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Umhüllt von undurchdringlicher Stille vegetierte die einsame Seele dahin. Sie wusste nicht, dass seit dem Ende ihres leiblichen Daseins Jahrtausende vergangen waren. Sie wusste gar nichts. Es gab nur sie und die allgegenwärtige Finsternis, die jeden Gedanken und jedes Gefühl in sich aufsog.
Wahrscheinlich hätte sie ewig in diesem Zustand am Rande der Nichtexistenz verharren können, genau wie es ihr Herr vor langer Zeit für sie vorgesehen hatte. Aber das Schicksal hatte andere Pläne mit ihr.
Das sollte sich schon bald auf drastische Weise zeigen!
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Flucht aus der Seelengruft
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Prieto/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5158-3
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Flucht aus der Seelengruft
Teil 1
von Eric Wolfe und Stefan Albertsen
Umhüllt von undurchdringlicher Stille vegetierte die einsame Seele dahin. Sie wusste nicht, dass seit dem Ende ihres leiblichen Daseins Jahrtausende vergangen waren. Sie wusste gar nichts. Es gab nur sie und die allgegenwärtige Finsternis, die jeden Gedanken und jedes Gefühl in sich aufsog.
Wahrscheinlich hätte sie ewig in diesem Zustand am Rande der Nichtexistenz verharren können, genau wie es ihr Herr vor langer Zeit für sie vorgesehen hatte. Aber das Schicksal hatte andere Pläne mit ihr.
Das sollte sich schon bald auf drastische Weise zeigen!
Jeremiah Flynn stöhnte.
Er richtete sich von allen vieren in eine kniende Stellung auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Arbeit, die ihn seit Stunden ohne Pause beschäftigte, zehrte an den Kräften.
Er war diese Körperhaltung nicht gewohnt. Seine Wirbelsäule und die Knie fühlten sich an wie in Salzsäure getaucht. Trotz der Mühsal glitt ihm ein Grinsen über die Lippen. Was hätte ein heimlicher Beobachter sehen können? Einen verschwitzten Mann mit durchgedrücktem Kreuz, der mehr an eine hochschwangere Frau erinnerte als an einen gefährlichen Hexer.
Schlagartig wurde er wieder ernst. Egal, wie anstrengend die Arbeit war, er musste sie gründlich und akkurat erledigen. Ein Fehler, eine winzige Ungenauigkeit, hätte verheerende Auswirkungen nach sich gezogen.
Das Kompendium von Vrytha erklärte nur andeutungsweise, was geschehen würde, sollte ihm eine Unachtsamkeit unterlaufen. Aber Flynn war sich sicher, dass es ihm nicht bekommen wäre. Er konnte sich Angenehmeres vorstellen, als auf den Knien zu rutschen und mit einem Klappspaten ein Symbol in den Sand zu zeichnen. Doch ein anderer Weg war ihm nicht eingefallen.
Mit magischer Kreide konnte er nicht arbeiten. Seit die Eingangshalle des Hotels IMPERIAL mit einem Teilstück des Planeten der Magier verschmolzen war, gab es hier keine festen oder glatten Bodenflächen mehr. Nur noch weichen, sandigen oder sumpfigen Untergrund.
Flynn wusste nicht, wie genau es dazu gekommen war. Der Planet war bereits vor Jahrtausenden explodiert. Aber er beschwerte sich nicht.
Immerhin war er in den Besitz eines geheimen Refugiums inmitten von London gelangt. Einen Ort, an dem ihn niemand stören würde, denn normale Menschen sahen lediglich die marode anmutende zweigeschossige Halle des einst eleganten Hotels. Nur Flynn nahm all die Dinge wahr, die sich mit dem Teilstück des Planeten der Magier in der Gegenwart manifestiert hatten.
Hochgewachsene, kräftige Pflanzen, die auf eigentümliche Weise krank erschienen. Ihre langen, verdrehten Äste ragten aus den schräg in die Höhe wuchernden Stämmen. Sie wirkten wie bizarre zur Warnung ausgestreckte Arme und summten leise, sobald der Wind durch sie hindurchfuhr.
