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"'n Abend, Mister", tönte es in mein Ohr. "Etwas Blei gefällig?"
Ich wandte den Kopf. Neben mir lief plötzlich ein Fremder.
Langsam streckte er die Hand vor. Auf der Innenfläche lag eine leicht deformierte Revolverkugel. Kaliber .7.65.
"Damit haben sie McKellan umgelegt", sagte er halblaut.
"McKellan?" Ich blieb ruckartig stehen. McKellan war ein Kollege von mir, FBI-Mann wie ich.
Die Spur der Tupamaros von New York wurde täglich blutiger ...
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Die Tupamaros von New York
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »The Catcher was a Spy«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-7344-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Tupamaros von New York
»’n Abend, Mister«, tönte es in mein Ohr. »Etwas Blei gefällig?«
Ich wandte den Kopf. Neben mir lief plötzlich ein Fremder.
Langsam streckte er die Hand vor. Auf der Innenfläche lag eine leicht deformierte Revolverkugel. Kaliber .7.65.
»Damit haben sie McKellan umgelegt«, sagte er halblaut.
»McKellan?« Ich blieb ruckartig stehen. McKellan war ein Kollege von mir, FBI-Mann wie ich.
Die Spur der Tupamaros von New York wurde täglich blutiger …
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer exklusiven Heftromanausgabe. Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen Sechziger Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
»’n Abend, Sir«, tönte es in mein Ohr. »Etwas Blei gefällig?«
Ich wandte den Kopf. Neben mir lief plötzlich ein Fremder. Er war fast so groß wie ich. Ich schätzte ihn auf fünfundzwanzig.
Er streckte mir seine Faust unter die Nase und grinste dabei. Es war kein gutes Grinsen. Ich war ihm dankbar dafür. Es sorgte für klare Fronten.
Langsam öffnete er die Hand. Auf ihrer Innenfläche, lag eine leicht deformierte Revolverkugel, Kaliber .7.65. Ich blieb stehen. Er stoppte gleichfalls. Sein Atem roch nach Bier, aber er war gewiss nicht betrunken. Langsam schlossen sich seine Finger um den Bleiklumpen. »Damit«, sagte er halblaut, »haben sie McKellan umgelegt.«
In mir vereiste etwas. Meine Muskeln spannten sich. »Trevor McKellan?«, fragte ich.
»Trevor McKellan«, bestätigte er.
Wir standen unter der blutroten Neonreklame einer Hotelfassade. Das Licht zauberte einen psychedelischen Farbeffekt auf unsere Gesichter, es ließ die Szene fremd und unwirklich erscheinen.
»Ja«, fuhr er mit seiner leicht provozierend wirkenden Stimme fort, »mit diesem Ding hat man Trevor McKellan über die große Grenze geschickt. Sie waren mit ihm befreundet, nicht wahr? Er war Ihr Kollege. Deshalb komme ich zu Ihnen.«
»Wer sind Sie?«
»Nennen Sie mich Jack«, schlug er vor. »Das genügt für den Anfang.«
Er trug eine Sportkombination, deren saloppes Aussehen nicht über ihre Qualität hinwegzutäuschen vermochte. Von den Schuhen bis zu der nachlässig geknoteten Wollkrawatte handelte es sich sichtlich um Erzeugnisse der gehobenen Preisklasse.
»Sie wollen mir eine Information verkaufen, stimmt’s?«
Seine volle Unterlippe wölbte sich spöttisch. »Ich will sie Ihnen schenken«, meinte er. »Sie sind doch daran interessiert, hoffe ich.«
Mein Mund wurde trocken.
Trevor McKellan war ein Mann nach meinem Herzen gewesen. Intelligent, zuverlässig, couragiert. Es hatte mich und meine Kollegen buchstäblich umgeworfen, als er vor zwei Jahren plötzlich seine Frau, seine Freunde und seinen Beruf im Stich gelassen hatte. Seit Jahren brannte uns die Frage auf den Nägeln, ob sich private Gründe oder ein Verbrechen hinter Trevor McKellans Verschwinden verbargen, und dieser Fremde wollte wissen, ob ich mich dafür interessierte!
»Woher stammt die Kugel?«, fragte ich.
