Mein wütendes Land - Evan Osnos - E-Book
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Mein wütendes Land E-Book

Evan Osnos

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Beschreibung

»Osnos erzählt die bewegende Geschichte düsterer Zeiten mit einer Menschlichkeit, die Hoffnung auf etwas Besseres verspricht.« Michael J. Sandel

Nach zehn Jahren als Korrespondent im Nahen Osten und in China zieht Evan Osnos 2013 zurück in die USA. Doch das Land, in das er heimkehrt, ist kaum wiederzuerkennen. Chancengleichheit, Rechtsstaatlichkeit, der Glaube an die Macht der Wahrheit – die fundamentalen Prinzipien der ältesten Demokratie der Welt scheinen ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt zu haben. 2016 wird Donald Trump zum Präsidenten gewählt, vier Jahre später stürmen seine Unterstützer das Kapitol. Aus den vereinigten sind die gespaltenen Staaten von Amerika geworden.

Evan Osnos hat diese Entwicklungen über Jahre beobachtet. Er versucht zu verstehen und zu erklären: warum im reichen Greenwich an der Ostküste, wo er aufgewachsen ist, aus gemäßigten Konservativen eingefleischte Trump-Anhänger wurden. Wie sich in Clarksburg, West Virginia, wo er seinen ersten Job bei einer Zeitung annahm, die Opioid-Krise zur nationalen Katastrophe ausweiten konnte. Und was die Ursachen sind für den Rassismus, die Waffengewalt und die Ungleichheit in Chicago, wo er selbst zu einem gefragten Journalisten aufstieg. Aus eindringlichen Porträts entsteht eine große Erzählung, die vom 11. September 2001 bis zum 6. Januar 2021 reicht. Der Pulitzer-Preisträger zeichnet nach, wie die USA den moralischen Kompass verloren, der einst aus einer Vereinigung von Staaten die Vereinigten Staaten machte.

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Cover for EPUB

Titel

Evan Osnos

Mein wütendes Land

Eine Reise durch die gespaltenen Staaten von Amerika

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Wildland. The Making of Americaʼs Fury bei Farrar, Straus and Giroux (New York).

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© 2021 by Evan Osnos

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

eISBN 978-3-518-77399-4

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Oliver und Rose

Motto

Wir sehen die Welt Stück für Stück, als Sonne, Mond, Tier, Baum, aber das Ganze, dessen schimmernde Teile sie sind, ist die Seele.

Ralph Waldo Emerson, »The Over-Soul«, 1841

Es folgte das, was durchweg folgt, wenn das Gewissen gefoltert wird. Obwohl es sich der Unausweichlichkeit dessen, was es fürchtet oder hasst, bewusst ist, sucht es Zuflucht in dem, was es erhoffen – oder sich zumindest vorstellen kann.

Theodore Dreiser, Eine amerikanische Tragödie, 1925

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Inhalt

Vorwort

1 Das Goldene Dreieck

2 Gedanken und Gebete

3 Juwel der Hügel

4 Mud City

5 Alle tun es

(Betrachtungsweise 1)

6 Alle tun es

(Betrachtungsweise 2)

7 Diese Leute

8 Sich zudröhnen

9 Macht kaufen

10 Feige Arschlöcher

11 Es riecht nach Freiheit

12 Aus dem Schlummer gerissen

13 Die Maschine wird zerlegt

14 Gefechtsbereit

15 Radikale Eigenständigkeit

16 Zweifel an den Tatsachen

17 Die Antikörper

18 Gesichtslos

19 Müssen wir ins Gefängnis, Papa?

20 Das Feuer wütet

21 Seht das Land

Danksagung

Quellenhinweise

Vorwort

Personenregister

Sachregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

Vorwort

Potter Valley, Kalifornien

27. Juli 2018

Auf einem Hügel drei Autostunden nördlich von San Francisco wanderte ein Rancher durch das raschelnde goldgelbe Gras einer Wiese. Glenn Kile lebte in einem Landstrich im Westen der Vereinigten Staaten, der von der Natur derart gesegnet ist, dass die Indianer ihm den Namen »Ba-lo Kai« gegeben haben – das grünende Tal. Doch an diesem Tag war es ein erbarmungsloses Tal. Die Temperatur lag bei fast 40 Grad Celsius im Schatten, und die extreme Hitze dauerte schon seit Tagen an. Die heißesten Sommer in der Geschichte Kaliforniens waren alle in den letzten zwei Jahrzehnten registriert worden, und auf den Feldern im grünenden Tal roch es nach trockenem Stroh.

Etwa 30 Meter von seinem Haus entfernt blieb der Rancher bei einem kleinen Loch im schwarzgrauen Boden stehen. Es war der Eingang zu einem unterirdischen Wespennest. Er holte einen Stahlhammer und trieb eine rostige Eisenstange in das Loch, um es zu verschließen. Als Metall auf Metall traf, flog ein Funke, der Funke flog ins Gras, und das Gras fing Feuer. Der Rancher versuchte mit dem Fuß, die Flammen mit Erde zu ersticken, aber die Hitze dieses schlimmen Sommers hatte das Erdreich zu Stein gebacken. Kile probierte, das Feuer mit einem alten Trampolin zu ersticken, aber das trockene Gewebe fing ebenfalls Feuer. Kile wollte das Feuer mit Wasser löschen, aber der Gummischlauch schmolz. Als der Rancher ins Haus lief, um die Feuerwehr zu Hilfe zu rufen, konnte er den Lauf der Geschichte nicht mehr ändern. Innerhalb einer halben Stunde hatte das Inferno 20 Morgen Land verschlungen und wälzte sich auf die ausgedörrten Wälder und verstreuten Häuser am Horizont zu. Die Feuerwehrleute bezeichnen diese Gegend als »Wildland« – ein mit nahezu perfektem Zündholz bedecktes Gebiet, das eher ein Zustand als ein Ort ist.

Der von Glenn Kile geschlagene Funke löste den bis dahin größten Waldbrand in der Geschichte Kaliforniens aus, doch dieser Rekord sollte bald gebrochen werden – und dann ein weiteres Mal. Der Flächenbrand, der die Bezeichnung »Mendocino Complex Fire« erhielt, wütete einen Monat lang – dieses Triebwerk aus Wind und Flammen verschlang eine Fläche, die doppelt so groß war wie die von New York City. Es war ein Meilenstein in den Annalen der Erderwärmung. Als das Inferno endlich vorüber war, gelangten die kalifornischen Behörden zu dem Ergebnis, dass der Rancher Glenn Kile nicht für die Katastrophe verantwortlich war. Er hatte den Funken entzündet, aber die wirklichen Ursachen der Katastrophe lagen tiefer. Das Feuer war Ausdruck von Kräften, die sich seit Jahrzehnten sammelten.

Diese Geschichte erinnerte mich an ein politisches Bonmot aus einem Buch von Mao Tse-tung. »Aus einem Funken kann ein Steppenbrand entstehen«, schrieb Mao. Er wusste wenig über die Vereinigten Staaten, aber mit den brutalen Wahrheiten der Politik war er vertraut. Als ich in der Regierungszeit Donald Trumps in Washington lebte, musste ich oft an das Bild der Landschaft denken, in der ein Flächenbrand bevorsteht. Manchmal wirkte es wie eine Metapher, manchmal wie eine Tatsachenbeschreibung. Aber am Ende deutete ich es anders, nämlich als eine Parabel auf eine Zeit in der amerikanischen Geschichte, in der das Land und die Menschen einander als Spiegelbilder ihrer Wut dienten. Ich wollte herausfinden, wie es dazu gekommen war und was diese Zeit uns hinterlassen würde.

***

Die Amerikaner zählen zu den rastlosesten Völkern auf der Erde. In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts packte jedes Jahr ein Fünftel der amerikanischen Bevölkerung seine Siebensachen und brach auf, um sich anderswo einen Ehepartner, einen Arbeitsplatz oder ein Haus mit Garten in einem Vorort zu suchen. Meine eigene Familie machte es auch so. Mein Vater kam im Jahr 1944 als Flüchtling in die Vereinigten Staaten; er war als Sohn jüdischer Eltern in Indien zur Welt gekommen und musste im Weltkrieg mit seiner Familie aus Polen fliehen. Meine Mutter wurde in Marokko geboren, sie war die Tochter amerikanischer Diplomaten aus Chicago. Meine Eltern lernten sich während des Vietnamkriegs in Saigon kennen, wo meine Mutter für eine Hilfsorganisation und mein Vater als Zeitungsjournalist arbeitete. Als die beiden in die Vereinigten Staaten zurückkehrten, um zu heiraten, hatte der Anlass einen sehr amerikanischen Eklektizismus an sich: Ein in Indien geborener Jude und eine in Marokko geborene angelsächsische Protestantin gaben einander auf einem Standesamt in Michigan das Jawort.

Ich verließ die Vereinigten Staaten gut ein Jahr nach dem Terrorangriff am 11. September 2001. Das Land bereitete sich auf den Krieg gegen den Irak vor, und ich berichtete aus Bagdad, Kairo und von anderen Orten im Nahen Osten. Einige Jahre später ging ich nach Peking, wo ich Sarabeth Berman aus Massachusetts kennenlernte, die als Theater- und Tanzproduzentin ins Ausland gegangen war. Wir heirateten und entschlossen uns schließlich zur Heimkehr. Wenn wir zu lange im Ausland blieben, meinte Sarabeth, würde es uns am Ende schwerfallen, überhaupt in unser Heimatland zurückzukehren.

