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Seine Nackenhaare sträubten sich. Er beugte sich weiter über den Rand des riesigen Mischbehälters und kniff unwillkürlich die Augen zusammen. Du spinnst!, hämmerte es in ihm. Du siehst Gespenster! Aber das Bild ließ sich nicht wegwischen. Es waren fünf Finger. Sie gehörten zu einer menschlichen Hand und ragten aus dem Papierbrei. Fünf Finger - und einer davon trug einen Ring. Einen, wie ihn nur Frauen tragen ...
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Fünf Finger
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: »iconogenic«/iStockphoto
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-7605-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Fünf Finger
Seine Nackenhaare sträubten sich. Er beugte sich weiter über den Rand des riesigen Mischbehälters und kniff unwillkürlich die Augen zusammen. Du spinnst!, hämmerte es in ihm. Du siehst Gespenster! Aber das Bild ließ sich nicht wegwischen. Es waren fünf Finger. Sie gehörten zu einer menschlichen Hand und ragten aus dem Papierbrei. Fünf Finger – und einer davon trug einen Ring. Einen, wie ihn nur Frauen tragen …
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer exklusiven Heftromanausgabe. Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen Sechziger Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
Es war ein herrlicher Sommerabend. Ganz nach meinem Geschmack. Das Einzige, was man sich hinzudenken musste, waren zirpende Grillen und der Duft wogender Kornfelder.
Die Frau auf meinem Beifahrersitz war geeignet, solche Stimmung in mir aufkommen zu lassen. Und das mitten in Manhattan, in der East 46th Street, wo sich Asphalt und Apartmentgebäude zu einem Romantik tötenden Inferno vereinen.
Grace – so hieß sie – wohnte in einem von diesen Betonklötzen.
Ich zog die Handbremse an und drehte den Zündschlüssel nach links. Der Sechszylinder meines Jaguar erstarb. »Das traute Heim erwartet dich«, sagte ich sanft und blickte sie an.
»Nur mich allein?« Ihre großen blauen Kinderaugen drückten grenzenloses Erstaunen aus, und ihre weichen, vollendet geschwungenen Lippen formten sich zum Protest. Mit einer energischen Bewegung strich sie sich eine widerspenstige Strähne des langen Blondhaars aus dem Gesicht, das keine Kosmetik nötig hatte.
»Moment mal. Ich wollte nicht sagen, dass …«
»Was wolltest du denn sagen?«, hauchte sie. Ihr Arm schlang sich um meinen Nacken. Ihre weichen Lippen kamen auf mich zu, und dann vergaß ich, dass ich überhaupt jemals etwas hatte sagen wollen.
Ich kam mir fast vor wie ein Collegeboy, der sein erstes großes Abenteuer erlebt. Dabei kannte ich Grace bereits seit einer Woche. Sie arbeitete als Sekretärin bei der New York City Police. Kein Wunder also, dass wir uns zufällig einmal über den Weg gelaufen waren. Und sie gehörte nicht zu denen, die sich durch Prüderie auszeichnen. Ich allerdings auch nicht.
Gegen ihre wortlosen Überredungskünste war jedenfalls kein Kraut gewachsen. Dabei hätte sie mich nicht einmal überreden müssen, sie in ihr hübsches Apartment zu begleiten.
Ich befand mich in einem rosaroten Schleier, den ihre Lippen ständig von Neuem aufwallen ließen. Irgendwann bemerkte ich etwas Knallrotes in diesem Rosarot. Ich schenkte ihm keine weitere Beachtung, bis mir ein rotes Licht aufging und ich meine Augen aufklappte.
Da war es noch immer, das Knallrot. Unverschämt und fordernd. Das Sprechfunkgerät.
Ich knurrte wütend.
