Joe Biden - Evan Osnos - E-Book

Joe Biden E-Book

Evan Osnos

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Beschreibung

Das erste deutschsprachige Buch über Joe Biden

»Joe Biden ist zugleich der unglücklichste und der glücklichste Mensch, den ich kenne.« Das sagt ein Weggefährte über den 46. Präsidenten der Vereinigen Staaten. Der vielfach ausgezeichnete Journalist Evan Osnos begleitet den Politiker aus Delaware seit Jahren und hat ihn immer wieder interviewt, zuletzt im Sommer 2020. Diese und weitere Gespräche mit Angehörigen und Weggefährten wie Barack Obama bilden die Grundlage dieser brillanten Nahaufnahme des 1942 geborenen Biden, in dessen Werdegang sich die Veränderungen der politischen Kultur der USA spiegeln.
Mit gerade einmal 29 Jahren wurde der Sohn eines Autohändlers in den US-Senat gewählt. Seinen Amtseid legte er ab, nachdem er nur wenige Wochen zuvor seine erste Frau und seine Tochter bei einem Autounfall verloren hatte. Nach Höhen und Tiefen führte ihn seine Karriere schließlich als Vizepräsident ins Weiße Haus. Joe Biden hat dramatische Schicksalsschläge und überraschende Wendungen erlebt. Vielleicht versetzt ihn gerade das in die Lage, eine zerrissene Nation zu einen, die Wunden der Trump-Ära zu heilen und einen neuen politischen Aufbruch zu ermöglichen.

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Evan Osnos

Joe Biden

Ein Porträt

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff und Stephan Gebauer

Suhrkamp

Für meine Mutter Susan, die mich lesen lehrte; und für meinen Vater Peter, der mich schreiben lehrte.

People pay for what they do, and, still more,

for what they have allowed themselves to become.

And they pay for it very simply: by the lives they lead.

James Baldwin, No Name in the Street

Du bist ein sel'ger Geist, ich bin gebunden Auf einem Feuerrad, das meine Tränen Durchglühn wie flüssig Blei.

Shakespeare, König Lear

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Prolog

12. Februar 1988

1. Annus horribilis

2. Was nötig war

3. »Werde erwachsen«

4. Der Vize

5. Gesandter

6. Der Glückliche und der Unglückliche

7. Kampf um die Seele

8. Eine Präsidentschaft planen

Dank

Zu den Quellen

Prolog

1. Annus horribilis

2. Was nötig war

3. »Werde erwachsen«

4. Der Vize

5. Gesandter

6. Der Glückliche und der Unglückliche

7. Kampf um die Seele

8. Eine Präsidentschaft planen

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Prolog

12. Februar 1988

Ein fünfundvierzigjähriger Mann – ein Weißer und Vater von drei Kindern – wacht auf dem Boden seines Hotelzimmers auf. Er schaut auf die Uhr und stellt fest, dass er offenbar fünf Stunden lang bewusstlos war. Er kann seine Beine kaum bewegen und weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Er erinnert sich nur an einen heftigen Schmerz, der ihn getroffen hat wie ein Blitz: Er hatte in Rochester im Bundesstaat New York eine Rede gehalten und wurde bei der Rückkehr in sein Hotelzimmer von einem Gefühl überwältigt, als würde sein Schädel mit einem Beil gespalten. Monatelang hat er sonderbare stechende Kopf- und Nackenschmerzen ignoriert und mit Paracetamol unterdrückt. Er hat diese Beschwerden auf die groteske Überanstrengung im Rennen um eine Präsidentschaftskandidatur zurückgeführt, und obendrein ist er auch noch Vorsitzender des Rechtsausschusses des Senats. Seine Kandidatur hat mit einer peinlichen Niederlage geendet, die, wie er sich eingestehen musste, auf seine Arroganz zurückzuführen war. Aber die Kopfschmerzen sind geblieben.

Der Mann schleppt sich zum Bett. Es gelingt ihm, seinen Assistenten zu verständigen, und er wird in seinen Heimatstaat Delaware geflogen, wo die Ärzte ein Aneurysma im Gehirn feststellen, eine Erweiterung einer Arterie. Seine Überlebenschance ist so gering, dass ein Priester herbeigerufen wird, der ihm die letzte Ölung gibt, noch bevor seine Frau an seine Seite eilen kann. In den folgenden Stunden wird er in aller Eile durch einen dichten Schneesturm zu einer Notoperation nach Washington gebracht. Der Chirurg warnt, dass ihn der Eingriff sein Sprachvermögen kosten kann. »Ich wünschte, das wäre mir letzten Sommer passiert«, antwortet der Mann, der seinen Humor offenbar nicht verloren hat.