Nur wenige Meter von Flynn entfernt erhob sich der altmodische, von schweren Metallsäulen eingerahmte Empfangstresen des Hotels. Er war mit einer wuchtigen Steinformation verschmolzen. Die Magie, die das Teilstück an diesen Ort geholt hatte, schien beides in einem Anfall von Wahnsinn miteinander verbunden zu haben. Ein sumpfiger See dominierte das Zentrum der Halle. Auf seiner Oberfläche entstanden und zerplatzten unentwegt zahllose Blasen, die grünlich schimmernden Dampf in die Höhe entließen. Nach Fäulnis stinkenden Dampf, um genau zu sein.
Gleich daneben begann ein Areal mit weichem, feuchtem Sand, in den Flynn das Symbol des Seelenrufs gezeichnet hatte. Es erstreckte sich in all seiner gewundenen und verschnörkelten Pracht über einen Bereich von mehreren Quadratmetern.
Ein Stechen im unteren Rücken erinnerte den Hexer an die Mühen der vergangenen Stunden.
Er starrte auf sein Werk, und erneut kamen ihm Zweifel, wie so oft in den letzten Tagen.
Tat er das Richtige? War er dabei, sich seinem Herrn und Meister Barantar und dessen Brüdern anzunähern? Oder verschwendete er wertvolle Energie auf ein Unterfangen, das ihm nichts einbringen würde?
Flynn wusste darauf keine Antworten, und das trieb ihm vor Verzweiflung und Wut beinahe Tränen in die Augen.
Eigentlich hätten sich ihm all diese Fragen gar nicht stellen dürfen. Verdammt, er war im Besitz des Kompendiums von Vrytha. Einem Buch, das all das Wissen enthielt, das er so dringend benötigte. Aus den Seiten des Werkes hätte er den genauen Standort von Barantars, Tunvurs, Woxhons und Niridis’ versiegelten Grabkammern erfahren müssen.
Und wahrscheinlich hatte er diese Informationen auch lange Zeit gehabt. Damals, als er körperlos zwischen den Zeilen des Kompendiums existiert hatte. Die fortwährenden Einmischungen des Geisterjägers John Sinclair und dessen vermaledeiten Partners Suko hatten Flynns Mission jedoch ständig behindert. Der Hexer gab ihnen die Schuld daran, dass ein Großteil des Wissens aus dem Buch verloren gegangen war.
Selbst dass er mittlerweile mit dem Buch verschmolzen war, brachte ihm nur bedingt Vorteile. Zugegeben, er musste nicht mehr umständlich in dem Folianten herumblättern, um nach speziellen Einträgen zu suchen. Alles, was in diesem Buch stand, war ihm gegenwärtig und er konnte es vor seinem geistigen Auge ablesen. Nur nicht mehr das Wissen, in dem es um den Standort der Grabkammern der Schwarzen Diener ging. Es war beim magischen Ausbluten des Kompendiums verlorengegangen.1)
Nun ja, und um der Wahrheit die Ehre zu geben: Von den noch vorhandenen Informationen verstand er nur einen Bruchteil. Er war eben doch nur ein Mensch und kein Dämon.
Er stand auf und ließ die verspannten Schultern kreisen. Allmählich klangen die Schmerzen ab.
Du meine Güte, bist du wieder mal am Herumjammern?
Die Worte ertönten unvermutet in Flynns Geist. Er zuckte erschrocken zusammen. Zum Glück passierte das, während er eine Pause eingelegt hatte. Hätte ihn die Stimme überrascht, während er am Symbol arbeitete, hätte er womöglich den Spaten verrissen.
»Nein, nein, nein …«, zischte Flynn. »… nicht du schon wieder. Du dürftest gar nicht existieren.«
Das sagst du nicht zum ersten Mal. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass ich immer noch da bin. Und ich lasse nicht locker. Ich werde mich an dir rächen, du Bastard.
Flynn stöhnte entnervt und verkrallte die Finger in seine Haare. Gerade so, als wollte er sie sich büschelweise herausreißen.
Lass das sein. Das ist mein Haar. Ich habe es nicht jahrelang gepflegt, damit du es samt Wurzeln aus der Kopfhaut rupfst.
»Halt die Klappe, Pierce, das sind nicht mehr deine Haare. Dieser Körper gehört jetzt mir.«
Flynn wollte es nicht glauben, dass er so eine Art von Unterhaltung führte. Aber die Wahrheit ließ sich nicht verleugnen. Christopher Pierce war der vormalige Besitzer des Leibs, den er übernommen hatte. Er schien – bedauerlichweise – auf irgendeine Weise immer noch zu existieren.