Im Jahr 2013 machten wir uns daran, unseren Umzug nach Washington zu planen. In den Jahren im Ausland hatten wir die globale Reaktion auf Barack Obamas Wahlsieg beobachtet – der mancherorts Begeisterung und andernorts Besorgnis geweckt hatte –, aber wir wussten nicht viel darüber, was seine Präsidentschaft für die Amerikaner selbst bedeutete. Ich hatte den Wahlabend im November 2008 umgeben von neugierigen Chinesen im Fernsehen verfolgt. Die Aussicht auf einen Schwarzen im Weißen Haus weckte überall ein Gefühl großer Möglichkeiten, vor allem bei Menschen, die sich noch daran erinnern konnten, dass die Vereinigten Staaten ihnen einst nach Maßgabe des Chinese Exclusion Act die Einreise verweigert hatten. Als Obama tatsächlich siegte, stieß Wang Chong, ein chinesischer Journalist, der neben mir stand, einen kleinen Jubelschrei aus. »Die ethnische Diskriminierung ist im Denken der Chinesen tief verankert«, sagte er.

Eine Heimkehr verspricht immer die Möglichkeit, den eigenen Herkunftsort mit neuen Augen zu sehen. Der Autor John Gunther kehrte in den vierziger Jahren in die Vereinigten Staaten zurück, nachdem er aus Europa über den Weltkrieg berichtet hatte. Manchmal, schrieb er in seinem 1947 veröffentlichten Buch Inside U. ‌S. ‌A., fühlte er sich wie »ein Marsmensch«. Gunther reagierte irritiert auf einige Wesenszüge seiner Heimat: Die rassistische Segregation im Süden, schrieb er, habe Ghettos geschaffen, die schlimmer seien »als alles, was ich in Europa gesehen habe, das Warschauer Ghetto inbegriffen«. Andere Eigenschaften des Landes erfüllten ihn mit Freude. Auf seinen Reisen durch die Vereinigten Staaten fragte er die Leute: »Woran glauben Sie am meisten?« Ihre Antworten: an Arbeit, Kinder, Thomas Jefferson, Gott, die Goldene Regel, den Satz des Pythagoras, hohe Zölle, niedrige Zölle, günstigere Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse, Glück, gute Straßen, Santa Claus. Aber die häufigste Antwort war: »An die Menschen, wenn man ihnen eine faire Chance gibt.«

Am 7. Juli 2013 landeten Sarabeth und ich am Dulles International Airport in Washington, D. ‌C. Bei der Passkontrolle nahm ich eine Broschüre mit, die den Titel »Willkommen in den Vereinigten Staaten« trug. Sie wurde von der Behörde für Zoll und Grenzschutz herausgegeben; das Titelblatt zierte ein Foto vom Washington Monument mit blühenden Kirschbäumen. Der erste Satz in der Broschüre lautete: »Wir freuen uns, dass Sie sich entschlossen haben, in die Vereinigten Staaten zu kommen, um das Land zu besuchen oder hier zu studieren, zu arbeiten oder zu leben.«

Wir blieben einige Wochen bei meinen Schwiegereltern, die in einem Vorort von Washington in einer beschaulichen Straße wohnten. Es war ein verblüffender Kontrast zu einer Gasse in Peking, wo Straßenverkäufer brüllend anboten, dir die Küchenmesser zu schleifen, das Horoskop zu lesen oder dein Haar für eine Perückenfabrik zu kaufen.

Auf der Anzeigenwebsite Craigslist fanden wir ein Reihenhaus in Washington, in dem wir uns einmieteten. Wir genossen den kleinen Luxus, den wir in China vermisst hatten: trinkbares Leitungswasser, saubere Luft, eine Spülmaschine. In den wohlhabendsten Stadtteilen hatte man den Eindruck, als würden sämtliche Einwohner joggen oder dem Power-Walking frönen. Hingegen litten die ärmsten Gegenden Washingtons, die Wards 7 und 8, unter Arbeitslosenraten, die zu den höchsten im urbanen Amerika zählten. Sie befanden sich gleich gegenüber vom Capitol Hill am anderen Ufer des Anacostia River, aber es lagen Welten zwischen dem armen und dem reichen Washington. Im Jahr 2013 war eine weiße Durchschnittsfamilie in Washington 81 Mal reicher als eine Schwarze[1]  Durchschnittsfamilie. Und die extreme Ungleichheit hatte gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft. Im Jahr 2016 war die Lebenserwartung eines in Washington geborenen Kindes vier Jahre niedriger als die eines Kindes, das in Peking zur Welt kam – amerikanische Kinder würden im Durchschnitt 78 Jahre alt werden, chinesische 82 Jahre.

***

Ich begann, die Veränderungen in den Jahren meiner Abwesenheit zu registrieren, darunter auch winzige Details. Als ich am Schaufenster des Herrenausstatters Brooks Brothers vorbeikam, fiel mir auf, dass die Firma Anzüge anbot, an deren Revers bereits Anstecknadeln mit der amerikanischen Flagge angebracht waren. Ein Firmensprecher erklärte mir, auf diese Art werbe man für Anzüge aus amerikanischer Fertigung. Das Unternehmen hatte diese Praxis im Jahr 2007 eingeführt, nachdem die Republikaner Obama dafür gescholten hatten, dass er keinen Flaggenanstecker trug.

Andere Veränderungen waren derart einschneidend, dass es schwierig war, ihr tatsächliches Ausmaß einzuschätzen. Im Jahr 2013 überschritten die Vereinigten Staaten eine Schwelle in der langen Entwicklung von Einwanderung und Diversität: Zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte überstieg die Zahl der nichtweißen Neugeborenen jene der weißen. Anfangs machte sich die Differenz kaum bemerkbar, denn bei mehr als 3,8 Millionen Geburten in jenem Jahr überstieg die Zahl der nichtweißen Neugeborenen jene der weißen lediglich um 1000. Aber die Schere ging immer weiter auseinander. Als Sohn eines Flüchtlings empfand ich das als beflügelnd, als Beweis für die Erneuerung der Gesellschaft. Aber es war klar, dass viele Amerikaner anders dachten.

Es verblüffte mich, wie umfassend sich die Menschen einigen dieser Veränderungen angepasst hatten. An einem Morgen wartete ich am Bahnhof auf einen Amtrak-Zug, als ich auf einem Bildschirm im Wartesaal eine Bekanntmachung sah. Sollte jemand das Feuer auf die Fahrgäste eröffnen, hieß es im Off-Kommentar, so sollten sie »die Flucht ergreifen« oder »in Deckung gehen«. Auf dem Bildschirm suchte ein weißhaariger Schauspieler in blauer Windjacke Schutz hinter einem Pfeiler. Nur wenn kein anderer Ausweg bliebe, so die Stimme, sollte man handeln: »Schreien Sie und suchen Sie in der Nähe nach Gegenständen einschließlich Ihrer eigenen Sachen, die Sie als improvisierte Waffen nach dem Angreifer werfen können.«

Es kam im Durchschnitt alle neun Wochen zu einem Amoklauf, das heißt fast drei Mal so oft wie ein Jahrzehnt früher. Das bedrückendste Massaker lag kaum ein halbes Jahr zurück: In Newtown in Connecticut hatte ein 21-Jähriger in der Sandy Hook Elementary School 20 Kinder und sechs Lehrer getötet. Aber in der amerikanischen Politik war dieses Ereignis bereits vergessen. Politiker hatten erklärt, in »Gedanken und Gebeten« bei den Opfern zu sein, aber im Kongress war ein Versuch gescheitert, die Waffengesetze zu verschärfen. Ich sah mich im Wartesaal um. Die Reisenden waren mit anderen Dingen beschäftigt. Ich fühlte mich wie Gunthers Marsmensch.

Die Amerikaner hatten sehr unterschiedlich auf das Trauma des 11. September reagiert. Nachdem die Al-Qaida-Terroristen die Flugzeuge in die Türme des World Trade Center gesteuert hatten, schrieb der Historiker Tony Judt: »Aus meinem Fenster in Manhattan sah ich, wie das 21. Jahrhundert begann.« Zwölf Jahre später hatte das Ereignis eine einzigartige Symbolkraft erlangt. In den Jahren, die seitdem vergangen waren, waren die Amerikaner mehr als doppelt so oft von rechtsextremen Terroristen wie von Islamisten attackiert worden, aber als Forscher im Jahr 2016 die Teilnehmer an einer Umfrage baten, den Bevölkerungsanteil der Muslime im Land zu schätzen, antworteten die Befragten in ihrer Gesamtheit, dass jeder sechste Einwohner des Landes Muslim sei. Tatsächlich stellten die Muslime lediglich ein Hundertstel der Bevölkerung.

Seit 2001 hatte das Land in Afghanistan, im Irak und an anderen Orten militärisch interveniert und befand sich länger im Krieg als je zuvor in seiner Geschichte. Jene, die kämpften, machten weniger als ein halbes Prozent der amerikanischen Bevölkerung aus. Die meisten Amerikaner spürten kaum Auswirkungen der Kriege auf ihr Leben. Viele Amerikaner kamen mit der Realität des Kriegs am ehesten in Berührung, wenn sie jene heiteren Videos sahen, die von Lokalsendern am Ende der Nachrichten ausgestrahlt wurden und zeigten, wie Eltern, die in den Streitkräften dienten, in ein Klassenzimmer schlichen, um ihre Kinder zu überraschen. Es wurden derart viele solche Videos gedreht, dass ihnen schließlich auf YouTube ein eigener Kanal namens »ComingHomeTV« gewidmet wurde. Als ich im Internet nach diesen Videos suchte, schlug mir Google automatisch verschiedene Unterkategorien vor:

mit Familie wiedervereinte Soldaten

mit Ehefrau wiedervereinte Soldaten

mit Hund wiedervereinte Soldaten

heimkehrende Soldaten, die versuchen, die Tränen zurückzuhalten

***

Mir wurde klar, wie tief sich die Furcht in unser politisches Leben gefressen hatte. Bevor ich ins Ausland gegangen war, hatte ich in Clarksburg in West Virginia gelebt, einer Kleinstadt in den Appalachen, wo ich für die Lokalzeitung The Exponent Telegram gearbeitet hatte. Am Tag nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center hatte die Redaktion ein demütiges Bekenntnis zum amerikanischen Selbstverständnis veröffentlicht: »Eine Kleinstadtzeitung wird sich davor hüten, der Regierung vorzuschlagen, wie sie reagieren soll«, schrieb die Redaktion, aber eines müsse klar sein: »Wir sind eine freie Gesellschaft, die stolz ist auf ihre Vielfalt, den Austausch von Ideen und ihre Bereitschaft, abweichende Meinungen zu dulden.« Nachdem im selben Monat jemand in Princeton in West Virginia eine Moschee geschändet hatte – die Vandalen hatten das Bild eines Lynchmords auf die Mauer gesprüht und den Namen »Jamaal« dazugeschrieben –, versammelten sich die Nachbarn zu einer Kundgebung, um der muslimischen Gemeinde Rückhalt zu geben. Die Stadt war stolz auf diese Reaktion.