Es folgen ein zweites Aneurysma, weitere Operationen und weitere Komplikationen. Für drei Monate ist er an ein Krankenhausbett gefesselt. Das Scheitern seiner Präsidentschaftskandidatur hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet: Wäre er weiter unterwegs gewesen, wäre er kreuz und quer durch New Hampshire gereist und hätte die Symptome ignoriert, wäre er jetzt möglicherweise nicht mehr in dieser Welt. Am Tiefpunkt seines Leidenswegs sagt ein Arzt zu ihm, er sei ein »Mann mit Glück«. Es vergehen sieben Monate, bevor er wieder aufstehen und an die Arbeit gehen kann. Dem ersten Publikum, vor das er tritt, sagt er, das Leben habe ihm »eine zweite Chance« gegeben.

Mehr als dreißig Jahre, nachdem Joe Biden um ein Haar in jenem Hotelzimmer gestorben wäre, bleibt dieser Augenblick in der Liste der offiziellen Meilensteine seiner politischen Biografie oft unerwähnt. Aber dieser Augenblick enthält das definierende Muster seines Lebens: Es ist eine Reise voller unerwarteter Wendungen des Schicksals, einige davon unglaublich glücklich, andere fast unvorstellbar grausam. Bidens Ehrgeiz, die höchsten Stufen der Macht zu erklimmen, treibt seinen Aufstieg seit mehr als fünf Jahrzehnten an. Er war kaum zwanzig Jahre alt, als ihn die Mutter seiner damaligen Freundin Neilia Hunter (die später seine erste Frau wurde) nach seinen beruflichen Zielen fragte. »Präsident«, sagte Biden. »Präsident der Vereinigten Staaten.«

Seine politische Laufbahn machte ihn zum Zeugen und Protagonisten bedeutender Wendepunkte der modernen amerikanischen Geschichte, darunter einige prägende Konflikte über Race, Geschlecht, Verbrechen, Gesundheit, Kapitalismus und Sozialstaat. Er beging Fehler, erklärte seine Beweggründe und bezahlte den Preis. Ein ums andere Mal strafte er jene Lügen, die seine Karriere für beendet erklärten – und fand sich zu seinem eigenen Erstaunen in einer historischen Präsidentschaftskandidatur an der Seite Barack Obamas wieder. In seiner Rede auf dem Parteitag der Demokraten im Jahr 2008 erklärte er: »Fehlschläge im Lauf des Lebens sind unvermeidlich, aber aufzugeben ist unverzeihlich.«

Als Vizepräsident – in der Funktion, über die in Washington mehr gespottet wird als über jede andere – wirkte Biden oft wie ein Mann, der sein Glück kaum fassen kann. Nach den schweren Prüfungen, die er in seinem Leben hatte bestehen müssen, hatte er kaum noch das Bedürfnis nach selbstgefälliger Würde. In einem privaten Gespräch fragte ihn ein britischer Minister, wie er ihn anreden solle. Biden sah sich theatralisch in beide Richtungen um und sagte: »Sieht so aus, als wären wir allein. Warum nennen Sie mich also nicht Herr Präsident, und ich spreche sie als Herr Premierminister an?«

Nach all den Jahren trägt dieser politische Veteran Narben aus so vielen Kämpfen, dass seine Gegner und sogar einige seiner Anhänger im Jahr 2019 kaum nachvollziehen konnten, dass er sich auf eine weitere Kandidatur einließ. Und dann strafte er einmal mehr alle Prognosen Lügen und sicherte sich die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei. In einer Auseinandersetzung, die von so großer Bedeutung für die Zukunft der Vereinigten Staaten war, dass die gewohnten Klischees von der wichtigsten Wahl unseres Lebens wie eine Untertreibung wirkten, stand er nun Donald Trump gegenüber. Sie kämpften um ein Amt, dessen Status als wichtigste politische Funktion in der freien Welt nicht mehr unangefochten war.