Die Seele des Kriminellen hätte während der Übernahme vollständig zerstört werden sollen. Allerdings hatte sich offenbar ein winziger Teil von ihr in ihrer ehemaligen Hülle gehalten. Flynn vermutete, dass er einen Fehler begangen hatte. Kein Wunder, denn durch Sinclairs Einmischung war das Chaos über den Hexer hereingebrochen.
In der ersten Zeit hatte Flynn nichts von Pierces Anwesenheit mitbekommen. Kurz darauf jedoch hatte er dann und wann ein kaum wahrnehmbares Flüstern in seinem gedanklichen Hintergrund registriert. Zuletzt war daraus eine klare Stimme geworden, die ihn immer wieder belästigte und sich in seine Angelegenheiten einmischte.
Zu mehr war der Seelensplitter, oder wie man ihn nennen wollte, nicht in der Lage. Flynn hatte nach wie vor die vollständige Kontrolle über den Körper. Nur störten Pierces geistige verbale Nadelstiche die Konzentration des Hexers.
Ich hoffe mal für uns beide, dass du genau weißt, was du da vorhast, ätzte Pierce. Bei deinen letzten magischen Ritualen warst du nicht sonderlich erfolgreich.
Er bezog sich offensichtlich auf den Versuch des Hexers, eine dauerhafte Verbindung zum Planeten der Magier herzustellen. Flynn hatte gehofft, auf diese Weise den Standort der Grabkammern zu erfahren. Sinclair war ihm dabei in die Parade gefahren, ebenso wie Suko und einer ihrer Verbündeten. Ein kleiner, grünhäutiger Kerl im langen Mantel, der aus seinen Fingerspitzen Blitze verschossen hatte.
Wut kochte in Flynn empor, als er an die schmähliche Niederlage zurückdachte. Aber der Hexer bemühte sich, die Fassung zu wahren, und atmete durch.
»Ich weiß, was ich tue«, knurrte er. »Allerdings könnte ich wegen deiner unentwegten Störungen Worte vertauschen, oder ich vergesse die eine und andere wichtige Passage … oder …«
Zu Flynns Erstaunen erwiderte die Stimme nichts. Sie schwieg sich aus. Irgendwo in den Tiefen des bewussten oder unbewussten Denkens. Trotzdem hatte Pierce etwas erreicht: In Flynn kamen erneut Zweifel auf.
Er hatte all seine Fehler und Rückschläge der Vergangenheit irgendwie ausgleichen können. Dennoch wusste er noch zu wenig über Barantar, dessen Brüder oder den Ort, an dem sich ihre Gräber befanden.
Aber du meinst, mit diesem Seelenruf einen Weg gefunden zu haben, um an das fehlende Wissen heranzukommen, ja? Habe ich dich da richtig verstanden?
Flynn seufzte. Pierce hatte sich schlagartig wieder zu Wort gemeldet. Bleierne Müdigkeit kroch durch seinen Körper. Er war trotz seiner vielen Umwandlungen weiterhin ein gewöhnlicher Mensch. Er benötigte Nahrung und Schlaf. Und gerade im Augenblick fühlte er, dass er von beidem in der letzten Zeit zu wenig bekommen hatte.
Der Hexer schüttelte den Kopf. Er wollte nicht aufgeben. Er würde das Ritual vollenden. Er musste den Seelenruf entsenden.
Aber warum, Flynn? Was versprichst du dir davon?
»Ich bin nicht bereit, dir das zu erklären, Pierce. Du bist zu unbedeutend, zu unwichtig. Ich werde …«
Mach mal halblang!, unterbrach ihn Pierce. Ich existiere. Auf irgendeine verschrobene Art und Weise lebe ich. Ich kann dir nach wie vor deine Tage zur Hölle machen und dir deine Nächte mit Albträumen versüßen. Auch wenn ich klein und unbedeutend bin. Vergiss das niemals. Aus meiner Sicht hättest du das verdient.
