Jerry Cotton Sonder-Edition 89 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sonder-Edition 89 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Was für ein Begräbnis!
Ein Sarg, dreihundert Menschen und keine Träne.
Denn der Mann, der beerdigt wurde, war Rufus Holloghan. Der berühmte Holloghan, der Mädchenmörder.
Und im Sarg tickte die Bombe ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Cover

Impressum

Ich und der Mädchenmörder

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelfoto: (Film) »Der Tod trägt schwarzes Leder«/ddp-images

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-7105-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Ich und der Mädchenmörder

1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.

Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:

»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«

Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.

Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.

1

Was für ein Begräbnis!

Ein Sarg, dreihundert Menschen und keine Träne. Nicht einmal ein feuchter Schimmer in den Augen der nächsten Angehörigen.

»Endlich«, grollte jemand in meiner Nähe. »Endlich fährt er zur Hölle! Ich frage mich, warum niemand das Ereignis beklatscht. Wir hassen ihn doch, nicht wahr? Selbst jetzt noch, bis in den Tod hinein …«

Ich schaute mich um. Die Gesichter unter den aufgespannten Regenschirmen waren ernst, grimmig, düster. Keine Spur von Trauer. Den meisten ging es nur darum, dabei zu sein. Entsetzen hat einen hohen Kurswert. Immerhin wurde Rufus Hollo­ghan zu Grabe getragen, Rufus, der Massenkiller, Rufus, die Bestie von Hoboken.

»Rufus Holloghan hat sich selbst gerichtet«, tönte die Stimme des Predigers durch den Regen. »Er zerbrach an den Folgen seines eigenen Schreckens. Sein Gewissen war außerstande, mit elf Morden fertig zu werden. Vergessen wir nicht, dass diese letzte Regung zutiefst menschlich war und dass sie vieles von dem in Frage stellt, was die Zeitungen heute über Rufus Holloghan schreiben. Für sie war er ein Scheusal, ein Mörder der Superlative …«

Eine Windbö klatschte mir den Regen ins Gesicht. Rufus Holloghan, welch ein Name!

Er war aus eigener Kraft zum Millionär aufgestiegen, aber es wurde gemunkelt, die Unterwelt habe ihm dabei geholfen. Beweisen ließ sich das nicht. Holloghans Vergangenheit war frei von Vorstrafen geblieben. Sicher war, dass er seine steile Karriere ungewöhnlichem Geschick verdankte. Er war eine ideale Kombination aus Techniker und Kaufmann gewesen. Davon sprach heute freilich niemand mehr. Man redete nur noch über Rufus, den Killer.

Holloghan-Zahnräder waren in jedem dritten Kraftfahrzeug zu finden. Hollo­ghan-Schweißgeräte arbeiteten on allen größeren Betrieben. Holloghan hatte den typischen amerikanischen Selfmademan verkörpert, die Art von Mensch, die den American Way of Life zu rechtfertigen schien – durch Tüchtigkeit zum Erfolg!

Und dann hatten sie ihn mit einem Kind erwischt, mit einem dreizehnjährigen Mädchen – genau in dem Moment, als er es zu erwürgen versuchte. Rufus Holloghan hatte sich erschossen, als man ihn verhaften wollte. Bei ihm gefundene Tagebuchaufzeichnungen brachten letzte Klarheit. Rufus Holloghan hatte ein Doppelleben geführt. Er war der gesuchte Kindermörder gewesen, die Bestie von Hoboken.

»Rückblickend lässt sich feststellen, dass Rufus Holloghan stets das Ungewöhnliche, das Spektakuläre geliebt hat«, erhob sich die Stimme des Predigers über die Köpfe der Menge. »Niemand von seiner so hart, so grausam bestraften Familie vermochte zu ahnen, dass dumpfe, geheime Triebkräfte ihn dazu verdammten, das Verbrechen zu suchen … und dass er auch auf diesen Wegen traurige Rekorde erzielte. Es steht uns nicht zu, sein schreckliches Handeln zu entschuldigen, aber man sollte uns die Bemerkung gestatten, dass es nur eine furchtbare Krankheit gewesen sein kann, eine …«

Das Rauschen des Regens wurde von einem Gemurmel des Unmutes übertönt. Ein Mann, der bis zuletzt souverän einen Großbetrieb geleitet hatte, konnte keine mildernden Umstände erwarten. Elf tote Mädchen in fünf Jahren – dieser schreckliche Rekord erlaubte keine salbungsvollen Worte von Krankheit und Verzeihen.