Aber im Jahr 2008 zeigte eine Umfrage, dass ein Fünftel der Einwohner West Virginias Obama für einen Muslim hielt, und die Zahl der Hassverbrechen, die nach 2001 zurückgegangen war, stieg nach Angabe des FBI wieder. Im Jahr 2013 wurde die Moschee in Princeton erneut geschändet, aber diesmal fiel die Reaktion der Anwohner zurückhaltender aus. Die Kirchen verurteilten den Angriff, aber der Sheriff erklärte, der Zwischenfall könne nicht als Hassverbrechen eingestuft werden. Muslime, die seit Generationen in West Virginia lebten, beschrieben ein wachsendes Gefühl der Isolation. Im Jahr 2015 sagte ein Arzt namens Hazem Ashraf in einem Interview: »Deine Loyalität, dein Wert als Person wird wegen etwas in Zweifel gezogen, das du nicht getan hast, so als wärst du kein vollwertiger Amerikaner, kein vollwertiger Bürger.« Er zitierte aus einem Lied des Singer-Songwriters Woody Guthrie: »This land is my land, this land is your land.« (Vier Jahre später hängte jemand bei einer Wahlveranstaltung der Republikaner im Kapitol von West Virginia ein Poster vom brennenden World Trade Center und ein Foto der Kongressabgeordneten Ilhan Omar aus Minnesota auf, einer der ersten Musliminnen im Kongress. Die Bildunterschrift lautete: »Ich bin der Beweis dafür, dass ihr vergessen habt.«)

Diese Risse waren Teil eines größeren Grabens, der sich durch die amerikanische Gesellschaft zog. Die Vereinigten Staaten hatten die stärkste Volkswirtschaft der Welt, und das Medianeinkommen war höher denn je, aber Millionen Menschen mussten feststellen, dass ihr Lebensstandard stagnierte oder sank. In 27 Bundesstaaten war so wenig Geld für die Reparatur von Straßenschäden vorhanden, dass einige asphaltierte Straßen zu Sandstraßen zurückgebaut wurden. Gleichzeitig besaßen drei Männer – Bill Gates, Warren Buffett und Jeff Bezos – zusammen ein Vermögen, das größer war als das der gesamten unteren Hälfte der amerikanischen Bevölkerung. Bezos verdiente in jeder Stunde 149 ‌353 Dollar – das war mehr, als der typische amerikanische Arbeitnehmer in drei Jahren verdiente.

Als Wissenschaftler über die verblüffende Tatsache berichteten, dass die Lebenserwartung der Amerikaner sank, hörte sich das wie ein nationales Problem an. Aber das war es nicht. Im McDowell County in West Virginia war die Lebenserwartung von Männern auf 64 Jahre gefallen, womit sie der im Irak entsprach. Im Fairfax County im benachbarten Virginia konnte ein Mann erwarten, 18 Jahre länger zu leben. Die Gegensätze zwischen den Lebensumständen verschiedener Bevölkerungsgruppen waren derart groß geworden, dass das bröckelnde gemeinsame Fundament das Gewicht der amerikanischen Institutionen nicht länger tragen konnte. Louis Brandeis, von 1916 bis 1939 der erste jüdische Richter am Obersten Gerichtshof, warnte im Gespräch mit einem Freund vor einem Zusammenbruch: »Wir können eine Demokratie haben, oder wir können Reichtum haben, der in den Händen einiger weniger gebündelt ist, aber wir können nicht beides haben.«

Die Vereinigten Staaten büßten nicht nur eine Geschichte ein, die sie sich über sich selbst erzählten, sondern sie büßten auch einen Wesenszug ein: die Fähigkeit, das Gemeinwohl anzustreben und an das zu glauben, was Martin Luther King vor Studierenden des Oberlin College als »gemeinsames Gewand des Schicksals« bezeichnete. Er sagte: »Alles, was sich direkt auf den Einzelnen auswirkt, wirkt sich indirekt auf alle anderen aus.« 80 Jahre nachdem Franklin D. Roosevelt die Versuchung durch die »Furcht an sich« beklagt hatte, leugneten die Amerikaner ihre Befürchtungen nicht, sondern sprachen sie aus und reagierten darauf. Die Kriminalität war auf einen historischen Tiefstand gesunken, aber die Zahl der Amerikaner, die sich eine Genehmigung beschafften, verdeckt eine Waffe zu tragen, hatte sich innerhalb von zwei Jahrzehnten fast verdreifacht und war auf 13 Millionen Menschen gestiegen – das waren mehr als zwölf Mal so viele, wie es Polizisten in den USA gab. Lange nachdem sich Obama für die Bemerkung entschuldigt hatte, die Wähler in den Kleinstädten klammerten sich »an Schusswaffen oder Religion«, wurden seine Worte nicht mehr als Beleidigung verstanden. Auf Waffenmessen wurden T-Shirts mit dem Slogan »Proud Bitter Clinger« (Stolzer verbitterter Klammerer) verkauft.

***

Ich fand ein Büro in Dupont Circle, von wo aus ich einen schönen Blick auf den imposanten Dom der St. Matthew's Cathedral hatte, das Zentrum der römisch-katholischen Kirche in Washington. Ich kannte die Kirche von den berühmten Fotos von John F. Kennedys Begräbnis im Jahr 1963 – Jacqueline Kennedy beugt sich vor, um ihrem dreijährigen Sohn etwas ins Ohr zu flüstern, der am Sarg seines Vaters salutiert hat. Einige Jahre vor diesem Ereignis hatte in dieser Kirche die Begräbnisfeier für eine ganz andere Figur stattgefunden, für den demagogischen Senator Joseph McCarthy, den Maestro von Furcht und Misstrauen. Von meinem Büro aus sah ich, wie die Kirche die Jahreszeiten durchlief, in grelles Sonnenlicht getaucht und mit Schnee bedeckt wurde. In meinen Augen standen die beiden Begräbnisse sinnbildlich für das Potenzial Washingtons, die amerikanische Gesellschaft aufzurichten oder auseinanderzureißen.

Als ich im Jahr 2003 ins Ausland gegangen war, waren CNN und Fox News Konkurrenten mit vergleichbaren Einschaltquoten zur besten Sendezeit gewesen. Elf Jahre später hatte sich Fox von seinem Rivalen abgesetzt: Seine Einschaltquote war jeden Abend drei Mal so hoch wie die von CNN, und der Sender hatte dazu beigetragen, ein neues Vokabular in die politische Debatte einzuführen, vor allem in Bezug auf Themen wie Einwanderung, innere Sicherheit, Race und die Aufgaben der Bundesregierung. Am ersten Arbeitstag nach meiner Heimkehr, dem 1. Oktober 2013, wurden erstmals seit 17 Jahren die Regierungsbehörden stillgelegt. Genau gesagt war es zum Shutdown gekommen, weil die Republikaner im Kongress die von Präsident Obama durchgesetzte Ausweitung der staatlichen Krankenversicherung rückgängig machen wollten. In Wahrheit ging es ihnen jedoch darum, Obamas bedeutendste Leistung zu diskreditieren, die Gläubigen zu sammeln und Spendengelder für die kommenden Wahlkämpfe aufzutreiben. Es war ein Akt des offiziellen ideologischen Widerstands, wie es ihn seit den sechziger Jahren nicht mehr gegeben hatte, als segregationistische Demokraten die Legitimität von Entscheidungen der Bundesgerichte und des Kongresses nicht anerkannt hatten.

Ich rief die Telefonzentrale des Weißen Hauses an und wurde von einer Tonbandaufnahme begrüßt: »Sie haben das Executive Office des Präsidenten erreicht. Wir bitten um Verständnis dafür, dass wir Ihren Anruf aufgrund der Unterbrechung der Finanzierung der Bundesregierung nicht entgegennehmen können.« 800 ‌000 Bundesangestellte im ganzen Land erhielten die Anweisung, zuhause zu bleiben. 400 Nationalparks wurden geschlossen. Vorschulen für Kinder aus einkommensschwachen Familien hatten kein Geld. Die Bürger konnten keine Leistungen von Medicare oder Sozialversicherung beantragen und keine Kredite für Kleinunternehmer in Anspruch nehmen. Da ich nichts anderes zu tun hatte, machte ich einen Spaziergang zum Kapitol, das geschlossen war. Touristen standen in der warmen Herbstsonne bei den Museen vor verschlossenen Türen und fotografierten stattdessen Journalisten, die auf dem Rasen standen und in die Kameras sprachen. Ich unterhielt mich mit einem finnischen Ehepaar. Timo und Marita Engblom versuchten, dem seltsamen Hang der Amerikaner zur Selbstverstümmelung einen Sinn abzugewinnen. »Wenn wir ins Hotel kommen und das Fernsehen einschalten, sehen wir Reden und Reden und Reden«, sagte Marita. Timo erklärte, sie seien ratlos angesichts der Situation. »Was bedeutet das? ›Schließung der Regierung‹? Führt das zu Neuwahlen?«, fragte er.