Die Umstände eines erfüllten Lebens und eines bedrohten Landes rückten ihn in den Mittelpunkt einer amerikanischen Abrechnung und weckten daheim und im Ausland das Bedürfnis, rasch herauszufinden, was diesen Mann geprägt hatte, was er dachte, was er vorzuweisen hatte und woran es ihm mangelte. In dem Augenblick, als seine Nation vor den Augen der Welt am Boden lag, kam Joe Bidens historischer Moment.

1. Annus horribilis

Besonders beliebt sind die in den hügeligen Wäldern des Brandywine Valley gelegenen Villenvororte Wilmingtons bei den Erben der Chemiefabrikanten-Dynastie der du Ponts. Ihre abgeschiedenen Herrenhäuser und Parks sind über eine Gegend verstreut, die auch als Chateau Country von Delaware bekannt ist. Gemessen daran nimmt sich das Anwesen von Joe Biden und seiner Frau Jill geradezu bescheiden aus: Sie leben auf einem anderthalb Hektar großen, leicht abschüssigen Grundstück an einem kleinen See.

Neunundneunzig Tage vor der Wahl biege ich in die Einfahrt der Bidens ein. Um eine Ansteckung zu vermeiden, hat mich sein Betreuerteam in einem Nebengebäude untergebracht, das knapp hundert Meter vom Haupthaus entfernt ist. »Willkommen im Haus meiner Mutter!«, ruft Joe Biden von der Treppe herauf, bevor im nächsten Augenblick sein weißer Schopf im Blickfeld auftaucht. Biden erreicht das Obergeschoss. Er trägt ein adrettes blaues Anzugshemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hat, und eine blütenweiße N95-Maske. Zwischen den Hemdknöpfen steckt ein Kugelschreiber.

Drei Wochen vor dem Parteitag der Demokraten, auf dem Biden offiziell zum Präsidentschaftskandidaten gekürt werden wird, lautet die Schlagzeile der Washington Post: »Amerikas Stellung in der Welt auf einem Tiefpunkt.« Die Zahl der Todesopfer der Corona-Pandemie ist mittlerweile auf fast 150 ‌000 gestiegen, das Dreifache der amerikanischen Verluste im Vietnamkrieg. Die Wirtschaft ist schneller eingebrochen als je zuvor in der Geschichte der Vereinigten Staaten. In Portland, Oregon, beschießen Bundesbeamte in nicht gekennzeichneten Uniformen Demonstranten mit Tränengasgranaten, und Donald Trump bezeichnet die Teilnehmer an den Protestkundgebungen als »kranke und geistig verwirrte Anarchisten und Agitatoren«. Auf Twitter warnt der Präsident, die Demonstranten würden »unsere amerikanischen Städte zerstören und Schlimmeres anrichten«, sollte »Sleepy Joe Biden, die Marionette der Linken, jemals siegen. Die Märkte würden zusammenbrechen, und die Städte würden brennen.«

Der Mann, der zwischen den Amerikanern und vier weiteren Jahren Trump steht, scheint sich über meinen Besuch zu freuen. Im eigenartigen Sommer des Jahres 2020 wirkt Bidens Heim würdevoll und abgeschieden wie ein Kloster. Das mit keltischer Symbolik (grüne Fensterläden, Distelmuster auf den Dekokissen) übersäte Häuschen dient zugleich als Hauptquartier des Secret Service, und kräftige Männer mit Pistolenhalftern gehen möglichst unauffällig ein und aus. Biden lässt sich mir gegenüber auf einem Sessel nieder und breitet die Hände zu seinem sozial distanzierten Gruß aus. »Die Ärzte führen hier ein strenges Regiment«, erklärt er.

Später an diesem Tag wollen die Bidens im Kongress dem vor Kurzem verstorbenen John Lewis aus Georgia die letzte Ehre erweisen, einem Vorkämpfer der Bürgerrechtsbewegung, der seinerzeit beim Marsch in Selma, Alabama, von Polizisten attackiert worden war und einen Schädelbruch erlitten hatte und sich später den Beinamen »Gewissen des Kongresses« erwarb. Ein seltener Ausflug, denn seit dem Covid-19-Shutdown im März hat Biden sich überwiegend zwischen seiner gartenseitigen Veranda, wo er per Zoom an Spendenveranstaltungen teilnimmt, einem Fitnessraum im Obergeschoss und dem Freizeitzimmer im Keller bewegt, wo er vor einem Bücherregal und einer gefalteten Flagge Fernsehinterviews gibt. Seine Wahlkampforganisation ist auf die Privatwohnungen von rund 2300 Mitarbeitern verstreut.