»Wo ist Dave Holloghan – wo ist sein Sohn?«, tuschelte eine Frauenstimme hinter mir.

»Angeblich hat er einen Nervenschock erlitten«, antwortete ein Mann.

»Da sieht man’s mal wieder«, stellte die Sprecherin zufrieden fest. »Männer sind Schlappschwänze. Sieh dir Holloghans Frau und seine beiden Töchter an. Halten sie sich nicht großartig? Dabei werden sie von hundert Blicken aufgespießt!«

»Die können sich’s leisten, den Kopf hoch zu tragen«, spottete der Mann. »Jede von ihnen wird Millionen erben. Sie werden heiraten und den Namen Holloghan ablegen. Nach einiger Zeit wird sich kein Mensch mehr daran erinnern, dass sie mit einem Massenmörder zusammenlebten.«

Ich hörte nicht mehr hin und klappte den Kragen meines Trenchcoats hoch. Mein Haar klebte an der Stirn. Ich schob die Hände in die Manteltaschen und spürte die Feuchtigkeit des Stoffes. Ich muss ihn imprägnieren lassen, schoss es mir durch den Kopf. Wie lange wird der Kerl an Holloghans Grab denn noch reden?

Ich hasste dieses Begräbnis, ich hasste meinen Auftrag. Ich empfand ihn als überflüssig, auch wenn es zehnmal stimmen mochte, dass Holloghans Handeln in den Zuständigkeitsbereich des FBI fiel. Er hatte, wahrscheinlich nur zur Tarnung seiner Verbrechen, wiederholt Erpresserbriefe an die Eltern der Opfer geschrieben, aber bis heute war noch nicht einwandfrei geklärt, ob diese Zeilen tatsächlich auf sein Konto gingen oder ob sie von Leuten stammten, die versucht hatten, aus Holloghans Verbrechen Kapital zu schlagen.

Ein Mörder hatte sich gerichtet. Das hier war nur noch eine Demonstration menschlicher Neugierde, letzter Akt eines schaurigen Dramas. Wäre ich ein Psychoanalytiker gewesen, hätte ich eine Menge zu diesem Begräbnis sagen können, aber so, wie die Dinge liegen, durfte ich mich nur interessieren, ob man jetzt und heute wirklich die Bestie von Hoboken begrub.

Tatsächlich gab es einige Zweifel an der These von Rufus Holloghans Alleinschuld. Besonders mein Chef, John D. High, vertrat die Ansicht, dass Holloghans Selbstmord einfach zu viele Fragen ungeklärt ließ.

Das begann damit, dass Rufus Hollo­ghan in Long Island gelebt und gearbeitet hatte, mehr als zwei Autostunden von Hoboken, dem Schauplatz der Verbrechen, entfernt.

Was, so musste man fragen, hatte den als fanatischen Arbeiter bekannten Triebtäter veranlasst, für seine Taten, einschließlich Hin- und Rückfahrt, jeweils rund fünf Stunden zu opfern?

Holloghans letztes – gerettetes – Opfer war dreizehn Jahre alt gewesen. Die ersten elf Opfer des Massenmörders waren jedoch zwischen sechs und acht Jahre alt gewesen. Was hatte Rufus Holloghan dazu gebracht, den Charakter seiner Mordserie in einem so entscheidenden Punkt zu ändern?

Ich wandte mein Interesse erneut den Umstehenden zu, eher gelangweilt als interessiert. Gesichter, Gesichter, Gesichter. Ganz in meiner Nähe eine ungewöhnlich hübsche, knapp zwanzigjährige junge Frau in Trauerkleidung.