Grace löste sich erschrocken von mir. »Was ist los? Ist das deine neueste Art von Sympathiebezeigung?«
Ich nahm sanft ihren Kopf in beide Hände und drehte ihn in Richtung auf den leuchtenden Störenfried. Mir schien, als drückte das Flackern des Lämpchens unverhohlene Schadenfreude aus.
»Kümmere dich nicht darum«, empfahl Grace, »wären wir bereits oben, würden wir es gar nicht sehen.«
»Sie haben deine Telefonnummer«, entgegnete ich matt, »und sie wissen, dass wir beide unterwegs sind. Es hat also keinen Zweck.«
»Himmel! So viel Pflichtbewusstsein ist mir auch noch nicht über den Weg gelaufen!«
Ich zuckte mit den Schultern und nahm die Sprechmuschel aus der Halterung. Was sollte ich machen? Selbst in den angenehmsten Situationen muss ein G-man eben daran denken, dass er immer im Dienst ist. Hinzu kam, dass ich an diesem Wochenende zur zweiten Bereitschaft gehörte. Ich hatte zwar dienstfrei, musste mich aber für Notfälle zur Verfügung halten. Und ein solcher Notfall war offenbar ausgerechnet jetzt eingetreten. Die Kollegen von der ersten Bereitschaft mussten bereits allesamt im Einsatz sein.
»Cotton«, meldete ich mich resignierend.
»Hallo, Jerry«, erklang Myrnas rauchige Stimme aus der FBI-Zentrale, »meine Vermutung war also richtig, dass ich Sie in Ihrem Superflitzer antreffe.«
»Myrna, Sie machen mir alles kaputt«, entgegnete ich bitter.
»Trösten Sie Ihre Beifahrerin damit, dass es auch weibliche Wesen gibt, die um diese Zeit arbeiten müssen. Wie ich zum Beispiel.«
Myrna schaltete wirklich unheimlich schnell. Und zu meiner Rechten ließ Grace ein glockenklares Lachen erklingen. Ich kam mir richtiggehend hereingelegt vor. »Okay«, seufzte ich, »was kann ich für Sie tun, allerliebste Myrna?«
»Im Moment leider nicht das, was Sie sich vielleicht wünschen, Jerry. Wir haben einen Fall in der Bronx. Die Mordkommission ist seit einer Stunde an der Arbeit und hat festgestellt, dass es sich einwandfrei um einen FBI-Fall handelt. Unser Diensthabender hat sich mit dem Chef in Verbindung gesetzt und …«
»Mister High hat entschieden, dass die Sache für mich ist«, ergänzte ich.
»Er lässt ausrichten, dass Sie ihn jederzeit zu Hause anrufen können, wenn Sie Näheres wissen.«
»Wir werden sehen. Wie ist die Adresse?«
»Die zweihundertzweiundvierzigste Straße in Riverdale. Ein kleines Lokal mit dem hübschen Namen Sam’s Corner.«
»In Ordnung. Ich bin schon unterwegs, auch wenn es mir mächtig gegen den Strich geht, Myrna.«
»Geben Sie sich einen Ruck, Jerry, und vertrösten Sie die Kleine auf morgen.«
Die Verbindung endete mit einem Knacken. Ich sah förmlich Myrnas hübsches Gesicht, wie es ein spöttisches Lächeln produzierte.
»Ich habe verstanden«, erklärte Grace abgekühlt, »der große Jerry Cotton muss wieder einmal miese kleine Gangster jagen. Na ja, ich habe eben selbst schuld, dass ich mir den großen Jerry Cotton an Land gezogen habe. Mach’s gut, Mister G-man, und ruf mich an, wenn du die Gangster gefangen hast.« Sie sah mich noch einmal mit einem flüchtigen Lächeln an. Dann war sie draußen, ehe ich mir eine passende Entschuldigung zurechtgesucht hatte.
Hölle und Teufel, ich kam mir verdammt schäbig vor. Aber ich konnte nichts machen. Ich hatte mir diesen Job selbst ausgesucht. Und bislang hatte ich den Entschluss noch nicht bedauert, auch wenn man manchmal glaubte, sich selbst in den Hintern treten zu müssen.
