Jerry Cotton Special - Sammelband 1 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Special - Sammelband 1 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Dieser Sammelband enthält die Folgen:

Folge 2328: Wir jagten Dr. Ewigkeit

Folge 2333: Wir jagten den Eiskiller

Folge 2334: Im Fadenkreuz der Domäne

Folge 2335: Die Rückkehr des Dr. Ewigkeit

Folge 2345: Mein Feind ohne Gesicht

Folge 2273: Phantom-Express

Folge 2274: Ich - Gefangener der Domäne

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Seitenzahl: 786

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Inhalt

Cover

Impressum

Phantom-Express

Ich – Gefangener der ›Domäne‹

Wir jagten Dr. Ewigkeit

Im Fadenkreuz der Domäne

Die Rückkehr des Dr. Ewigkeit

Mein Feind ohne Gesicht

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-8387-0187-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Phantom-Express

Lewis Cronister war schlechter Laune.

Er hasste es, wenn seine alten Knochen zu schmerzen anfingen – denn das taten sie immer dann, wenn es Regen gab. Und der Regen bedeutete, dass er nass werden würde.

Verdammt nass …

Der Obdachlose hob seine Hände zum Mund und pustete warme Luft hinein, bewegte seine klammen Finger, während er unter dem alten Eisenbahnwaggon kauerte, der ihm nur spärlichen Schutz bieten würde, wenn sich die Schleusen des Himmels öffneten.

Die Nacht war empfindlich kalt, aber Lewis wagte nicht, ein Feuer zu machen. Der alte Rangierbahnhof war ein guter Tipp, weil es hier immer ein Plätzchen gab, wo man Unterschlupf finden konnte. Aber es gab hier auch eine Menge zwielichtiger Gestalten, die bei Einbruch der Dunkelheit aus ihren Löchern krochen …

Cronister war kein Idiot. Er war lange genug auf der Straße, um zu wissen, wie man überlebte. An diesem Abend allerdings vergaß er es für einen tödlichen Augenblick …

Das erste, was der Mann, der in seinem zerlumpten Mantel unter den rostigen Überresten des alten Güterwagens hockte, gewahrte, war ein dunkles, tiefes Rumpeln.

Trotz des billigen Fusels, von dem er eine ganze Flasche in sich hineingekippt hatte, drang das Geräusch durch die benebelten Windungen seines Gehirns sofort an sein Bewusstsein. Es war ein langsames, metallisches Rattern, begleitet vom leichten Beben der Gleise.

Lewis wusste, dass der alte Rangierbahnhof seit Jahren stillgelegt war, und trotzdem hörten sich die Geräusche an, als würde ein Zug einfahren …

Verblüfft lauschte er.

Das Rattern verstärkte sich, jedoch war kein Motorengeräusch zu hören. Cronister bekam eine Gänsehaut. Was ging da draußen vor sich?

Bäuchlings robbte er ein Stück unter dem Waggon hervor, schob sich über das Schotterbett des alten Gleises. Draußen war es stockdunkel, und er konnte so gut wie nichts erkennen – abgesehen von den alten Waggons, die wie Geisterburgen im Dunkel aufragten, beschienen von fahlem, spärlichen Mondlicht. Dahinter die gedrungenen Gebäude des alten Rangierbahnhofs, die uralten Wassertürme und die rostigen Masten der Hochspannungsleitungen.

Seit Ewigkeiten war hier kein Zug mehr verkehrt. Doch Cronister konnte sich erinnern, als Junge den Zügen beim Rangieren zugesehen zu haben. In den letzten vierzig Jahren war das Gelände am Rand von Pasadena mehr und mehr verwaist. Grundstücksspekulanten und Baulöwen hatten sich dafür interessiert, hatten geplant, den Bahnhof abzureißen und eine Ferienanlage mit Golfplätzen zu errichten, um den reichen Säcken, die in den Pasadena Hills wohnten, das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Aber zum Glück für die vielen Obdachlosen, die hier hausten, hatte sich bislang keiner der Konkurrenten durchsetzen können. Und nun hatte es fast den Anschein, als habe der Bahnhof seine alte Funktion wieder aufgenommen …

Cronister verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Das Geräusch hatte sich verstärkt, schien sich ihm auch zu nähern.

Seiner Schätzung nach musste es kurz nach Mitternacht sein. Er hatte diesmal ungewöhnlich lange gebraucht, um sich sein Abendessen aus den Mülltonnen der Vorstadt zusammenzusuchen. Danach waren noch irgendwelche dämlichen Jugendlichen gekommen, die den Einkaufswagen, in dem er seine Habe mit sich herum transportierte, umgestürzt hatten, so dass er alles wieder hatte einsammeln müssen. Und schließlich hatten auch noch seine Knochen zu schmerzen begonnen.

Ein mieser Tag …

Lewis Cronister sog scharf die Luft ein, als er plötzlich etwas auszumachen glaubte – einen dunklen Schemen, der sich langsam aus der Schwärze der Nacht löste.

Das Ding war riesig, schien geradewegs aus der Finsternis zu kommen. Es war ein Zug. Außer dem Rattern, dass seine Räder auf den Gleisen erzeugten, verursachte er kaum Geräusche. Immer deutlicher schälten sich seine Umrisse aus der wabernden Schwärze.

Lewis hielt den Atem an.

Es war ein Eisenbahnzug, daran bestand kein Zweifel. Aber keiner von der Sorte, wie er sie kannte.

Das Ding war schwarz. So schwarz wie die Nacht.

Der Triebwagen war stromlinienförmig gebaut und sah aus wie ein verdammtes Flugzeug, dahinter hingen einige Waggons. Der Zug besaß keine Fenster, kein Licht drang von den Waggons nach draußen. Im Gegenteil schien das Ding irgendwie gepanzert zu sein, sah aus wie einer der verdammten Tanks, die Cronister in Vietnam gefahren hatte.

Fasziniert beobachtete der Obdachlose, wie der Zug in den Bahnhof einfuhr und nur wenige Meter von ihm entfernt eines der eigentlich stillgelegten Gleise passierte. Das Ding sah weniger aus wie ein Zug, sondern mehr wie eine riesige, gepanzerte Raupe, die sich mit lautloser Langsamkeit über die Schienen schleppte.

Ein Geisterzug, schoss es Cronister durch den Kopf.

Der Zug verlangsamte seine Fahrt.

Bremsen pfiffen schrill, und mit metallischem Knirschen kam der Zug zum Stillstand.

Cronister zuckte zurück, hielt den Atem an.

Was wollten die hier? Ausgerechnet hier?

Er lag keine zehn Yards von den Schienen entfernt, konnte alles genau sehen: Den aerodynamischen Triebwagen, die bulligen Waggons mit der glatten Außenhülle. Die dunkle Farbe des Zuges schien das ohnehin spärliche Mondlicht förmlich zu verschlucken.

Cronister wusste nicht wieso, aber der Anblick dieses Zuges ließ ihn schaudern. Vielleicht lag es nur an der Wirkung des Alkohols, den er in sich hineingeschüttet hatte, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen. Aber er hatte das Gefühl, dass etwas Unheimliches, Bedrohliches von dem gepanzerten Gefährt ausging. Etwas, das er besser nicht kennen lernen wollte.

Gerade wollte sich der Wermutbruder über die kalten Schottersteine zurückschieben in den Schutz seines Verstecks, als sich mit metallischem Klang eine der Waggontüren öffnete. Zischend entwich weißer Dampf, und eines der stählernen Schotts schwang auf.

Lewis blickte auf – und einen gefährlichen Augenblick lang gewann die Neugier in ihm Oberhand. Er wollte nur einen kurzen Blick riskieren, wollte nur sehen, wer die Herren dieses eigentümlichen Gefährts waren, nichts weiter. Dann würde er sofort verschwinden und …

Er unterbrach seinen Gedankengang, als eine dunkle Gestalt in der Öffnung erschien, die ebenso pechschwarz war wie der Zug selbst. Mit einem Satz sprang sie heraus auf den knirschenden Schotter, blickte sich wachsam um.

Lewis wurde auf einen Schlag stocknüchtern.

Der Fremde trug eine Art Kampfanzug, dazu schwere Stiefel und Splitterschutz. Auf seinem Kopf thronte ein unförmiges Gebilde von einem Helm, dessen Visier geschlossen war. Am erschreckendsten aber war die Waffe, die der Kerl in Händen hielt, eine Maschinenpistole vom Typ 400 mit Schalldämpfer.

Lewis spuckte aus.

Er kannte sich mit Waffen von seiner Militärzeit her aus. Und er wusste, dass schallgedämpfte Maschinenpistolen nicht zur Standardausrüstung von Bahnbediensteten gehörten. Wer immer dieser Kerl war, er führte übles im Schilde.

Der Kerl blickte sich um, spähte hinaus in die Finsternis. Lewis verharrte reglos, unfähig, sich zu bewegen. Furcht lähmte seine Glieder, von der Kälte, die seinen Knochen zusetzte, ganz zu schweigen.

Der bewaffnete Kerl blieb nicht lange allein.

Ein zweiter und ein dritter folgten ihm. Sie trugen ebenfalls Helme und hatten Maschinenpistolen.

Sie verständigten sich mit Handzeichen. Dann machten sie sich daran, den Zug abzuschreiten, ihre Waffen dabei schussbereit in den Fäusten.

»Verdammt«, hauchte Cronister halb laut, als er sah, dass sich einer der Kerle genau auf ihn zu bewegte. »Verdammt, verdammt, verdammt …«

Zurück in sein Versteck konnte er nicht mehr. Die Gefahr, dass der Schotter dabei klackernde Geräusche verursachte und ihn verriet, war zu groß.