Welchen Grund hatte sie, an diesem Begräbnis teilzunehmen? Und weshalb blickte der Mann, der neben ihr stand, fortgesetzt in nervöser Ungeduld auf seine Armbanduhr? Warum ging er nicht nach Hause, wenn er in Zeitdruck war oder wenn ihn die Zeremonie langweilte?

Flüchtige Gedanken, Fragen, auf die ich keine Antworten erwarten konnte. Kameraverschlüsse klickten unentwegt, zwei Fernsehkameras surrten kaum hörbar. Irgendjemand hatte eine hölzerne Plattform errichten lassen, um den Presse- und Filmleuten freies Schussfeld für ihre Objektive zu sichern.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und betrachtete den Sarg. Er war mit Blumen und Kränzen fast zugedeckt. Die regennassen Bänder und Schleifen hingen schlaff an den Seiten herab.

»Rufus Holloghans Ende«, tönte die Stimme des Predigers durch den Regen, »sei uns allen eine Warnung, aber auch Mahnung und Verpflichtung zugleich. Richten wir die Frage an uns, was mit einer Gesellschaft im Argen liegt, die Menschen zu Bestien werden lässt und ihnen …«

Weiter kam er nicht. Seine Stimme wurde von einer plötzlichen Detonation buchstäblich zerrissen.

Die Bombe, die im Sarg explodierte, sorgte für den Paukenschlag des Jahres.

Das hatte nichts damit zu tun, dass der wegfliegende Sargdeckel den Prediger traf und verletzte, nichts damit, dass ein makabrer Blumenschauer über die Menschenmenge niederging, nichts damit, dass mehr als hundertstimmige Schreckensschreie zum Himmel emporstiegen, ja, noch nicht einmal sehr viel damit, dass dies alles von den laufenden Film- und Fernsehkameras festgehalten wurde.

Die eigentliche Sensation bildete der jetzt freigelegte Sarginhalt.

In ihm lag nicht der Mann, zu dessen Begräbnis sich die Menge eingefunden hatte.

Der Sarg enthielt die Leiche eines jungen Mädchens.

***

Jemand rammte mir seine Faust in den Magen. Ein anderer trat mir auf die Füße. Ich hatte Mühe, mich in der Woge zurückflutender Menschen auf den Beinen zu halten. Einige Leute stürzten, andere trampelten über sie hinweg. Angstschreie vermengten sich mit harten Flüchen.

Die Panik blieb in ihren Ansätzen stecken, als die Menge begriff, dass das Schlimmste vorüber war. Neugierde verdrängte das Entsetzen. Die Menge schwappte zurück. Ich versuchte, nach vorne zu gelangen, aber es war unmöglich, den dichten Menschenring zu durchbrechen.

Einige Polizeibeamte in Zivil mühten sich ab, die Situation in den Griff zu bekommen. Jemand boxte mich hart in den Rücken. Ich wandte mich um. Mein Blick ging an dem dicken, vor Aufregung schwitzenden Mann vorbei, dem ich den Hieb verdankte, und traf ein Pärchen, das sich von der Trauergemeinde abgesetzt hatte. Die junge Frau und ihr Begleiter! Der Mann, der wiederholt auf seine Uhr geschaut hatte.

Ich kapierte plötzlich, weshalb er so ungeduldig gewesen war. Er hatte vermutlich der Sekunde der Explosion entgegengefiebert. Es war seine Aufgabe gewesen, sie abzuwarten, um seinem Auftraggeber einen detaillierten Bericht erstatten zu können.

Mein überraschter Pfiff ging im allgemeinen Lärm unter. Ich löste mich von der Menge und folgte den beiden. Ich war offenbar der Einzige, der sie überhaupt beachtete.

Der Mann hatte seinen Arm um eine Schulter der Frau gelegt. Sie hielt einen aufgespannten Schirm in der Rechten.