»Aus McKellans Herzen.«
Ich spürte ein Frösteln auf meiner Haut und hatte Mühe, kühl und beherrscht zu bleiben. Ich starrte dem Fremden in die Augen. Im Widerschein der Neonreklame war ihre Farbe schwer zu bestimmen. Ich hielt sie für graublau. Sein Gesicht war leicht gebräunt, es hatte klare, scharfe Linien. Die Koteletten seines dichten dunklen Haars reichten ihm bis ans Kinn. Er war ein Typ, der sicherlich Glück bei den Mädchen hatte, der aber leicht zu verstimmen war, wenn er einmal nicht ankam. Ein Hauch von Überheblichkeit prägte seine Ausstrahlung.
»Wer schickt Sie?«
»Niemand«, antwortete er und blickte über seine Schulter. »Wenn jemand hören sollte …« Er unterbrach sich, als würde ihm erst jetzt bewusst, welcher Gefahr er sich aussetzte.
»Wer?«, drängte ich.
Er schaute mich voll an. »Ich komme aus eigenem Antrieb zu Ihnen«, erwiderte er. »Ursprünglich hatte ich vor, Sie telefonisch um ein Treffen zu bitten, aber dann hielt ich es doch für klüger, mich auf andere Weise mit Ihnen zu arrangieren. Ich beobachte Sie schon seit Tagen.«
Ich blickte auf meine Uhr. Drei Minuten nach elf. Ich war privat unterwegs gewesen und hatte mich entschlossen, von einem Vortrag zu Fuß nach Hause zu gehen. Die frische Nachtluft hatte mir gutgetan, aber von diesem Empfinden war im Augenblick nichts mehr zu spüren.
Ich zuckte mit den Schultern und sagte herausfordernd: »Ein Klümpchen Blei! Was beweist das schon? Vielleicht gehören Sie zu den Leuten, die sich gerne in den Vordergrund spielen. Der Fall McKellan hat einmal Schlagzeilen gemacht. Sie wären nicht der Erste, der sich damit interessant zu machen versucht.«
»Ich lese keine Zeitungen«, behauptete er.
»Woher wissen Sie, dass ich mit Trevor McKellan befreundet war?«, fragte ich.
»Ich weiß es eben.«
»Kannten Sie Trevor?«
»Persönlich? Nein.«
»Woher wollen Sie wissen, dass er tot ist?«
»Ich habe seine Leiche gesehen«, gab er zurück. »Oder das, was davon übrig geblieben ist.« Er schüttelte sich, als wollte er eine lästige Erinnerung loswerden.
»Führen Sie mich zu ihr«, verlangte ich.
Er winkte rasch ab. »Ist nicht zu machen, Sir. Ich habe einen Horror vor Toten. Sie müssen sich schon allein auf den Weg machen.«
»Einverstanden«, sagte ich. »Geben Sie mir die Adresse oder eine genaue Lagebeschreibung.«
Er hob mit einem Ausdruck milder Überraschung seine Augenbrauen. »Haben Sie keine Angst, dass ich Ihnen eine Falle stellen könnte?«
»Das lassen Sie nur meine Sorge sein.«
Seine Zungenspitze glitt nervös über die Lippen. »Setzen wir uns in meinen Wagen«, schlug er vor und blickte sich erneut um. »Er steht nur zwei Häuserblocks von hier entfernt.«
»Fühlen Sie sich beobachtet?«
»Nein, aber ich habe gute Gründe, sehr, sehr vorsichtig zu sein.«
Wir setzten uns in Bewegung. Das grellrote Licht blieb hinter uns zurück und entließ uns in eine weniger bizarr anmutende Umgebung. Trotz der späten Stunde herrschte auf der Straße noch lebhafter Betrieb.
»Es geht mir nicht um Trevor McKellan«, erklärte der junge Mann und schob seine Hände in die Hosentaschen. »Er ist für mich nur der Aufhänger. Ehe ich auspacke, muss ich jedoch die volle Sicherheit haben, dass mein Name im Dunkeln bleibt. Ich kann Ihnen wichtige Informationen liefern, aber als Zeuge komme ich nicht infrage. Ich möchte nicht wie die anderen enden.«
»Wie welche anderen?«
»Na, zum Beispiel wie Guy Lormand«, sagte er.