Alles, was Lewis tun konnte, war, die Luft anzuhalten und reglos zu verharren, nicht den geringsten Laut von sich zu geben und darauf zu hoffen, dass ihn der Kerl mit der MPi nicht entdeckte. So hatten sie damals auch in den Büschen gehockt, wenn Vietcong-Patrouillen den Dschungel durchkämmt hatten …

Cronister merkte, wie seine Hände leicht zitterten, während er bäuchlings auf dem Schotter lag. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, und trotz der Kälte traten ihm Schweißperlen auf die Stirn, während er hinaus ins Halbdunkel starrte und darauf hoffte, dass ihn die Kerle nicht entdecken würden.

Ein seltsames Gefühl erfüllte ihn, das er lange Zeit nicht mehr gehabt hatte – und plötzlich war er nicht mehr Lewis Cronister, der Penner, der auf dem alten Rangierbahnhof von Pasadena ein trauriges Dasein fristete, sondern P.F.C. Cronister, der kleine Schütze Arsch, der in einem Sumpfloch kauerte und betete, dass die verfluchten Vietcong ihn nicht entdeckten.

Blutegel waren unter seine durchnässte Uniform gekrochen und hatten sich an seiner Haut fest gesogen. Sein Atem ging stoßweise, und er zitterte am ganzen Körper, wollte nur nach Hause, zurück nach Pasadena.

Plötzlich ein Rascheln, unmittelbar neben ihm im Gebüsch. Er sog scharf die Luft ein, seine Muskeln verkrampften sich – und im nächsten Moment spürte er etwas Feuchtes, Warmes zwischen seinen Oberschenkeln.

Verdammter Mist …

Die plötzliche Nässe in seiner Hose und der beißende Geruch von Urin rissen ihn aus seinen Gedanken und machten Lewis Cronister klar, dass er sich nicht mehr im Dschungel von Vietnam befand, sondern auf dem Bahnhof von Pasadena. Die Situation war allerdings die gleiche. Und auch die Angst, die er empfand.

Die schwarzen Kerle! Wo waren sie?

Vorsichtig, den Gestank und seine durchnässten Hosen ignorierend, schob sich Cronister ein wenig nach vorn, spähte hinaus auf die Gleise.

Der schwarze Zug war noch da, aber von den drei Bewaffneten fehlte jede Spur.

Wohin waren sie so plötzlich verschwunden?

Waren sie überhaupt wirklich da gewesen, oder hatte er sich alles nur eingebildet?

Die Erinnerung an den verdammten Krieg verfolgte ihn manchmal. Vor allem dann, wenn er zuviel getrunken hatte. Gut möglich, dass er mit offenen Augen geträumt hatte. Es wäre nicht das erste Mal …

Ein verräterisches Klackern des Schotters neben ihm. Nein, er hatte sich nicht geirrt. Die drei vermummten Gestalten waren mehr gewesen als bloße Einbildung. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass jemand neben ihm stand, und jähes Entsetzen packte ihn.

»Nein«, sagte er leise und schüttelte dabei den Kopf. »Bitte nicht …«

Langsam blickte er an der dunklen Gestalt empor, und durch das Visier seines Helmes starrte der andere auf ihn herab, und Cronister begriff: ein Nachtsichtgerät!

In einer jähen Reaktion warf sich Lewis herum, wollte rasch zurück unter den Waggon fliehen – doch der Vermummte war schneller.

Blitzschnell wie ein Raubvogel stach seine behandschuhte Linke herab und packte den Obdachlosen am Kragen, zog ihn mit unwiderstehlicher Kraft empor.

Cronister wand sich im Griff seines Gegners, setzte sich nach Kräften zur Wehr. Doch seine Schläge waren matt und unpräzise, die schwache Ausbeute eines ausgemergelten, vom Alkohol gezeichneten Körpers.

Plötzlich waren auch die anderen beiden Schwarzgekleideten zur Stelle. Wortlos packten sie Cronister und zerrten ihn auf die Beine, dann warfen sie ihn auf die Knie.

»Scheiße!«, schrie der Obdachlos mit jammernder Stimme. »Was wollt ihr Kerle von mir? Ich hab euch nichts getan, okay?«

Die drei Männer antworteten nicht, verständigten sich nur mit lautlosen Blicken. Dann hoben sie ihre Waffen, legten schweigend auf Cronister an.

»Hey!« Lewis riss erschreckt die Augen auf. »Was soll das? Das könnt ihr nicht machen!«

Die Killer gaben keine Antwort, luden statt dessen ihre MPis ratschend durch.

»Nein!«, schrie Cronister entsetzt. Dann noch einmal, flehend: »Nein! Bitte nicht …!«

Doch die drei vermummten Schützen kannten keine Gnade. Im nächsten Moment spuckten ihre Waffen lautlos Blei.

Cronister kippte nach vorn, blieb reglos auf den Gleisen liegen. Der Schotter unter ihm wurde von seinem Blut gefärbt …

***

Will Cotton war schlechter Laune.

Er hasste es, wenn ein Tag in Los Angeles mit Regen begann. Die Wolken hingen dann tief über der Stadt, verbanden sich mit der Dunstglocke, die über Downtown hing, zu einem tristen, nebligen Mantel, der von der Küste bis hinüber zu den San Gabriel Mountains reichte.

Kein guter Anfang für einen neuen Tag, dachte der junge FBI-Agent missmutig, während er seine schwere Harley Davidson auf den Parkplatz des FBI Field Office am Wilshire Boulevard steuerte. Von wegen it never rains in southern California …

Cotton stellte seine Harley inmitten all der gediegenen Westcoast-Limousinen ab, die hier parken. Sein eigener fahrbarer Untersatz war selbst für kalifornische Verhältnisse ziemlich exotisch. Jedenfalls für einen FBI-Beamten. Aber da Will Cotton auch ein sehr ungewöhnlicher G-man war, passte die Maschine zu ihm wie der Deckel auf den Topf.

Trotz des Regens trug Will seine Sonnebrille, und er nahm sie auch nicht ab, als er die Eingangskontrolle des FBI-Büros passierte. Im Laufe der Zeit war sie ebenso zu seinem Markenzeichen geworden wie die Cowboystiefel und die abgewetzte Lederjacke, die er trug. Wäre Will nicht so ein verdammt guter G-man gewesen, hätte man ihn wahrscheinlich längst nach Alaska versetzt oder ganz aus dem FBI geworfen. So aber hatte SAC Steel, sein leitender Vorgesetzter, noch immer eine Möglichkeit gefunden, Cottons unmögliches Äußeres gegenüber den gestrengen Kommissaren der FBI-Aufsicht zu verteidigen. »Mein Mann macht eben viele Undercover-Jobs«, behauptete Steel dann. »In diesem Aufzug fällt er in der Szene, in der er ermitteln muss, nicht auf …«

»Hallo, Cotton. Auch schon da?«

Seine Partnerin Donna Sullivan kam ihm auf dem Gang entgegen, perfekt gestylt wie immer. Unter anderen Umständen hätte Will das Girl mit dem hübschen Gesicht, dem langen Haar und der sportlichen Figur sicher anziehend gefunden. In Donnas Fall war das jedoch etwas anderes.

Sie war eine zuverlässige Partnerin, aber auch eine schreckliche Nervensäge. Und das Ritual verlangte, dass sich beide ständig stichelten.

»Klar bin ich schon da, Sullivan«, gab Will grinsend zurück. »Obwohl ich die sexy Blonde eigentlich noch gar nicht nach Hause schicken wollte.«

Donna machte ein Gesicht, als wäre der probiotische Drink, den sie am Morgen zu sich genommen hatten, sauer gewesen. Sie mochte es nicht, wenn Will von seinen nächtlichen Eroberungen berichtete – ob sie nun wahr waren oder erfunden –, und das wusste er nur zu genau.

»SAC Steel erwartet uns in seinem Büro«, wechselte sie sofort das Thema und wurde dienstlich.

»Alles klar. Werde mir nur schnell einen Becher Kaffee besorgen und dann …«

»Sofort, Cotton.«

»Na schön.« Will zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Werd ich meinen Kaffee eben später trinken.«

Er folgte seiner Partnerin den Flur entlang zum Aufzug. Wenig später betraten sie das Büro ihres Vorgesetzten.

SAC Steel war ein energisch wirkender Mann Mitte vierzig, in dessen dunkle Haut sich immer dann tiefe Sorgenfalten gruben, wenn ihm ein neuer Fall besonders zu schaffen machte.

So wie an diesem Morgen …

»Setzen Sie sich«, forderte Steel Cotton und Donna auf, ohne auch nur ein Wort über Wills Zuspätkommen oder seinen wieder mal unmöglichen Aufzug zu verlieren. Das konnte Wills Erfahrung nach nur bedeuten, dass etwas wirklich Ernstes vorgefallen war.

»Am frühen Morgen«, kam SAC Steel ohne Umschweife auf den Punkt, »wurde am alten Rangierbahnhof von Pasadena die Leiche eines Obdachlosen aufgefunden. Der Mann wurde durch mehrere Kopfschüsse getötet.«

Steel griff nach einer Aktenmappe, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, öffnete sie und händigte Will und Donna die Fotos aus, die darin gewesen waren. Sie zeigten einen etwa fünfzigjährigen Mann in zerlumpter Kleidung, der in grotesker Verrenkung auf dem Schotter eines Eisenbahngleises lag.