Noch bevor ich eine Frage stellen kann, erzählt er mir die Geschichte des Gebäudes, in dem wir sitzen. Als sein Vater Joe im Jahr 2002 erkrankte, renovierte Biden das Souterrain des Haupthauses und brachte dort seine Eltern unter. »Gott hab ihn selig, er lebte nur noch etwa ein halbes Jahr«, sagt er. »Ich dachte, meine Mutter würde weiterhin bei uns im Haus wohnen.« Aber sie hatte andere Vorstellungen. (Bidens 2010 verstorbene Mutter, deren Mädchenname Jean Finnegan war, spielt eine herausragende Rolle in seiner Version der Familiengeschichte. Er erinnert sich noch an ihre Reaktion, als ihn in der Grammar School eine Nonne wegen seines Stotterns verspottete. Seine Mutter, eine gläubige Katholikin, stattete der Nonne einen Besuch ab und sagte zu ihr: »Wenn Sie noch einmal so mit meinem Sohn sprechen, komme ich wieder und reiße Ihnen das Häubchen vom Kopf.«)

Nachdem sein Vater gestorben war, machte seine Mutter Biden einen Vorschlag: »Sie sagte: ›Joey, wenn du mir ein Haus baust, werde ich hier bei euch bleiben.‹ Ich sagte: ›Schatz, ich habe nicht genug Geld, um dir ein Haus zu bauen.‹ Sie sagte: ›Das weiß ich. Aber ich habe mit deinen Brüdern und deiner Schwester gesprochen. Du kannst mein Haus verkaufen und mir hier etwas bauen.‹« Biden, dessen einzige Einkommensquelle sein Gehalt als Parlamentarier war, zählte jahrelang zu den Senatoren mit dem geringsten Vermögen. (In den zwei Jahren nach dem Ende seiner Amtszeit als Vizepräsident verdienten die Bidens mit Reden, Lehrtätigkeiten und Buchverträgen mehr als fünfzehn Millionen Dollar.) Biden baute eine alte Garage um, und seine Mutter zog dort ein. »Wenn ich sie besuchte, saß sie unten im Erdgeschoss vor dem Kamin und sah fern«, erzählt er. »Neben ihr saß immer eine Pflegerin, der sie die Beichte abnahm.«

Joe Biden ist seit fünfzig Jahren ein »öffentlicher Mann«, wie er es ausdrückt. Er bekleidet seit fünf Jahrzehnten politische Ämter, gibt Interviews und erzählt Anekdoten. Mein letztes Interview mit ihm, in dem es vor allem um außenpolitische Fragen ging, hatte ich im Jahr 2014 geführt, zu einer Zeit, als Biden im Weißen Haus war und Donald Trump die vierzehnte Staffel von The Apprentice präsentierte. Mit siebenundsiebzig wirkt Biden schlanker als vor sechs Jahren, obwohl er nicht auffällig dünner ist. Er hat sich widerwillig von seiner Jugend verabschiedet. Sein strahlendes Lächeln wurde immer wieder derart verjüngt, dass jemand ihm im Wahlkampf 2012 einen Tweet widmete, der sich rasch in ein geflügeltes Wort verwandelte: »Bidens Zähne sind so weiß, dass sie für Romney stimmen.« Sein Haaransatz wurde aufgeforstet, seine Stirn wirkt geglättet, und er strahlt wie ein Großvater, der gerade aus dem Fitnessstudio kommt – und tatsächlich kommt er oft von dort. Seine Ausdrucksweise ist so verschlungen wie eh und je. Der frühere FBI-Direktor James Comey schrieb einmal, das typische Gespräch mit Biden starte in »Richtung A«, biege dann aber irgendwann in »Richtung Z« ab. (Im Dezember 2019 gab Bidens Wahlkampforganisation eine Zusammenfassung seiner Krankengeschichte frei, in der er als für sein Alter »gesunder und kraftvoller« Mann bezeichnet wurde.)