Nicht in unserem Regierungssystem, antwortete ich. Wir mussten einfach warten, bis sich das Problem von selbst löste.

Nach 16 Tagen gaben die Republikaner nach, und die staatliche Verwaltung nahm den Betrieb wieder auf. Der Shutdown hatte die amerikanischen Steuerzahler schätzungsweise 24 Milliarden Dollar an wirtschaftlicher Aktivität gekostet – mit diesem Geld hätte man einen Rover zum Mars schicken und zurückholen können, und zwar acht Mal. Der Einzige, der offenkundig vom Stillstand profitierte, war der Senator, der die Idee gehabt hatte: Ted Cruz aus Texas. Seine Zustimmungswerte unter den Anhängern der Tea-Party-Bewegung kletterten von 47 auf 74 Prozent. Er war so beliebt, dass seine Figur ein Kinderbuch inspirierte – U. ‌S. Senator Ted Cruz to the Future –, das fünf Monate lang das beliebteste Ausmalbuch auf Amazon war.

Auch nachdem der Kongress die Arbeit wieder aufgenommen hatte, hielt seine Lähmung an, weil viele Republikaner in Washington der Meinung waren, ihre Regierungsfunktion widerspreche im Grunde der Freiheit. Was als Glaube an niedrige Steuern und die Beschränkung der staatlichen Macht begonnen hatte, hatte sich unter dem Druck von Gewinnstreben und politischem Opportunismus in eine grundsätzliche Verachtung für einen starken Staat verwandelt. John Boehner, der Sprecher des Repräsentantenhauses, erklärte, die Parlamentarier sollten nicht danach beurteilt werden, wie viele Gesetze sie verabschiedeten, sondern danach, wie viele Gesetzesvorlagen sie ablehnten.

In meinen Augen trat im Stillstand der Regierung ein tiefer Bruch in der amerikanischen Gesellschaft zutage. Der Kongress hatte Tag für Tag weniger mit dem Land gemein, das er repräsentierte. Er bestand zu 82 Prozent aus Männern, zu 83 Prozent aus Weißen und zu 50 Prozent aus Millionären. Das entsprach nicht der Zusammensetzung der amerikanischen Bevölkerung. Wenn ich außerhalb von Washington mit Menschen sprach, lehnten sie die Erklärungen der Politiker reflexartig als eigennützig oder korrupt ab. Hatten im Jahr 1964 noch 77 Prozent der Amerikaner erklärt, ihrer Regierung im Großen und Ganzen zu vertrauen, so war dieser Anteil bis 2014 auf nur noch 18 Prozent gesunken. In der amerikanischen politischen Landschaft konnte jederzeit ein Flächenbrand ausbrechen. Es musste nur noch jemand den Funken schlagen.

Von dem Augenblick an, da Donald J. Trump seine Kandidatur für die Präsidentschaft bekannt gab, war er ebenso ein Symptom wie eine Ursache der Notlage des Landes. Er gewann die Wahl, indem er die Politik so weit wie irgend möglich in der nationalen Dimension betrachtete und die umstrittensten Themen als existenzielle Fragen darstellte, um seine Anhänger über große Entfernungen hinweg zu einen. Viele Amerikaner fanden Gefallen an seiner Geringschätzung für die Normen und Kultur der Politik, fühlten sich jedoch von ihm abgestoßen und trauerten um eine Nation, die anscheinend einige ihrer tiefsten Überzeugungen aufgegeben hatte und auf die falsche Seite der Geschichte zu geraten drohte. Im Jahr 2020 führten die Spannungen schließlich zu einer Explosion, als die Covid-Pandemie abhängig von Race und Klassenzugehörigkeit und Ideologie sehr unterschiedliche Auswirkungen hatte und George Floyds Tod unter dem Knie eines Polizisten eine umfassende Konfrontation mit der Praxis der staatlichen Machtausübung auslöste. Am Ende des Jahres entartete die politische Auseinandersetzung in Gewalt, und die Amerikaner fragten sich, ob das Vertrauen in die demokratischen Abläufe möglicherweise derart geschwächt war, dass es nicht mehr wiederhergestellt werden konnte.

Die Trump-Jahre machten dem Schweigen ein Ende. Die Amerikaner begnügten sich nicht länger mit beschränkter Kritik an der Wall Street, dem Welthandel oder den Institutionen der Elite, sondern zogen die gesamte Architektur der Macht – Klasse, Race, Geschlecht, Bildung – in Zweifel und machten sich daran, den amerikanischen Gesellschaftsvertrag einer Neuformulierung zu unterziehen, die wenige Jahre früher noch undenkbar gewesen wäre. Wenn die Geschichte der Vereinigten Staaten eine Geschichte des unablässigen Ausbalancierens ist – zwischen Gier und Großzügigkeit, Industrie und Natur, Identität und Assimilierung –, so war das Land derart aus dem Gleichgewicht geraten, dass es seinen Schwerpunkt verloren hatte.

***

In diesem Buch erzähle ich die Geschichte einer Feuerprobe, einer Zeitspanne, die durch zwei Angriffe auf das Selbstverständnis des Landes definiert ist: den Terrorangriff auf New York und Washington am 11. September 2001 und den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021. In dieser Zeit verloren die Amerikaner das Gemeinwohl aus den Augen und büßten die Fähigkeit ein, der Union Vorrang vor der Summe ihrer Bestandteile zu geben. Anderthalb Jahrhunderte nach dem Bürgerkrieg waren die Vereinigten Staaten einmal mehr eine gespaltene Nation. Ihre Stabilität wurde erschüttert durch Spannungen über das Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und dem Schutz anderer, über die Auseinandersetzung mit der Ungerechtigkeit und über eine grundlegende Frage, die sich jede politische Gesellschaft stellen muss: Wessen Leben hat Bedeutung?

Ich versuche, die verschiedenartigen amerikanischen Erfahrungen miteinander zu verknüpfen und in der desorientierenden Hast dieser 20 Jahre oft übersehene Überschneidungen von Lebensläufen herauszuarbeiten. Ich konzentriere mich insbesondere auf die – bei oberflächlicher Betrachtung oft nicht sichtbaren – Zusammenhänge, die uns ein umfassenderes Verständnis unserer Gegenwart erlauben. Ich kehre an drei mir vertraute Orte zurück – Orte in verschiedenen Landesteilen, an denen ich eine Zeit lang lebte. Allzu oft landen politische Berichterstatter in fremdem Territorium und befragen ein paar Dutzend Fremde. Ich selbst habe das viele Male getan. Aber in diesem Fall bedurfte es einer eingehenderen Untersuchung. Ich hoffte, einige Antworten zu finden, die mehr erklärten, als die unmittelbaren Ereignisse nahelegten: in Zusammenhängen über Raum und Zeit hinweg und in tief verwurzelten Einstellungen, über die Menschen kaum mit einem Fremden sprechen werden.

Ich kehrte nach Clarksburg in West Virginia zurück, um mir ein Bild davon zu machen, was gewonnen worden und verloren gegangen war, als einige der reichsten Amerikaner die Bodenschätze unter den Häusern einiger der ärmsten Amerikaner aus der Erde geholt hatten. Ich kehrte nach Chicago zurück, wo meine Familie Wurzeln geschlagen hatte, um die Auswirkungen der Segregation auf Gesundheit, Wohlstand und die Aussicht auf individuelle Läuterung zu verstehen. Und ich kehrte nach Greenwich in Connecticut zurück, wo ich aufgewachsen und zur Schule gegangen war, um herauszufinden, wie die Botschaft der wirtschaftlichen Freiheit die Überzeugungen von führenden Vertretern des amerikanischen Kapitalismus verändert und dazu geführt hatte, dass für den richtigen Preis alles möglich war.

Diese Darstellung beruht auf Tausenden Stunden von Gesprächen, die ich in den sieben Jahren von 2014 bis 2021 mit Amerikanern führte. Einige meiner Gesprächspartner lernte ich während meiner Tätigkeit für das Magazin TheNew Yorker kennen, andere kenne ich seit meiner Kindheit. Wir unterhielten uns vor allem über ihr Leben, über unsere Städte, über die Entscheidungen, die diese Menschen fällten, und über jene, auf die sie keinen Einfluss hatten. Wir sprachen weniger über die Politik, welche die Schlagzeilen beherrschte, sondern beschäftigten uns vor allem mit den Dingen, die diese auseinanderstrebenden Lebensläufe miteinander verbanden: Wie erklärten sich die Menschen die Triumphe und Katastrophen in ihrem Leben? Wer war verantwortlich, und welchen Preis hatte diese Verantwortung? Wer sagte ihnen die Wahrheit, wer belog sie? Was erwarteten sie von ihrer Regierung – und was bekamen sie von ihr? Wie sicher fühlten sie sich – in ihrem Körper, ihrem Heim, ihrer Nachbarschaft? Und was schuldeten sie einander als Bürger eines politischen Gemeinwesens?

Jedes Land hat eine Geschichte, die sich seine Einwohner über Willenskraft und Schicksal, Freiheit und Zugehörigkeit erzählen. Aber in den Vereinigten Staaten hat diese Geschichte besonderes Gewicht, weil unser definierender Mythos auf dem Versprechen beruht, wir könnten unser Schicksal bezwingen, auf der Vorstellung, jedes Kind könne es mit Talent und harter Arbeit ungeachtet seiner Herkunft bis ganz nach oben schaffen. »Frankreich war ein Land, England war ein Volk«, schrieb der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald im Jahr 1929, aber die Vereinigten Staaten seien »eine Bereitschaft des Herzens«.