»Diese Aufnahmen«, erläuterte Steel, »wurden heute Morgen von der Spurensicherung des zuständigen Homicide Squad gemacht. Ein anderer Obdachloser hat die Polizei alarmiert, nachdem er die Leiche am frühen Morgen entdeckt hatte.«

»Aha.« Will hob die Brauen. »Und was hat der FBI mit dieser Sache zu tun? Ich meine, bei allem Respekt, Sir – aber für Fälle wie diesen sind die Mordkommissionen der City Police zuständig, oder nicht?«

»Normalerweise würde ich Ihnen Recht geben, Cotton. In diesem besonderen Fall werden wir jedoch eine Ausnahme machen. Es ist nämlich leider so, dass es beim LAPD offenbar eine undichte Stelle gibt. Die Presse war noch vor den Cops am Tatort. Die Reporter haben gleich eine Story gewittert und zu recherchieren begonnen – und sie haben einen Volltreffer gelandet.«

»Tatsächlich?« Donna sandte ihrem Vorgesetzten einen fragenden Blick. »Inwiefern?«

»Der Name des Ermordeten ist Lewis Cronister. Ein Veteran des Vietnam-Kriegs, der seinerzeit das Purple Heart erhalten hat.«

»Shit«, sagte Donna entgegen ihrer guten Erziehung. »Das ist schlecht.«

»Was?« Cotton begriff nicht. »Wieso ist das schlecht?«

»Ehrlich, Cotton – lebst du hinterm Mond? Demnächst stehen die Gouverneurswahlen an. Und es macht keinen sehr guten Eindruck, wenn einstige Nationalhelden ermordet auf Rangierbahnhöfen aufgefunden werden. Noch dazu obdachlose Nationalhelden. Wie steht man denn da, wenn die Helden im eigenen Land nicht mal mehr eine Wohnung kriegen und dann auch noch abgeknallt werden.«

»Sie treffen den Nagel wie immer auf den Kopf, Agent Sullivan«, lobte SAC Steel.

»Moment mal!« Will schaute von einem zum anderen. »Ist das euer Ernst? Ich meine, lassen wir mal die Tatsache beiseite, dass die Jungs, die in Vietnam ihren Arsch riskiert haben, von der Regierung nach Strich und Faden beschissen wurden …«

»Cotton, zügeln Sie Ihre Ausdrucksweise!«, mahnte SAC Steel.

Doch unbeirrt fuhr Will Cotton fort: »Vater Staat hat sich ganz offenbar nicht um diesen Cronister gekümmert, als er noch am Leben war. Aber jetzt, wo er tot ist, ist man plötzlich um Aufklärung bemüht?«

»Eine politische Entscheidung«, sagte Steel nur – und machte damit deutlich, dass auch ihm die Vorgehensweise in dieser Angelegenheit keineswegs gefiel. »Tatsache ist, wir haben keine Wahl …«

»Wir haben keine Wahl, weil demnächst Wahlen sind«, spottete Will. »Das ist zu piepen!«

»Der FBI wurde gebeten, die Ermittlungen in diesem Fall zu übernehmen, um der Bevölkerung klarzumachen, dass alles getan wird, um Lewis Cronisters Mörder zu finden und zur Verantwortung zu ziehen. Amerika vergisst seine Helden nicht.«

»Ein Hoch auf Uncle Sam!« Will besah sich wieder die Fotos. »Ich fürchte nur, der alte Lewis wird nicht mehr allzu viel davon haben …«

***

Fünf Stunden später standen Will und Donna bei Dr. Kiatu in der gerichtsmedizinischen Abteilung. Der kleinwüchsige Chefpathologe hatte die Obduktion von Cronisters Leichnam abgeschlossen und die beiden zu sich gerufen, um seinen Bericht vorzulegen.

»Also, Doc?« Will ließ sich lässig in den speckigen Besuchersessel fallen, der in Kiatus winzigem Büro stand. »Was gibt’s? Haben Sie was herausgefunden?«

»Das übliche«, erwiderte der Pathologe ungerührt und blätterte in dem Bericht, den seine Sekretärin vom Band getippt hatte. »Todesursache waren drei Schüsse in den Kopf, die allem Anschein nach von mehreren Tatwaffen ausgeführt wurden.«

»Von mehreren Tatwaffen?« Donna hob die Brauen.

»Ja, sehen Sie hier!« Kiatu legte eines jener Fotos vor, die frisch von der Akademie kommende G-men regelmäßig zum Gang auf die Toilette nötigen. »Eine der Kugeln ist im Hinterkopf des Mannes wieder ausgetreten«, erklärte Kiatu in kaltblütigem Plauderton. »Das erklärt das fast faustgroße Loch, das Sie hier auf dem Bild sehen. Der größte Teil der Hirnmasse wurde durch die ausgetretene Kugel weggesprengt und …«

»Reizend«, sagte Donna tonlos. In ihrer hübschen Miene zuckte es.

»Unsere Forensiker haben diese Kugel am Tatort leider nicht gefunden, aber die anderen beiden steckten zum Glück noch im Schädel des Opfers.«

»Ja, zum Glück«, spottete Will.

Kiatu warf einen kleinen Plastikbeutel auf den Tisch, der zwei verformte Metallkörper enthielt.

»Kugel Nummer zwei endete in der Innenseite der Schädeldecke, Kugel Nummer drei hatte sich im Hypothalamus-Lappen festgesetzt.«

»Wo?«, fragte Will stirnrunzelnd.

»Im Hirnstamm, Cotton«, erklärte Donna. »Dort, wo deine niederen Instinkte liegen.«

»Das ist richtig«, bestätigte Kiatu grinsend. »Vielleicht sollten wir Will bei Gelegenheit auch eine Kugel verpassen. Das würde seine Libido ein wenig bremsen.«

Will sandte dem Pathologen einen vernichtenden Blick. »Das ist nicht witzig, Doc«, sagte er. »Meine Libido habe ich gut im Griff!«

»’tschuldigung.« Kiatu räusperte sich, dann fuhr er mit seinen Erläuterungen fort. »Die mikroskopische Untersuchung der Projektile hat ergeben, dass es sich um mindestens zwei, wenn nicht sogar drei verschiedene Tatwaffen gehandelt hat. Die Kugeln haben zwar alle dasselbe Kaliber, wurden jedoch aus unterschiedlichen Läufen abgefeuert. Zumindest diese zwei. Alles deutet also auf eine äußerst kaltblütige Tat hin – eine Exekution, wenn Sie so wollen.«

»Hm«, machte Will. »Nach einem gewöhnlichen Streit unter Wermutbrüdern sieht das nicht aus.«

»Wohl kaum. Eher nach professionellen Killern.«

»Aber wer exekutiert einen Obdachlosen?«, rätselte Donna. »Vielleicht ein Drogensyndikat?«

»Das wäre natürlich denkbar«, räumte Kiatu ein, »wenngleich ich keinen Hinweis auf Drogenkonsum im Blut des Opfers gefunden habe. Nur Alkohol, aber davon eine ganze Menge.«

»Wer sagt’s denn?«, meinte Will mit freudlosem Grinsen. »Ein echter Penner von altem Schrot und Korn. Vor allem Korn.«

»Lass die unangebrachten Witze, Cotton!«, versetzte Donna bitter. »Die Tatwaffen, Doktor – können Sie etwas darüber sagen?«

»Nun – die Projektile, die ich gefunden haben, sind vom Kaliber 9,2. Offenbar wurden sie aus nächster Nähe abgefeuert. Auch vermute ich, dass Schalldämpfer verwendet wurden, woraus ich ableite, dass..«

»Moment mal!«

»Was ist, Cotton?« Donna sah ihren Partner an. »Musst du für kleine Jungs? Du brauchst nicht zu fragen.«

»Quatsch.« Will sprang aus dem Sessel, in dem er gesessen hatte. »Sagten Sie eben Kaliber 9,2, Doc?«

Kiatu warf sicherheitshalber einen Blick in seinen Bericht. »Ja, das sagte ich«, bestätigte er nickend. »Und?«

»Irgendwie kommt mir das bekannt vor«, meinte Will. »Ein wehrloses Opfer, das von Killern hingerichtet wird, und die Waffen sind vom Kaliber 9,2 Millimeter …«

»Du hast Recht!«, rief Donna. »Das hatten wir schon mal, und zwar noch vor nicht allzu langer Zeit.«

»Es war diese La-Brea-Sache«, sagte Will aufgeregt. »In einer der Teergruben war ein Leichnam aufgetaucht – ein anonymer Leichnam, dem sämtliche Identifikationsmerkmale entfernt worden waren.1)

»Warten Sie!« Kiatu erhob sich und trat an einen Schrank, zog eine Schublade heraus und suchte in den dort befindlichen Hängeordnern. Er fand die Mappe, die er gesucht hatte, fischte sie heraus und brachte sie zum Schreibtisch, wo er ihr einige Papiere entnahm. »Akte 065-B2-00. Die Obduktion im La-Brea-Mordfall.«

Der Pathologe überflog den Obduktionsbericht – und plötzlich hellten sich seine Züge auf.

»Sie haben Recht, Will«, sagte er. »Die Mordwaffe im La-Brea-Fall war tatsächlich eine 9,2-Millimeter-Waffe.«

»Schön und gut«, meinte Donna, »aber das bringt uns auch nicht weiter, oder doch?«

»Naja«, meinte Will, »das Kaliber 9,2 ist in unseren Breiten nicht sehr gebräuchlich. Es wurde und wird nur von einer begrenzten Anzahl Schusswaffen verwendet, die hauptsächlich auf dem osteuropäischen und vorderasiatischen Markt zu erhalten sind. Da wären die russische Makarow, die tschechische Skorpion und ein paar weitere Modelle ehemaliger Warschauer-Pakt-Staaten.«

»Alle Achtung«, sagte Dr. Kiatu anerkennend. »Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht.«

»Und was heißt das?«, fragte Donna skeptisch.

»Das heißt, dass wir es möglicherweise mit demselben Killer zu tun haben wie im La-Brea-Mordfall.«

»Nur weil eine ähnliche Tatwaffe verwendet wurde?«

»Nicht nur deshalb. Doc, wären Sie so freundlich, Agent Sullivan vorzulesen, was Sie damals in der Lunge des Opfers entdeckt haben?«

»Natürlich.« Der Pathologe überflog den Bericht, suchte nach der verlangten Stelle, fand sie auch und begann laut vorzutragen. »Aufgrund der Tatsache, dass der Leichnam in Teer konserviert wurde, erscheint eine Untersuchung des Lungeninhalts sinnvoll … wird vorgenommen, blabla … Ah! Hier steht es: Die Kohlestaubpartikel, die in ungewöhnlicher Konzentration in den Lungen nachgewiesen werden konnten, lassen vermuten, dass sich das Opfer zum Zeitpunkt seines Todes in einem Bergwerk, einem Hüttenwerk oder auf einem Verladebahnhof aufgehalten hat.«

»Danke, das genügt, Doc.« Will hob die Hand. »Was sagst du jetzt, Sullivan? Ein Rangierbahnhof! Dort gibt es Wagen, in denen Kohle transportiert wird. Na? Fällt der Groschen?«

»Cronister wurde auf dem alten Rangierbahnhof von Pasadena umgebracht«, sagte Donna leise.

