John Sinclair 2042 - Eric Wolfe - E-Book

John Sinclair 2042 E-Book

Eric Wolfe

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Beschreibung

Ich spürte die Wärme ihrer Haut, als sie Suko und mich bei der Hand nahm. Ein unangenehmes Kribbeln und Stechen jagte mir durch die Finger, als wären sie lange eingeschlafen gewesen und wachten nun allmählich auf.

Instinktiv wollte ich die Hand wegziehen, doch Chloe Maxwell - nein: Vrytha! - hielt sie fest. Beinahe unmerklich schüttelte sie mit dem Kopf.

"Keine Angst", flüsterte sie. "Euch wird nichts geschehen. Aber ihr müsst die Vergangenheit erleben, um sie zu verstehen."

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EPUB

Seitenzahl: 146

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Chronistin von Toghan

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: shutterstock/Heartland Arts

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-5330-3

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Die Chronistin von Toghan

(2. Teil)

von Eric Wolfe

»Und nun seht meine Geschichte!«, sagte die Frau, in deren Körper eine fremde Seele Zuflucht gefunden hatte.

Ich spürte die Wärme ihrer Haut, als sie Suko und mich bei der Hand nahm. Ein unangenehmes Kribbeln und Stechen jagte mir durch die Finger, als wären sie lange eingeschlafen gewesen und wachten nun allmählich auf.

Instinktiv wollte ich die Hand wegziehen, doch Chloe Maxwell – nein: Vrytha! – hielt sie fest. Beinahe unmerklich schüttelte sie mit dem Kopf.

»Keine Angst«, flüsterte sie. »Euch wird nichts geschehen. Aber ihr müsst die Vergangenheit erleben, um sie zu verstehen.«

Das Wohnzimmer von Chloes Apartment geriet in Bewegung. Die Wände schienen von mir wegzurücken und gleichzeitig näher zu kommen. Schränke verloren ihre Form, verbogen sich, schmolzen, schrumpften und blähten sich erneut auf.

Ich ächzte, als mich der Schwindel erfasste. Auch Suko neben mir keuchte.

»Bleibt ganz ruhig«, sagte Vrytha. »Dieses Gefühl lässt gleich nach.«

Mir wurde heiß. Schweiß trat mir auf die Stirn.

Alles drehte sich um mich. Das Zimmerfenster raste an mir vorbei, gefolgt von den Pferdebildern an den Wänden. Das Muster der Tapeten erwachte zum Leben, die Linien und Formen wuchsen aufeinander zu, wucherten, umschlangen sich. Die Wanduhr pulsierte, ihr Ticken erschien mir mit einem Mal ohrenbetäubend.

11 Uhr 15, erkannte ich, ohne den Sinn dieser Zeitangabe zu begreifen.

Und plötzlich barst das Universum, und die Welt um mich herum war eine andere.

***

Ich stand in einer Stadt, die ich noch nie gesehen hatte.

Häuser aus strahlend weißen Ziegeln säumten die gepflasterte Straße. Kletterpflanzen mit kräftigen grünen Blättern und orangen, roten und gelben Blüten rankten sich an den Wänden empor und umrahmten die Fenster. Schlanke Säulen – manche glatt, andere mit schnörkeligen Reliefs verziert – standen davor. Ein Himmel in tiefem, sattem Blau hing über der Szenerie.

Ein wahres Idyll, das mich von der Grundstimmung an das antike Griechenland erinnerte und doch zugleich viele fremdartige Elemente enthielt. Wie die gläsernen, geschwungenen Brücken, die sich zwischen den Dächern mancher Häuser spannten. Oder die kräftigen Bäume zwischen den Gebäuden, an deren Ästen skurrile Früchte wuchsen. Sie erinnerten mich an unterarmlange hellrote Bananen.

Das Fremdartigste jedoch war, dass die Stadt tot und eingefroren wirkte. Wie das Bühnenbild eines Theaterstücks, zu dem sich die Schauspieler noch nicht eingefunden hatten.