Ich sah Grace nach, bis sie im Eingang des Apartmentgebäudes verschwunden war. Dann startete ich den Jaguar und jagte Minuten später die Second Avenue hinauf in Richtung Norden.
Es war zu dieser Tageszeit kein Problem, schnell nach Riverdale zu kommen. Über den Major Deegan Boulevard erreichte ich Riverdale und kurz darauf die 242nd Street.
Ich brauchte nicht erst nach dem Weg zu fragen. Das erübrigt sich, wenn die Mordkommission irgendwo im Einsatz ist.
Der komplette Straßenzug war in Aufruhr. Männer in Hemdsärmeln, Frauen in geblümten Kitteln und Kinder, die eigentlich schon hätten schlafen sollen, bevölkerten die Bürgersteige.
Ich schaltete für alle Fälle das Warnlicht meines Jaguar ein. Hundert Yards entfernt zuckte das gleiche Warnlicht in mehrfacher Ausführung und warf gespenstische Lichtbündel an die Hauswände. Da war der kastenförmige Einsatzwagen der Mordkommission Bronx, zwei schwarz-weiße Streifenwagen der uniformierten City Police, und da waren zwei neutrale Dienstwagen, deren Mausgrau ich bestens kannte.
Hinter einem der Streifenwagen parkte ich meinen Flitzer am Straßenrand und stieg aus. Die Beamten der Absperrung ließen mich sofort durch, als ich ihnen meine ID Card präsentierte.
Sam’s Corner war eine von jenen Kneipen, die man als bürgerlich zu bezeichnen pflegte. Ein Lokal also, das John Smith und Bob Miller betraten, wenn sie sich von der Last des arbeitsreichen Tages bei einigen Glas Bier und ein paar Schnäpsen erholen wollten.
Jetzt glich dieses Lokal einem Bienenhaus. Die Fachleute von der Spurensicherung waren noch mitten im Einsatz. Für mich war diese Szenerie nichts Neues. Und dennoch ließ sie einen jedes Mal frösteln. Ein Menschenleben ist eben nichts, das man in die Schablonen von Routine zwängen könnte.
Drinnen war es taghell. Die grellen Standscheinwerfer der Spurensicherer hatten für den Fotografen jeden Winkel ausgeleuchtet.
Geblendet schloss ich für einen Moment die Augen. Dann entdeckte ich Lieutenant Morgan, den Leiter der Mordkommission Bronx. Er stand hinter der Theke und hörte einem hemdsärmeligen, dicklichen Mann zu, der mit Händen und Füßen auf ihn einredete. Ich kannte Morgan. Wir hatten bereits in mehreren Fällen zusammengearbeitet.
Ich schob mich an ihn heran.
Ein freudiges Lächeln glitt über sein gebräuntes Gesicht, als er mich erkannte. »Hallo, Cotton!« Er schüttelte mir spontan die Hand. »Es freut mich mächtig, dass man Sie hergeschickt hat. Bei Ihnen weiß ich, woran ich bin.«
Ich grinste verlegen. »Sie können sich vorstellen, Morgan, dass ich mich anfangs nicht im Geringsten gefreut hatte, hier antanzen zu müssen. Davon kann eigentlich auch jetzt noch keine Rede sein.«
Der Lieutenant wurde ernst. »Sie haben recht. Was hier passiert ist, kann man mit vernünftigem Menschenverstand kaum noch erfassen.«
Der Dickliche neben Morgan war schweigsam geworden. Er starrte mich an wie ein Wundertier. Offenbar sah er zum ersten Mal in seinem Leben einen FBI-Beamten.
»Schießen Sie los«, forderte ich den Lieutenant auf und steckte mir eine Zigarette an.