»Genau. Dort liegt in den alten Schütten noch genug Kohle, um ganz East-L.A. einen Winter lang beheizen zu können.«

»Das ist noch kein Beweis«, meinte Donna. »Können Sie nicht auch Cronisters Lungeninhalt untersuchen, Doc?«

»Es hätte keinen Sinn. Seine Lunge ist nicht mit Teer versiegelt, so dass wir hier keine eindeutige Aussage treffen können.«

»Aber es wäre möglich«, beharrte Will. »Es wäre möglich, dass unser anonymes Opfer ebenso draußen in Pasadena umgelegt wurde wie Cronister.«

»Nicht sehr wahrscheinlich«, wehrte Donna ab.

»Aber möglich. Das würde bedeuten, dass es dieselben Täter waren. Und dass sie diesmal einen Fehler gemacht haben. Diesmal haben sie Spuren hinterlassen. Es gibt einen Leichnam.«

»Das ist doch Unsinn!«, wandte Donna ein. »Wieso sollten sich diese Killer zuerst so viel Mühe geben, ein Mordopfer derart zu verstümmeln, dass eine Identität nicht mehr möglich ist, wenn sie ein paar Wochen später einen plumpen Gewaltmord begehen?«

»Vielleicht war der Mord an Opfer Nummer eins geplant«, überlegte Will, »während Cronister lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort war und ausgeschaltet werden musste.«

»Ich weiß nicht …«

»Aber ich.« Will nickte grimmig. »Die Sache gefällt mir nicht, Partner. Ich habe das Gefühl, dass diese Kerle durchaus wissen, was sie tun – und dass sie größere Pläne verfolgen. Wir werden uns Hilfe holen.«

»Hilfe? Von wem?«

»Cotton«, sagte Will nur, während er sich bereits zum Gehen wandte.

»Cotton?« Donna schnaubte. »Also das ist mal wieder typisch! Dieser Kerl ist so überzeugt von sich selbst, dass er sich nun schon selbst um Hilfe bittet.«

»Ich meine nicht mich. Den anderen Cotton«, erklärte Will grinsend. »Ich werde ihn anrufen. Soweit ich weiß, hat er etwa zur selben Zeit, als wir im La-Brea-Fall ermittelten, an einem ähnlichen Fall gearbeitet. Mitten in Manhattan sind fünf unbekannte Leichen aufgetaucht, aber soviel ich weiß, wurde der Fall inzwischen zu den Akten gelegt, weil es keine Spuren gab, die sich weiterverfolgen ließen – genau wie in unserem Fall. Aber vielleicht ist Cronister der Schlüssel, mit dessen Hilfe wir das Geheimnis endlich lüften können …«

***

Das Telefon meldete sich wie immer im denkbar ungünstigsten Augenblick.

Gerade hatte ich es mir mit Linda McCain auf dem Sofa in meinem Apartment bequem gemacht. Die sexy Blondine, vom Beruf Chefredakteurin des Lifestyle- und Frauenmagazins ›Female‹, und ich waren seit einiger Zeit ein Paar – mehr oder weniger.

Denn unser beider Jobs sorgten dafür, dass wir nur sehr wenig Freizeit hatten und damit leider auch sehr wenig Zeit füreinander. Mal wurde ich tagelang von ihr vertröstet, weil das monatlich erscheinende Magazin ›Female‹ kurz vor der Schlussredaktion stand, mal arbeitete ich über mehrere Tage hinweg an einem heißen Fall. Das war der Grund, weshalb es hin und wieder in unserer Beziehung kriselte.

Aber nach dem letzten Streit hatten wir uns wieder zusammengerauft, und jetzt genoss ich Lindas prickelnde Nähe.

Das atemberaubende Girl mit der blonden Mähne drängte ihren verführerischen Körper gerade voller Verlangen an mich – als das verwünschte Telefon laut losdudelte.

Linda im Arm, die meinen Hals mit heißen Küssen liebkoste, griff ich nach dem Hörer.

»Ja?«, meldete ich mich.

»Hallo, Onkel Jeremias. Hier ist Will!«

Ich stöhnte laut auf. Mein ›heißgeliebter‹ Neffe Will Cotton hatte ein ganz besonderes Talent dafür, in den unmöglichsten Situationen zu stören.

»Will!«, schnauzte ich in den Hörer, während Linda an meinem Ohrläppchen knabberte. »Junge, hast du eine Ahnung, wie spät es ist?«

»Natürlich, gerade mal kurz vor acht – äh, zumindest hier in Kalifornien. Ich habe dich doch nicht etwa geweckt?«

»Nein«, erwidere ich unwirsch, während Linda begann, mit spitzen Fingern die Knöpfe meines Hemdes zu öffnen. Dabei entfuhr ihr ein leiser, spitzer Schrei.

»Was war das?«, fragte Will.

»Nichts.«

»Was soll das heißen, nichts? Ich kenne dieses Geräusch, Jeremias – vielleicht besser als jeder andere. Du hast doch nicht etwa Damenbesuch?«

»Doch«, erwiderte ich seufzend, hoffend, dass ich die blutsverwandte Nervensäge damit loswerden würde. Doch weit gefehlt.

»Jeremias, du alter Schwerenöter!«, schrie Will so laut in den Hörer, dass Linda es zwangsläufig hören musste. Ein Grinsen glitt über ihr hübsches, sonnengebräuntes Gesicht, und sie kicherte leise.

»Halt die Klappe, Will, okay?«, knurrte ich entnervt. »Rufst du nur an, um mir den letzten Nerv zu töten?«

»Nein, ist nur ’n kleiner Nebenverdienst. Eigentlich rufe ich dienstlich an.«

»Ach ja?«

»Ja, es gibt da einen Fall, an dem Donna und ich gerade arbeiten. Ich dachte, der würde dich vielleicht interessieren.«

»Oh, natürlich interessieren mich die Fälle, die mein kleiner Neffe bearbeitet«, sagte ich sarkastisch. »Warum schreibst du keine Romane darüber?«

»Hör mir doch mal zu, Jeremias!«

»Morgen, Will! Morgen!«, sagte ich, während Lindas offenbar recht erfahrene Hände über meinen Oberkörper wanderten.

»Schön, wie du willst. Ich dachte nur, das hier würde dich wirklich interessieren. Es geht um die fünf unbekannten Leichen, die in Manhattan aufgetaucht sind und …«

Auf einen Schlag hatte Will all meine Aufmerksamkeit.

Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich vom Sofa hoch. Linda schreckte zurück.

»Was weißt du darüber?«, wollte ich von meinem Neffen wissen.

»Naja – soweit ich hier mitbekommen habe, hattet ihr im Big Apple ein kleines Problem. Fünf namenlose Leichen, offenbar Mordopfer, denen sämtliche Identifikationsmerkmale entfernt worden sind.«

»Das ist richtig«, bestätigte ich. »Auch in Seattle sind solche Leichen aufgefunden worden.«

»Und in L.A.«, sagte Will. »Wie du weißt, wurde hier bei uns ein unbekannter Toter aus den Teerpfützen des La-Brea-Parks gefischt. Donna und ich hatten das zweifelhafte Vergnügen, uns um den Fall kümmern zu dürfen. Wie du weißt, fanden wir nichts heraus. Nicht das Geringste. Nada. Der Fall wurde zu den Akten gelegt.«

»Genau wie bei uns.«

Es hatte mir ganz und gar nicht gefallen wollen, den Fall der ermordeten »John Does« – so nennen wir im Fachjargon Menschen, deren Identität nicht festgestellt werden kann – zu den Akten zu legen. Da war dieses hässliche Gefühl, dass noch viel mehr hinter der Sache steckte, als wir bislang auch nur erahnen konnten.

»Also, es sieht so aus, als gäbe es in diesem Fall was Neues«, berichtete Will.

»Tatsächlich?«

»Naja, ist nur eine Vermutung, aber immerhin.«

»Schieß los«, forderte ich.

»Donna und ich ermitteln in einem Mordfall. Das Opfer ist ein Obdachloser, ein Vietnamveteran namens Lewis Cronister.«

»Und?«

»Er wurde auf dem alten Rangierbahnhof von Pasadena umgelegt, Jerry. Mit drei Schüssen in den Kopf hat man den armen Kerl regelrecht hingerichtet. Und die Tatwaffen hatten das Kaliber 9,2.«

Rangierbahnhof. Hingerichtet. Kaliber 9,2 …

Gleich mehrere Glocken gleichzeitig begannen in meinem Kopf zu bimmeln.

»Schick mir die Details, Will«, verlangte ich. »Ich will alles haben, auch den kleinsten Schnipsel. Alles, was du in die finger kriegen kannst.«

»Geht in Ordnung, Jerry. Ich dachte mir schon, dass dich das interessieren würde. Ich werde dir die betreffenden Daten überspielen.«

»Sehr gut. Danke, Kleiner.«

»Schon klar.«

Ein Klicken in der Leitung – Will hatte aufgelegt. Lange Verabschiedungen waren noch nie sein Ding gewesen.

Ein wenig verblüfft legte ich den Hörer auf, musste erst einmal verdauen, was ich da gehört hatte. Linda hingegen schien der Ansicht zu sein, dass ich sie lange genug vernachlässigt hatte.

