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Jeremiah Flynn starrte auf die frischen Organe im Zentrum des umgekehrten Pentagramms. Er hatte das Symbol mit Schweineblut auf den Boden gemalt.
Endlich! Nach so langer Zeit der Vorbereitung konnte er den Teufel beschwören. Er zerrte einen Dolch aus dem Hosenbund und zog sich die Schneide quer über die linke Handfläche. Ein scharfer und zugleich süßer Schmerz durchzuckte ihn. Mit verzerrtem Gesicht presste er die Hand zur Faust. Blut quoll zwischen den Fingern hervor. Er ließ etliche Tropfen in das Pentagramm perlen.
Da geschah es! Kaum berührte das Blut den Boden, warf es Blasen, als koche es.
"Erscheine, Satan!"
Doch es war nicht Satan, der erschien ...
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2016
Cover
Impressum
Das Kompendium von Vrytha
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: shutterstock/VikaSuh; BPTU
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4197-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Das Kompendium von Vrytha
(1. Teil)
von Eric Wolfe und Stefan Albertsen
Die Welt hielt ihn für tot. Und auf gewisse Weise war er das auch. Umgebracht von einem Asiaten und einer blonden Frau. Sein Körper war längst verfallen, doch die Seele hatte sich gerettet. Niemand hatte bemerkt, dass nur seine fleischliche Hülle zerstört war. Wieder einmal hatte er alle überlistet. Aber stimmte das? Konnte man wirklich von Rettung sprechen – an einem Ort, von dem es kein Entkommen gab?
Er wusste nicht, wie viel Zeit seit seinem Tod vergangen war. Ein Jahr? Zehn? Hundert? Noch länger? Für ihn fühlte es sich an wie eine Ewigkeit.
Zu Beginn der Gefangenschaft hatte er Trost in den Wörtern und den Geschichten gefunden, die ihn umgaben. In dem Wissen, das er in sich aufsog.
Intensiver, als er es zu Lebzeiten gekonnt hätte, verinnerlichte er die Berichte über die fünf Schwarzen. Barantar, Niridis, Woxhon, Tunvur und Kerrendes, so lauteten ihre Namen. Vier Diener und ein Herr.
Alles, was es über sie zu erfahren gab, durchflutete ihn. Wie sie geboren wurden, wie sie lebten, wie und warum einer von ihnen die anderen vier schließlich bannte.
Und wie er sie befreien konnte. Oder wie er es könnte, wenn er nicht selbst ein Gefangener wäre.
Bei der Erkenntnis, nichts ausrichten zu können, schrie seine Seele die Verzweiflung stumm in die Beengtheit des Kerkers hinaus.
Warum hatte er dieses Wissen nur nicht schon vor dem Tod besessen? Alles wäre so viel einfacher gewesen.
In Gedanken wanderte er zurück in die Vergangenheit, hin zu dem Tag, als er seine wahre Bestimmung erfuhr.
***
Jeremiah Flynn kniete im Keller seines Hauses und starrte auf die frischen Organe im Zentrum des umgekehrten Pentagramms. Er hatte das Symbol mit Schweineblut so auf den Boden gemalt, dass ein Zacken nach unten wies und die Form an einen stilisierten Teufels- oder Ziegenkopf mit spitzem Kinn erinnerte. Das Zeichen des Satans.
Die Flammen der schwarzen Kerzen, die auf den Pentagrammspitzen standen, flackerten und zuckten, obwohl kein Lufthauch ging, und verliehen den Organen einen dunkelroten Schimmer.
Flynn lächelte, als er die Gebärmutter betrachtete. Dieses wunderbare Stück Gewebe, das einerseits neues Leben hervorbrachte und andererseits den Sitz der weiblichen Hysterie darstellte.
Wie auch das Herz hatte er es vor wenigen Stunden der Leiche einer Frau entnommen, der er in ihrer Wohnung in der Dorset Street die Kehle durchgeschnitten hatte. Angst, dass man ihm auf die Schliche kam, verspürte er nicht, denn er war sicher, dass man die Tat dem Serienkiller zuschrieb, der seit einigen Monaten in Whitechapel sein Unwesen trieb.