Ich hörte keinerlei Geräusche. Keine Vögel, die sangen, keine Insekten, kein Rauschen der Blätter, keine menschlichen Laute wie Schritte, Stimmen oder Gelächter.

Es roch nach absolut nichts.

Ich stand in einer unechten, künstlichen Welt.

Plötzlich erklang doch eine Stimme.

»Wo hast du uns hingebracht?«

Suko!

Ich wollte mich nach ihm umdrehen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Mein Kopf rührte sich keinen Millimeter, die Füße schienen am Boden festgewachsen. Ich fühlte mich wie eine Statue.

»Was soll das, Vrytha?«, wollte ich fragen, aber kein Laut kam mir über die Lippen.

Panik wallte in mir auf. Waren Suko und ich blindlings in eine Falle getappt? Hätten wir ihr nicht trauen dürfen? Immerhin kannten wir sie gerade erst seit einigen Minuten. Wenn man das überhaupt so nennen mochte.

Begonnen hatte alles mit einem Anruf aus dem Krankenhaus und der Nachricht, dass Professor Morten Lindinger aus dem Koma erwacht war. Die Schuld an seinem Zustand trugen die wenigen Seiten aus dem Kompendium von Vrytha, die er vor Wochen berührt und dadurch eine lebensechte Vision ausgelöst hatte.

Also fuhren Suko und ich mit eben diesen Buchseiten in die Klinik und trafen einen Professor an, in dem offenbar ein Fragment von Vrythas Seele steckte. Das Seelenfragment kehrte in die Seiten zurück, hinterließ in Lindinger jedoch die rasch schwindende Erinnerung an einen Ort namens Toghan.

Wir verließen den Professor und wollten ins Büro zurückkehren. Auf dem Weg ins Erdgeschoss der Klinik teilten wir uns den Aufzug mit einer uns unbekannten Frau. Chloe Maxwell, wie sich später herausstellen sollte.

Während der Fahrt nach unten überschlugen sich die Ereignisse: Vrythas restliche Seele drang in die Seiten des Kompendiums ein. Instinktiv ließ Suko sie fallen. Chloe Maxwell wollte freundlich sein und sie für ihn aufheben – und Vrythas Seele sprang auf sie über. Die Buchseiten lösten sich auf und sickerten in Chloes Körper.

Stundenlang irrte Vrytha in dem fremden Leib orientierungslos durch London, bis Chloes Seele die Kontrolle zurückerlangte und nach Hause zurückkehrte. Wo wir sie aufspürten.

Erneut drängte sich Vrytha in den Vordergrund. Wir überzeugten sie von unseren guten Absichten und erfuhren von Vrythas langer Gefangenschaft.

Wir baten sie, uns mehr zu erzählen, doch sie meinte, es gäbe eine schnellere Methode: Sie wollte uns an ihren Erinnerungen teilhaben lassen.

Nach anfänglichen Bedenken stimmten wir zu. Sie griff uns bei den Händen …

… und nun stand ich hier wie festgewachsen in einer fremden Stadt.

War das Toghan?

»Du hast recht«, erklang ihre Stimme in meinem Kopf. »Wir befinden uns in Chamahl, der Hauptstadt von Toghan.«

Sie konnte mich verstehen? Meine Gedanken lesen?

»So ist es«, sagte sie. »Deine und die von Suko.«

»Was ist schiefgegangen?«, hörte ich meinen Freund und Partner, ebenfalls direkt im Kopf. »Warum kann ich mich nicht bewegen?«

»Geht mir genauso«, sagte – dachte! – ich.

»Nichts ist schiefgegangen«, behauptete Vrytha. »Offenbar versteht ihr nur noch nicht die Natur der Erinnerungsreise. Ihr befindet euch in meinem Gedächtnis. Doch ihr könnt es nur mit mir teilen, wenn ihr aufhört, euch zu sperren.«

»Sperren?«, fragte Suko. »Das tun wir nicht. Schließlich haben wir zugestimmt, auf diese Weise mehr zu erfahren.«

»Oh, ihr sperrt euch sehr wohl! Denn ihr seht euch weiterhin als John Sinclair und Suko. Wenn ihr mit auf die Reise gehen wollt, müsst ihr aber euer Selbst loslassen. Auf gewisse Weise müsst ihr zu mir werden, euch meiner Führung anvertrauen.«

»Aber …«, begann ich.