»Hey, Jerry«, hauchte sie, »ich bin auch noch da.«

Mit verführerischem Lächeln griff sie sich in den Nacken und löste die Verschnürung ihres tief dekolletierten Abendkleides. Der glitzernde Stoff klappte herab – und enthüllte den wohlgeformten Beweis dafür, dass Linda nichts als nackte Haut darunter trug.

»Du brauchst etwas Ablenkung«, meinte sie, während sie wie eine Raubkatze über das Sofa auf mich zu kroch.

Ich muss zugeben, Linda gab sich alle Mühe, doch Wills Anruf ließ mich nicht mehr los. Sie merkte es und schnauzte mich an.

»Verdammt, Jerry!«, schimpfte sie los. »Immer kommt uns dein Job dazwischen! Seit wir uns kennen, ist das so! Entweder hast du keine Zeit, oder du grübelst über einen Fall nach, wenn wir zusammen sind.«

»Es tut mir leid, Baby«, sagte ich entschuldigend. »Dieser Anruf war sehr wichtig.«

Linda war schon dabei, sich wieder anzuziehen. »Alles scheint wichtiger zu sein als ich!« Sie schnappte sich ihren Mantel. »Ruf mich an, Jerry Cotton, wenn du mal wieder Zeit für mich hast!«

Sie sagte kein weiteres Wort mehr, sondern verschwand. Laut knallte sie die Tür meines Apartments hinter sich zu.

Verdammt – ich hätte Will in den Hintern getreten, wäre er jetzt in erreichbarer Nähe gewesen!

***

Wie Will gesagt hatte, waren im Herzen von Manhattan fünf unbekannte Leichen aufgetaucht. Die Arbeiter einer Nachtbaustelle waren aus purem Zufall darüber gestolpert.

Zunächst hatte man geglaubt, einem neuen Serienkiller auf der Spur zu sein, und der Fall war dem FBI übergeben worden. Je mehr wir jedoch in der Sache ermittelt hatten, desto klarer war uns geworden, dass dies nicht das Werk eines mordenden Psychopathen war.

Die fünf Männer waren durch gezielte Kopfschüsse regelrecht hingerichtet worden, den Leichen hatte man ihre Hände, Gesichter und Zähne chirurgisch entfernt – also alles, woran sie hätten identifiziert werden können.

Dieses planmäßige und äußerst kaltblütige Vorgehen brachte uns zu dem Schluss, dass wir es mit Profis zu tun hatten – eiskalten Killern, die offenbar einem neuen Syndikat angehörten. Oder war diese Vermutung falsch? Tobte ein Agentenkrieg in unserer Stadt?

Die verwendete Tatwaffe, die zur Standardbewaffnung verschiedener östlicher Geheimdienste gehörte, ließ auch diesen Verdacht zu.

Dann waren auch in Seattle derartig verstümmelte Leichen aufgetaucht, und wir hatten die Theorie vom Serienkiller schon endgültig zu Grabe tragen wollen, als sich die Ereignisse überstürzt hatten. Ein Zeuge namens Burton Leary war aufgetaucht, der den Mord an den fünf Männern beobachtet haben wollte – doch kurz bevor Leary auspacken konnte, starb er auf mysteriöse Weise an Herzversagen.

Bei der Durchsuchung seiner Wohnung fanden wir Hinweise darauf, dass kein anderer als er selbst der Mörder gewesen war, der sowohl in Manhattan als auch in Seattle zugeschlagen hatte. Der Fall war damit als gelöst betrachtet worden und zu den Akten gewandert. Mein Partner Phil Decker und ich hatten jedoch kein sehr gutes Gefühl dabei gehabt …

Ich war ganz in Gedanken, als ich wie jeden Morgen den Jaguar an unserer Ecke hielt, um Phil einzuladen.

Mein Partner stand schon da und wartete, kaute auf einem Donut herum, den er sich bei ›Starbuck’s‹ besorgt hatte. Ich setzte den Blinker und fuhr rechts ran, ließ meinen Partner einsteigen.

»’n Morgen, Jerry«, grüßte Phil kauend. »Na, wie geht’s?«

»Es geht, Alter«, erwiderte ich lakonisch. »Es geht …«

»Nanu?« Phil hob überrascht die Brauen. »Was ist denn mir dir los? Ich dachte, du hattest gestern Abend Besuch.«

»Hatte ich auch.«

»Na und? Hattet ihr keinen Spaß?«

»Nein«, antwortete ich tonlos, während ich in den Spiegel blickte und dann den Jaguar wieder in den Verkehr einfädelte. »Linda ist früher nach Hause gegangen.«

»Sie ist …?« Phil betrachtete mich von der Seite. »Warum kommt mir das bekannt vor?«

»Was weiß ich?« Ich schnaubte. »Ehrlich, Alter, ich weiß nicht, wieso dir das bekannt vorkommt.«

»Zuerst Phyllis, dann Alexa. Jetzt Linda«, resümierte mein Partner gnadenlos. »Ich würde sagen, du hast ein Problem, Jerry.«

»Ich habe kein Problem«, gab ich zurück, während ich den Jaguar mit leicht überhöhter Geschwindigkeit den Broadway entlang trieb. »Ich bin G-man. Ich beschränke mich eben auf das Wesentliche.«

»Falsch«, versetzte Phil grinsend. »Du hast keine Zeit fürs Wesentliche.«

Ich bedachte meinen Partner mit einem vernichtenden Blick. Obwohl mit klar war, dass er im Grunde recht hatte. In den letzten Wochen hatte uns die Arbeit für den FBI derart vereinnahmt, dass für ein Privatleben so gut wie keine Zeit geblieben war. Die Damenwelt – und die bestand zur Zeit für mich aus Linda McCain – hatte darauf bedauerlicherweise mit Unverständnis reagiert. Bis jetzt war meine Hoffnung gewesen, dass sich demnächst wieder alles bessern würde, doch nach dem Anruf von vergangener Nacht war ich mir da nicht mehr sicher.

»Will hat gestern angerufen«, wechselte ich abrupt das Thema.

»Sieh an, der kleine Cotton. Was wollte er?«

»Donna und er arbeiten gerade an einem Fall.«

»Die beiden sind G-men. Da kommst das schon mal vor.«

»Auf einem alten Rangierbahnhof drüben in L.A. wurde vorletzte Nacht ein Obdachloser ermordet. Ein Vietnamveteran namens Lewis Cronister.«

»Und was hat das mit uns zu tun?«

»Erinnerst du dich an die fünf Leichen, deren Identität wir nicht feststellen konnten?«

»Oh, allerdings!« Phil vergaß glatt, von seinem Donut abzubeißen. »Fünf namenlose Leichen mitten in der Upper Eastside hat man nicht alle Tage. Selbst wir nicht.«

»Dazu zwei Opfer in Seattle und eines in Los Angeles, alle nach dem gleichen Tatmuster ermordet«, fuhr ich fort. »Und der Täter soll ein heruntergekommener Junkie namens Bert Leary gewesen sein.«

»Das wollte mir nie in den Kopf«, gestand Phil. »Die Sache stank irgendwie.«

»Allerdings. Das war auch der Grund, warum ich nach Riker’s Island gefahren bin und mit Jon Bent gesprochen habe. Die Art und Weise, wie wir in diesem Fall manipuliert wurden, sah mehr nach ihm aus als nach einem drogensüchtigen Kleinganoven. Und Bent schien auch etwas zu wissen, er wollte mir nur nichts sagen. Alles, was ich zu hören bekam, waren dunkle Andeutungen – dass wir es mit einem neuen, gefährlichen Gegner zu tun hätten und dergleichen mehr.«

»Bent ist nicht zu trauen«, wandte Phil ein. »Das hat er wiederholte Male bewiesen. Er ist ein raffiniertes Verbrechergenie. Aber er ist auch eindeutig geisteskrank. Wir oft hat er uns schon in die Irre geführt, bis wir ihn endlich schnappen und einbuchten konnten.«

»Ich weiß, aber trotzdem lässt mir die Sache keine Ruhe. Und vergangene Nacht dann dieser Anruf von Will.«

»Was hat denn der Mord an dem Obdachlosen mit den Toten von der Eastside zu tun?«

»Will denkt, dass die Killer erneut zugeschlagen haben.«

»Im Fall dieses Vietnam-Veteranen?«

»Genau, Partner.«

»Und woher nimmt der Junge seine Weisheit? Ich meine, diesmal scheint man die Identität des Opfers ja zu kennen.«

»Allerdings. Die Täter haben sich diesmal nicht die Mühe gegeben, ihr Opfer unkenntlich zu machen.«

»Woher will unser junger Hotshot dann wissen, dass es sich um dieselben Täter handelt?«

»Er weiß es nicht.« Ich musste grinsen. »Er vermutet. Familieninstinkt sozusagen.«

»Oh, verdammt«, murmelte Phil halblaut. »Die Cotton-Connection ist wieder am Werk. Nein, im Ernst, Jerry – was bringt Will dazu anzunehmen, dass es ich um dieselben Täter handeln könnte wie in den Anonymus-Fällen?«

»Erstens die verwendeten Tatwaffen, die alle das Kaliber 9,2 haben«, gab ich zurück. »Zweitens fand der Mord auf einem Bahnhof statt – läuten da bei dir nicht die Glocken?«

»Bahnhof?« Phil schaute mich an. »Du meinst Learys Gefasel, dass er den Mord auf dem alten Rangierbahnhof drüben in Queens beobachtet hätte?«

»Genau, Alter.« Wir erreichten die Federal Plaza, nahmen die Zufahrt in die Tiefgarage des FBI-Gebäudes. »Leary faselte etwas von einem Geisterzug, den er gesehen hatte. Wir haben ihm damals nicht glauben wollen. Aber was, wenn er doch die Wahrheit sagte? Was, wenn der alte Cronister in L.A. den Zug ebenfalls gesehen hat und dabei erwischt wurde?«

»Ich weiß nicht.« Phil schnitt eine Grimasse. »Das sind doch nur Spekulationen, Jerry.«

»Ich weiß. Aber denk daran, was Bent gesagt hat. Und denk an Learys Aussage.«

»Ein geisteskranker Terrorist und ein Junkie«, schnaubte Phil.

