John Sinclair 2007 - Eric Wolfe - E-Book

John Sinclair 2007 E-Book

Eric Wolfe

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Beschreibung

Die Stufen unter meinen Füßen knarrten, während ich die Treppe hinaufstieg. Der Rest des Hauses lag in tiefer Finsternis. Ich sah keine Wände neben oder eine Decke über mir, sondern nur diesen schier unendlichen Aufstieg.

Wie lange war ich schon unterwegs? Ich konnte mich nicht erinnern. Meine Oberschenkelmuskeln pochten, die Waden brannten. Aber ich durfte nicht aufgeben. Keine Pause, kein Zögern, nur immer weiter.

Denn dort oben, das wusste ich, würde ich ihn finden.

Jeremiah Flynn!

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EPUB
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Seitenzahl: 146

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt

Cover

Impressum

Ein Hauch von Atlantis

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: shutterstock/Fotokostic

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-4198-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Ein Hauch von Atlantis

(2. Teil)

von Eric Wolfe

Die Stufen unter meinen Füßen knarrten, während ich die Treppe hinaufstieg. Der Rest des Hauses lag in tiefer Finsternis. Ich sah keine Wände neben oder eine Decke über mir, sondern nur diesen schier unendlichen Aufstieg.

Wie lange war ich schon unterwegs? Ich konnte mich nicht erinnern. Meine Oberschenkelmuskeln pochten, die Waden brannten. Aber ich durfte nicht aufgeben. Keine Pause, kein Zögern, nur immer weiter.

Denn dort oben, das wusste ich, würde ich ihn finden.

Jeremiah Flynn!

»Du schaffst das, Alter!«, erklang eine Stimme hinter mir.

Ich blieb stehen und drehte mich um. Am Fuß der Treppe, Hunderte von Stufen unter mir und nur klein zu erkennen, sah ich meinen Freund und Partner Suko. Er winkte mir zu. Der Fliegenschwarm, der über ihm kreiste, schien ihn nicht zu stören.

Wie konnte ich ihn in der Finsternis des Gebäudes überhaupt sehen? Und warum trug er einen Pyjama? Egal, ich musste weiter.

Die nächste Stufe.

Dann noch eine.

Die Beine wurden mir schwer. Es fühlte sich an, als wollte jemand meinen Aufstieg behindern.

Ich blickte an mir hinab und bemerkte, dass meine Füße bis zu den Knöcheln in der Stufe steckten.

»Warum brauchst du so lange?«, fragte über mir eine hämische Stimme. »Kommst du etwa, um mir mein Eigentum zurückzubringen?«

Mir lag eine harsche Erwiderung auf den Lippen, da fiel mir auf, dass ich eine einzelne raue Buchseite in Händen hielt.

Ich mühte das rechte Bein in die Höhe. Mit einem widerlichen Schmatzen gab der Untergrund den Fuß frei, doch als ich ihn auf die nächste Stufe setzte, versank er auch dort.

»So kannst du mich nicht aufhalten, Flynn!«, schrie ich. »Ich krieg dich! Verlass dich drauf!«

Das linke Bein. Noch mühsamer als das rechte. Ich ächzte vor Anstrengung.

»Hilf mir!«, rief ich Suko zu.

Keine Antwort.

Ich drehte mich um, soweit es die feststeckenden Füße erlaubten. Mein Partner war verschwunden. Stattdessen standen vier lodernde Mülltonnen am Fuß der Treppen.

Dann musste ich es eben alleine schaffen. Wäre doch gelacht.

Der nächste Schritt.

»Soll ich dir helfen?«, fragte Flynn.

Ich sah nach oben – und da stand er. Gerade einmal drei Stufen über mir. Er lächelte. Aus seinem Mundwinkel kroch eine Fliege, sirrte davon und verschwand in der Finsternis.

Meine Hand zuckte zur Beretta, fasste aber ins Leere. Ich hatte sie zu Hause vergessen. Verdammt.