»Ich weiß, ich habe dich quasi ermordet und muss dafür deiner Meinung nach büßen. Trotzdem sollte dir eines klar sein. Wenn du mich während des Seelenrufs störst, wird nicht nur dein kostbarer Körper Schaden nehmen, sondern auch du. Was immer du sein magst.«
Pierce antwortete nicht sofort. Er schien nachzudenken, sofern ein Seelensplitter dazu überhaupt in der Lage war. Okay, okay … ich bin bereit, mich zurückzuhalten. Aber ich will erfahren, was du vorhast. Was machst du mit diesem Spaten? Was ist das für ein eigenartiges Symbol, das du in den Sand zeichnest?
Flynn registrierte zufrieden, dass Pierces Seelensplitter – existent oder eingebildet – nicht über das gleiche Wissen verfügte wie er. »Das gehört zu den Vorbereitungen für den Seelenruf«, erklärte Flynn. »Nur durch ihn kann ich mich an die einzige Seele wenden, die die Antworten auf all meine Fragen kennt.«
Und wer ist der Glückliche, den du rufen willst?
Statt sofort etwas zu erwidern, kniete sich Flynn wieder hin. Er griff nach dem Spaten und setzte die Arbeit fort. Mit ruhiger Hand zog er das metallene Blatt durch den Sand. Seltsamerweise fühlte er sich entspannt. Ja, es schien fast so, als ginge alles leichter als zuvor. Die Schmerzen im Rücken und den Knien waren abgeklungen.
»Kein Glücklicher! Es ist eine ›Sie‹, die ich zu erreichen versuche.«
Du meinst nicht etwa Vrytha selbst.
»Doch, doch … ehrlich, Pierce, du erstaunst mich. Da scheint einiges bei dir hängen geblieben zu sein. Ja, es ist Vrytha, die ich rufen möchte. Ich vermute, dass ein Teil ihrer Seele bei der Arbeit am Kompendium auf das Buch übergegangen ist. Frag mich nicht, wie ich darauf komme. Ich hoffe … nein, ich fühle es einfach.«
Warum ist das wichtig?
»Weil man mit dem Ruf nur eine Seele erwecken kann, von der man bereits über ein Stück verfügt. Der Rest der Seele wird dann davon angezogen.«
Magischer Firlefanz also. Und wie soll dir das helfen?
Flynn ließ den ungebetenen Gast abermals zappeln. Das Muster, das er anzufertigen hatte, war ihm – trotz des Zwiegesprächs, das er führte – viel gegenwärtiger als zu Beginn der Vorbereitungen. Es stand klar und deutlich vor seinem inneren Auge. Außerdem zog er den Spaten mit einer nie gekannten oder erhofften Sicherheit durch den Untergrund. Konnte es sein, dass ihn das transzendente Gespräch mit dem Seelensplitter irrsinnigerweise beruhigte? Alleine dadurch, dass er sich einige seiner vorherigen Überlegungen ins Gedächtnis zurückrief?
»Barantar und die anderen Schwarzen Diener haben Keime auf Menschen übertragen. Diese Keime haben mit ihrer Bestimmung und mit ihrer Befreiung zu tun. Wozu sonst sollte es gut gewesen sein, sie auszubringen? Leider weiß ich nicht, wie das alles in Verbindung steht.«
Und du kennst auch nicht den Standort der Grabkammern, warf Pierce ein.
Flynn hielt für einen Augenblick inne. Der Anflug von Ärger wallte in ihm auf, doch er zwang sich zur Ruhe. Langsam führte er den Spaten durch den Boden.
»Ich weiß. Du brauchst nicht darauf herumzureiten.« Der Hexer schnaufte leise und hätte am liebsten frustriert aufgeschrien. Er kämpfte das Gefühl nieder und sprach weiter. »Ich habe noch ein anderes Problem. Mir ging durch den Kopf, ob ich vielleicht sogar die Schwarzen Diener selber mit dem Seelenruf befreien könnte.«
Warum sollte das ein Problem sein? Wäre das nicht großartig? Zumindest aus deiner Sicht.
»Ich weiß nicht recht. Ich fürchte, dass sich diese Befreiung nur auf ihre Seelen beschränkt. Und gewiss wären sie nicht allzu begeistert, wenn ich sie nur als körperlose Geister zurückholen würde. Oder wenn mir beim Ritual ein Fehler unterläuft. Würden ihre Seelen dann verwehen?«
Flynn unterbrach sich. Er brauchte mehr Konzentration. Die Zeichnung war an einer kniffligen Stelle angelangt. Das Muster musste in einer engen Schlaufe weitergeführt werden. Allerdings durfte sich die Rille dabei nicht selbst berühren. Erst als die Hürde gemeistert war, widmete er sich wieder seinem inneren Gesprächspartner.