Hinter mir ertönten Schritte. Ein Mann kam herangehumpelt und stoppte neben mir, als er mich erkannte. »Hallo, G-man«, sagte er schwer atmend und presste eine Hand auf sein Herz. »Meine verdammte Pumpe! Warum habe ich mir bloß einen Beruf ausgesucht, wo sie immerzu strapaziert wird? Das ist ein Ding, was? Holloghan hat sie also doch geschafft. Sein zwölftes Opfer! Jetzt hat er das Dutzend vollgemacht. Aber was ist aus ihm geworden? Sagen Sie mir, was das zu bedeuten hat, Cotton!«

Ray Thorne war ein stadtbekannter Reporter. Er war überall zu finden, wo es etwas zu sehen und zu berichten gab. Seine Kolumne zeichnete sich nur selten durch Wahrheitsliebe aus, aber sie war immer spannend geschrieben und brachte genau das, was die Leute lesen wollten.

»Ich habe das Mädchen im Sarg nicht erkannt«, sagte ich, ohne meine Blicke von dem Pärchen zu wenden. Es ging knapp dreißig Yards vor uns und blickte nicht ein einziges Mal zurück.

»Es ist Lucy Francis«, sagte Thorne aufgeregt. »Die Dreizehnjährige, mit der er erwischt wurde!«

Ich blieb stehen. Thornes aufgewärmte Knüller hatten mich noch nie überraschen können, aber diesmal hatte er mich geschafft.

»Lucy Francis?«, echote ich ungläubig.

Er ging weiter, die Hand auf sein Herz gepresst. »Es wird Sie überraschen, G-man, aber sie war ein Flittchen! So ausgekocht wie eine Fünfundzwanzigjährige.«

»Davon haben Sie nichts in Ihrer Kolumne geschrieben«, bemerkte ich. »In Ihrem Artikel war sie das unschuldige, arme Mädchen, dem ein brutaler Bösewicht Gewalt anzutun versuchte.«

Thorne grinste unlustig. »Du lieber Himmel! Was erwarten Sie denn von mir? Sie war dreizehn, und Holloghan wollte sie ermorden. Das sind die Fakten. Ich habe versucht, das Beste daraus zu machen. Hätte ich der Kleinen die Zukunft versauen und ihr anlasten sollen, dass sie frühreif war und sich von ihren Freunden bezahlen ließ?«

»Bezahlen – wofür?«, fragte ich.

Thorne grinste matt. »Na, Sie sind naiv«, meinte er. »Lucy gab sich meistens als Siebzehnjährige aus. Sie war nicht mehr unschuldig. Wenn jemand etwas von ihr wollte, zierte sie sich nicht lange, vorausgesetzt, dass ihr der Liebhaber einige Dollars in die bereitwillig geöffnete Hand drückte. Sie war ein Frühstarter, in jeder Hinsicht. Gut gebaut und so wenig kindlich wie Frankensteins Monster.«

»Sie wollen damit sagen, dass sich Lucy Francis verkaufte?«, erkundigte ich mich.

Thorne nickte. »Manche fangen früh an. Mensch, Cotton! Nun tun Sie doch nicht so pikiert. Wir leben in New York. Sie wissen, was in diesem Drecksnest möglich ist.«

»Ich wüsste gerne, ob Sie diese Dinge nur vermuten oder ob sie das Ergebnis Ihrer Recherchen sind.«

Er verdrehte die Augen. »Verdammt noch mal, ich weiß es! Ich habe in Lucys Gegend herumgefragt. In den Slumlokalen, im Park, wo sie meistens zu finden war. Für fünf Bucks war Lucy zu haben.«

»Haben Sie das den Ermittlungsbehörden berichtet?«

»Blöde Frage! Es ist nicht meine Aufgabe, für die Polizei zu recherchieren«, antwortete er. »Ihre Kollegen hatten die gleichen Möglichkeiten wie ich, die Wahrheit herauszufinden. Wenn sie da einiges versäumt haben sollten, tut es mir leid. Ich muss jetzt gehen, die Telefonzelle steht drüben am Hauptweg. Meine Zeitung muss den Knüller schon in der Mittagsausgabe bringen, wir wollen die Ersten sein …«

Er ging hastig davon und zog dabei sein linkes Bein ein wenig nach, wie immer, wenn er nervlich oder körperlich überfordert war.