Ich runzelte die Augenbrauen. »Lormand, Lormand?«, rekapitulierte ich halblaut. »Lassen Sie mich nachdenken. Er war ein junger Mann aus der High Society. Ungefähr in Ihrem Alter. Starb unter mysteriösen Umständen an einer Überdosis Rauschgift.«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis.«
»Das gehört zu meinem Job.«
»Lormand wurde ermordet«, sagte mein Begleiter mit harter Stimme.
»Von wem?«
»Nur die Ruhe, Sir. Ehe ich auspacke, brauche ich von Ihnen eine handfeste Garantieerklärung.«
»Sie weichen mir aus, sobald ich gezielte Fragen an Sie richte.«
»Wundert Sie das? Ich kann nur wiederholen, dass ich nicht wie Guy Lormand enden möchte.«
»Trotzdem setzen Sie sich diesem Risiko aus«, stellte ich fest. »Warum?«
»Darüber werden Sie nichts von mir erfahren. Das ist meine Privatsache. Es muss Ihnen genügen, dass ich mich entschlossen habe, die Gruppe hochgehen zu lassen.«
»Was sind das für Leute?«
»Killer«, sagte er und ließ seine Backenmuskeln spielen. »Männer ohne Furcht und Nerven. Das mag nach billiger Kinowerbung klingen, aber auf diese Burschen trifft es zu. Das Töten macht ihnen Spaß. Sie haben es geheiligt. Sie halten es für notwendig. Sie haben sich vorgenommen, New York zu kassieren.«
»Wie bitte?«, fragte ich.
Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Sein Blick ging starr geradeaus. »Ich weiß, dass das verrückt klingt, aber es ist die Wahrheit«, meinte er. »Mit New York wollen die Kerle beginnen, doch ihr Endziel ist höher gesteckt. Sie wollen das ganze Land unter ihren Einfluss bringen. Sie wollen es auf ihre Weise buchstäblich zerstören.«
»Mit Ideen – oder mit Sprengstoff?«
»Mit beidem. Für diese Leute gibt es dabei keine Begriffstrennung«, antwortete er. »Sie schrecken vor nichts zurück. Ich gehöre selbst der Organisation an. Innerlich habe ich mich längst von ihr distanziert. Trotzdem muss ich weiter mit den Wölfen heulen. Verräter werden bei uns nicht geduldet.« Er wandte den Kopf und schaute mir in die Augen. »Vermutlich halten Sie mich jetzt endgültig für einen Spinner. Aber ich kann und werde Ihnen beweisen, dass Sie unrecht haben. Hier, sehen Sie sich das einmal an.«
Er riss eine verknitterte Krawatte aus seiner Hosentasche. Ich erkannte sie sofort wieder. Trevor McKellan hatte sie am Tag seines Verschwindens getragen. Er hatte eine Vorliebe für auffällige Designs gehabt und war wegen dieser Eigenart oft genug von uns gefrotzelt worden.
»Kann ich sie haben?«, bat ich.
»Bitte«, erwiderte mein Begleiter und zog wie fröstelnd seine Schultern hoch. »Ich bin froh, dass ich das Ding loswerde.«
Ich nahm ihm die Krawatte ab. Sie fühlte sich feucht und klebrig an, als hätte sie längere Zeit in einem muffigen Raum gelegen.
In diesem Moment fiel der Schuss.
Er war nicht sonderlich laut. Für die meisten, die ihn hörten, war er nichts weiter als die Fehlzündung eines Autos, etwas Großstadtlärm ohne Bedeutung. Nur für meinen Begleiter war er mehr.
Für ihn war er der Tod.
***
»Ich werde zahlen«, versicherte Humphrey Kelly. »Ganz bestimmt. Ich brauche nur noch zwei Wochen Aufschub.«
Lionel Carters bläulich schimmernde Augenlider blieben unbewegt. Er saß wie ein Buddha in seinem Ledersessel, schwergewichtig, machtvoll und undurchschaubar. Aber seine Worte machten im nächsten Moment deutlich, dass er keineswegs die Absicht hatte, sich orakelhaft zu geben.
»Sie zahlen morgen«, sagte er scharf, »oder ich sorge dafür, dass Sie hochgehen.«
Kelly blinzelte. Er war in drei Aufsichtsräten und besaß zwei eigene Firmen mit insgesamt neunhundert Beschäftigten. Er war diesen scharfen, drohenden Ton nicht gewohnt und fühlte sich dadurch schockiert, verletzt und angegriffen.
»Mister Carter …«, begann er schwer atmend.