Morgan deutete zur Theke, wo der Tote gefunden worden war. »Der Mann hieß Alvin Cormick, einundfünfzig Jahre alt, verheiratet, drei Kinder. Er arbeitete drüben in der Textilfabrik in Kingsbridge. Ansonsten gibt es über seine Person nichts Aufregendes zu erzählen. Nach Feierabend kam er regelmäßig hierher und genehmigte sich ein paar Drinks. So auch heute. Und dabei ist es dann passiert.«
Das Opfer war nach einem belanglosen Streit mit drei Männern brutal niedergestochen worden. Morgan schilderte den blutigen Vorfall ziemlich ausführlich. Er hatte genügend Augenzeugenberichte. Ich hörte aufmerksam zu und spürte, wie sich mein Magen allmählich immer mehr zusammenkrampfte. Ich zertrat die Zigarette. Sie schmeckte mir nicht mehr.
»Dieser Cormick hat sich zweifellos etwas vergaloppiert«, meinte ich, nachdem Morgan seinen Bericht beendet hatte, »aber so etwas als Grund für einen kaltblütigen Mord zu betrachten – ich weiß nicht, dafür fehlt mir offenbar die richtige Wellenlänge, um das begreifen zu können.«
»Wem sagen Sie das!« Morgan nickte bitter.
»Sie haben mir noch nicht gesagt, wieso es ein FBI-Fall ist«, fiel mir ein.
Morgan deutete auf den Dicklichen an seiner Seite. »Das ist Mister Hearseley. Er wohnt in dieser Straße. Er hat als Einziger den Mumm gehabt, nach draußen zu rennen …« Morgan sah ihn auffordernd an.
»Richtig.« Hearseley nickte eifrig und sah mich ehrfürchtig an. »Wie die drei Langmähnigen draußen waren, bin ich sofort hinterher. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um sie davonrasen zu sehen. Sie fuhren einen ziemlich neuen Schlitten. Keinen amerikanischen, wissen Sie. Ich glaube, es war ein deutscher, so einer mit ’nem dreizackigen Stern …«
»Ein Mercedes«, sagte ich.
»Stimmt genau, Agent. Mir lag’s auf der Zunge. Aber das Wichtigste ist wohl das Kennzeichen. Ich habe es mir merken können. Lieutenant Morgan hat es sich notiert.«
»Alle Achtung«, lobte ich Hearseley. Es war wirklich eine Leistung von ihm. Von derart guten Zeugenaussagen konnten wir in den meisten Fällen höchstens träumen.
Lieutenant Morgan hielt mir sein Notizbuch entgegen und tippte mit dem Zeigefinger auf die Stelle, wo er die Wagennummer notiert hatte. »Der Mercedes kam aus Pennsylvania. Damit dürfte klar sein, dass sich unsere Kollegen vom FBI der Sache annehmen müssen.«
»Ihr Scharfsinn ist umwerfend.« Ich lächelte.
Ich erfuhr noch, dass die Personenbeschreibungen, die die Mordkommission von den Zeugen erhalten hatte, ziemlich genau waren. Dann bat ich Morgan, mir die Akte mit den ersten Ermittlungsergebnissen am nächsten Morgen zuschicken zu lassen.
Ich verabschiedete mich mit der Gewissheit, dass es nicht übermäßig schwierig werden würde, die Killer mit den langen Haaren zu fassen. Mr. High, den ich sofort anrief, war zwar etwas skeptischer, aber im Grunde teilte er meine Meinung.
2
Sue Manors zitterte am ganzen Körper.
»Tu doch was, Jonathan!«, rief sie. »Wir schaffen es nicht, wir schaffen es nicht!«
Der breitschultrige Mann, der ein knallrotes Baumwollhemd und weiße Jeans trug, blickte sich kurz um. »Sie sind schneller«, stellte er fest und änderte den Kurs des Segelboots.