Ich folgte dem Pärchen, das dem Friedhofsausgang zustrebte, aber meine Gedanken beschäftigten sich mit Thornes überraschender Aussage.

Wenn es stimmte, dass Lucy Francis ein frühreifes Flittchen gewesen war, meldeten sich neue Zweifel an der These von Rufus Holloghans Schuld.

Die Bestie von Hoboken hatte sich in elf Fällen nachweisbar an besonders unschuldig wirkenden Mädchen vergangen. Es passte nicht zu dem Gesetz der Serie, dass der Mörder bei seinem zwölften Opfer den Typ gewechselt haben sollte. Nach allem, was Ray Thorne über Lucy Francis gesagt hatte, war das Mädchen nur den Jahren nach ein Kind gewesen.

Aber wer hatte Lucy Francis ermordet – und warum?

Rufus Holloghan schied als Täter aus. Er hatte in einem Tiefkühlfach des Leichenschauhauses gelegen, als Lucy Francis noch Interviews gewährt und ihre Aussagen zu Protokoll gegeben hatte.

Wann war sie ermordet worden und von wem? Wer hatte es geschafft, sie in den Sarg zu schmuggeln, um ihre Leiche einer vielhundertköpfigen Trauergemeinde zu präsentieren, und was war aus dem toten Rufus Holloghan geworden?

Denn dass Holloghan tot war, stand außer Zweifel. Er war nicht nur von der Familie erkannt worden, man hatte ihn auch anhand seiner Prints und des Gebisses identifiziert.

Das Pärchen stoppte am Friedhofsausgang. Der Mann beugte sich nach vorne und hauchte der jungen Frau einen Kuss auf die Wange, dann trennte er sich von ihr. Ich folgte dem Mann, obwohl ich mich von meinem auf der entgegengesetzten Seite parkenden Jaguar entfernen musste.

Der Mann hatte jetzt beide Hände in die Manteltaschen geschoben und sein Tempo gesteigert. Er lief mit gesenktem Kopf, anscheinend völlig gedankenversunken. Der Mann war barhäuptig. Sein dunkelblondes, nasses Haar klebte an einem ziemlich kantigen Schädel. Wenn ich gefragt worden wäre, welcher Berufsgruppe der Mann angehörte, hätte ich ihn als Vertreter oder Angestellten eingestuft. Alles in allem war er kein auffälliger Typ. Er war modern, aber betont diskret gekleidet. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig. Sein schmales Gesicht war ernst, leidlich gut geschnitten, ohne besondere Merkmale.

Er stoppte an einem 67er Pontiac, schloss ihn auf und klemmte sich hinter das Lenkrad. Der Wagen hatte eine New Yorker Nummer. Ich prägte sie mir ein und winkte, als ich ein langsam heranfahrendes Taxi bemerkte. Der Wagen hielt. Ich nahm mir mit dem Einsteigen Zeit und beobachtete, wie der Pontiac aus seiner Parklücke rollte.

»Folgen Sie dem Wagen, bitte«, sagte ich. »Aber möglichst unauffällig.«

Der Taxifahrer musterte mich prüfend im Rückspiegel. »Hat der Kerl eine Leiche geklaut?«, fragte er scherzend.

»Durchaus denkbar«, erwiderte ich ernst.

Das Grinsen des Taxifahrers erlosch. Er hielt mich für einen Mann ohne Humor. Mir war das ziemlich egal, solange er seine Sache gut machte. Die Fahrt ging westwärts, quer durch Brooklyn. Ich schaute mich wiederholt um. Niemand folgte uns.

In der Fulton Street bog der Pontiac plötzlich von der Straße ab. Er fuhr durch den Torbogen eines älteren, achtstöckigen Hauses und stoppte, wie ich im Vorbeirollen sah, auf dem dahinterliegenden Hof. Der Taxifahrer lenkte seinen Wagen an den Bordsteinrand. Ich entlohnte ihn und stieg rasch aus.