Carter fiel ihm barsch ins Wort. »Ich kenne Ihre Lage, Kelly. Sie haben sich mit einigen Krediten glatt übernommen. Die neuen Modelle Ihrer Produktion schlagen bei den Kunden nicht so ein, wie Sie sich das erhofft hatten. In drei, vier Monaten wird man sich darum prügeln, wer den größeren Anteil aus Ihrem Konkurs erhält. Ich habe nicht die Absicht, diesen Termin abzuwarten. Ich kassiere, noch ehe Ihre prekäre Lage bekannt wird.«
Humphrey Kellys Gesicht lief rot an. Er wusste, dass er erregt aussah, und ärgerte sich darüber, aber er war außerstande, sich zu beherrschen. »Diese Lage wird nicht eintreten, wenn Sie mir einen Aufschub von zwei Wochen geben«, beteuerte er. »Es stimmt, dass ich im Moment gezwungen bin, sehr vorsichtig zu disponieren, aber mein Liquiditätsmangel bedeutet keineswegs, dass ich mich in einer Zwangslage befinde. Nur Ihre Unvernunft würde eine solche Situation herbeiführen und möglicherweise die Arbeitslosigkeit von fast tausend Menschen bedeuten.«
Lionel Carter steckte sich mit ruhiger Hand eine Zigarre an. »Verschonen Sie mich mit sozialen Appellen, bitte. So etwas widert mich an. Selbstverständlich ist mir klar, dass ein Zahlungsaufschub Ihre an sich gesunden Firmen retten könnte. Aber es ist nicht meine Aufgabe, den Retter für Sie zu spielen. Ich bin Kaufmann, Kelly. Deshalb gebe ich offen zu, was ich will. Ich möchte und werde Ihre Firmen schlucken.«
Kellys Augen weiteten sich. Als harter Businessman kannte er offene Worte, aber Carters skrupellose Attacke war mehr, als er verkraften konnte. »Sie haben an mir verdient, sehr gut sogar!«, erinnerte er ihn mit leicht bebender Stimme. »Ich habe den von Ihnen geforderten Zinssatz akzeptiert, obwohl er die üblichen Bedingungen bei Weitem überstieg.«
»Sie haben es getan, weil Ihnen klar war, dass keine Bank bereit sein würde, Ihnen mit zehn Millionen Dollar unter die Arme zu greifen«, erklärte Carter. »Jammern Sie also bitte nicht herum! Schließlich hat Sie niemand dazu gezwungen, den Kredit zu diesen Bedingungen anzunehmen. Sie hofften, mit dem Geld den Absatz zu steigern, und ich baute darauf, dass Sie dabei auf den Rücken fallen würden. Ja, ich bestreite nicht, dass ich an Ihren Firmen interessiert war und dass es mir nur darum ging, sie meinem Trust einzuverleiben. Aber lassen Sie sich deshalb keine grauen Haare wachsen! Wenn Sie wollen, können Sie für mich als Betriebsdirektor arbeiten.«
»Als Betriebsdirektor?«, japste Kelly. »Sie müssen den Verstand verloren haben!«
»Okay«, spottete Lionel Carter. »Sie haben die Wahl. Morgen brauche ich die fällige Rate. Dreieinhalb Millionen in bar.«
»Sie wissen, dass ich das Geld in dieser Zeit nicht flüssigmachen kann!«
»Ja, das ist mir bekannt«, meinte Lionel Carter und ließ seine Zigarre von einem Mundwinkel zum anderen wandern. »Deshalb bestehe ich ja darauf.«
Humphrey Kellys Augen wurden schmal und hart. »Ich fürchte, Sie unterschätzen mich, Carter.«
»Soll das eine Drohung sein?«
»Wenn Sie wollen, können Sie meine Worte so auffassen«, sagte Kelly.
»Wir sehen uns morgen wieder. Gute Nacht.«
»Ist das ein Rauswurf?«, erkundigte sich Kelly mit eisig klingender Stimme.
Carter grinste dünn. »Wenn Sie wollen, können Sie meine Worte so auffassen«, spottete er.