»Kein Aber! Dies ist keine Zeitreise, bei der ihr nach eurem Willen agieren könnt. Alles muss genau so geschehen, wie es bereits geschehen ist, vor Tausenden von Jahren. Sobald ihr versucht, etwas zu verändern, egal wie gering, sobald ihr also vom vorgegebenen Pfad abweichen wollt, verharrt die Erinnerungsreise.«

»Wir wissen doch nicht einmal, was hier gerade passiert«, widersprach Suko. »Wie kämen wir also dazu, etwas verändern zu wollen?«

»Und doch tut ihr es. Indem ihr euch umschauen wollt. In andere Richtungen blicken, als ich es getan habe. Deshalb noch einmal: Lasst los! Gebt euch der Erinnerung hin!«

Ich musste daran denken, dass ich etwas Ähnliches bereits erlebt hatte. Damals hatte mich Myxin, der Magier, an einer entscheidenden Episode seines Lebens teilhaben lassen. Sie mich durchleben lassen, als handelte es sich um meine eigenen Erinnerungen.1)

»Ich versuche es«, sagte ich.

Mit einiger Mühe kam ich allmählich zur Ruhe. Ich schob sämtliche Gedanken zur Seite, leerte meinen Geist von allem Ballast.

Kein Suko mehr.

Keine Erinnerung an die Schrecken der letzten Wochen.

Kein John Sinclair.

Nur noch ein namenloses Ich. Eine leere Leinwand, die darauf wartete, gefüllt zu werden.

Ganz schwach nur glaubte ich, etwas zu riechen. Frische, saubere Luft mit einem leicht zitronigen Aroma.

Die Schemen von Menschen schälten sich aus dem Nichts. Hauchdünne Umrisse zunächst nur, aber zunehmend besser zu erkennen. Männer in weißen, wallenden Gewändern. Frauen in figurbetont geschnittenen Kleidern. Händler, die Karren hinter sich her zogen. Ein Brunnen im Schnittpunkt zweier Straßen, in dem frisches Wasser aus einer engelhaften Figur sprudelte.

Wie aus weiter Ferne hörte ich ein Plätschern.

Es klappt!, dachte ich – und sofort verlor die Umgebung den langsam aufkommenden Glanz des Lebens. Die Menschen verschwanden, die Stille kehrte zurück.

Also noch einmal von vorne.

Geist leeren.

Ruhe finden.

Alles um mich herum vergessen.

Es gelang. Nach einer Zeit, von der ich nicht sagen konnte, ob es sich um Sekunden oder Stunden handelte, verlor ich mich und wurde zu …

***

»… Vrytha?«, sagte jemand neben mir.

Ich drehte mich zu dem Sprecher um und sah Lurion. Wie immer trug er das Haar zurückgekämmt und zu einem Zopf gebunden. Ein warmes, leicht spöttisch wirkendes Lächeln umspielte seine Lippen. Die schwarzen Bartstoppeln tauchten seine Züge in einen Schatten, der ihm etwas Verwegenes verlieh.

Mein Herz schlug schneller, und ich rügte mich für diese lächerliche Gefühlsaufwallung.

Gewiss, früher hätte ich mich für Lurion durchaus interessiert. So wie die Hälfte aller Frauen von Chamahl. Doch seit er sich öffentlich dazu bekannte, ja, sogar damit prahlte, den Rettern von Toghan anzugehören, war meine Schwärmerei für ihn abgekühlt.

Zumindest redete ich mir das ein, bis ich ihm begegnete und mich die Reaktion meines Körpers eines Besseren belehrte.

Dennoch würde ich mich niemals auf einen dieser hasserfüllten Menschen einlassen, für die es nichts Wichtigeres zu geben schien, als Toghan von den Atlantern zu befreien.