Also mein Kreuz. Doch auch das spürte ich nicht unter dem Hemd.

»Und nun, Geisterjäger? Du bist waffen- und hilflos. Was willst du jetzt tun?«

Ich streckte die Hand nach ihm aus, konnte ihn aber gerade nicht erreichen.

Verzweifelt versuchte ich, ihm eine Stufe entgegenzugehen. Ich scheiterte. Die Füße saßen fest wie eingemauert.

»Oh doch«, sagte Flynn im Plauderton. »Du könntest etwas Unterstützung gebrauchen. Warte!«

Ehe ich mich versah, sprang er mir entgegen und drosch mir beide Hände gegen die Brust.

Ich taumelte zurück. Nur am Rande fiel mir auf, dass meine Füße plötzlich wieder frei waren. Ich machte einen Schritt nach hinten, verfehlte eine Stufe, trat ins Leere – und fiel.

Und fiel.

Und fiel.

Keine Treppe mehr, die mich aufhielt. Keine brennenden Mülltonnen, kein Suko. Nur Flynns spöttisches Lachen begleitete mich auf dem Sturz ins Nichts. Gelegentlich mischte sich ein schrilles Geräusch darunter, das ich nicht identifizieren konnte.

Ich wollte schreien, brachte aber keinen Laut hervor.

Aufprall! Ich fuhr hoch …

… und saß schweißgebadet im Bett. Die Zudecke klebte an mir. Auf der Oberlippe spürte ich einen feuchten Film, den ich wegleckte.

Flynns Lachen verklang, nur das schrille Geräusch blieb.

Was zum …?

Das Telefon!

Mit einem Mal war ich wieder voll da. Ich sprang aus dem Bett und eilte zu dem lärmenden Nerventod.

»Sinclair hier!«, blaffte ich in den Hörer. »Wer stört mich mitten in der Nacht?«

Für einen Augenblick herrschte Ruhe in der Leitung. Schließlich erklang ein verlegenes Räuspern. »Äh …«, machte eine Stimme, die ich nicht einordnen konnte, die mir aber irgendwie bekannt vorkam. »Es ist kurz nach eins. Mittags, wohlgemerkt.«

»Und?«

»Ich habe versucht, Sie im Büro zu erreichen, aber weder bei Ihrem Anschluss, noch bei denen Ihrer Sekretärin oder Ihres Chefs hat jemand abgehoben. Nur eine Bandansage, an wen ich mich wenden könne. Ich will mich aber nicht an irgendwen wenden, sondern mit Ihnen sprechen. Aber Sie haben ja nicht mal Ihr Handy eingeschaltet.«

Weiterhin war mir nicht klar, wer mir da gerade die Ohren volljammerte, aber mir kam der Verdacht, dass es sich um einen Kollegen von Scotland Yard handeln könnte. »Stimmt, das Handy ist aus«, sagte ich. »Ich wollte vermeiden, dass es mich aus dem Schlaf reißt. Hat nicht besonders gut geklappt.«

»Sie haben noch geschlafen? Na, Ihre Arbeitszeiten möchte ich haben.«

Ich dachte an den Fall, der dafür gesorgt hatte, dass ich in der letzten Nacht erst weit nach Mitternacht ins Bett gekommen war. Die Seele von Jeremiah Flynn, einem Hexer aus der Vergangenheit, hatte über ein Jahrhundert in einem geheimnisvollen Buch verbracht, war daraus aber entkommen, indem er den Körper eines Kriminellen namens Christopher Pierce in Besitz genommen hatte. Suko und ich hatten die Rückkehr nicht verhindern können. Leider war sie mit einigen Todesopfern einhergegangen, darunter zwei Kumpane von Christopher Pierce und ein reicher Industrieller, dem das Buch mit Flynns Seele gehört hatte.