Wahrscheinlich dauerte es nur noch ein paar Stunden, bis man die Leiche fand. Und tags darauf würde die Schlagzeile lauten: »Jack the Ripper hat wieder zugeschlagen – Mary Jane Kelly wurde fünftes Opfer des Mörders«.
Vielen Dank, Jack, wer auch immer du sein magst, dachte Flynn, dass ich in deinem Schatten der Erfüllung meiner Pläne entgegenstreben darf.
Und diese Pläne sahen vor, den Teufel zu beschwören.
Endlich! Nach so langer Zeit der Vorbereitung.
Schon seit frühester Kindheit hatte Jeremiah bemerkt, dass er etwas Besonderes war.
Wie hatte er sich doch an dem Schmerz ergötzt, den er in den Augen der gefangenen Hunde und Katzen sah, wenn er sie quälte? Schnell war ihm aufgefallen, dass ihm ihr weichendes Leben Kraft verlieh.
Wie hatte er sich an der Angst gelabt, mit der andere Jungs ihm begegneten, ohne dass er etwas dazu tun musste? Es war, als fühlten sie, dass in dem kleinen Jeremiah eine starke böse Macht lauerte.
Seinen ersten Mord hatte er mit vierzehn begangen. Rodrick, dieser widerliche, stupsnasige Nachbarsjunge hatte ihn ausgelacht, nachdem er vom Apfelbaum gefallen war. Es war das letzte Lachen in Rodricks nutzlosem Leben gewesen. Jeremiah hatte so lange auf den Burschen eingeprügelt, bis er sich nicht mehr rührte und sein Gesicht kaum noch als solches erkennbar war. Und wieder hatte der junge Flynn gespürt, wie er die Lebenskraft des Opfers in sich aufnahm.
Inzwischen war er sich nicht mehr sicher, aber er glaubte sich zu erinnern, dass er damals zum ersten Mal die Funken gesehen hatte, die zwischen seinen Fingern sprühten. Winzige Spuren der Magie, die er später zu beherrschen lernte.
Aber er lernte noch etwas anderes: unauffällig zu bleiben, seine Neigungen im Verborgenen auszuleben.
Wahrscheinlich war es nur so zu erklären, dass er mit Agnes eine Frau gefunden hatte, die ihn zu lieben glaubte und die ihm sogar eine Tochter geschenkt hatte.
Die beiden ahnten nicht einmal, als was er sie wirklich sah: als potenzielle Opfer. Doch das konnte warten.
Zuerst war es an der Zeit, aus den Schatten zu treten und die nächste Stufe zu erklimmen. Und Satan würde ihm dabei helfen.
Flynn sank vor dem Pentagramm auf die Knie und neigte den Kopf. Die Feuchtigkeit des Bodens, die durch den Hosenstoff bis zur Haut der Knie kroch, störte ihn kaum.
Er murmelte die Beschwörungsformel, die er in einem alten Buch gefunden hatte, flehte den Teufel an, ihm zu erscheinen und ihm noch größere Macht zu verleihen.
Nichts geschah.
Also wiederholte er die Formel, sprach sie sogar ein drittes und ein viertes Mal.
Ohne Erfolg.
Doch er gab nicht auf. Minuten vergingen und wurden zu Stunden, in denen er unerlässlich die gleichen kehlig klingenden Worte sprach. Allmählich trocknete ihm der Mund aus. Flynn wurde heiser. Seine Stimme nahm einen flehentlichen Klang an.
Aber sosehr er auch bat und forderte und beschwor, Satan erschien nicht.
Wut kochte in ihm hoch. Lange genug hatte er sie unterdrückt, und nun brach sie sich Bahn.
»Warum nimmst du meine Opfer nicht an?«, brüllte er in den Keller hinein. Dass ihn Agnes oder Deborah oben im Haus hören könnten, war ihm gleichgültig. »Habe ich nicht alles getan, was der Ritus vorschreibt? Ich habe für dich getötet, Satan, habe einer Frau das Herz und die Gebärmutter entrissen, bringe dir die Opfer dar, die du verlangst! Also zeig dich mir!«
Satan dachte gar nicht daran.