»Die Beweise, die wir in Learys Wohnung gefunden haben, sind anfechtbar«, meinte ich, während ich den XKR durch die Tiefgarage steuerte. »Möglich, dass uns jemand diese angeblichen Beweise untergejubelt hat. Der Fall wurde nicht deshalb für abgeschlossen erklärt, weil die Beweislast so erdrückend war, sondern weil Washington auf ein möglichst rasches Ergebnis drängte.«

»Und weil sich auf unseren Schreibtischen Dutzende anderer Fälle türmten«, fügte Phil hinzu. »Fälle, die alle sehr dringend sind.«

»Ich weiß.« Ich lenkte den Jaguar in die Parklücke und stellte den Motor ab. Mit einem letzten, markigen Knurren erstarb die mächtige Maschine.

»Phil?«, fragte ich in die entstandene Stille. »Mal angenommen, es wäre etwas dran an dieser Sache …«

»Jerry!«

»Nur mal angenommen«, beharrte ich. »Wir haben einen Diensteid geleistet, das Recht in diesem Land zu schützen. Das Recht, Phil. Es ist nicht richtig, wenn jemand für ein Verbrechen beschuldigt wird, das er nicht begangen hat. Bert Leary war kein Mörder. Du weißt das, und ich weiß das. Und mit den neuen Hinweisen von Will könnten wir der Sache weiter nachgehen. Ich fühle, dass da noch etwas ist.«

»Deine Gefühle in allen Ehren, Jerry – aber das können wir nicht. Der Fall wurde offiziell zu den Akten gelegt. Selbst Mr. High hat die Ermittlungen für beendet erklärt. Ohne stichhaltige Beweise kann er sie nicht ohne weiteres wieder aufnehmen.«

»Ich weiß«, entgegnete ich. »Solange sich die Fälle auf unseren Tischen stapeln, ist es so gut wie unmöglich, die Neuaufnahme von Ermittlungen zu rechtfertigen, die bereits für abgeschlossen erklärt wurden.«

»Mal ganz abgesehen davon, dass man in Washington solche Kapriolen ganz und gar nicht gerne sieht«, sagte Phil. »Abgeschlossene Ermittlungen wieder aufzunehmen, bedeutet indirekt, einen Fehler einzugestehen. Das steht einer Bundesbehörde schlecht zu Gesicht.«

»Alles richtig«, stimmte ich zu, »und doch habe ich das Gefühl, dass wir an der Sache dran bleiben sollten. Da steckt noch mehr dahinter, Phil, glaub mir.«

Mein Partner schüttelte den Kopf. »Wie willst du das anstellen, Jerry? Mr. High hat schon so oft für uns den Kopf hingehalten. Er trägt eine Menge Verantwortung und hat im Augenblick verdammt viel um die Ohren. Wenn wir ihm jetzt mit dieser Geschichte kommen …«

»Das habe ich nicht vor«, sagte ich.

»Nicht? Was …?« Phil unterbrach sich, als er meinen Blick bemerkte. »Du willst es ihm nicht sagen?«

»Ich habe nicht vor, Mr. High in diese Sache reinzuziehen«, gab ich zurück. »Einen offiziell abgeschlossenen Fall wieder aufzunehmen, ist eine heikle Sache, die einen Kopf und Kragen kosten kann. Wenn John High nichts von der Sache weiß, kann man ihn auch nicht dafür belangen. Es ist nur zu seinem Schutz.«

»Verstehe«, meinte Phil.

»Ich werde keine Dienstzeit dafür einsetzen, sondern in meiner Freizeit ermitteln.«

»Was denn für ’ne Freizeit?«, feixte Phil.

Ich ging nicht darauf ein. »Ich werde so lange in der Sache herumstochern, bis ich weiß, was dahinter steckt.« Ich unterbrach mich, sah Phil fragend an. »Was ist, Partner? Bist du dabei?«

Phil dachte einen Augenblick lang nach, ließ sich alles durch den Kopf gehen.

Auch er war alles andere als erfreut gewesen, als der Fall zu den Akten gewandert und Leary posthum zum Serienkiller gestempelt worden war. Aber natürlich bedeutete das nicht, dass er auch bereit war, seine Karriere aufs Spiel zu setzen, um etwas Licht in das Dunkel dieses rätselhaften Falles zu bringen. Wenn Phil ablehnte, hatte er mein vollstes Verständnis.

»Weißt du, Jerry«, sagte mein Partner nach einer Weile, »wenn ich in unserer gemeinsamen Dienstzeit eins gelernt habe, dann dass wir nur zu zweit unschlagbar sind. Ich bin dabei.«

Ein Lächeln glitt über seine Züge, und ich atmete auf.

»Was soll’s auch?«, meinte Phil grinsend. »Ich bin G-man. In meiner Freizeit ist mir ohnehin immer langweilig …«

***

An einem fremden, unbekannten Ort saßen fünf Männer in einem fensterlosen Raum.

Sie saßen an einem langen, blankpoliertem Tisch aus rötlichem Holz, das im Licht der grellen Scheinwerferbeleuchtung schimmerte. Für denjenigen, der durch die Tür des Raumes eintrat, waren gegen das blendende Licht nur die Silhouetten der fünf Männer zu sehen.

Eine Vorsichtsmaßnahme …

»Epsilon 4«, drang es schnarrend aus einem Lautsprecher, der irgendwo an der nackten, gekalkten Decke des Raumes hing, und eine der fünf Gestalten betätigte den Öffner der Tür.

Summend glitt das schwere stählerne Schott beiseite, und ein hochgewachsener, schlanker Mann erschien, der schwarze Kampfhosen und -Stiefel trug, dazu einen ebenso schwarzen Militärpullover mit Schultereinsätzen. Das Gesicht des Besuchers war nicht zu erkennen, denn er hatte eine eng anliegende Haube über den Kopf gestülpt, die nur schmale Schlitze für Augen und Mund frei ließ.

Der Mann nahm Haltung an, aber er salutierte nicht, blieb statt dessen reglos stehen.

»Berichten Sie, Epsilon 4«, forderte ihn einer der fünf Männer auf.

»Wir sind startbereit, Sir«, sagte der schwarz Vermummte. Sein Stimme hatte etwas Kaltes, Automatenhaftes. »Wir warten auf neue Instruktionen.«

»Werden erteilt, Epsilon 4«, sagte ein anderer Angehöriger des Gremiums, dessen Gesicht ebenso unsichtbar bleib wie das seiner Kollegen. Er nahm den Umschlag zur Hand, der vor ihm auf dem Tisch lag, warf ihn dem Besucher zu. »In diesem Umschlag finden Sie alles, was Sie über die bevorstehende Mission wissen müssen. Die Übernahme der Ladung ist bereits erfolgt.«

»Verstanden, Sir«, gab der Vermummte tonlos zurück und nahm den Umschlag auf. »Wurden die Probleme mit dem FBI inzwischen geklärt?«

»Probleme mit dem FBI? Es gab nie irgendwelche Probleme mit dem FBI, Epsilon 4.«

»Aber ich …«

»Sollten Sie je etwas anderes gehört haben, so handelte es sich um Fehlinformationen. Melden Sie uns die betreffende Person, die diese Behauptung aufstellte, und wir werden dafür sorgen, dass Sie umgehend aus Ihrem Kader entfernt werden.«

»Jawohl, Sir. Ich will nur sagen … bei allem Respekt, Sir … die Leichen sollten verbrannt werden. So wie früher. Das Risiko ist zu groß.«

»Alpha hatte Gründe dafür, so zu handeln, Epsilon 4. Es steht Ihnen nicht zu, Entscheidungen in Frage zu stellen.«

»Nein, Sir. Natürlich nicht.« Unter der dünnen schwarzen Maske zuckte es.

»Den FBI einzuschalten, gehörte zum Plan, Epsilon 4. Wir hatten die Situation zu jedem Zeitpunkt unter Kontrolle – dafür sorgt der Verbindungsmann, den wir beim FBI haben. Er ist uns gegenüber absolut loyal und überaus zuverlässig.«

»Ja, Sir.«

»Gehen Sie jetzt, Epsilon 4. Machen Sie sich keine Sorgen. Konzentrieren Sie sich ganz auf Ihre bevorstehende Mission. Sie wissen, dass jeder von uns seinen Teil zum Gelingen des Großen Plans beitragen muss.«

»Natürlich, Sir.«

»Sieg der Domäne!«

»Sieg der Domäne!«, echote der Vermummte.

Dann machte er kehrt und verließ den Raum.

***

Den ganzen Tag über hatten wir Papierkrieg geführt. Auch das gehört zum Alltag eines G-man. Ich gebe zu, ich schlage mich lieber mit schwer bewaffneten Gangstern herum als mit diesen endlosen Formularen. Aber bei unseren letzten drei, vier Fällen war eine Menge zu Bruch gegangen, und wir hatten ziemlich viel Munition verbraucht. Als Polizist müssen Sie für jede Kugel angeben können, wann und warum Sie sie abgefeuert haben. Wenn Sie in eine längere Schießerei geraten wie Phil und ich bei unserem letzten Fall, dann haben Sie anschließend viel Denksport zu bewältigen.

Als es endlich sechs Uhr war, atmeten wir auf – doch anders als die meisten unserer Kollegen, die sich in ihren verdienten Feierabend verabschiedeten, blieben Phil und ich im FBI-Quartier.

Für uns gab es noch mehr zu tun …

»Okay«, meinte ich, nachdem wir es uns in unserem Büro ein wenig bequemer gemacht hatten. Wir waren die Krawatten los geworden und hatten die Ärmel unserer Hemden aufgerollt. Dann hatten wir uns bei einem Fastfood-Service was bestellt, um unsere Mägen, die den ganzen Tag über keine Arbeit bekommen hatten, ein wenig zu besänftigen.