Als ich den asphaltierten Hof erreichte, sah ich, wie der Mann im blauen Regenmantel die Außentreppe eines Hofgebäudes hochstieg. Er hatte seinen Mantel geöffnet und hielt einen Schlüsselbund in der Hand. Ich beobachtete, wie er damit eine Tür öffnete, über der ein Schild mit der Firmenaufschrift Pinky Toys hing.

Das einstöckige Gebäude hatte ein flaches Dach und nahm die gesamte Breitseite des Grundstücks ein. Die im Erdgeschoss gelegenen Fenster waren vergittert und von innen weiß gestrichen, sodass man nicht hindurchblicken konnte.

Der Mann schloss die Tür hinter sich. Ich wartete einige Sekunden, dann stieg ich die Treppe hinauf. Ich öffnete die Außentür, ohne vorher anzuklopfen, und gelangte in einen kleinen Vorraum, an dessen Wänden verglaste Musterkästen mit Plastikspielzeug hingen.

Hinter der Tür, die ins eigentliche Office führte, rührte sich nichts. Ich war sicher, dass der Mann das Öffnen der Außentür gehört hatte, und zögerte nicht, einzutreten.

Ich stoppte auf der Schwelle, als sei ich gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.

Rufus Holloghan grinste mir aus leeren Augen entgegen.

Sein überlebensgroßes Foto hing mir gegenüber an der Wand. Das ganze Gesicht war übersät von winzigen Löchern. Die Wurfpfeile, die diese Zerstörung verursacht hatten, befanden sich augenblicklich in der Hand des Mannes, dem ich gefolgt war.

Er hatte immer noch seinen Mantel an und stand nur zwei Schritte von mir entfernt. Er wandte sich auffällig langsam um.

»Hallo«, sagte er.

»Hallo«, erwiderte ich.

Wir starrten uns an, weder feindselig noch freundlich, eher mit dem heimlichen Wissen um eine kommende Auseinandersetzung, von der jeder zu glauben schien, dass es nicht schwer sein konnte, sie als Sieger zu beenden.

»Irgendwelche Wünsche?«, fragte er.

»Eine Menge«, meinte ich.

»Der Boss ist verreist«, teilte er mir mit. Er hatte dunkelbraune Augen, die durch einen grünen Pupillenkranz markiert waren, und schmale, blasse Lippen, die Gefühlsarmut und Härte verrieten.

»Ich nehme gerne mit Ihnen vorlieb«, versetzte ich. »Sind Sie sein Stellvertreter?«

Er wandte mir den Rücken zu, hob einen der Wurfpfeile und feuerte ihn mit einer kräftigen und zugleich elastischen Armbewegung ab. Der Pfeil traf Hollo­ghans linkes Auge.

»Wirklich nicht schlecht«, lobte sich der Mann.

»Ich bin Jerry Cotton vom FBI«, stellte ich mich vor. »Hier ist mein Ausweis.«

Der Mann zuckte herum. »FBI?«, fragte er, ohne einen Blick auf meine ID-Card zu werfen. »Was wollen Sie denn hier?«

Ich steckte den Ausweis ein. »Fragen stellen. Davon leben wir. Wenn wir die richtigen Antworten bekommen, macht dieses Leben sogar Spaß. Aber es ist manchmal schwer, den Leuten begreiflich zu machen, dass sie die Wahrheit sagen müssen.«

Er grinste matt. »Ich bin James Garrick. Sind Sie jetzt happy? Ich wusste nicht, dass es so einfach ist, einen G-man glücklich zu machen.«

»Ich habe ein schlichtes Gemüt«, konterte ich. »Wenn man mich nicht reizt, bin ich Everybody’s Darling. Warum hassen Sie Rufus Holloghan?«

»Können Sie mir jemanden nennen, der ihn nicht hasst?«, fragte Garrick zurück. »Er hat zwölf Kinder getötet. Ist das nicht genug, um einen Menschen zu hassen?«

»Elf«, stellte ich richtig.