Konnte es sein, dass …?
Flynn erschauderte, als er den Fehler erkannte. Zwar mochte er Mary Jane Kelly für den Teufel ermordet haben, ihre Lebenskraft jedoch hatte er selbst in sich aufgenommen. So, wie es jedes Mal geschah, wenn er ein Leben stahl.
Erschien Satan deshalb nicht? Weil es für ihn nichts zu holen gab?
»Was kann ich dir noch bieten?«, fragte Flynn. »Mein Blut?«
Er zerrte einen Dolch aus dem Hosenbund und zog sich die Schneide quer über die linke Handfläche. Ein scharfer und zugleich süßer Schmerz durchzuckte ihn.
»Ist es das, was du willst?«
Mit verzerrtem Gesicht presste er die Hand zur Faust. Blut quoll zwischen den Fingern hervor.
»Dann nimm es!«
Er ließ etliche Tropfen in das Pentagramm perlen.
Da geschah es! Kaum berührte das Blut den Boden, warf es Blasen, als koche es. Wie von selbst glitt es in Zickzackbahnen auf die Organe zu, sickerte in sie ein und …
Die Beschwörungskerzen erloschen. Dennoch lag ein rötlicher Schimmer über dem Kellerraum. Er drang aus dem plötzlich pulsierenden Herz.
Flynn spürte eine fremde Präsenz in der Nähe und konnte sich nur mit Mühe einen Jubelschrei verkneifen.
»Erscheine, Satan!«
Ich bin nicht Satan, dröhnte unvermittelt eine Stimme in seinem Kopf.
»Aber …«
Mit einem puffenden Geräusch schlugen Flammen aus den Organen und vereinten sich zu einer einzigen Feuersäule. Ein fingerdicker Strang zuckte daraus hervor, drang in Flynn ein, packte seine schwarze Seele und zerrte sie aus dem Körper.
Hinein ins Feuer!
»Nein!«, wollte Flynn schreien, aber sein seelenloser Leib reagierte nicht mehr.
Hitze umgab ihn, ein grelles Licht blendete ihn.
Als es dunkler wurde und er endlich wieder sehen konnte, fand er sich von einer hüfthohen, kreisförmigen Steinmauer umgeben. Sie wirkte zerklüftet, und so wusste Flynn nicht zu sagen, ob die schmale Lücke zu seiner Linken ein Zeichen des Verfalls oder einen beabsichtigten Zugang darstellte.
Jenseits der Mauer erstreckte sich dichte Vegetation. Bäume mit riesigen, fleischigen Blättern, verfilzte Sträucher mit fingerlangen Dornen und roten Früchten, gewaltige Farne.
»Wo bin ich?« Flynn erkannte, dass er die Frage nicht laut aussprach. Wie auch, wenn sein Körper im Keller zurückgeblieben war?
In meiner Heimat, antwortete die Stimme. Und zugleich am Eingang zu meinem Gefängnis.
»Ich verstehe nicht. Wer bist du?«
Barantar.
Ein Wort nur. Und obwohl Flynn es nie zuvor gehört hatte, löste es etwas in ihm aus. Er fühlte sich damit verbunden, als hätte der Name eine große, aber noch verborgene Bedeutung für ihn.
»Aber … wie … warum …«, stammelte er.
Sieh zu Boden!
Flynn gehorchte. Im Zentrum der Kreismauer, dort, wo seine Füße stehen würden, wenn er sich körperlich an diesem Ort befände, bemerkte er eine steinerne Platte. In ihr verliefen gravierte Linien, die ein Bild ergaben.
Auf den ersten Blick konnte er das Zeichen nicht deuten, doch nach und nach erkannte er darin ein stilisiertes Auge mit einer flammenden Pupille.
Dies ist das Siegel zu meinem Gefängnis. Ich will, dass du es zerstörst, und mich befreist.
»Wieso ich? Wie komme ich überhaupt hierher?«
Weil du ein Teil von mir bist.