»Es ist nicht nur extrem wichtig für mich, die Schwarzen Diener zu befreien. Ich muss das auch auf die richtige Weise tun. Wenn ich sie aus ihren Kammern erlöse, müssen sie über ihre gesamte Macht verfügen. Nur so können sie ihrer Mission nachkommen. Wenn ich nur ihre Seelen befreie, könnte ihre Stärke in den Körpern zurückbleiben. Und damit würde ich alles zunichtemachen.«
Das wäre dann wirklich ganz großer Bullshit.
»Wo du recht hast, hast du recht, Pierce. Ich muss also das Wissen aus dem Buch komplettieren, ehe ich einen derartigen Versuch wage. Aber viel von dem Wissen ist fort. Es ging verloren, als das Kompendium magisch ausblutete.«
Und darum willst du zuerst Vrythas Seele rufen, die dir alles haarklein erklärt. Allmählich begreife ich.
»Wie ich schon sagte, du scheinst nicht so dumm zu sein, für wie ich dich bislang gehalten habe.«
Ey, bleib friedlich ja?
Flynn konnte sich ein boshaftes Grinsen nicht verkneifen. Er wechselte das Thema.
»Wie auch immer. Vrytha ist bestimmt in der Lage, mir die notwendigen Informationen zu geben. Vorausgesetzt es gelingt mir, ihre Seele aus dem Totenreich zurückzuholen. Sie hat das Kompendium immerhin geschrieben.«
Der Hexer sprach, als wäre eine Art Damm gebrochen. Es kam ihm so vor, als redete er sich all seine Probleme, Zweifel und Unsicherheiten von der Seele. Mit Christopher Pierce als Therapeuten. Fast hätte Flynn aufgelacht.
»Sie kann mir erklären, was es mit den Keimträgern auf sich hat und wie ich sie nutzen kann. Sie weiß mit Sicherheit auch Dinge, die sie nicht im Buch aufgezeichnet hat. Vielleicht sogar die Position des untergegangenen Kontinents, auf dem ich die Grabkammern vermute.«
Flynn stutzte. Erst in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er mit dem Zeichnen des Symbols fertig war. Er stand aufrecht vor dem Endprodukt und bewunderte sein Werk. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass er aufgestanden war.
So langsam kapiere ich, was du erreichen willst.
Mit Bestürzung nahm Flynn einen lauernden Unterton in Pierces gedanklichen Worten wahr. Hatte er dem Seelensplitter des Kleinkriminellen zu viel Informationen gegeben? Schickte Pierce sich jetzt an, ihn zu guter Letzt doch beim Seelenruf zu behindern?
Einige Minuten verstrichen, in denen es auf geistiger Ebene still blieb. Ein sanfter Windhauch glitt durch die eigentümliche Umgebung und ließ die dünnen Äste der Pflanzen summen.
»Wie sieht es aus? Lässt du mich in Ruhe arbeiten?«, unterbrach Flynn die Stille.
Okay. Aber ich stelle eine Bedingung!
»Und welche?«
Wenn du deinen Meister und seine Brüder befreist, wirst du mit Macht in Hülle und Fülle belohnt werden. Ich schätze, Barantar wird großzügig sein.
»Das nehme ich an.«
Sobald du den Job erledigt hast, suchst du dir einen neuen Körper und nach einer Möglichkeit, mich wiederherzustellen. Also so, wie ich war, bevor du Mistkerl mir über den Weg liefst.
Flynn schürzte die Lippen. Konnte er Pierces Forderungen erfüllen? Im Kompendium von Vrytha wurde er nicht fündig. Dessen verbliebener Inhalt floss in Form von Worten, Symbolen und Ritualen durch den Geist des Hexers. Aber war das ein Problem?
Er erinnerte sich daran, dass der Gangster offenbar nicht über dasselbe Wissen wie er verfügte. Er konnte ihn also täuschen. Und vielleicht fand sich irgendwann eine Möglichkeit, um Pierces letzten Rest loszuwerden.
»Ich bin einverstanden.«
Gut, dann klinke ich mich jetzt aus und räume das Feld!