In diesem Buch stelle ich einige Fragen zu meinem Land, die ich in der Vergangenheit zu China stellte – zur Bedeutung von Erfolg, Freiheit, Sicherheit und Chancen und zu unserem Schwanken zwischen Menschenwürde und Grausamkeit, Toleranz und Furcht. Trotz des aufwühlenden politischen Alltags interessiere ich mich mehr für die Ursprünge der Situation, in der wir uns befinden. In Ramp Hollow, seiner Geschichte der Appalachen, schreibt der Historiker Steven Stoll: »Die Welt ohne Vergangenheit zu betrachten wäre so, als besuchte man eine Stadt nach einem verheerenden Wirbelsturm und erklärte, die Menschen dort lebten seit je in Ruinen.« Als ich mit den Recherchen für dieses Buch begann, glaubte ich, die wichtigste Geschichte sei die der Quellen der Entfremdung zwischen den Amerikanern. Doch schließlich gelangte ich zu der Überzeugung, dass das größere Problem ist, dass die Amerikaner das Leben ihrer Landsleute jeden Tag auf vielfältige Art und Weise teilweise unabsichtlich beeinflussen, ohne sich dessen vollkommen bewusst zu sein.

Auf meinen Reisen begleitete mich oft das Buch Inside U. ‌S. ‌A. von John Gunther. Ich rief mir gerne in Erinnerung, was er nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten beobachtete. Auf der letzten Seite seines Buchs beschrieb er seinen Glauben an das amerikanische Talent für »den rationalen Zugang, für Vernunft, für die Begegnung der Köpfe in ehrenhafter Übereinkunft nach einer offenen Diskussion«. Meine Entdeckungsreise war im Grunde ein Versuch zu verstehen, wie wir dieses Talent eingebüßt hatten und wie wir es wiederfinden konnten.

Ich verbrachte Jahrzehnte in Weltregionen, in denen die Menschen an den amerikanischen Versprechen und Werten zweifeln, und ich brach oft eine Lanze für die Vereinigten Staaten und forderte Menschen in Ägypten, dem Irak oder China auf, zu glauben, dass sich dieses Land trotz all seiner Mängel zu einigen grundlegenden moralischen Werten bekennt, darunter zum Primat des Gesetzes, zur Kraft der Wahrheit und zum Recht auf das Streben nach einem besseren Leben. Nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten begann ich mich zu fragen, ob ich in all diesen Jahren Menschen in aller Welt – und mich selbst – belogen hatte.

Der Zusammenbruch des Mythos war in Washington nur allzu klar zu sehen. Aber die tieferen Ursprünge und Auswirkungen waren weit entfernt in den realen Dramen des amerikanischen Lebens zu beobachten, in dem die Geschehnisse in der Hauptstadt nur gelegentlich zu sehen sind wie ein am Horizont glühender Flächenbrand.

1 Das Goldene Dreieck

Als Kind an der Muschelküste Floridas erhielt Joseph Skowron III. einen hübschen Spitznamen: Chip. Seine Eltern sagten oft, er sei »a chip off the old block« (er habe Ähnlichkeit mit ihnen beiden), aber sie wussten alle, dass das nicht stimmte. Sein Vater hatte ein Franchise von Long John Silver's. Chip liebte seinen Vater, aber er hatte nicht vor, ins Fast-Food-Geschäft einzusteigen.

Chips Großeltern waren Anfang des 20. Jahrhunderts aus Polen eingewandert und hatten sich unweit der Baumwollfabriken von Fall River in Massachusetts niedergelassen, unterhalb der Landzunge, die in den Atlantik hinausragt. Chips Vater, Joe Skowron, wuchs in einer unglücklichen Familie auf: Seine Eltern wurden von Alkoholismus und Depression zerfressen. Joe lernte, seine Gefühle zu verbergen, und selbst nachdem er eigene Kinder in die Welt gesetzt hatte, zeigte er kaum Emotionen. Wenn Chip ihn nach seiner Jugend fragte, sagte Joe: »Danach kannst du fragen, wenn ich sterbe.«

Joe Skowron schloss die High School Mitte der fünfziger Jahre ab und hatte das Glück, dass Massachusetts zu jener Zeit das staatliche Hochschulwesen ausbaute. Joe entkam der wuchernden Industriestadt und studierte Ingenieurswissenschaften am Southeastern Massachusetts Technical Institute. Nach seinem Abschluss fand er einen Job bei Boeing und wurde an die Atlantikküste von Florida geschickt, wo das Unternehmen im Auftrag der NASA in einem Sumpfgebiet beim Cape Canaveral einen Weltraumbahnhof baute. Dort lernte er Janet Nutter kennen, die aus Swandale in West Virginia stammte, einer Werkskolonie, die von Elk River Coal and Lumber Co. betrieben wurde. Janet kam aus einem schottisch-irischen Clan. Sie hatte jung geheiratet und sich bald wieder scheiden lassen. Nach der Scheidung entschloss sie sich, nach Florida zu ziehen und ein neues Leben zu beginnen. Sie fand Arbeit als Lehrerin in dem Küstengebiet, das die Leute nur als »die Space Towns« bezeichneten. Dort herrschte eine Atmosphäre der Zuversicht. Jane und Joe heirateten im Jahr 1966 und ließen sich in einer Gegend nieder, wo die Kinder an der Bushaltestelle den Raketen zuschauen konnten, die in den strahlendblauen Himmel aufstiegen.

Joe arbeitete als Aufseher in militärischen Raketenprojekten, aber Mitte der siebziger Jahre begann er, unter den hierarchischen Strukturen zu leiden, und war unzufrieden, weil seine Karriere nicht richtig vorankam. Er stieg aus dem Raumfahrtprogramm aus und eröffnete ein Restaurant. Zu jener Zeit zeigte sich auch immer deutlicher, dass seine Frau und er gegensätzliche Charaktere waren: Er war schroff und unnahbar, sie warmherzig und intensiv. Sie reiste gerne, beschäftigte sich mit Philosophie und begann Ende 40 ein Psychologiestudium. Das Paar stritt manchmal erbittert in Gegenwart der Kinder, aber in Gesellschaft von Außenstehenden versuchten die Eheleute, die Krise zu verbergen. Wenn während einer ihrer Auseinandersetzungen jemand an der Tür klingelte, setzten Chips Eltern ein Lächeln auf und baten den Besucher herein. Chip verstand das als eine Lehre: »So machen wir es. Das ist, was wir der Welt zeigen, aber es ist nicht die ganze Wahrheit.«

Janet liebte ihren Sohn abgöttisch. Sie bestärkte ihn in dem Glauben, er sei ungewöhnlich intelligent, und zitierte oft John F. Kennedys aus Lukas 12:48 entlehnten Spruch: »Wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern.« Die Schule fiel Chip leicht, und seine Aufmerksamkeit schweifte ab. Mit zwölf Jahren begann er, Marihuana zu rauchen. Mit 15 fing er an, Kokain zu konsumieren, und mit 16 rauchte er vor dem Tennistraining Crack. Aber der Drogenkonsum wirkte sich nicht auf seine Noten aus, und seine Eltern ließen ihn gewähren. »Solange du Einsen nach Hause bringst, kannst du tun, was du willst«, sagte sein Vater. Chip schloss die Schule als Zweitbester seines Jahrgangs ab.

Er hatte eine klare Vorstellung von seiner Zukunft: Er wollte Arzt werden. In den achtziger Jahren waren Ärzte in der gesellschaftlichen Hierarchie der Vororte Floridas so etwas wie der lokale Hochadel. Sie waren gut ausgebildet, verdienten gut und genossen Respekt. »Das wollte ich«, sagte mir Chip einmal. »Ich wollte wichtig sein. Ich wollte nützlich sein.« Er schrieb sich an der Vanderbilt University in Nashville ein, schloss sich einer Studentenverbindung an und studierte Mathematik und Chemie. Er wollte die ärztliche Praxis mit der Forschung verbinden und bewarb sich für einen Platz in einem prestigeträchtigen Programm in Yale, um ein Doppelstudium von Medizin und Naturwissenschaften zu beginnen. Jedes Jahr wurden sechs Studierende ausgewählt, denen das Studium zur Gänze finanziert wurde.

Ende des Jahres 1990 erfuhr Chip, dass er einen der sechs Plätze ergattert hatte. Er rief seine Eltern daheim in Florida an und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Sein Vater rief zurück und eröffnete ihm mit gebrochener Stimme, dass seine Mutter bei einem Autounfall getötet worden war: Sie war auf dem Weg zu einem Abendessen gewesen, als ein Pick-up ihren Wagen seitlich gerammt hatte. Sie war im Krankenhaus gestorben. Janets Familie holte ihre sterblichen Überreste nach West Virginia zurück und begrub sie auf der Familienfarm.

***

Nach der Beerdigung kehrte Chip von der Trauer benommen ins College zurück. Im folgenden Semester bereitete er sich auf das Medizinstudium vor und unterdrückte die Trauer.

Yale nahm ihn vollkommen in Anspruch. Er studierte bereits einige Jahre, als er an einem Abend in einer Bar in Connecticut eine junge Werbetexterin namens Cheryl Birdsall kennenlernte. Sie war eine Spitzenturnerin in Südkalifornien gewesen und nach dem College an die Ostküste umgezogen, wo sie Arbeit in der Werbebranche gefunden hatte. Die beiden heirateten im Jahr 1996, und zwei Jahre später machte Chip seinen Abschluss in Medizin und Zytologie. Er wurde in Harvard zum Facharzt für orthopädische Chirurgie ausgebildet. Nebenher nahm er als Freiwilliger mit der Katastrophenhilfeorganisation AmeriCares an internationalen Hilfseinsätzen teil. Während eines Einsatzes im Kosovo entfernte er einem sechsjährigen Jungen einen Tumor und bewahrte ihn dadurch vor der Amputation eines Beins. In den Hilfseinsätzen fand er jene Kombination von Dienst und Anerkennung, die er sich stets gewünscht hatte. Von da an trug er stets ein Foto des Jungen in seinem Aktenkoffer bei sich.