Zu allem Überfluss hatten wir es nicht einmal geschafft, dem Hexer das Buch abzunehmen, ein Wälzer mit dem klangvollen Namen Kompendium von Vrytha. Was auch immer das bedeuten sollte. Lediglich fünf Seiten hatte ich herausreißen können, die wir noch in der gleichen Nacht im Archiv von Scotland Yard untergebracht hatten.

Das Archiv! Das war es! Da hatte ich die Stimme am Telefon schon einmal gehört. Ein Kollege namens Hadley oder Headey oder so ähnlich.

»Wünschen Sie sich das lieber nicht«, sagte ich. »Diese Arbeitszeiten sind teuer erkauft. Was gibt es denn so Dringendes?«

»Sie haben uns vor ein paar Stunden diese Buchseiten zum Einlagern gebracht.«

»Ich weiß. Ich war dabei.«

»Äh … ja. Genau. Auf jeden Fall geht mit ihnen etwas Merkwürdiges vor.«

Automatisch dachte ich an Sarket, der vor einiger Zeit Scotland Yard überfallen hatte, um die Fessel des Menarke aus dem Archiv zu stehlen.1) Versuchte Flynn etwa das Gleiche nur mit den Seiten aus dem Kompendium?

Schwaden des Traums trudelten mir durch den Kopf. Dieser Jeremiah Flynn beschäftigte mich offenbar so sehr, dass er mir sogar in den Schlaf folgte. Kein Wunder, schließlich plante er, den Dämon Barantar und mit ihm vielleicht noch drei ähnliche Kreaturen zu erwecken.

»Etwas Merkwürdiges? Was bedeutet das?«, fragte ich.

»Das ist schwer zu erklären. Ich glaube, es wäre das Beste, Sie sehen es sich selbst an.«

»Na schön. Wir kommen so schnell wie möglich.«

***

Wir, das waren in diesem Fall Suko und ich. Ich musste meinen Partner nicht erst aus dem Bett klingeln. Als er mir die Tür öffnete, wirkte er frisch und ausgeschlafen wie das blühende Leben.

Der Berufsverkehr, der uns jeden Morgen die Fahrt zum Yard-Gebäude versüßte, blieb uns diesmal erspart. Der Mittagsverkehr war allerdings auch nicht viel besser.

Nachdem wir den Wagen abgestellt hatten, traten wir ein und wandten uns gleich dem Aufzug zu, der uns in die Kellerräume brachte.

»Tut mir leid, dass wir es nicht schneller geschafft haben«, sagte ich zu dem Mann, der letzte Nacht die Seiten des Kompendiums in Empfang genommen hatte. Sein Namensschild wies ihn als P. Henley aus. »Sie sind noch im Dienst?«

Er zuckte mit den Schultern und seufzte. »Vierundzwanzig-Stunden-Schicht. Noch bis heute Abend um sechs, dann habe ich für zwei Tage meine Ruhe.«

Henley gehörte zu den Bediensteten, die erst seit Sarkets Überfall im Archiv eingesetzt wurden. Vermutlich deshalb hatte ich ihn vor der letzten Nacht auch noch nie gesehen.

»Zwei Tage frei?«, fragte ich. Und konnte mir nicht verkneifen, mit einem Grinsen hinzuzufügen: »Na, Ihre Arbeitszeiten möchte ich haben.«

Henley lächelte schief. Er wusste erkennbar nicht, wie er mit mir umgehen sollte.

»Ignorieren Sie ihn am besten«, sagte Suko. »Er hat sich vorhin zum Frühstück einen Clown über die Cornflakes geraspelt. Also, was gibt es so Merkwürdiges an den Buchseiten?«

»Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Henley wandte sich ab und ging den Gang entlang, der zu dem Gewölbe mit den Tresoren der unterschiedlichsten Größen führte. Mit einer Codekarte verschaffte er uns Zugang in den Sicherheitsbereich. Gleich danach bog er in einen kleinen Raum ab.

Die Beleuchtung im Inneren wirkte kühl und deprimierend. Obwohl die Kammer klimatisiert war, roch die Luft abgestanden.