»Also?«, meinte Phil, während er gierig seine Pizza verschlang. »Was wollen wir jetzt tun?«

»Wir rollen den Fall wieder auf«, antwortete ich entschlossen. »Angenommen, Will hat Recht und es handelt sich bei dem Mord an Lewis Cronister tatsächlich um dieselben Täter wie in den Anonymus-Fällen. Das würde bedeuten, dass diese Kerle noch immer dort draußen sind. Und dass sie weitermorden werden. Wir müssen ihnen das Handwerk legen.«

»Schön und gut«, meinte Phil kauend. »Und weiter?«

»Will hat uns alle Informationen überspielt, die Donna und er in den letzten 36 Stunden gesammelt haben. Wenn wir sie mit unseren eigenen Ermittlungsergebnissen vergleichen, stoßen wir vielleicht auf den einen oder anderen Hinweis. Es wird eine ziemliche Geduldsarbeit werden, aber …«

»Schlimmer als dieser Papierkram, den wir hinter uns haben, kann’s auch nicht werden.«

»Stimmt auch wieder. Wir haben also fünf unidentifizierbare Leichen in Manhattan …«

»… und zwei Leichen in der Kanalisation von Seattle und eine in den Teergruben von La Brea.«

»Dazu ein ermordeter Obdachloser in Pasadena …«

»… der aber zweifelsfrei identifiziert werden konnte«, resümierte Phil. »Tut mir leid – das passt einfach nicht zusammen. Ich kann keine Gemeinsamkeit sehen.«

»Langsam, Alter. Immerhin haben wir eine Verbindung zwischen den länger zurückliegenden Morden. In allen acht Fällen waren die Opfer zur Unkenntlichkeit verstümmelt und konnten nicht identifiziert werden.«

»Das ist auch so etwas, was ich mich oft gefragt habe«, wandte Phil ein. »Wenn es den Killern wirklich darum ging, ihre Opfer auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen – wieso haben sie sie dann nicht einfach verbrannt? Es gäbe allein in dieser Stadt ein halbes Dutzend Möglichkeiten, eine Leiche so verschwinden zu lassen, dass so gut wie nichts davon übrig bleibt.«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, gestand ich ein. »Die Wahrheit ist, dass ich die Antwort auf diese Frage nicht kenne. Ich nehme an, die Killer hatten ihre Gründe dafür. Denn so, wie die Sache steht, können wir davon ausgehen, dass es sich nicht nur um ein paar einzelne Täter handelt, sondern um eine ganze Organisation. Ein neues Syndikat, das offensichtlich nicht nur in dieser Stadt arbeitet, sondern landesweit agiert. Die Kerle wissen genau, was sie tun.«

»Autsch«, sagte Phil, dem meine Spekulationen allmählich ein wenig abenteuerlich wurden.

»Okay«, schränkte ich ein, »halten wir uns an die Fakten. Tatsache ist, dass es auch zwischen den Anonymus-Morden und Lewis Cronister eine Verbindung gibt: Immer wieder finden sich Hinweis auf Bahnhöfe oder Rangierstationen. Da ist zum einen Burton Learys Aussage, der angab, den Mord an den fünf Männern auf dem alten Rangierbahnhof in Queens beobachtet zu haben.«

»Das war eine Falle, Jerry. Der Kerl wollte uns reinlegen.«

»Trotzdem könnte ein Körnchen Wahrheit hinter dem stecken, was er gesagt hat.« Ich ließ mich nicht beirren. »Zweitens die Kohlestaubpartikel in der Lunge des La-Brea-Opfers. Drittens der Tatort des Mordes an Lewis Cronister. Immer wieder taucht die Eisenbahn auf, Phil – das kann kein Zufall sein.«

»O doch, es kann!«, widersprach mein Partner. »Deine Anhaltspunkte sind ziemlich dürftig, Jerry. Auf der Akademie würde man dir so etwas um die Ohren hauen.«

»Wir sind hier aber nicht auf der Akademie«, erinnerte ich, »und wir haben Fälle schon anhand weit geringerer Anhaltspunkte gelöst.«

Phil nickte, hob abwehrend die Hände – was ich zuletzt gesagt hatte, ließ sich nun wirklich nicht bestreiten.

»Die Frage, die sich uns stellt«, fuhr ich fort, »ist nicht die nach den Gemeinsamkeiten, sondern die nach dem Tatmotiv.«

»Naja …« Phil zuckte mit den Schultern. »In Cronisters Fall würde ich sagen, er hat einfach nur Pech gehabt, war zur falschen Zeit am falschen Ort.«

»Genau, Alter«, stimmte ich zu. »Es wäre leicht vorstellbar, dass Cronister etwas beobachtet hat, was er nicht beobachten sollte.«

»Zum Beispiel einen weiteren Mord«, mutmaßte Phil.

»Exakt, Partner. Oder diesen Geisterzug, von dem uns Leary erzählt hat.«

»O komm schon, Jerry.« Phil verzog das Gesicht. »Leary war ein Junkie. Er hat alles mögliche gesehen, wahrscheinlich sogar rosa Elefanten. Willst du nach denen etwa auch noch fahnden?«

»Wenn sie unter Mordverdacht stehen, ja«, gab ich trocken zurück. Ich trat an das kleine Fernsehgerät mit integriertem Videorekorder, das wir uns aus dem Archivraum geholt hatten, und schob eine Kassette ein.

Es war die Aufzeichnung des Verhörs, das wir mit Burton Leary geführt hatten, kurz bevor der kleine Ganove so überraschend von uns gegangen war.

Der Bildschirm flammte auf, und man sah Leary auf seinem Stuhl in Vernehmungsraum 4 sitzen. Phil, ich und Sid Lomax von der Fahndungsabteilung umkreisten ihn wie Raubvögel.

Ich hatte bereits zur betreffenden Stelle vorgespult. Nachdem wir ihn nicht gerade sanft angepackt hatten, hatte Leary zu plaudern begonnen – zögernd, aber immerhin …

»… hört euch an, was weiter geschah«, tönte seine Stimme aus dem Lautsprecher des kleinen Fernsehers. »Als ich niemanden fand, dem ich meinen Stoff verkaufen konnte, hab’ ich mir ein stilles Plätzchen unter einem der alten Waggons gesucht und mir selbst eine bisschen Crack gegönnt.«

»Na wunderbar«, hörte man Phil knurren.

»Was geschah dann?«, erkundigte ich mich auf dem Video.

»Naja, ich sitze also da und lasse mir’s gut gehen, als die Gleise plötzlich anfangen zu beben.«

»Zu beben?«

»Ja, ich denke, ein verdammtes Erdbeben kommt, so wie drüben in L.A ….«

Rasch griff ich zur Fernbedienung und drückte die Pausetaste. Das Bild fror ein.

»Da!«, sagte ich. »Hast du das gehört? Warum hat Leary L.A. erwähnt?«

»Was weiß ich?« Phil hob die Schultern. »Vielleicht fand er es besonders witzig.«

»Die nächste Leiche wurde in Los Angeles gefunden. Komischer Zufall, oder nicht?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Ich denke, Leary wollte es uns sagen. Indirekt, meine ich. Vielleicht wollte er uns damit zu verstehen geben, dass es noch mehr Morde geben würde.«

»Oje.« Phil rieb sich die Schläfen. »Noch mehr Spekulationen. Allmählich wird mir davon schwindlig.«

»Schon gut.« Ich drückte erneut die Pausetaste, und die Aufzeichnung lief weiter.

»… aber es war kein Erdbeben«, erzählte Leary aufgeregt weiter. »Es war ein Zug!«

»Ein Zug? Nachts? Auf dem alten Rangierbahnhof?«

»Ja«, bestätigte der Junkie, »aber es war kein gewöhnlicher Zug. Von dem Platz aus, an dem ich mich versteckt hatte, konnte ich alles genau beobachten.«

»Und was sahen Sie?«

»Das Ding war schwarz. Schwarz wie die Nacht. Wie ein Dämon kam es aus der Dunkelheit. Ich höre noch seinen zischenden Atem …«

Der Phil Decker in der Videoaufzeichnung seufzte hörbar – und gab damit zu verstehen, dass er damals nicht mehr von der Sache gehalten hatte als heute. Ich hatte mich dennoch nicht davon abbringen lassen, mich näher nach diesem Zug zu erkundigen.

»Es war dunkel, und ich konnte nicht viel sehen«, fuhr Leary fort. »Alles, was ich weiß, ist, dass er keine Fenster hatte. Ich sage euch, dieser Zug stammt nicht von dieser Welt! Es ist ein Phantom, ein verdammter Geisterzug!«

Mit einem erneuten Druck auf die Fernbedienung stellte ich den Rekorder ab.

»Das war’s«, meinte ich. »Kurze Zeit später war Leary tot. Herzversagen.«

»Ich weiß nicht, Jerry.« Phil schüttelte den Kopf. »Klingt für mich nicht überzeugender, wenn man es das zweite Mal hört. Ich meine, ich habe ja auch meine Zweifel, dass Leary der Mörder all dieser Menschen gewesen sein soll. Aber diese Geschichte vom Geisterzug – ganz ehrlich …«

»Ich weiß, dass es unglaubwürdig klingt«, gab ich zu. »Aber wie oft hat sich schon das Unglaubwürdige als zutreffend erwiesen? Der Zug könnte der Schlüssel sein, Phil. Der Schlüssel zur Lösung dieses Falles. Die anonymen Opfer, die Bahnhöfe, der Mord an Lewis Cronister – dieser Phantomzug wäre die Verbindung, nach der wir suchen. Versuch nur mal, dir für einen kurzen Moment vorzustellen, dass es ihn gibt, Phil. Nur für einen kurzen Moment …«

***

Leise, fast lautlos glitt er über die Schienen – ein stromlinienförmiger, aerodynamischer Koloss, der wie ein Phantom durch die Nacht schnitt.