Im Jahr 2001, zwei Jahre vor dem Ende seiner Facharztausbildung, wurde Chip klar, dass sein Interesse an der Medizin schwand. Die langen Arbeitszeiten, die Bürokratie und die Versicherungskosten missfielen ihm. Dazu kam, dass die Beziehung zu Cheryl belastet war. Die beiden hatten mittlerweile eine kleine Tochter, die Chip jedoch kaum zu Gesicht bekam, weil seine Arbeit ihn vollkommen in Anspruch nahm. Er hatte Ambitionen und fühlte sich von der Medizin eingeengt.

Wenn er über seine berufliche Zukunft nachdachte, sah er die Möglichkeit, zum Leiter einer chirurgischen Abteilung und irgendwann eines Krankenhauses aufzusteigen; vielleicht konnte er sogar für das Amt des Leiters des öffentlichen Gesundheitswesens kandidieren. Aber diese Optionen weckten keine Begeisterung mehr bei ihm.

Als er seinen Kollegen in Harvard eröffnete, dass er darüber nachdachte, seinen Beruf aufzugeben, waren sie schockiert: Wie konnte er seine Ausbildung und seine Zukunft wegwerfen? Doch er ließ sich nicht beirren und begann, sich nach Jobs bei Beratungsfirmen und Herstellern medizinischer Ausrüstung umzusehen. Dann machte ihm ein Freund, der im Finanzsektor tätig war, den Vorschlag, es an der Wall Street zu versuchen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren Investmentfirmen, die im lukrativen Gesundheitssektor aktiv werden wollten, auf der Suche nach Medizinern. Chip Skowron konnte mit seinen Kenntnissen besonders wertvoll für einen Hedgefonds sein, eine Art von Firma, die den meisten Amerikanern zu jener Zeit noch fremd war, jedoch begonnen hatte, die Kultur des Finanzsektors zu verändern.

Die ersten Hedgefonds waren bereits in den vierziger Jahren gegründet worden, als der Investor Alfred W. Jones auf die Idee gekommen war, die Erträge zu maximieren, indem er sich gegen die Marktschwankungen absicherte (hedge). Man konnte nicht nur Wetten darauf abschließen, welche Kurse steigen würden, sondern auch darauf, welche fallen würden. Anders als die offenen Investmentfonds, die nur innerhalb enger Grenzen mit Aktien und Anleihen handeln durften, um die Gefahr katastrophaler Verluste zu verringern, konnten die Hedgefonds hohe Wetten abschließen. Die Börsenaufsichtsbehörde Securities and Exchange Commission (SEC) behandelte diese Fonds wie hochreaktive Chemikalien: Sie waren erlaubt, durften jedoch nicht in die Hände unbedarfter Kunden gelangen. Hedgefonds konnten mit fast allem handeln – mit Derivaten, Fremdwährungen und sogar Eigentumsrechten an Gebäuden –, solange sie nur Geld von »anerkannten« Investoren annahmen, das heißt von Personen und Institutionen, die über ausreichende Mittel verfügten, um den Verlust eines Teils ihres Geldes verkraften zu können – also von den Reichen. Daher wusste die breite Öffentlichkeit wenig über die Hedgefonds. Das änderte sich erst um die Jahrtausendwende, als unübersehbar wurde, dass die Fondsmanager mehr Geld als fast alle anderen Amerikaner verdienten. Im Jahr 2004 berichtete das Branchenmagazin Institutional Investor, dass die 25 erfolgreichsten Hedgefonds-Manager im Vorjahr im Durchschnitt 207 Millionen Dollar verdient hatten. Die Zeitschrift schrieb: »Nie zuvor haben so wenige so schnell so viel Geld verdient.«

Skowron wusste nichts über die Wall Street. Er hatte noch nie eine Bilanz oder eine Gewinn- und Verlustrechnung gesehen. Aber die Idee schien ihm verlockend. Also ging er in eine Buchhandlung, um sich Literatur zu beschaffen. Er kaufte einen Ratgeber mit dem Titel Getting Started in Hedge Funds (Erste Schritte im Hedgefonds-Geschäft). Der Autor Daniel A. Strachman, ein Bereichsleiter in einer Investmentfirma, ermutigte seine Leser mit folgenden Worten: »Die erforderlichen Persönlichkeitsmerkmale sind ein ausgeprägtes Ego, Unternehmergeist und Wagemut. Eine Erfolgsgeschichte kann nicht schaden, aber in einigen Fällen ist Erfahrung nicht gern gesehen.«

Aus diesem Buch lernte Chip Skowron das grundlegende Vokabular des Finanzwesens – Bullenmärkte, Derivate, Standardabweichungen – und erfuhr, welcher großzügigen Formel die Hedgefonds ihre hohen Gewinne verdankten: Sie strichen zwei Prozent der Beträge, die ihnen ihre Investoren anvertrauten, als Verwaltungsgebühr ein, und von den Gewinnen behielten sie 20 Prozent. (Einige Fonds verlangten sogar einen noch höheren Anteil.) »Wenn die Manager am Arbeitsplatz erscheinen und Ergebnisse liefern«, heißt es bei Strachman, »sind den möglichen Erträgen fast keine Grenzen gesetzt.« Das Buch schloss mit einem libertären Tusch, der den Zeitgeist der Welt der Hedgefonds gut hinüberbrachte: Politiker und Aufsichtsbehörden, so Strachman, »verstehen wenig von Geld und Märkten«. Und er riet ihnen: »Haltet euch aus dem Geschäft heraus und lasst die Chips dort fallen, wo sie wollen.«

Die neue Generation von Finanzexperten, der sich Skowron anschließen wollte, war nicht mehr physisch an die Wall Street gebunden. Das Internet ermöglichte es den Händlern, ihrer Tätigkeit von jedem beliebigen Ort aus nachzugehen, und viele verließen Manhattan, um den hohen Einkommenssteuern in der Stadt zu entgehen und bei ihren Familien in New Jersey, in den Hamptons oder im Süden Neuenglands sein zu können. Es dauerte nicht lange, da wohnten oder arbeiteten zehn der erfolgreichsten Hedgefonds-Manager in einer einzigen Stadt: in Greenwich im Bundesstaat Connecticut.

Einer dieser Manager war Steven A. Cohen, ein Milliardär, der eine Firma leitete, deren Name seine Initialen beinhaltete: S. ‌A. ‌C. Capital Advisors. Ein Freund vermittelte Skowron ein Bewerbungsgespräch bei S. ‌A. ‌C., und als er beim Firmensitz eintraf, stellte er fest, dass sich dort ein weiterer Freund, der die Neurochirurgie aufgegeben hatte und mittlerweile für die Firma arbeitete, für ihn verbürgen konnte. In einer Gehaltsverhandlung fragten Manager von S. ‌A. ‌C. Capital Skowron, was er als Chirurg in Harvard verdiente. 50 ‌000 Dollar, antwortete er. Sie sagten, sie würden diesen Betrag vervierfachen, und wenn er seine Sache gut mache, werde er obendrein einen üppigen Bonus erhalten.

Nach dem Bewerbungsgespräch rief Skowron seine Frau an, die sich daheim in West Newton in Massachusetts um die zweijährige Tochter des Paars kümmerte und im siebten Monat schwanger mit ihrem zweiten Kind war. »Diese Leute haben mir ein Angebot gemacht. Es ist verrückt«, sagte er. »Wir müssen umziehen.« Die beiden dachten darüber nach, sich eine Wohnung in der Upper East Side in Manhattan zu suchen, entschieden sich dann jedoch für Greenwich, das die Zeitungen mittlerweile als »Hedgefonds-Hauptstadt der Welt« bezeichneten.

***

In der amerikanischen Finanzgeschichte spielt die Ortschaft Greenwich eine wiederkehrende Rolle, die älter ist als die Republik. Die Südspitze von Connecticut wird vom blaugrauen Wasser des Long Island Sound und der bewaldeten Grenzregion des Staats New York eingerahmt. Im Sommer 1640 gingen englische Siedler, welche die Kolonie in der Massachusetts Bay im Norden verlassen hatten, an einem fruchtbaren Küstenstreifen an Land, den die indigene Bevölkerung als Monakewaygo bezeichnete, als schimmernden Sand. Dort gab es offenes Grasland, Moosbeerenfelder und Wälder, in denen Bären, Wölfe und Bieber zuhause waren.

In Politik und Kultur wurde Greenwich zu einer Collage von Neuengland und New York. An diesem Ort ließen sich Puritaner nieder, die versuchten, »das richtige Gleichgewicht zwischen dem wirtschaftlichen Erfolg ihrer Gemeinschaft« und einem Maß an Erfolg zu finden, »das Gott beleidigen würde«. Die Puritaner glaubten an das, was der Schriftsteller und Philosoph Ralph Waldo Emerson später als einen »gebieterischen Sinn für Richtig und Falsch« bezeichnen sollte, an eine asketische Entschlossenheit, die Moral in den Mittelpunkt der Politik zu rücken. Die Puritaner waren lange fort, doch die Spannung kam weiter in einer unablässigen Auseinandersetzung zwischen dem »Brahmin« und dem »Buccaneer«, zwischen der zurückhaltenden Ostküstenaristokratie und den geschäftlichen Freibeutern, zwischen Dienst und Gewinn, zwischen Selbstbeschränkung und Gier zum Ausdruck.

Eine Zeit lang hatte die Ostküstenaristokratie die Oberhand. Die ersten Vermögen wurden in Greenwich mit Land und Meer verdient: Von den Farmen wurden Lebensmittel nach New York City gebracht, Fischer sammelten Austern, und die örtlichen Bergwerke lieferten den Granit für die Sockel der Brooklyn Bridge. Aber im Jahr 1848 traf die Eisenbahn in Greenwich ein, und von nun an dauerte die Reise in die Stadt nicht mehr einen ganzen Tag zu Pferd, sondern nur noch eine Stunde im Zug. In der Werbebroschüre eines Bauherrn wurde das Städtchen »erschöpften Sterblichen aus der rastlosen Metropole« ans Herz gelegt, die »Gesundheit, Glück und Annehmlichkeit, ganz zu schweigen von Wohlstand« suchten. Sie bauten Herrenhäuser, die sich mit den Châteaux und Palazzi der Alten Welt messen konnten, darunter Repliken des Petit Trianon in Versailles und des englischen Warwick Castle.