Auf einem Schreibtisch stand eine Kaffeetasse, die mich daran erinnerte, dass ich an diesem Tag noch keinen einzigen Schluck des schwarzen Lebenselixiers getrunken hatte. Und wenn wir im Archiv fertig waren, würde nicht einmal Glenda auf uns warten. Sie hatte Urlaub genommen und war zu einem Kurztrip nach Wales aufgebrochen.

Na ja, irgendwie würde ich den Tag trotzdem überstehen.

Neben der Kaffeetasse waren zwei Monitore und eine Tastatur die einzigen Gegenstände auf dem Tisch.

Henley ließ sich in den Schreibtischstuhl plumpsen, klapperte auf den Tasten herum, und plötzlich erwachte einer der Bildschirme zum Leben. Er zeigte eine Tresorwand mit kleineren Fächern.

»Das ist das Livebild einer der Überwachungskameras.« Er deutete auf ein Schließfach in der linken unteren Ecke. »Sehen Sie das?«

Ich beugte mich vor und sah genauer hin. Suko tat es mir gleich. Im ersten Augenblick hatte ich das, was der Monitor zeigte, für einen Darstellungsfehler gehalten. Oder einen Kaffeefleck. Aber ich irrte mich. Aus dem Fach sickerten schwarze Schlieren. Sie erinnerten mich an die Schwaden einer Nebelmaschine, die unter einer Tür hervordrangen.

»Was ist das?«, fragte ich. Und obwohl ich die Antwort zu kennen glaubte: »Was wird in diesem Fach aufbewahrt?«

»Die Buchseiten. Und worum es sich bei den Schlieren handelt? Keine Ahnung. Wir, also mein Kollege Richardson und ich, haben das Phänomen erst eine halbe Stunde vor meinem Anruf bei Ihnen bemerkt.«

»Wo ist Richardson jetzt?«, wollte Suko wissen.

»Beim Arzt.«

»Warum das denn?«

»Sehen Sie selbst. Ich zeige Ihnen eine Aufzeichnung.« Henley drückte erneut ein paar Tasten.

Dass das Bild von Live auf Aufnahme umschaltete, bemerkte ich nur an dem Zeitcode am oberen Bildrand. Ansonsten sah es unverändert aus.

Bis ein kleiner Mann mit hoher Stirn und buschigen Augenbrauen ins Bild trat.

»Das ist Richardson«, sagte Henley. »Als wir die Schlieren bemerkten, wollte ich Sie sofort informieren, aber er bestand darauf, erst mal selbst nachzusehen, was da vor sich geht.«

Vermutlich keine gute Idee, die ihm einen Besuch beim Arzt beschert hatte.

Der Beamte starrte die Tresorwand an, wirkte unschlüssig, drehte sich zur Kamera und zuckte erkennbar mit den Schultern. Er sprach etwas in sein Funkgerät. Leider war die Aufnahme ohne Ton.

»Was sagt er?«, fragte ich.

»Er hat behauptet, nichts zu sehen. Oder um es mit seinen Worten auszudrücken: Da ist kein Scheißnebel, der aus einem Fach quillt. Kann es sein, dass die Kamera im Arsch ist?«

Wie zur Antwort auf Richardsons Frage glitt das Bild zur Seite zu einem anderen Bereich des Tresorraums. Es war klar und gestochen scharf. Kein schlieriger Fleck.

»Sie sehen«, sagte Henley, »dass die Kamera einwandfrei funktioniert.«

Der Bildausschnitt bewegte sich zurück, zeigte erneut den Beamten und das Tresorfach mit dem hervorquellenden Nebel.

»Das habe ich ihm auch gesagt«, fuhr Henley fort. »Und ihn darauf hingewiesen, dass ich die Schlieren immer noch sehe. Daraufhin hat er das getan.«

Wie auf Kommando trat Richardson näher an das Schließfach, öffnete es und holte die Seiten des Buches hervor. Oder besser: Er zog ein paar rechteckige tiefschwarze Flecken in der Form von Buchseiten heraus. Um sie herum waberten die Schlieren wie Wasserdampf, der nach einem Regenguss von einem heißen Dach aufstieg.