Humphrey Kelly erhob sich. Er war ein hochgewachsener Mann, der sich etwas darauf zugutehielt, trotz seiner fünfundfünfzig Jahre mit der Figur eines Jünglings glänzen zu können. »Sie werden diese unnachgiebige Haltung bereuen«, versicherte er. »Gute Nacht!«
Lionel Carter nahm sich nicht die Mühe, seinen Gast in die Halle zu begleiten. Er blieb sitzen und rauchte in Ruhe seine Zigarre zu Ende. Er hatte Kelly vergessen, ehe sich die Haustür hinter dem Gast geschlossen hatte.
Zwei Stunden später nahm der Butler Harry ein Telefongespräch entgegen. »Es ist für Sie, Sir.«
Lionel Carter runzelte die buschigen Augenbrauen. »Es ist zu spät für einen Anruf. Ich will niemanden mehr sprechen.«
»Es ist Ihr Sohn, Sir.«
Carter blickte auf seine Uhr. Eine plötzliche Unruhe ergriff von ihm Besitz. Er hatte ein gutes Gespür für Ärger und wusste, dass ihn keine angenehme Nachricht erwartete. »Geben Sie mir den Hörer«, sagte er schroff.
Der Butler gehorchte schweigend.
»Ja?«, bellte Carter ins Telefon. Er gab sich seinem Sohn gegenüber stets hart, weil er glaubte, dass der Erbe eines Riesenvermögens nur auf diese Weise für die schwierigen Probleme gedrillt werden konnte, die ihn eines Tages erwarteten.
»Ich … ich bin gekidnappt worden, Papa«, tönte eine zittrige Stimme an sein Ohr.
Lionel Carter setzte sich steil auf. Ich habe es gewusst, schoss es ihm durch den Sinn. Ich habe gewusst, dass das eines Tages passieren würde!
»Wo bist du, Morris?«, fragte Carter.
»Ich … ich weiß es nicht. Ich darf nicht darüber sprechen«, antwortete Morris.
Lionel Carter fuhr heftig zusammen, als am anderen Leitungsende ein lauter Schrei ertönte.
»Morris!«, stieß er hervor. »Morris! Hörst du mich?«
»Ja«, antwortete Morris Carter nach einigen Sekunden keuchend. »Ja, Papa. Sie … sie haben mich geschlagen.«
»Warum denn, zum Teufel?«
»Ich soll zur Sache kommen, sagen sie.«
»Sie? Wie viele sind es?«
»Auch darüber darf ich nichts sagen. Sie fordern dreieinhalb Millionen.«
»Kelly!«, entfuhr es Lionel Carter.
»Wie bitte?«
»Ich wüsste gerne, wann sie dich geschnappt haben.«
»Vor einer halben Stunde. Ich bin …«
Es klickte in der Leitung. »Aus«, murmelte Carter und ließ den Hörer sinken. »Aus!«
Er blieb reglos sitzen, den Blick ins Leere gerichtet, sekundenlang frei von Gedanken oder Empfindungen. Es war, als versuchte er mit dieser künstlichen Pause den Schock von sich fernzuhalten. Aber dann traf es ihn mit doppelter Gewalt.
»Stellen Sie eine Verbindung mit Mister High her«, sagte er zu dem wartenden Butler.
»Mister High, Sir?«, fragte der Butler. Es war zu erkennen, dass er den Namen zum ersten Mal hörte.
»Mit dem Chef des FBI, verdammt noch mal!«, explodierte Lionel Carter. Seine Hände begannen, zu zittern. Das erschreckte und verblüffte ihn. Er hatte diese Reaktion noch nie an sich beobachtet.
Das Gesicht des Butlers blieb unbewegt. Er hatte sich längst an den merkwürdigen Kontrast zwischen scheinbarer Ruhe und hysterischer Erregung gewöhnt, der das Wesen seines Arbeitgebers formte.
»Ist Mister High im District Office zu erreichen, Sir?«, erkundigte er sich.
»Woher soll ich das wissen? Nein, nicht um diese Zeit. Rufen Sie ihn zu Hause an. John D. High. Das ist sein voller Name. Er wohnt … Nein, ich habe vergessen, wo er lebt. Lassen Sie sich seine Nummer vom District Office geben.«
Er sank in sich zusammen, während der Butler telefonierte. Die Tür öffnete sich. Janice Carter betrat den Raum. Der Saum ihres zitronengelben Hausmantels fegte den Teppich. Trotz ihrer sechsundvierzig Jahre war sie noch immer eine ungewöhnlich attraktive Frau.