Die schnittige Motorjacht kam mit schäumender Bugwelle näher. Jonathan Harris wusste, dass er den Bootshafen nicht mehr erreichen würde. Die Bucht bot nicht viele Möglichkeiten für Ausweichmanöver. Er musste auf den See hinaus. Dort hatte er vielleicht eine Chance.
Vielleicht …
Sue Manors klammerte sich am Eingang der kleinen Kajüte fest. Sie trug einen knappen Bikini, der ihren braun gebrannten Körper voll zur Geltung brachte. Eine blaue Seglermütze hielt ihr blondes Haar zusammen. Angstvoll beobachtete sie die Motorjacht, von deren Deck sechs oder sieben Burschen in dunklen Lederjacken herüberstarrten.
Sie hatten ihnen den Weg abgeschnitten. Sue wusste, dass Jonathans Segelboot viel zu langsam war. Die Jacht war bullig motorisiert und äußerst wendig. Was hatten die Kerle vor? Machten sie sich nur einen Spaß aus der Verfolgungsjagd?
Auf den Wellen des Lake Erie standen winzige Schaumkronen. Der scharfe Bug des Segelboots zerteilte das tiefblaue Wasser. Sue kümmerte sich nicht um die kleinen Spritzer, die sie vereinzelt trafen.
Die Motorjacht war jetzt nur noch einen Steinwurf weit von ihnen entfernt. Der Mann am Ruder schien äußerst geschickt zu sein. Plötzlich legte er die Jacht in einen engen Bogen und kreuzte das Kielwasser des Segelboots, das in den aufgewühlten Fluten zu tanzen begann. Schnell kam die Jacht von Backbord und holte zusehends auf.
»Verdammt!«, keuchte Jonathan Harris. »Die Kerle können sich auf einiges gefasst machen!« Sein Boot lag hart am Wind. Er sah ein, dass er keine großen Chancen hatte, den Verfolgern zu entkommen. Der schwache Hilfsmotor war geradezu lächerlich gegen die PS-Zahl der Jacht. Und ein Wendemanöver war bei der augenblicklichen Position äußerst riskant.
Seine Rechte klammerte sich fester um das Ruder. Ein kurzer Seitenblick ließ ihn zusammenzucken. Die Motorjacht war fast auf gleicher Höhe und schickte sich an, längsseits zu gehen.
»Klar zum Entern!«, grölte eine Stimme.
»Klar zum Entern!«, wiederholte die ganze Meute im Chor, um dann in schallendes Gelächter auszubrechen.
»Jonathan!«, schrie Sue Manors entsetzt. »Sie rammen uns!«
Harris antwortete nicht. Blitzschnell überdachte er seine Lage. Dann riss er entschlossen das Ruder herum. Das Boot drehte sich fast auf der Stelle und schwenkte mit dem Heck bis knapp vor die Steuerbordseite der Jacht. Das Gelächter der Burschen machte Harris rasend. Er glaubte, ihre Absicht zu kennen, und eine ohnmächtige Wut packte ihn.
Das Segel knatterte sekundenlang im Wind, um sich dann blitzartig aufzublähen. Jonathan fuhr der Schreck in alle Glieder. Er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte.
»Festhalten, Sue!«, brüllte er. Dann war es bereits zu spät. Das Boot kenterte, wie von einer Riesenfaust zur Seite gedrückt. Scheinbar im Zeitlupentempo neigte sich der Mast. Im nächsten Moment klatschte das Segel aufs Wasser. Harris verlor den Halt und tauchte unter.
Sue Manors klammerte sich weiter am Eingang der Kajüte fest. Ihre Beine hingen im Wasser. Es gelang ihr, mit der Linken den Mast zu erreichen. Mit äußerster Anstrengung zog sie sich hoch. Keuchend hielt sie inne. Im selben Moment kroch ihr ein Schauer über den Rücken.