Obwohl, das traf es nicht genau. Denn die Schwaden wiesen verschiedene Fließrichtungen auf. Von der einen Seite schienen sie in die Blätter einzusickern, während sie aus der anderen hervorquollen.

Und plötzlich trieben die Nebelfetzen nicht mehr zu Boden, sondern umschlangen Richardsons Handgelenke.

Er stieß einen stummen Schrei aus und ließ die Seiten fallen.

»Was ist passiert?«, fragte Suko.

»Er hat sich Erfrierungen an der Hand zugezogen«, antwortete Henley. »Nicht schlimm, aber ausreichend, dass ich ihn zum Doc geschickt habe.«

Merkwürdig. Einerseits stammten die Seiten aus einem offenbar magischen Buch, aber schließlich hatte ich sie letzte Nacht selbst in Händen gehalten, und mir war nichts geschehen. Weil mich das Kreuz geschützt hatte, ohne dass es mir aufgefallen war? Oder weil sich unsere Beutestücke da noch friedlich verhalten hatten?

»Anschließend habe ich die Seiten aufgehoben – mit Handschuhen, versteht sich – und zurück ins Fach gelegt. Danach habe ich Sie sofort angerufen.« Henley sah mich lange an, als erwarte er von mir eine Erklärung für das Phänomen.

Die konnte ich ihm jedoch nicht geben. Stattdessen sagte ich: »Am besten wir gehen selbst mal rein.«

***

Henley führte uns durch einen weiteren vergitterten Zugang in den Raum mit der Schließfachwand.

Kaum waren wir eingetreten, erwärmte sich mein Silberkreuz. Ein deutlicheres Zeichen, dass sich schwarze Magie in der Nähe befand, gab es nicht. Nein, eine so starke Reaktion hatte mein Anhänger in der letzten Nacht gewiss nicht gezeigt.

Warum jetzt?

Zu sehen war nichts. Wie auch Richardson entdeckten wir kein Fach, aus dem Schlieren drangen.

»Wo liegen die Buchseiten?«, fragte ich.

»Hier.« Henley deutete auf eine Stahltür.

»Öffnen Sie!«, bat Suko.

Mit flinken Fingern gab Henley einen Nummerncode ein, und die Tür glitt zur Seite. Sofort nahm die Wärme des Kreuzes zu. Er reichte mir ein Paar Handschuhe. »Die könnten Sie brauchen.«

»Das ist möglich.« Noch immer war mir nicht klar, warum die Seiten eine Wirkung aufwiesen, die in der Nacht zuvor nicht zu spüren war.

Ich streifte mir die Fingerlinge über und holte die Blätter aus dem Tresor. Anschließend legte ich sie nebeneinander auf einen Stahltisch in der Mitte des Raums.

Suko trat neben mich, und wir starrten auf unsere neuste Errungenschaft hinab. »Sie sehen nicht anders aus als letzte Nacht. Zumindest fällt mir nichts auf.«

»Geht mir genauso.«

Noch immer waren die Seiten mit unverständlichen Symbolen übersät. Hätte sich mein Kreuz nicht erwärmt, wäre ich wohl nie auf die Idee gekommen, etwas Magisches vor mir liegen zu haben.

»Und?«, fragte Suko. »Was denkst du?«

»Nichts Konkretes. Was die Seiten auch immer ausstrahlen mögen, sie haben es noch nicht getan, als wir sie hergebracht haben. Oder zumindest nicht so stark, dass es uns aufgefallen wäre.«

»Was ist also seitdem passiert?«

»Wenn ich das mal wüsste, mein Lieber.« Ich drehte die Blätter um, betrachtete die Rückseiten. Auch hier: nicht entzifferbare Zeichen und Symbole.