»Warum kommst du nicht ins Bett?«, fragte sie.
»Sie haben Morris geschnappt.«
Die Frau blieb abrupt stehen. »Was soll das heißen?«
»Er ist entführt worden.«
Die Frau musste sich setzen. Sie war kreidebleich. »Hast du mit seinen Entführern gesprochen?«
»Nur mit Morris. Sie fordern dreieinhalb Millionen«, sagte er.
»O Gott!«, stöhnte die Frau.
2
Lionel Carter zuckte zusammen, als der Butler das Wort an ihn richtete. »Die Nummer ist geheim, Sir. Mister High ist nur in seinem Office zu erreichen, über sein Sekretariat, wie ich höre, und nach entsprechender Voranmeldung.«
Carter schnappte nach dem Hörer. »Ich bin Lionel Bentley Carter«, schnaufte er wütend in die Sprechmuschel. »Ich darf voraussetzen, dass Sie mich kennen. Mein Name steht fast täglich in irgendeiner Zeitung. Ich bin mit Ihrem Boss zur Schule gegangen. Das genügt doch wohl, nicht wahr?«
»Nein, Sir«, belehrte ihn eine kühle, keineswegs unsympathische Frauenstimme. »Das genügt nicht.«
»Mein Sohn ist gekidnappt worden!«
»Ich verbinde Sie mit dem zuständigen Office, Sir.«
»Nein!«, schrie Carter. »Ich will mit Ihrem Chef sprechen, verdammt noch mal! Untergebene interessieren mich nicht. Sie sind für mich keine angemessenen Gesprächspartner. Haben Sie das endlich kapiert?«
Die Frau am anderen Leitungsende blieb völlig gelassen. »Darf ich Ihre Telefonnummer haben, Sir?«
»Murray Hill sechs-eins-drei-null-eins.«
»Danke, Sir. Ich rufe zurück.«
Lionel Carter schmetterte den Hörer auf die Gabel. »Dafür berappt man nun Millionen Dollar an Steuergeldern«, polterte er. »O, wie ich diese anmaßende Clique professioneller Schnüffler hasse!«
»Ich denke, Mister High war dein Schulfreund«, war Janice Carter erstaunt.
»Ach was! Wir haben nur für einige Jahre gemeinsam die Schulbank gedrückt. Unsere Interessen waren grundverschieden«, sagte er.
»Erzähl mir, bitte, was Morris gesagt hat«, drängte die Frau. »Mein Gott, der arme Junge! Von Gangstern entführt! Wie konnte das nur geschehen?«
Carter winkte ab. Das Gejammer seiner Frau störte und irritierte ihn. Er schätzte Janices gesellschaftlichen Ehrgeiz und ihren repräsentativen Wert, aber innerlich empfand er nichts für sie. Morris war ihr einziges Bindeglied.
Lionel Carter schnippte mit den Fingern.
Ihm fiel plötzlich ein, dass er John D. High auf dem letzten Presseball getroffen hatte. Sie hatten ihre Karten ausgetauscht und vereinbart, sich um das Zustandekommen eines Klassentreffens zu bemühen.
John D. High hatte kurz nach dem Ball einmal in dieser Sache angerufen, aber er, Lionel Carter, war nicht bereit gewesen, den in Champagnerlaune gemachten Vorschlag fortzuführen. Er hatte sich über diesen sentimentalen Unsinn sogar lustig gemacht und wörtlich gesagt: »Du und ich, John, haben uns zu weit von diesen Alltagsnullen entfernt. Wir würden sie auf einem Klassentreffen mit unseren Erfolgen nur brüskieren.«
John D. High hatte auf diese Bemerkung ebenso sauer wie eisig reagiert, aber ihn, Lionel Carter, hat das nicht gestört. Zum Teufel mit Gefühlen, die sich nicht in konkrete Zahlen umsetzen ließen!
»Harry«, sagte Carter und schaute seinen Butler an. »In meiner Krokomappe muss John D. Highs Karte stecken. Holen Sie sie mir.«
Das Telefon klingelte.
»Na, bitte!«, rief Lionel Carter. »Die Ziege hat es sich anders überlegt.« Er griff nach dem Hörer.
»Bist du’s, Fatso?«, erkundigte sich eine heiser klingende Männerstimme am anderen Leitungsende.
An Carters Schläfe schwoll eine Ader.
Fatso!