Er war so schwarz, dass er das fahle Licht des Mondes zu schlucken schien. Seine glatte, fensterlose Außenhaut war gepanzert und von Kugeln nicht zu durchdringen. Die Beschichtung des Stahls stammte aus geheimen militärischen Forschungslabors und war der des Tarnkappenbombers nicht unähnlich. Für Radaranlagen war der pechschwarze Zug daher unsichtbar.

Epsilon 4 war zufrieden.

Der schlanke, fast hagere Mann stand mit verschränkten Armen im Führerstand des Zuges, sah dem ›Piloten‹ dabei zu, wie er die Steueranlage bediente. Der ›Panzerzug‹, wie Epsilon 4 ihn aufgrund seines Aussehens nannten, brachte es bis zu einer Geschwindigkeit von 250 Meilen.

Der Zug war eine rollende Festung, die ihrer Besatzung Schutz und Sicherheit bot und die besser als jedes Schiff oder irgendein Flugzeug dafür geeignet war, die Mission zu erfüllen.

Aufmerksam beobachtete Epsilon 4 den Piloten, der wie er selbst schwarze Kleidung und einen Helm trug, der seine Züge vollständig verhüllte.

Keine Gesichter, keine Identitäten.

Nur Funktionen.

Die oberste Regel der Domäne.

Im Unterschied zu seinem eigenen Helm war der des Piloten mit einem virtuellen Display ausgestattet, das auf die Innenseite des Visiers projiziert wurde und ihn über sämtliche Funktionen des Zuges auf dem Laufenden hielt. Der Pilot saß in einem anatomisch geformten Schalensitz in der spitz zulaufenden Nase des Triebwagens, unmittelbar vor den mächtig wummernden Elektromotoren, die in einer Nacht mehr Strom verbrauchten als Kansas City. Seine Hände lagen auf den Steuerelementen, regulierten die Geschwindigkeit des Zuges, die jetzt merkbar zunahm.

Epsilon 4 fühlte, wie der Zug beschleunigte, musste einen festeren Stand einnehmen, um nicht zu stürzen.

»Geschätzte Ankunftszeit?«, erkundigte er sich schnarrend.

»Minus acht Stunden, Sir«, kam die Antwort ebenso kalt und automatenhaft zurück.

»Danke, Sigma 82«, gab Epsilon 4 zurück und nickte zufrieden.

Das bedeutete, dass sie noch vor Morgengrauen ihren Bestimmungsort erreichen würden.

Bis dahin würde die ›Ladung‹ vorbereitet sein …

***

Nach unserer Besprechung im Büro hatten Phil und dich unseren Arbeitsplatz in den Archivraum des FBI-Gebäudes verlegt. Die Computerterminals dort haben den Vorteil, dass der Datenzugriff nicht namentlich autorisiert zu werden braucht, was in unserem Fall von großem Vorteil war. Wenn man vorhatt, eine bereits geschlossene Akte unautorisiert zu öffnen, hinterläßt man besser nicht allzu viele Spuren.

Phil und ich setzten uns an zwei verschiedene Terminals und loggten uns ins OCIS-System ein. Unser Ziel war es, die Verdachtsmomente zu erhärten, die wir hatten, und nach weiteren Hinweisen zu suchen, die die Anonymus-Morde und den geheimnisvollen Geisterzug betrafen, den Phil lapidar ›Phantom-Express‹ getauft hatte.

Ich merkte meinem Partner an, dass er noch immer nicht recht an die Existenz dieses ominösen Zuges glaubte. Aber er versuchte auch nicht, mir die Sache auszureden, schlug sich im Gegenteil selbst die Nacht um die Ohren, um nach Hinweisen zu suchen, was ich ihm hoch anrechnete. Im Laufe unserer langen gemeinsamen Dienstzeit hatten Phil und ich gelernt, einander bedingungslos zu vertrauen, und dieser Fall bildete da keine Ausnahme.

Stunden verstrichen, während wir das unüberschaubare Datenlabyrinth des OCIS nach Hinweisen durchforsteten. Gegen drei Uhr morgens hatte ich das Gefühl, auf etwas gestoßen zu sein, das uns weiterhelfen könnte.

In Pittsburgh, Pennsylvania hatte es vor zwei Monaten einen Doppelmord an einem Güterbahnhof gegeben.

»Mal sehen«, murmelte ich zwischen zwei Schlucken Kaffee, mit denen ich mich mühsam wach hielt, »das hier könnte etwas sein. Die Opfer waren zwei Junkies aus Pittsburghs übelster Ecke. Vielleicht waren sie ebenso zur falschen Zeit am falschen Ort wie Cronister. Mal sehen, was die Kollegen aus Philadelphia über die Tatwaffe schreiben.«

Ich ließ die Schriftsätze des Berichts am Bildschirm vorüberscrollen, suchte nach entsprechenden Vermerken.

Fehlanzeige.

Die Tatwaffe war keine Makarow gewesen, sondern eine 44er Magnum. Der gesamte Tathergang, soweit er rekonstruiert werden konnte, deutete mehr auf eine plumpe Schießerei hin, wie sie in den Slums vieler Großstädte traurige Regel sind. Hier konnte nicht einmal ich Parallelen zu unseren fünf unbekannten Toten entdecken.

»Sorry, Partner«, meinte ich, »falscher Alarm. Hast du inzwischen was gefunden?«

Ich wartete, bekam aber keine Antwort.

»Phil?«

Keine Antwort.

Ich erhob mich von meinem Stuhl, lugte über den Rand des klobigen Bildschirms hinüber zu dem Tisch, an dem Phil saß – und musste trotz meiner Müdigkeit lächeln.

Mein Partner war eingeschlafen, mitten in der Arbeit.

Der Becher mit Kaffee, den er sich vorhin noch aus dem Automaten geholt hatte, stand unberührt vor ihm auf dem Tisch. Sein Oberkörper war nach vorn gesunken, mit der Stirn lehnte er am flimmernden Bildschirm.

»Klarer Fall von Überarbeitung«, murmelte ich grinsend. Dann stand ich auf und ging zu meinem Partner, packte ihn und zog ihn auf die Beine.

Der Gute war völlig fertig. Die zahllosen Überstunden der letzten Wochen waren auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen. Nur für einen kurzen Moment schlug er die Augen auf.

»Was’n los?«, fragte er schlaftrunken.

»Gar nichts, Alter«, sagte ich, während ich seinen rechten Arm um meine Schulter legte und ihn ins Bereitschaftszimmer bugsierte, wo ein Sofa für übermüdete Beamte steht. Dort lud ich Phil ab, der sich schmatzend wie ein Säugling zusammenrollte und weiterschlief.

»Keine Ursache, G-man«, meinte ich. »Schlaf gut.«

Auf leisen Sohlen kehrte ich in den Archivraum zurück, bemühte erneut meine grauen Zellen. Die Spur in Pittsburgh hatte sich als Fehlschlag erwiesen, aber ich spürte deutlich, dass der Hinweis, nach dem ich suchte, irgendwo dort in der Datenbank war, in den verschlungenen Gedärmen dieses unüberschaubaren Chaos an Informationen.

Der Gedanke, einen wichtigen Hinweis zu übersehen, obwohl er vielleicht direkt vor mir lag, machte mich halb wahnsinnig. Ich beschloss, meine Strategie zu ändern.

Bislang hatte ich stets nach Mordfällen mit Opfern gesucht, deren Identität nicht hatte festgestellt werden können. Aber vielleicht – und davon war auszugehen – waren ja noch längst nicht alle Opfer der Anonymus-Killer gefunden worden. Es nützte also nichts, wenn ich das OCIS nach anonymen Mordopfern fahnden ließ. Ich musste zunächst nach Vermissten suchen und diese dann in Relation zur Zahl der Mordopfer setzen.

Die Grundbegriffe von Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung geisterten mir durch den Kopf, die mir irgendwann auf einem Fortbildungskurs in Quantico eingetrichtert worden waren. Obwohl sich die Kriminalistik stets mit Einzelfällen befasst, kann auch hier ein wenig Stochastik manchmal ganz nützlich sein.

Ich gab eine entsprechende Suchanfrage aus – und der Arbeitsspeicher des Computers stieß von einem Augenblick zum anderen an seine Grenzen. Wie ich erwartet hatte, erweiterte sich der Kreis der Fälle, die in Frage kamen, gleich um mehrere Tausend Einträge.

In amerikanischen Großstädten vergeht kein Tag, an dem nicht mehr als ein Dutzend Menschen als vermisst gemeldet werden. Manche von ihnen kehren nach ein paar Tagen wieder nach Hause zurück, und alles stellt sich als Missverständnis heraus. In anderen Fällen jedoch muss die Polizei aktiv werden  – nach den in diesen Fällen vorgeschriebenen 48 Stunden –, und in einigen davon tauchen die Verschwundenen nie wieder auf.

Ich schauderte bei dem Gedanken, dass einige dieser Menschen vielleicht Opfer des neuen, unbekannten Feindes geworden waren, mit dem wir es offenbar zu tun hatten. Dieser neuen, mächtigen Organisation, vor der selbst der ruchlose Jon Bent Respekt zu haben schien.

Was, wenn diese Organisation schon seit Jahren in unserem Land aktiv war, ohne dass wir bisher davon gewusst hatten?

Betroffen stellte ich fest, dass die Anzahl der in den letzten Jahren als vermisst gemeldeten Personen sprunghaft in die Höhe geschossen war. Dem gegenüber stand jedoch eine gleichbleibende Anzahl von ungelösten Fällen spurlosen Verschwindens.

Das bedeutete, dass in immer mehr Fällen, in denen Menschen als vermisst gemeldet wurden, diese schon wenige Tage später wieder auftauchten, oft unter den fadenscheinigsten Erklärungen.

Aber hatte das überhaupt etwas mit unserem Fall zu tun?