Schuhe mitrechnete. Sein Gewicht lag bei hundertdreißig Pfund. Größe, Gewicht und die Klasse, in der er als Zwanzigjähriger boxte, lieferten die Grundlage seines Spitznamens: The Feather, die Feder, aber es wäre völlig falsch gewesen, dabei an Flaum und Daunen zu denken. Eine Sprungfeder aus hochelastischem Spezialstahl, dieser Vergleich passte besser. Immer gespannt, immer bereit, loszuschnellen, anzuspringen.
Nicht einmal seine eigenen Leute brachten James Kinner irgendwelche Sympathien entgegen. Er demütigte sie mit der Bösartigkeit kleiner Männer, die anderen nicht verzeihen können, dass sie ein paar Inch größer gewachsen waren. Vor zwei Jahren hatte es einen Aufstand in der Kinner-Organisation gegeben. The Feather hatte ihn schnell, erbarmungslos und blutig unterdrückt.
Immer noch versuchte die City Police, die Morde an vier bekannten und gefürchteten Schlägern der Westseite zu klären, die damals in Wochenfrist verübt worden waren. Manche Offiziere im Homicide Department vertraten die Ansicht, Kinner habe es den Verschwörern eigenhändig besorgt. Beweise für diese Theorie fanden sie nicht.
Im Gegensatz zu Gales sorgfältig organisiertem Konzernbetrieb war Kinner geradezu ein Ramschladen an Verbrechen jeder Art. Zwar zog auch er Gewinne aus dem Racket- und Buchmachergeschäft und der Hafenprostitution, wobei die 7th Avenue ungefähr die Grenze gegen den Bezirk der Gale-Gang bildete. Aber anders als Gale fand sich Kinner bereit, einen Großeinbruch zu organisieren, eine Ladung Rauschgift zu übernehmen oder einem südamerikanischen Kapitän eine seiner Freundinnen, deren er überdrüssig geworden war, zu verkaufen.
In jener Nacht suchten Phil und ich die Westseite nach The Feather ab. Wir begannen mit dem Büro in der 14th Street, steckten unsere Köpfe in zahllose Inns, Kaschemmen, Kneipen, wichen einem halben Dutzend Versuchen aus, uns in Schlägereien zu verwickeln, und entdeckten schließlich zwar nicht Kinner selbst, aber wenigstens Hank Mirsky, jenen Gangster, der früher in Kinners Auftrag den Point abkassiert hatte.
Mirsky war ein altgedienter Ganove mit rund vierzig Berufsjahren in Gefängnissen und in den Diensten verschiedener Gangbosse. Seine Vorliebe für Gin nahm seit einigen Jahren überhand. Seine Reflexe ließen nach. Die Schlagkraft seiner Faust sank rapide. Vermutlich behielt ihn Kinner aus psychologischen Gründen in seinem Verein. Mirsky war knapp sechs Fuß, und es machte Kinner Spaß, einen zweihundertpfündigen großen Mann vor sich auf dem Bauch kriechen zu sehen.
Als wir Mirsky trafen, hockte er über einem leeren Glas in einer Kneipe am 22. Pier, an der nur die Hinterzimmer interessant waren, denn dort waren die Mädchen. Vermutlich versah er eine Art Portiersjob mit dem Auftrag, die Männer, die in die Hinterzimmer wollten, nach Geld und Trunkenheitsgrad zu sortieren, einzulassen oder zurückzuhalten.
Bei unserem Anblick zeigte Mirsky Nervosität. Obwohl wir ihm nie begegnet waren, besaß er Erfahrung genug, um uns richtig einzuordnen, wenn auch vielleicht ein oder zwei Etagen tiefer. Denn als er die FBI-Ausweise sah, wurde aus seiner Nervosität Unruhe.
»Ich habe nie gegen ’n Bundesgesetz verstoßen«, versicherte er. »Nie etwas mit Falschgeld, mit Kidnapping, Spionage zu tun gehabt.« Seine Aussprache war kaum deutlicher als das Zischen einer Lokomotive. Mirsky fehlten die meisten Vorderzähne.
»Es geht nicht um dich, sondern um deinen Chef. Wo finden wir Kinner?«, wollte ich wissen.
»Ich weiß nicht einmal, von wem Sie sprechen«, log er kläglich.
»Von The Feather, falls du seinen richtigen Namen vergessen haben solltest«, erklärte Phil freundlich.
Mirsky setzte das Glas an den Mund, obwohl es leer war. Er wollte Zeit gewinnen.
Phil drückte seine Hand nach unten. »Wir wollen deinen Boss wegen eines Mordes sprechen, aber wir wollen ihn auch warnen.«
»Wie viel Uhr ist es?«
»Vier Uhr morgens«, antwortete Phil.
»Feather gehört ein Schnellimbiss auf der Sechsundneunzigsten.«
»Kennen wir«, knurrte Phil. »Dort haben wir es um Mittemacht versucht.«