»Eines würde genügen, um seinen Namen verfluchen zu müssen«, meinte er und legte die Wurfpfeile aus der Hand. Er streifte den nassen Mantel ab und warf sich in den mit einem gequälten Knarren protestierenden Drehstuhl auf der anderen Schreibtischseite. »Oder sind Sie anderer Meinung?«

Schweigend schaute ich mich in dem Office um. Sein Mittelpunkt wurde von zwei aneinandergerückten Schreibtischen gebildet. An der hinteren Schmalseite stand ein kleinerer Tisch mit einer abgedeckten Schreibmaschine. Mir fiel auf, dass die Körbe mit den Aufschriften In und Out leer waren. Überhaupt machten die tadellos aufgeräumten Arbeitsplätze nicht den Eindruck, als wären sie in letzter Zeit benutzt worden. An den Wänden standen einige Akten- und Karteischränke. Sie waren verschlossen. Eine zweite Tür führte in die Innenräume. Das Telefon stand in der Mitte der beiden Schreibtische und ließ sich durch einen Scherenschwenkarm in jede Richtung befördern.

»Betriebsferien«, sagte Garrick, als erriete er meine Gedanken.

»Weshalb sind Sie dann hier?«

»Nur so, für alle Fälle«, gab er zurück. »Der Boss legt Wert darauf. Er will vermeiden, dass uns große Aufträge durch die Lappen gehen.«

»Heute Morgen hätte das leicht passieren können. Sie waren nicht hier.«

»Meine Sache.«

Ich kam nicht davon los, Rufus Holloghans Foto zu betrachten. Es hatte die Größe eines mittleren Plakats.

»Heute sollte er begraben werden«, sagte ich.

»Ich weiß. Ich war dort.«

Sein Geständnis überraschte und enttäuschte mich ein wenig. Ich hatte gehofft, ihn auf einfache Weise einer Lüge überführen zu können.

»Dann wissen Sie ja, was passiert ist.«

»Es wundert mich nicht«, entgegnete er. »Nicht die Bohne. Ich war froh darüber.«

»Worüber?«

»Dass jemand die Idee hatte, seine Leiche hochgehen zu lassen. Normalerweise hasse ich Fanatiker, sie sind mir unheimlich, aber Rufus Holloghan wurde es zu leicht gemacht. Sein Leben gegen das von zwölf Kindern – das war zu wenig, das forderte zu einem nachträglichen Krach heraus.«

»Sie haben nicht genau hingesehen«, sagte ich und stellte mir die Frage, ob Garrick bluffte. »In Holloghans Sarg lag ein totes Mädchen.«

James Garrick riss die Augen auf. »Nein!«

Jetzt war ich überzeugt davon, dass er schauspielerte. Er legte um eine Nuance zu dick auf. Trotzdem ging ich auf seine Schau ein.

»Lucy Francis«, fuhr ich fort. »Sie kennen sie doch?«

»Ihr Name füllt seit Tagen die Schlagzeilen«, bejahte er. »Es ist das Mädchen, das Holloghan zu ermorden versuchte.«

Ich ging auf Holloghans Bild zu. Es klebte auf einer zolldicken Korkplatte. Ich hatte einige Mühe, eine Ecke des Fotos zu lösen.

»He, was machen Sie da?«, fragte Garrick, der sich in seinem Drehsessel herumgeschwungen hatte.

»Warum hassten Sie ihn wirklich?«, wollte ich wissen und blickte Garrick an.

»Das sagte ich schon.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sein Bild klebt schon seit Wochen auf der Unterlage«, stellte ich fest. »Er ist aber erst seit vier Tagen tot. Vorher wusste kein Mensch, dass er angeblich ein Doppelleben führte.«

»Für mich war er schon vorher ein Schwein.«

»Sie kannten ihn persönlich?«, wunderte ich mich.

»Ich habe für ihn gearbeitet«, erwiderte James Garrick.

»In seinem Betrieb, in den Holloghan-Werken?«

»Nein, in seinem Haus. Als Diener.«

»Sie hassten Holloghan. Warum gingen Sie dann zu seinem Begräbnis? Sie werden einräumen, dass das nicht einleuchtend oder gebräuchlich ist.«