»He, Baby«, scholl es von der Jacht herüber, die jetzt im leichten Wellengang dümpelte. »Keine Angst, wir retten dich!« Und wieder dieses ekelhafte Gelächter. Sue fröstelte. Panikartig blickte sie sich nach allen Seiten um. Meilenweit war kein anderes Boot zu sehen.
»Jonathan!«, rief sie mit zitternder Stimme. »Jonathan, bitte hilf mir!«
»Ich komme«, hörte sie seine Stimme. »Warte, ich komme!«
Sie wandte den Kopf und sah, dass er etwa drei bis vier Yards weit abgetrieben war. Er begann, auf das Boot zuzuschwimmen.
Ein Schuss krachte über die Wasseroberfläche.
Sue war sekundenlang wie gelähmt. Dann erst stieß sie einen gellenden Schrei aus. Einer der Lederjackentypen stand an der Reling und zielte mit einem schweren Revolver auf Jonathans Kopf.
»Bleib, wo du bist, Freundchen!«, rief er. »Der nächste Schuss kommt genauer an!«
Jonathan Harris verzichtete darauf, den Helden zu spielen. Er wusste, dass es keinen Zweck hatte. Er schwamm auf der Stelle. Unter Wasser ballte er die Hände zu Fäusten.
»So ist es brav«, freute sich der Bursche mit dem Revolver. »Los, Jungs, holt sie rüber!«
Sue Manors sah mit schreckgeweiteten Augen, wie zwei der Burschen ihre Lederjacken abstreiften und mit einem Satz über die Reling sprangen. Einen Atemzug später tauchten sie grinsend vor ihr auf. Sue erkannte, dass beide noch sehr jung waren. Der eine hatte dunkles Haar und einen dünnen Vollbart; der andere trug eine ungepflegte pelzige Mähne, die jetzt in wirren Strähnen an seinem Kopf klebte.
»Nein!«, schrie Sue. »Verschwinden Sie! Was wollen Sie von mir?«
Der mit dem Vollbart schnaufte prustend. »Dich wollen wir, Baby. Dich, mehr nicht.«
Und dann kamen sie näher.
Sue Manors wollte schreien. Doch ihre Stimmbänder versagten. In ihrem Gesicht spiegelten sich Unglauben und Entsetzen zugleich. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den beiden jungen Männern entgegen, die sich mit kraftvollen Schwimmbewegungen dem Boot näherten. Sue war wie gelähmt. Ihre Hände umklammerten den Mast oberhalb der Kajüte. Das Segel wogte unter Wasser im leichten Wellengang.
Der Vollbärtige kam um das Heck des gekenterten Segelboots herum und tauchte. Sekundenbruchteile später schoss er unmittelbar neben der Frau aus dem Wasser. Seine Rechte klatschte auf ihre Hüfte. Es traf Sue wie ein elektrischer Schock. Sie zuckte zusammen und konnte es nicht verhindern, dass sich ihre Hände vom Mast lösten. Mit einem spitzen Aufschrei sank sie vor der grinsenden Visage des Vollbärtigen ins Wasser.
Sie kam keuchend wieder hoch und schnappte nach Luft. Im selben Moment spürte sie harte Fäuste, die sie an den Oberarmen packten. Auch der zweite Bursche war jetzt aufgetaucht. Er hatte sich die blaue Seglermütze der Frau auf seine ungepflegte Mähne gestülpt.
»Hilfe!«, schrie Sue entnervt. »Jonathan! Hilf mir doch!« Sie schlug wild mit den Beinen um sich. Es nützte nichts. Die beiden Kerle waren hervorragende Schwimmer.
»Dein treuer Freund macht sich eher die Hosen voll.« Der Vollbärtige grinste. »Von ihm hast du keine Hilfe zu erwarten, Baby. Der ist froh, wenn wir weg sind, damit er nicht mehr vor der Kanone zittern muss.«
»Sie Scheusal!«, schluchzte Sue. Ihre verzweifelte Gegenwehr half ihr nicht im Geringsten. Scheinbar spielerisch zogen ihre Bezwinger sie durch das Wasser. Einen Moment lang sah sie Jonathan, dessen wutverzerrtes Gesicht zwischen den Wellen auf und ab zu tanzen schien. Dann tauchte vor ihr der weiße Rumpf der Jacht auf.