Viele der neuen Einwohner arbeiteten an der Wall Street, der Heimat des aufblühenden amerikanischen Finanzsektors, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden war, um Ersparnisse einzusammeln und als Kapital für produktive Unternehmungen bereitzustellen. Nachdem Forscher herausgefunden hatten, dass sich Epidemien teilweise durch die Verwendung gemeinschaftlicher Zinnbecher an Brunnen ausbreiteten, finanzierte ein Investor aus Greenwich namens William T. Graham im Jahr 1908 die Entwicklung eines als Dixie Cup bezeichneten Einwegbechers aus Papier, der Graham ein Vermögen einbrachte und viele Menschenleben rettete. Ein weiterer neuer Einwohner, Zalmon G. SimmonsII., der »Henry Ford des Schlafs«, entwickelte die Massenfertigung von Matratzen.

Andere Bürger der Stadt wurden für fortschrittliche Geschäftspraktiken bekannt. Im Jahr 1927 hielt Owen D. Young, ein Einwohner Greenwichs, der einer der ersten Vorsitzenden von General Electric war, an der Harvard Business School eine Rede, in der er jene Geschäftsleute rügte, die »Mittel und Wege finden, um aus den Arbeitern die letzte Unze Kraft und den letzten Penny Gewinn herauszupressen«. Er empfahl ihnen, stattdessen »über menschliche Wesen nachzudenken – über eine Gruppe von menschlichen Wesen, die ihr Kapital investieren, und eine andere Gruppe von Menschen, die ihr Leben und ihre Arbeitskraft investieren, und beide tun dies gemeinsam und zum beiderseitigen Vorteil.« Rick Wartzman, ein langjähriger Leiter des Drucker Institute und Experte für die historische Entwicklung des Unternehmensverhaltens, erklärt: »Das ging tatsächlich über bloße Rhetorik hinaus. Es war viel eher eine ›Wir‹-Kultur als eine ›Ich‹-Kultur.« Unter Youngs Führung wurde General Electric eines der ersten amerikanischen Unternehmen, die ihren Arbeitern eine Rente, Gewinnbeteiligungen, eine Lebensversicherung, Kredite und Wohnbeihilfen anboten. Im Jahr 1939 zog sich Young im Alter von 65 Jahren aus dem Unternehmen zurück und kehrte in das 125-Seelen-Dorf Van Hornesville im ländlichen New York zurück. Als Gouverneur von New York hatte ihn sein Freund und Verbündeter Franklin D. Roosevelt als »unverzichtbaren Faktor bei fast jedem Fortschritt der Nation« gepriesen.

Greenwich war auch die Heimat einiger progressiver Journalisten und Romanciers, darunter Lincoln Steffens, Anya Seton und Munro Leaf. Aber besonders beliebt war der Ort bei Führungskräften – von General Electric, Texaco, U. ‌S. Tobacco –, die vor der hohen Einkommenssteuer in New York flohen. Andere Einwohner fungierten als ihre Investmentbanker, eine Gruppe, deren Handeln an heutigen Maßstäben gemessen unglaublich konservativ war. Im Großen und Ganzen hatten sich die örtlichen Republikaner mit der Stärkung des Staates unter Franklin D. Roosevelt abgefunden und bemühten sich, Exzesse und Insolvenzen zu vermeiden.

In den Jahren nach dem Gilded Age, jener von enormem Wohlstand und extremer Armut geprägten Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts, war es verpönt, den eigenen Reichtum zur Schau zu stellen. Bei Morgan Stanley lieferten sich die Führungskräfte einen Wettbewerb um die Frage, wer von ihnen die billigste Armbanduhr tragen konnte. »Einige der reichsten Leute kleideten sich wie Gärtner«, erinnert sich ein Freund von mir, der in der nahe gelegenen Ortschaft Darien aufwuchs. Das Stadtwappen von Greenwich verkündete eine spröde Yankee-Ethik: »fortitudine et frugalitate« – Tüchtigkeit und Sparsamkeit.

***

Meine Urgroßeltern Albert und Linda Sherer zogen im Jahr 1937 aus Chicago nach Greenwich. Albert war ein Republikaner, der bei der National Biscuit Company in der Werbeabteilung arbeitete, und Linda zog die beiden Kinder des Paars auf. Sie lebten bis 1968 zur Miete; dann kauften sie ein weiß getünchtes Haus im Kolonialstil mit Rasen an der Round Hill Road, die ihren Namen von der Anhöhe im Nordwesten von Greenwich hatte. Im Unabhängigkeitskrieg hatte die Kontinentalarmee einen Beobachtungsposten auf dem Round Hill, denn von dort aus hatte man einen ungehinderten Blick über die Obstgärten und Wiesen bis zur Küste des Long Island Sound in der Ferne. Das Haus ging von einer Generation auf die nächste über, und als ich neun Jahre alt war, zogen meine Eltern mit meiner Schwester und mir von Brooklyn nach Greenwich, wo wir in einer Welt voller Abenteuer lebten. Es war ein sicherer Ort voller Möglichkeiten. Es gab öffentliche Strände, gepflegte Parks und eine gute Bibliothek. Im Jahr 1994 machte ich meinen Abschluss an der Greenwich High School, die zu den wenigen öffentlichen Schulen mit einem guten Wasserballteam und einem Elektronenmikroskop zählte. (Das Mikroskop war eine Schenkung, die ein preisgekrönter Lehrer für Naturwissenschaften erhalten hatte.)

Die Leute in unserer Stadt haben nicht viel übrig für die Karikaturen, die von Greenwich gezeichnet werden – die steifen Patrizier, die Taugenichtse aus guter Familie, die Geschichte der Ausgrenzung –, selbst wenn etwas Wahres an diesem Bild ist. Jahrzehntelang wurden Afroamerikaner und Juden nach Möglichkeit daran gehindert, Häuser in Greenwich zu kaufen. Nach Aussage von Timothy Dumas, einem Autor und Journalisten, der in Greenwich aufwuchs, »fraß sich die Bigotterie tief in die morastige Seele der Stadt und stieg hin und wieder wie eine Gasblase an die Oberfläche«. Im Jahr 1953 versuchten der afroamerikanische Baseballstar Jackie Robinson von den Brooklyn Dodgers und seine Frau Rachel ein Haus in Greenwich zu kaufen, aber der Eigentümer weigerte sich, es ihnen zu zeigen. Im Jahr 1961 schrieb eine Immobilienmaklerin aus Greenwich in einer Mitteilung an Kollegen, die später in einem Gerichtsverfahren als Beweismittel vorgelegt wurde, wenn der Name eines potenziellen Käufers »jüdisch wirkt, sollte man sich nirgendwo mit ihm treffen«. Im Jahr 1975 tauchten Demonstranten in der Stadt auf, die Schilder mit Aufschriften wie »Cocktail-Bigotte« und »Gebt etwas vom Sommer ab!« trugen. Der Hintergrund war, dass Greenwich Personen, die nicht in der Stadt ansässig waren, den Zugang zum örtlichen Strand verwehrte – eine Beschränkung, die bis 2001 Bestand hatte, als der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates Connecticut sie für verfassungswidrig erklärte.

Zu den mit der Ansiedlung in Greenwich verbundenen Privilegien zählte, dass man sich über den Ort lustig machen durfte. Im Jahr 1986 ließ sich Jane Condon, eine Autorin und Comedian, die in der rauen Arbeiterstadt Brockton in Massachusetts aufgewachsen war, mit ihrem Ehemann, der für eine Bank arbeitete, in der Stadt nieder. Bei einer gemeinnützigen Spendenveranstaltung in der Christ Church, einem Mittelpunkt der weißen angelsächsischen protestantischen Kultur, erzählte sie einige Witze. »Nach meinem Auftritt«, erzählte sie mir, »trat dieser sehr patrizische Herr an mich heran und sagte: ›Sie sind so lustig, ich hätte fast laut gelacht.‹ Die Leute in Greenwich lächeln eher, als dass sie lachen.« Condon schrieb auch ein paar Witze über die Lokalpolitik, darunter folgende Zeile: »Ich hatte einen Clinton-Autoaufkleber. Die Leute bewarfen mein Auto mit Martini-Gläsern.« (»Solche Witze funktionieren außerhalb besser«, so Condon.)