Ich dachte daran, dass sie auf dem Bild der Überwachungskamera wie schwarze Flecken gewirkt hatten.

»Lass mich mal was ausprobieren«, sagte ich.

»Mit dem Kreuz?«, fragte Suko.

Ich schüttelte den Kopf. »Das hole ich mal lieber nicht hervor. Ich habe Angst, versehentlich die Seiten zu zerstören.«

Stattdessen zog ich das Smartphone aus der Tasche, aktivierte die Kamerafunktion und fotografierte die Buchseiten. Ich betrachtete das Ergebnis.

»Nicht sonderlich überraschend«, sagte ich und hielt Suko das Telefon hin.

Er warf einen Blick darauf. »Schwarze Flecken, von denen Nebel ausstrahlt. Sieht so aus, als wollten sich diese Dinger nicht ablichten lassen.«

»Fragt sich nur, warum. Weil das bei schwarzer Magie einfach manchmal der Fall ist, oder weil der Inhalt der Seiten so brisant ist, dass er sich selbst gegen Kopien schützt?«

»Schwer zu beurteilen, solange wir die Zeichen nicht interpretieren können.«

Ich stimmte meinem Partner zu. Unschlüssig drehte ich ein Blatt zurück in die Ausgangsposition, betrachtete die Symbole, versuchte, etwas zu erkennen, das mir bekannt vorkam. Es gelang mir nicht. Also wendete ich es erneut, starrte die Kritzeleien an und drehte es gleich noch einmal um.

»Was auch immer da drauf steht«, sagte ich, »Flynn konnte es offenbar lesen. Wenn wir dieses Rätsel lösen wollen, müssen wir ihn zu fassen bekommen.«

»Das gibt’s doch gar nicht!«, stieß Suko hervor.

»Was denn? Hast du etwas erkannt?«

»Nein, das nicht. Aber …« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin mir noch nicht sicher. Sieh dir mal das Zeichen links oben in der Ecke an.«

Ich folgte Sukos Bitte. Das Symbol erinnerte an einen stilisierten Fisch, den senkrecht zwei gewellte Linien durchliefen. »Und? Was ist damit?«

»Und jetzt dreh das Blatt um, sodass die Rückseite nach oben zeigt.«

Auch das tat ich. Ich durchsuchte die Symbole nach dem Fischzeichen, fand es aber nicht. »Ehrlich, Alter, ich hab keine Ahnung, worauf du hinauswillst.«

»Wenn ich mich nicht täusche, wirst du es gleich sehen. Dreh die Seite zurück.«

Ich wendete das Blatt. Automatisch ging mein Blick in die linke Ecke, wo das Fischsymbol abgebildet war – nur, dass das nicht stimmte. Stattdessen befand sich an dieser Stelle nun ein Dreieck, auf dessen oberer Spitze ein Oval mit waagrechten Linien im Inneren saß.

»Der Fisch ist verschwunden«, kommentierte ich das Offensichtliche.

»Du hast es erfasst. Die Seiten verändern sich jedes Mal, wenn man sie neu aufschlägt.«

»Also, ich verstehe rein gar nichts«, sagte Henley, der die letzten Minuten regungslos neben dem Tisch gestanden und zugesehen hatte. »Wie kann sich eine Buchseite verändern? Und wohin verschwinden die vorherigen Zeichen?«

»Sie sickern heraus«, entfuhr es mir. War das möglich? Bestand das Phänomen, das wir nur auf Kamerabildern sahen und das Richardson Frostbeulen verschafft hatte, aus dem entweichenden Inhalt der Buchseiten? Aber woher stammten dann die neu auftauchenden Zeichen?

Doch bevor ich mit Suko darüber sprechen konnte, meldete sich eine Frauenstimme aus Henleys Funkgerät. »Peter? Der Pförtner hat gesagt, Sinclair sei bei dir da unten. Ist er noch da?«