Harte Fäuste streckten sich über die Reling und zerrten sie hoch. Sues Kräfte waren erlahmt. Ihre Nerven spielten nicht mehr mit. Apathisch ließ sie sich über das Deck schleifen, begleitet vom glucksenden Gelächter ihrer Peiniger. Sie wurde drei oder vier Treppenstufen hinuntergestoßen und flog in die Arme eines Mannes, dessen Atem nach süßlichem Zigarettenrauch und Whisky roch.
Ruckartig landete Sue im nächsten Moment in den weichen Wildlederpolstern einer flachen Couch. Verwirrt rieb sie sich die tränenden Augen. Überdeutlich schob sich das bösartige Lächeln von drei Gesichtern in ihr Blickfeld. Im Unterbewusstsein nahm sie die aufwendige Einrichtung der geräumigen Kajüte wahr. Teppichboden, holzgetäfelte Wände, ein Marmortisch und gemütliche Wildledersessel.
»Sicher hat sie Wasser geschluckt«, meinte einer mit gespielter Besorgnis.
Sue blinzelte. Sie wusste nicht, wer es gesagt hatte. Alle drei hatten sie lange Haare, der eine blond, die beiden anderen dunkler. Der Blonde schien eine Art Anführer des Trios zu sein. Seine Miene und sein Auftreten ließen darauf schließen.
»Wir sollten ihren Mageninhalt veredeln, Hank«, brummte einer der Dunkelhaarigen, die wie Brüder aussahen.
Der Blonde nickte. »Du hast recht, Jimmy. Hol die Flasche.« Er ließ den Blick nicht von Sue Manors. Seine Fingerkuppen glitten sanft über ihre Oberarme und Schultern. »Du hast eine Gänsehaut, Baby«, stellte er fest. »Wir sorgen dafür, dass dir warm wird.«
Sue starrte ihn schreckensbleich an. Sein braun gebranntes Gesicht war scharf geschnitten und schmallippig, die stahlblauen Augen kalt und stechend. Das strohblonde Haar reichte ihm bis auf die muskulösen Schultern. Er trug ein kurzärmeliges weißes Polohemd und verwaschene blaue Jeans.
»Bitte … bitte lassen Sie mich … ich habe Ihnen doch nichts getan …«, stammelte Sue tonlos.
»Du nicht, Baby, das stimmt.« Der Blonde grinste unverschämt. »Aber dein lieber Jonathan war so unvernünftig, nicht das zu tun, was wir wollten. Dein Pech, Baby, dass du jetzt seine Suppe auslöffeln musst.« Seine Finger näherten sich ihren Brüsten, die von dem knappen Oberteil ihres Bikinis nur zu einem Drittel verdeckt wurden.
Sue wollte zurückweichen. Doch die Lehne der Couch gab nicht nach. »Bitte!«, flehte sie verzweifelt. »Ich weiß doch überhaupt nicht, was Sie mit Jonathan zu tun haben. Sie können doch nicht …«
»Und wie wir können!«, höhnte der Blonde, den sie Hank nannten. »Du wirst es gleich merken. Und ich denke, du wirst begeistert sein. Bislang ging das allen Girls so, die wir in der Mache gehabt haben. Garantiert machst du keine Ausnahme, Baby. Wetten?« Seine Finger prüften die Festigkeit ihrer Brüste. Ein zufriedener Ausdruck glitt über sein Gesicht. Sue zitterte am ganzen Körper.
Die beiden Dunkelhaarigen tauchten mit einer Flasche Bourbon auf, die sie aus der Kombüse der Jacht geholt hatten.