»Wie bitte?«
Ich spüre es. Mir bleibt nicht viel Zeit, bevor die Verbindung zusammenbricht, deshalb nur das Wichtigste: Ich und meine drei Brüder waren die Diener eines mächtigen Dämons, obwohl das Schicksal eine andere Rolle für uns vorgesehen hatte. Aber das braucht dich im Augenblick nicht zu interessieren. Wesentlich ist, dass unser Herr uns eines Tages gebannt und die Kerker mit unseren Symbolen versiegelt hat.
»Wieso hat er das getan?«
Vielleicht sind wir ihm zu mächtig geworden? Oder es gab einen anderen Grund. Es spielt keine Rolle. Denn inzwischen existiert unser Herr nicht mehr. Er wurde vernichtet, erstand wieder auf, wurde erneut vernichtet. Das machte das Siegel meines Gefängnisses spröde. Aber nicht spröde genug, damit ich aus eigener Kraft ausbrechen kann. Ich habe es versucht, glaub mir. In einer Zeit, die von dir aus gesehen in der Zukunft liegt. In einer Zeit, in der niemand den Keim so stark in sich trägt wie du. Deshalb brauche ich deine Hilfe.
Wovon sprach Barantar? Welcher Keim? »Noch einmal: Warum ich? Was soll das heißen, dass ich ein Teil von dir bin?«
Vor der Verbannung haben meine Brüder und ich unseren Keim in manchen Menschen ausgelegt. Im Laufe der Jahrtausende ist die böse Saat in den Nachfahren der Keimträger immer schwächer geworden, weil sie sich mit Keimlosen fortpflanzten. In dir jedoch spüre ich den Ruf meines Keims laut hallen. In deiner Ahnenreihe müssen zahllose Keimträger vertreten sein. Ein Zufall, aber einer, der mir nun zugutekommt.
Barantars Worte strömten durch Flynn, ohne dass er sie vollständig begriff. Er trug einen Jahrtausende alten Keim in sich? War das der Grund für seine Andersartigkeit? Für die Magie, die er beherrschte?
»Was bekomme ich, wenn ich dich befreie?«
Die Stimme inseinem Bewusstsein lachte. Du willst eine Belohnung? Dann sollst du eine haben. Der Keim in dir wird stärker werden. Deine magischen Kräfte werden anwachsen. Und du wirst die Fähigkeit erhalten, einen wesenlosen Dämon zu beschwören, der sich in einer Ansammlung beliebiger Gegenstände manifestieren kann. Du willst einen Diener aus Laub und Geäst? Oder einen aus Steinen? Aus toten Tieren? Reicht dir das?
Flynn dachte an die Möglichkeiten, die sich ihm eröffneten, und lächelte. Oder hätte gelächelt, wenn er mehr als körperlose Energie gewesen wäre. »Was muss ich tun?«
Es ist nicht einfach, denn zu der Zeit, in der du lebst, existiert auch unser Herr noch. Das Siegel meines Gefängnisses ist noch stabil. Deshalb musst du eine Brücke in die Zeit schlagen, aus der ich zu dir spreche, um das Siegel zu brechen.
»Eine Brücke in die Zukunft? Wie soll das gehen?«
Du wirst es sehen. Ich gebe dir ein Buch mit auf den Weg, das viele deiner Fragen beantworten wird.
»Ein Buch?«
Das Kompendium von Vrythaaaa …
Der letzte Laut hallte lange aus. Plötzlich erlosch das Licht um ihn. Die Steinmauer verschwand genauso wie die Vegetation.
Er spürte Feuchtigkeit an den Knien. Die Flammen der Beschwörungskerzen erwachten zu neuem flackerndem Leben.
Jeremiah Flynn war zurück im Keller seines Hauses.
Doch etwas hatte sich verändert. Das Pentagramm auf dem Boden war verschwunden, genauso wie die Organe. Stattdessen sah er ein in den Stein geritztes Symbol. Das Auge mit der Flammenpupille. Barantars Zeichen.
Und im Zentrum lag ein dickes Buch. Das Kompendium von Vrytha.