Das Alter war in der einen oder anderen Form ein ständiges Thema im Präsidentschaftswahlkampf 2020. Trump war 2016 als ältester Präsident der Geschichte ins Weiße Haus eingezogen. Im Sommer 2020 war er vierundsiebzig Jahre alt. Um von den Zweifeln an seiner geistigen Leistungsfähigkeit abzulenken, stellten er und seine Verbündeten Biden als senil dar; diese Behauptung wurde zu einem wichtigen Thema in rechtsgerichteten Fernsehsendern und auf Twitter. Biden bemerkte wenig davon, denn er kümmerte sich kaum um die sozialen Medien. (Verglichen mit Trump nutzte Biden diese Medien praktisch nicht. Trump hat auf Twitter und Facebook zusammen mehr als 114 Millionen Follower, Biden weniger als 10 Millionen.)

Wenn etwas besonders Wichtiges geschah, nahmen seine Mitarbeiter einen Tweet in den morgendlichen Nachrichtenüberblick auf, den er auf seinem Smartphone las. Aber er sagt dazu: »Ich sehe mir nicht viele Kommentare an. Ich verbringe meine Zeit lieber damit, mich auf die Schwierigkeiten zu konzentrieren, mit denen die Menschen gerade zu kämpfen haben.«

Ende August, zehn Wochen vor der Wahl, hatte Biden in den Umfragen einen Vorsprung von mindestens acht Prozentpunkten auf Trump. Doch kein Erdenbewohner erwartete ein normales Ende des Wahlkampfs. Einige Umfragen zeigten, dass Bidens Vorsprung schmolz und dass eine unvorhergesehne Entwicklung in der Wirtschaft, im Kongress oder im Obersten Gerichtshof dem Rennen eine entscheidende Wendung geben könnte. »Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte Biden. »Aber ich weiß, dass es wirklich, wirklich hässlich werden wird.« Während Trump die Rechtmäßigkeit der Briefwahl infrage stellte, schränkte sein Postmaster General, der Leiter der Bundespost, unverfroren den Betrieb ein, was zur Folge haben konnte, dass Stimmen nicht gezählt wurden. Ruth Bader Ginsburg, die älteste Richterin am Supreme Court, musste sich einer Chemotherapie unterziehen; im Fall ihres Todes würde ein erbitterter Kampf um ihre Nachfolge ausbrechen. Vertreter der Republikaner halfen dem Rapper und Trump-Anhänger Kanye West bei der Registrierung seiner Kandidatur in mehreren Staaten, was Kritiker als einen Versuch deuteten, Biden afroamerikanische Wählerstimmen abzujagen. In der Zwischenzeit warnten die amerikanischen Geheimdienste, dass Russland wie im Jahr 2016 versuchte, Trumps Gegner Schaden zuzufügen; diesmal setzten die Russen manipulierte Aufzeichnungen von Telefongesprächen ein, welche die Falschmeldung untermauern sollten, Biden habe sein Amt als Vizepräsident missbraucht, um seinem Sohn Hunter bei seinen Geschäften in der Ukraine unter die Arme zu greifen.

Für einen Kandidaten, der die Nase vorn hat, wirkt Biden nicht sehr zuversichtlich. »Ich befürchte, dass sie am Wahlergebnis herumschrauben werden«, sagt er. »Hat man jemals zuvor einen Präsidenten sagen hören, er sei nicht sicher, ob er das Wahlergebnis akzeptieren werde?«

Die schweren Prüfungen des Jahres 2020 waren unvereinbar mit dem Selbstbild der Vereinigten Staaten: Das reichste und mächtigste Land der Welt war nicht in der Lage, auch nur rudimentäre Maßnahmen gegen die Pandemie zu ergreifen – Masken zu beschaffen, Tests durchzuführen –, und wie sich herausstellte, waren einige Behörden derart rückständig und schlecht ausgerüstet, dass sie für den Datenaustausch Faxgeräte nutzen mussten. Das Weiße Haus präsentierte Lösungen, die aus einer Kafka-Parodie hätten stammen können: Den Bürgern wurde von Restaurantbesuchen abgeraten, aber die Regierung bot die steuerliche Befreiung von Geschäftsessen an.