Niemand behauptete, dass die Hindernisse verschwanden, aber im Lauf der Jahre wurde die Stadt vielfältiger. In den neunziger Jahren waren fast 20 Prozent der Einwohner asiatischer, lateinamerikanischer und afroamerikanischer Herkunft. Neben dem alten Geldadel gab es nun auch eine Mittelschicht von Ladenbesitzern, Handwerkern und Lehrern. Bob und Carol Lichtenfeld, beide Lehrer, zogen 1976 aus einer Einzimmerwohnung in Yonkers nach Greenwich um, wo sie für 250 Dollar im Monat ein Haus mieteten und sich schließlich ein Eigenheim mit vier Schlafzimmern bauten. »Leute mit mittlerem Einkommen konnten sich in Greenwich ein Grundstück kaufen und ein Haus bauen«, berichtete mir Bob. »Wir mussten uns nach der Decke strecken, aber wir schafften es. Was ist typischer für die Mittelschicht als ein Lehrerehepaar?«

In vielen Fällen war auf den ersten Blick schwer zu sagen, ob ein Nachbar ein Lehrer oder ein Spitzenmanager war. Einer der mächtigsten Kapitalisten Amerikas, Reginald Jones, der im Jahr 1972 Vorsitzender und Geschäftsführer von General Electric wurde, lebte in Greenwich in einem Ziegelhaus im Kolonialstil. Seine Tochter Grace Vineyard erzählte mir: »Er fragte meine Mutter: ›Gibt es noch etwas, was du dir wünschst?‹ Und sie antwortete: ›Warum sollte ich noch mehr wollen?‹« Jones hatte nur Geringschätzung für Nachbarn übrig, die ihr Vermögen nicht damit verdient hatten, dass sie Menschen Arbeit gaben und Dinge erzeugten, sondern ihren Reichtum der Finanztechnik verdankten. Vineyard erinnerte sich: »Er fragte: ›Erschaffen sie irgendetwas?‹ Es störte ihn sehr, dass sie Geld aus der Wirtschaft heraussaugten, ohne irgendetwas Neues zu erzeugen.«

Leo Hindery arbeitete als junger Manager für Jones. »Ich verdiente 15 ‌600 Dollar, als ich nach dem Studium in Stanford in die Firma eintrat, und Reg hatte ein Gehalt von 200 ‌000 Dollar«, berichtete mir Hindery. »General Electric war das wichtigste Unternehmen Amerikas, und der Geschäftsführer verdiente das Zwölf- bis Dreizehnfache dessen, was ich bekam.« Nach Erkenntnissen des Economic Policy Institute war das kein ungewöhnliches Verhältnis: Im Jahr 1965 verdiente der Geschäftsführer eines börsennotierten Unternehmens von durchschnittlicher Größe etwa 20 Mal mehr als ein Arbeiter in der Fertigung. Im Jahr 2019 verdiente er das 278-Fache.

***

Im Juni 2001 machte sich Chip Skowron auf den Weg nach Süden, um sein »eigenes Imperium zu errichten«, wie er es nur halb im Scherz ausdrückte. Cheryl blieb mit den beiden Kindern in Boston zurück, um das Haus zu verkaufen und zu packen.

Als Skowron zu seinem ersten Arbeitstag im Büro erschien, hatte er das meiste, was er über seinen neuen Job wusste, aus dem Buch Getting Started in Hedge Funds gelernt. Er fand rasch heraus, dass es das Klügste sein würde, möglichst wenig zu sprechen. Und er stellte fest, dass er großzügig bezahlt wurde, dass sein Arbeitsplatz jedoch ständig in Gefahr sein würde. »Wenn du keine Ergebnisse lieferst, bist du raus«, erklärte er mir. »Es ist vorbei. Es gibt kein ›Du hast dich bemüht. Guter Versuch.‹ Nur die Leistung zählt. Wichtig sind nur die Ergebnisse.«

Die Skowrons kauften ihr erstes Eigenheim, ein renovierungsbedürftiges Haus im Ranchstil aus den fünfziger Jahren an einer Straße, die sich durch den Wald schlängelte. Greenwich durchlief zu jener Zeit eine Wandlung. Viele der neuen Anwesen waren nicht länger von den einfachen hüfthohen Steinmauern eingefriedet, die sich durch die Landschaft Neuenglands zogen. Diese Begrenzungen wurden durch eindrucksvollere Hindernisse ersetzt: hohe Mauern aus gemeißelten Steinen, die mit Mörtel befestigt waren.

Die Mode der höheren Mauern hatte wenig mit Sicherheitsbedenken zu tun, denn Greenwich hatte eine der niedrigsten Verbrechensraten in den Vereinigten Staaten. Frank Farricker, der in der Raumplanungskommission der Gemeinde saß, sieht Symbole von Macht und Abschottung darin. »Statt einem Meter hohe Mauern wollten die Leute jetzt zwei Meter hohe Mauern«, sagt er. »Das sind ›Leck mich‹-Mauern.« Benachbarte Gemeinden behandelten den Trend wie eine invasive Spezies. Sie stellten neue Regeln für die Begrenzung von Grundstücken auf, um die Ausbreitung der »Greenwich-Mauern«, wie die Steinmetze sie nannten, zu verhindern.

Die Mauern waren das Produkt einer der außergewöhnlichsten Vermögensakkumulationen in der amerikanischen Geschichte. In großen Teilen des Landes hatte der wirtschaftliche Umbruch der siebziger Jahre zu Massenentlassungen, zur Verlagerung der Produktion ins Ausland und zu schwindender Gewerkschaftsmacht geführt, aber an der Wall Street weckte er kreative Energie. In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatten Finanzmanager und Ökonomen große neue Einsatzgebiete für Spekulation und Finanztechnik erschlossen – sie hatten aggressive Methoden entwickelt, anhand deren die Wertpapierspekulation ausgeweitet, Unternehmen verschmolzen und Ausgaben unter Einsatz des Konkursrechts und anderer Techniken gesenkt werden konnten. Der Börsenwert der amerikanischen Unternehmen stieg um das Zwölffache, und ein Großteil der Gewinne floss den reichsten Amerikanern zu. Im Jahr 2017 strichen die Wall-Street-Firmen 23 Prozent der amerikanischen Unternehmensgewinne ein – und viele Manager dieser Firmen lebten in Connecticut.

Diese Dealmacher verdienten sehr viel mehr als die frühen Industriemanager. In Greenwich strich der erfolgreichste Hedgefonds-Manager, Edward Lampert, im Jahr 2004 mit der Fusion der Supermarktketten Kmart und Sears schätzungsweise 1,02 Milliarden Dollar ein. Lampert gehörte nicht zu denen, die sich wie ein Gärtner kleideten. Vor der Küste lag seine 90-Meter-Yacht Fountainhead vor Anker, deren Name Ayn Rands Roman über den Triumph des Individualismus entlehnt ist. (Der Held des Romans, Howard Roark, entwirft Wolkenkratzer und erklärt: »Niemand hat ein Recht auf eine Minute meines Lebens. […] Egal, wer diesen Anspruch erhebt, egal wie viele es sind oder wie groß ihr Bedürfnis.«)

Den zweiten Platz in der Rangliste der Superreichen nahm Paul Tudor JonesII. ein, ein ehemaliger Baumwollhändler, der den Börsenkrach von 1987 vorhergesagt hatte und zum bestbezahlten Manager an der Wall Street aufgestiegen war. Jones erwarb die Villa, die der Dixie-Cup-Investor William T. Graham gebaut hatte. Er ließ sie abreißen und durch ein Herrenhaus ersetzen, das dem Herrenhaus Thomas Jeffersons nachempfunden war. In der Garage war Platz für 25 Autos. Im südlichen Connecticut wurde derart großer persönlicher Reichtum angehäuft, dass sich Steuerprüfer daranmachten, die vierteljährlichen Zahlungen eines halben Dutzends der reichsten Steuerzahler zu überwachen, weil sich deren persönliche Einkünfte auf die Fähigkeit des Bundesstaates zur Finanzierung der öffentlichen Dienste auswirken würde.

Die Manager von Morgan Stanley trugen mittlerweile keinen Wettbewerb mehr über die Frage aus, wer die billigste Armbanduhr tragen konnte. (Der gegenwärtige Vorsitzende und Geschäftsführer James Gorman wird in Blogs für Uhrenfans dafür gefeiert, dass er eine seltene Rolex im Wert von 17 ‌000 Dollar trägt.) Reginald Jones' Nachfolger bei General Electric, Jack Welch, beendete seine Karriere mit einer Rekordabfindung von mehr als 400 Millionen Dollar. Einer von Jones' Freunden, der Investor Vincent Mai, war entsetzt darüber, dass viele Unternehmensleiter kurzfristigen Interessen Vorrang vor der langfristigen Vision gaben. »Die Kultur hat sich geändert, und mittlerweile geht es darum, sich möglichst schnell möglichst viel unter den Nagel zu reißen«, sagte mir Mai, der Gründer und Vorsitzende der Cranemere Group, in einem Gespräch. »Die Selbstbeschränkung wurde über Bord geworfen.« Der stellvertretende Chairman einer Wall-Street-Bank eröffnete einem Berater in Greenwich: »Wissen Sie, was ich im letzten Monat getan habe? Ich habe Bonuszahlungen in Höhe von acht Milliarden Dollar verteilt – und niemand in dieser Firma ist zufrieden.«

Das Geld gab Teilen der Stadt ein neues Gesicht. In der Greenwich Avenue, der wichtigsten Geschäftsstraße des Orts, wurde eine Woolworth's-Filiale durch eine der Luxus-Kaufhauskette Saks Fifth Avenue ersetzt. Der Favorite Shoe Store musste einer Filiale des Damenausstatters Lilly Pulitzer weichen. Andere Geschäftslokale wurden von Ralph Lauren und Hermès übernommen. Finanzleute bauten sich riesige Herrensitze ähnlich denen der Eisenbahnbarone des Gilded Age. Chip Skowrons Chef Steve Cohen bezahlte 14,8 Millionen Dollar in bar für ein Haus, ließ eine Eislaufbahn, eine Basketballhalle, Putting Greens, ein Fairway und einen Massageraum anbauen, wodurch die Grundfläche des Gebäudes schließlich auf 3350 Quadratmeter anwuchs – womit es größer als das Taj Mahal war. Die Krone setzte Cohen dem Ganzen auf, indem er eine Sondergenehmigung einholte, um sein Anwesen mit einer Mauer zu umgeben, deren Höhe das von der Gemeinde vorgegebene Maß überschritt. Sie war drei Meter hoch.

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Nach weniger als einem Jahr bei Cohen wurde Skowron von einem weiteren bekannten Hedgefonds abgeworben, dem von Israel »Izzy« Englander geleiteten Millennium Management. Aber schon bald begann er mit der Planung eines eigenen Fonds.

Er war zu einer ungewöhnlich bewegten Zeit in der Welt der Hedgefonds angekommen. Noch vor Kurzem hatte sich an der Wall Street fast alles um die erste Welle von Internetfirmen gedreht, und die Investmentbanken hatten viel Geld mit den Börsengängen dieser Unternehmen verdient. Der NASDAQ