***
Flynn hatte darin gelesen und die Geschichte der Schwarzen Diener und ihres Herrn erfahren. Damals hatte er nicht alles verstanden, weil das Buch in einer magischen Symbolschrift verfasst war, die er erst nach und nach – und selbst dann nur instinktiv – begriff.
Das Buch machte es einem nicht leicht, darin zu studieren, denn es veränderte sich. Wenn man vor- und wieder zurückblätterte, war die gleiche Seite plötzlich mit neuen Symbolen versehen. Das bedeutete, dass man sich alles, was man las, merken musste, weil man die gleiche Stelle bestenfalls durch Zufall wiederfand. Sonderbarerweise gelang es ihm auch nicht, den Inhalt des Folianten auf unmagischem Papier aufzuschreiben. Er hatte es mehrfach versucht, aber es kam stets unsinniges Kauderwelsch heraus.
Dank seiner Magie umfasste das Buch zehntausend Seiten oder mehr. Zu Lebzeiten hatte es Flynn nie geschafft, es auch nur zu einem Bruchteil zu lesen.
Aber er hatte genug erfahren, um zu wissen, wie er die Brücke durch die Zeit schlagen und Barantar befreien konnte.
Er hatte alles Nötige getan, und doch hatte es nicht ausgereicht. Er war gescheitert. Aufgehalten von dem Asiaten und der blonden Frau, die aus der Zukunft zu ihm gekommen waren.
Noch immer glaubte er, den Schlag der Pistolenkugel zu spüren, die ihn zwischen den Augen getroffen hatte.
Sein Körper war gestorben, aber die Seele hatte er gerettet. Irgendwie hatte er überlebt – und war nun selbst ein Gefangener, so wie Barantar.
Vielleicht würde er es für alle Ewigkeit bleiben.
Doch halt! Was war das?
Er spürte etwas. Eine Kraft, eine Ausstrahlung, die bis in seinen Kerker reichte.
Zunächst begriff er nicht, worum es sich handelte. Doch endlich verstand Flynn. Er musste in der Epoche angekommen sein, aus der Barantar zu ihm gesprochen hatte. Die Epoche, in der der Dämon der Angst hätte freikommen sollen. Das war zwar gescheitert, aber offenbar war das Siegel des Gefängnisses durch den Versuch noch brüchiger geworden.
Auf gewisse Weise hatte Barantar die Welt berührt. Und so die verdünnten, spärlichen Keime der Nachfahren derer erweckt, die er vor Jahrtausenden infiziert hatte.
Flynn konzentrierte sich. So kräftig er konnte, rief er im Geist nach einem Keimträger.
Ohne Erfolg.
Doch er gab nicht auf. Keinesfalls war er bereit, die einzige Chance auf ein Entkommen ungenutzt zu lassen.
Er rief.
Und rief.
Und rief.
Und endlich, Monate oder gar Jahre später, bekam er Kontakt.
Es gelang ihm kaum, seine Freude im Zaum zu halten.
Nach einer schier unendlichen Zeit der Gefangenschaft war Jeremiah Flynn bereit, in die Welt zurückzukehren.
***
»Also?«
Christopher Pierce blickte Tom Nye und Reggie Ward über die Biergläser auf dem Tisch hinweg an. Er zog die Augenbrauen in die Höhe und signalisierte seinen Freunden, dass er eine Antwort erwartete. Eine Antwort auf die Frage, die er ihnen bereits zwei Abende zuvor gestellt hatte.
Nye und Ward hatten zunächst schlimmer herumgedruckst als ein Finanzminister, der erklären musste, warum der Staat wieder einmal ungeheure Summen an Steuergeldern für Nutzlosigkeiten verschwendete. Sehr zu Pierce’ Unwillen hatten sie sich zwei Tage Bedenkzeit ausgebeten und rasch von ihm verabschiedet.
Doch nun war die Frist abgelaufen. Abermals saßen sie im Howling Wolf zusammen, einer der miesesten Kneipen unweit des Londoner Hafengebiets.