Anders als im Zweiten Weltkrieg, als die amerikanische Mittelschicht diszipliniert mit Grundnahrungsmitteln – Fleisch, Zucker, Kaffee – umging, ignorierten viele Amerikaner in der Covid-19-Ära die Appelle, zu Hause zu bleiben oder eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Junge Leute brachen zur großen Spring-Break-Fete auf, während Lagerarbeiter, Altenpflegerinnen und Lieferwagenfahrer an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten, weil ihre Tätigkeiten »unverzichtbar« waren. Unterdessen wurden in Washington sogar die grundlegenden Normen des politischen Zusammenhalts missachtet. Als Larry Hogan, der republikanische Gouverneur von Maryland, der ein Gegner von Präsident Trump ist, Testmaterial in Südkorea beschaffte, hielt er es für nötig, die Polizei seines Bundesstaats und Nationalgardisten loszuschicken, um die Lieferung zu schützen. Er befürchtete, die Bundesbehörden könnten versuchen, das Material zu beschlagnahmen. Der Präsident aller Amerikaner seinerseits brüstete sich damit, von Demokraten regierten Bundesstaaten Hilfe und Ausrüstung vorenthalten zu haben. »Rufen Sie den Gouverneur von Washington nicht an«, hatte er laut eigener Aussage seinen Vizepräsidenten Mike Pence angewiesen, »und rufen Sie die Frau in Michigan nicht an.« Jared Kushner, Präsidentenschwiegersohn und einer der Verantwortlichen für die Bekämpfung der Pandemie, bezeichnete die Maßnahmen der Regierung im April im Gespräch mit Fox News als »großartige Erfolgsgeschichte«. In den folgenden vier Monaten starben mindestens weitere 110 ‌000 Menschen.

Und auf dem Höhepunkt der Pandemie löste George Floyds Erstickungstod unter dem Knie eines Polizisten eine zweite epochale Wende in der amerikanischen Geschichte aus: eine Abrechnung mit der verfestigten Machthierarchie, die Isabel Wilkerson in ihrem Buch Caste als »wortlosen Platzanweiser in einem abgedunkelten Theatersaal« beschreibt, »dessen Taschenlampe den Gang ausleuchtet, während er uns zu dem Platz führt, der uns zugeteilt wurde«.

Cornell William Brooks, ein Harvard-Professor, Aktivist und ehemaliger Vorsitzender der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), vergleicht die Tötung von George Floyd mit dem Mord an Emmett Till im Jahr 1955, der zusammen mit dem Busboykott von Montgomery den Beginn der Schwarzen[1]  Bürgerrechtsbewegung markierte. In der Größe und Wucht der Protestkundgebungen kam eine Wut zum Vorschein, die sich schon lange angestaut hatte und die nicht allein mit dem schrecklichen Ereignis zu erklären war, das sie schließlich ausgelöst hatte. »Die schärfste Zutat in diesem Kessel ist enttäuschte Hoffnung. Viele von uns erinnern sich an ›Hoffnung‹ und ›Wandel‹, aber stattdessen bekamen wir Wut und Furcht. Die Menschen haben einfach genug«, sagt Brooks.

Biden ist überzeugt, dass Trumps Mängel als Führungspersönlichkeit insbesondere in der Pandemie selbst für standhafte republikanische Fürsprecher des Präsidenten unübersehbar geworden seien. »Alle, selbst seine Anhänger, erkennen, dass es nur um seinen Eigennutz geht. Es geht nur um ihn«, erklärt er mir. »Das hat gravierende Auswirkungen darauf, ob die Menschen ihren Alltag meistern können.« Biden ist sich jedoch der Tatsache bewusst, dass das möglicherweise nicht genügen wird, um die Wähler dazu zu bewegen, ihre Meinung zu ändern. Er beschreibt Trumps Anhänger nicht als Tölpel, als böse oder erbärmlich: »Sie glauben, dass es ihnen unter diesem Präsidenten wirtschaftlich besser gehen wird«, sagt er. »Er hat etwa vierzig Prozent der Wähler bis zu einem gewissen Grad mit der Behauptung überzeugt, die Demokraten seien Sozialisten und würden den Menschen alles wegnehmen, was sie besitzen.«

Die Republikaner warfen den Demokraten seit Langem vor, sie wollten den Sozialismus in die Vereinigten Staaten einschmuggeln. Es war jedoch schwierig, diesen Vorwurf gegen Biden zu erheben, der sich in seiner ganzen Laufbahn vor allem durch einen umsichtigen Zentrismus ausgezeichnet hat. Um die demokratische Kandidatur bewarb sich Biden mit einem sehr eng definierten Ziel: Trumps Präsidentschaft zu beenden. Die meisten Amerikaner wollten seiner Meinung nach keine Revolution. Bei einem seiner ersten Fundraiser in New York versprach er, die Reichen nicht zu »dämonisieren« und »keine grundlegenden Veränderungen« anzustreben. (Im Internet tauchten fingierte Wahlplakate im Stil von Obamas »Hope«-Bild auf, versehen mit dem Slogan »Keine grundlegenden Veränderungen«.) Als sich Biden dann jedoch im März die demokratische Nominierung gesichert hatte, begann er, für seine Kandidatur das Versprechen einer Systemveränderung zu reklamieren, wie es sie seit Franklin D. Roosevelts New Deal nicht mehr gegeben habe. Nach Aussage eines hochrangigen Mitarbeiters von Bernie Sanders sagte Biden in einem Telefongespräch, in dem er seinen Konkurrenten um Unterstützung bat: »Ich will der progressivste Präsident seit FDR werden.«

Diese Wandlung verwirrte Bidens Kritiker auf beiden Seiten. Nun wurde er gleichzeitig beschuldigt, eine Marionette der Sozialisten und ein Lockvogel der Neoliberalen zu sein. In den Augen seiner linken Gegner – insbesondere der jüngeren, gut ausgebildeten, ideologisch leidenschaftlicheren Demokraten, die im Internet sehr aktiv waren – war Biden ein Geschöpf des Ancien Régime und ein Anhänger des nationalen Sicherheitsstaats, der so wenig Lust auf Veränderungen hatte, dass nach seinem Sieg am Super Tuesday tatsächlich die Kurse der Pharmaunternehmen und Krankenhausbetreiber stiegen. Die Linksliberalen waren enttäuscht darüber, dass aus dem vielfältigsten Kandidatenfeld in der Geschichte der Präsidentschaftsvorwahlen ein Weißer im achten Lebensjahrzehnt als Sieger hervorgegangen war. Es war, als wäre der Kellner mit der Nachricht aus der Küche zurückgekehrt, von den Spezialitäten des Tages sei nichts mehr übrig und er könne nur noch Haferbrei anbieten. (Natürlich stand es den Gästen frei, eine weitere Portion Rattengift zu bestellen.)

Maurice Mitchell, der Vorsitzende der Working Families Party, meinte dazu: »Die Leute sagen: ›Oh, dieser Mann ist ein Mitläufer.‹ Er hat keine Ideologie, und für uns hat die Ideologie große Bedeutung. In den Vorwahlen trat er mit einem rückwärtsgewandten Programm an. Er wollte zu dem Weg zurückkehren, den wir in den Obama-Jahren eingeschlagen hatten.« Mitchell, der auch zu den führenden Köpfen des Movement for Black Lives zählt, erklärte, Bidens neuer Tonfall habe die Aufmerksamkeit der Progressiven geweckt: »Er erkennt, dass dies möglicherweise ein Roosevelt-Moment ist. Er ist noch nicht so weit, niemand hält Joe Biden für einen Star der Progressiven. Aber man kann ihn sich sowohl in eine besonders zynische als auch in eine sehr optimistische Lesart einbauen.«

Als der Wahltag näher rückte, fragte ich Barack Obama, wie er Bidens Linksschwenk deute. »Wenn man sich die Ziele von Joe Biden und Bernie Sanders aus zehn Kilometern Höhe ansieht, unterscheiden sie sich nicht allzu sehr voneinander«, antwortete Obama. »Sie wollen beide dafür sorgen, dass jeder Mensch eine Krankenversicherung bekommt. Sie wollen, dass jeder Mensch eine Arbeit finden kann und einen menschenwürdigen Lohn bekommt. Sie wollen dafür sorgen, dass jedes Kind eine gute Bildung erhält.« Obama sah den Unterschied zwischen den beiden eher in der Taktik. »Oft geht es um die Frage: ›Wie nehmen wir eine Aufgabe in Angriff, und welche Koalitionen brauchen wir?‹ Ich denke, in der aktuellen Situation haben sich die Kalküle geändert – nicht unbedingt, weil sich Joes Vorstellungen geändert haben, sondern weil sich die Umstände geändert haben.«

Die Spannungen in der Demokratischen Partei haben einen Konflikt zwischen dem progressiven Meliorismus – der auf langfristige Verbesserungen ausgerichteten Politik Obamas und Bidens – und dem Wunsch nach raschen Veränderungen zum Vorschein gebracht, die Sanders als »Revolution« bezeichnet. Die beiden Fraktionen nehmen gegensätzliche Tugenden für sich in Anspruch: Eine Seite bemüht sich um Realismus, das Schmieden von Allianzen und praktische Maßnahmen, während die andere unübersehbare Belege dafür sieht, dass es mit normalen »Reformen« nicht gelungen ist, der allgegenwärtigen Ungleichheit, den grausamen Missständen im amerikanischen Gesundheitswesen und im Strafvollzug sowie der Klimakatastrophe entgegenzuwirken.