Wummernde Speed-Metal-Rhythmen ließen nicht nur den kaum noch vorhandenen Putz des in die Jahre gekommenen Gebäudes von den Wänden rieseln, sondern auch die Gläser auf den Tischen und dem Tresen tanzen. Der Dunst übelster Tabake verräucherte die Luft, sodass selbst ein Nichtraucher Gefahr gelaufen wäre, an Lungenkrebs zu erkranken. Zumindest wenn er es gewagt hätte, auch nur für wenige Minuten im Howling Wolf einzukehren.
Die Kundschaft, die sich für gewöhnlich in diesem Etablissement herumtrieb, gehörte zu jener gesellschaftlichen Gruppe, die der Volksmund gemeinhin als Abschaum bezeichnete. Sie setzte sich aus Dealern, Hehlern, Schlägern und Mördern zusammen. Prostituierte der unterschiedlichsten Altersgruppen tauchten von Zeit zu Zeit auf und versuchten Kundschaft für sich zu gewinnen.
Außerdem galt es als ungewöhnlich, wenn es im »Wolf« an einem Abend mal nicht zu einer Massenschlägerei mit mehreren Verletzten kam.
Kurzum: Christopher Pierce und seine beiden Kumpane, die zusammen so manches krumme Ding gedreht hatten, passten perfekt in die dämmrige Kulisse des Howling Wolf.
Nye und Ward tauschten hastige Blicke, und Pierce begriff, dass sie ihm eine Absage erteilen wollten.
Lass es nicht zu!, schrie es in ihm. Du brauchst diese Idioten für den Einbruch!
Es war schon verrückt mit ihm. Er tat, sagte und dachte Dinge, die ihm früher niemals in den Sinn gekommen wären.
Pierce drückte Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenwurzel. Eine sinnlose Geste, denn der Schmerz, der ihn seit mehreren Wochen fast pausenlos begleitete, ließ sich auf diese Weise nicht vertreiben.
»Also weißte, Pierce«, sagte Tom Nye. Dank des Stimmen- und Musikgemischs war er kaum zu verstehen. »Reggie und ich, wir ham da n bisschen nachgedacht. Also über das, was du uns vorgeschlagen hast.«
Pierce fiel auf, dass Nye auf seinem Sitz herumrutschte. Er schien nicht so recht zu wissen, wie er das, was er zu sagen hatte, vorbringen sollte.
Die drei Männer hatten sich in eine Ecke der Kneipe zurückgezogen, in die das schummrige Licht kaum reichte. Pierce nahm seine beiden Begleiter lediglich verschwommen wahr, was er aber nicht allzu tragisch fand. Zum einen kannte er sie bereits seit einigen Jahren und wusste, wie sie aussahen, zum anderen waren sie in seinen Augen potthässliche Hackfressen. Er konnte gut darauf verzichten, sie deutlicher als nötig zu sehen.
»Und wie sieht’s aus? Macht ihr mit?«
Nye rutschte weiter auf seinem Stuhl herum. Sogar im Sitzen überragte er die beiden anderen Männer um eine Haupteslänge. Die breiten Schultern ließen ihn fast verwachsen wirken. Und trotzdem kam er Pierce außerordentlich nervös vor. Noch einmal blickte er kurz zu Ward hinüber.
Der wirkte wie das genaue Gegenteil von Nye – klein und schmächtig mit einer spitz vorragenden Nase und eng beieinander stehenden Augen. Er hielt sich krampfhaft an seinem Bierglas fest, schien die stumme Bitte des Hünen aber wahrzunehmen und sprang hilfreich ein.
»Na ja, wir meinen, dass es vielleicht etwas zu gefährlich wäre, ausgerechnet bei diesem Logan einzubrechen. Kann sein, dass du es nicht weißt, aber da gibt es so einige Gerüchte über ihn.«
Pierce, der die Redereien über Ernest Logan sehr genau kannte, lehnte sich zurück und schürzte die Lippen. »So? Was sagt man sich denn so über den Knaben? Dass er verdammt reich ist? Dass er in seinem Anwesen praktisch alleine lebt und kaum Personal hat? Dass er zu Hause viele gesammelte Kostbarkeiten aufbewahrt?«