Es hat sich nicht nur ein ideologischer Graben aufgetan, sondern auch einer zwischen den Generationen: Die jungen Amerikaner sind mit Fehlschlägen aufgewachsen – mit der Invasion im Irak, der Reaktion auf den Hurrikan Katrina, der Finanzkrise von 2007/08 – und schreiben diese Fehlschläge teilweise der Gerontokratie zu. Das Medianalter der amerikanischen Bevölkerung liegt im Jahr 2020 bei 38 Jahren. Das Medianalter der Mitglieder des US-Senats liegt bei 65 Jahren. Es ist einer der ältesten Kongresse in der Geschichte. Mitch McConnell, der Mehrheitsführer im Senat, ist 78, Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, 80 Jahre alt. Der Altersunterschied zwischen den Wählern und ihren Repräsentanten geht mit einem grundverschiedenen Weltverständnis einher. Patrick Fisher, ein Professor in Seton Hall, der sich auf die politische Dynamik des Alters spezialisiert hat, erklärt: »Die Generationen unterscheiden sich heute demografisch, politisch, wirtschaftlich, sozial und technologisch mehr voneinander als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte.«

Die Millennials stellen aktuell in den Vereinigten Staaten die größte Generation, und sie sind die vielfältigste in der Geschichte des Landes. Sie traten in der schlimmsten Rezession seit den dreißiger Jahren ins Erwerbsleben ein. Bei den unter Fünfundzwanzigjährigen ist die Arbeitslosenrate mehr als doppelt so hoch wie in anderen Altersgruppen. Im Jahr 2012 lebten mehr junge Erwachsene zwischen achtzehn und einunddreißig Jahren im elterlichen Haushalt als je zuvor. Anfang der zehner Jahre, als rechts der Mitte die Saat des Trumpismus ausgebracht wurde, wuchs im linken Lager eine von jungen Leuten getragene politische Gegenbewegung. In ihren Augen benutzen die älteren Amerikaner das politische System, um den jüngeren Generationen Ressourcen wegzunehmen. Im Jahr 2014 überstiegen die Pro-Kopf-Ausgaben der Bundesverwaltung für Programme für alte Menschen die Ausgaben für Kinder um das Sechsfache, wie Paul Taylor in The Next America schreibt, einer Studie über die demografische Zukunft des Landes.

Viele junge Amerikaner setzten große Hoffnungen in Obama; 2008 gaben ihm verblüffende zwei Drittel der Millennials ihre Stimme. Am Ende seiner Präsidentschaft waren sie jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass niemand die politischen Parteien zum Handeln bewegen konnte, wenn das selbst Obama nicht gelungen war. Zwischen 2013 und 2017 sank das Medianalter der Mitglieder der Democratic Socialists of America von 68 auf 33 Jahre. Viele andere wünschten sich eine sozialdemokratische Politik ähnlich dem New Deal. Im Jahr 2019 erklärte Greta Thunberg vor den Vereinten Nationen: »Die Veränderung naht, ob es Ihnen gefällt oder nicht.«

Auf meine Frage nach den Spannungen in der Demokratischen Partei bezeichnete Obama sie als Merkmale der »traditionellen demokratischen Idee«: »Es ist eine Partei, unter deren Dach viele Strömungen Platz haben. Das bedeutet, dass man die Vorstellungen von Personen toleriert, anhört und annimmt, die sich von den eigenen unterscheiden, und dass man versucht, diese Leute zu integrieren. Man arbeitet nicht nur mit progressiven Demokraten zusammen, sondern auch mit konservativen – und man ist bereit, Kompromisse zu schließen.« Das war ein sanfter Seitenhieb gegen jene Demokraten, die Kompromissbereitschaft mit Versagen gleichsetzen. Im Jahr davor hatte Obama beklagt, dass sich in der Partei ein »kreisförmiges Erschießungskommando« gebildet habe. »Diese Vorstellung von der reinen Lehre, man lässt sich nie auf Kompromisse ein, man ist immer politisch bewusst und so weiter – darüber solltet ihr rasch hinwegkommen«, riet er seiner Partei.