Retter von Toghan! Was für eine absurde und hochgestochene Bezeichnung für eine kleine Gruppe kleingeistiger Männer und Frauen, die zu eitel waren, sich ihre lächerliche Angst vor allem Fremden einzugestehen und diese stattdessen in Hassreden kanalisierten.

Bedauernswert eigentlich.

Wenn sich ihnen nicht immer mehr Leute anschließen würden.

»Hallo, Lurion«, antwortete ich und bemühte mich mit wenig Erfolg um Kühle in der Stimme. »Hast du mich etwas gefragt?«

Lurion lachte. Ein heller, klarer Laut. »So kenne ich dich. Ganz die Künstlerin, in Gedanken stets bei der nächsten Statue oder Skulptur. Webst du im Geist schon die Magieströme zu neuen Werken?« Erneut erklang das Lachen. Mit dem Daumen deutete er zu vier jungen Männern neben einem Floranylbaum. »Wir sind auf dem Weg zum Tempel. Kommst du mit?«

»Warum sollte ich?«

»Der Wanderer hält eine Rede. Das wird bestimmt interessant.«

Ich seufzte. Der Wanderer, natürlich. Ein Mann, der vor wenigen Wochen wie aus dem Nichts in Chamahl aufgetaucht war und seitdem mit seinen Lehren immer mehr Leute um sich scharte.

»Zu einem Fremden? Einem Neuankömmling? Jemandem, der euch Männern die Frauen wegnehmen könnte? Stehst du solchen Menschen normalerweise nicht eher … nun, ablehnend gegenüber? Oder ist in dir plötzlich der Keim der Nächstenliebe erwacht?«

»Sehr lustig«, sagte Lurion – und klang, als meinte er es ernst. Er grinste. »Ich bin es gewohnt, dass uns die Menschen von Toghan mit Skepsis betrachten und belächeln. Aber das wird sich ändern, sei dir gewiss. Der Wanderer hat viele interessante Dinge zu erzählen. Über das wahre Wesen der Atlanter beispielsweise. Weißt du nicht, dass ihn die Alten Götter geschickt haben, um Toghan auf den rechten Weg zu bringen?«

Ich seufzte. Immer wieder die alte Leier.

Erneut sah ich zu den vier Männern, die im Schatten der stark belaubten, langen Floranyläste standen. Sie wirkten gelangweilt.

Nicht weit von ihnen entfernt erhob sich eine der vielen Kraftsäulen, die überall in der Stadt, nein: überall im Land zu finden waren. Niemand wusste sicher, wer diese mit allerlei Schnörkeln verzierten mannshohen Pfeiler aus strahlend weißem Gestein errichtet hatte. Das Wissen darum war im Laufe der Jahrtausende alten Geschichte von Toghan verloren gegangen.

Ich vermutete jedoch, dass es sich um die Ersten Magier gehandelt haben dürfte, denn schließlich ruhte auf jeder Säule ein gewaltiger energetischer Ball, eine bläuliche Kugel aus flirrenden Schemen, blitzähnlichen Entladungen und Myriaden von Funken, die in jeder Sekunde aufflammten und wieder erloschen. Die Quellen der Magie, von denen Toghan zehrte.

Seit ewigen Zeiten existierte ein Dekret, in dem der damalige Kroagh, der Herrscher des Landes, jeden Magiebegabten verpflichtete, die Kraft der Säulen nicht zu missbrauchen. Ein Gesetz, über dessen Einhaltung seit ehedem der jeweils amtierende Kroagh wachte. Verstöße wurden mit lebenslanger Kerkerhaft bestraft.

Doch vor etwa hundert Jahren geschah etwas, dass das Dekret ins Wanken brachte: Es kam zu einer magischen Eruption. Ich war damals noch nicht geboren, kannte aber genügend Leute, die bei dem Kraftausbruch dabei waren. Sie berichteten, dass sich fast alle Energiebälle in Toghan gleichzeitig auf ein Vielfaches ausdehnten. Manche Quellen sprachen von fünfzig, sechzig Meter Durchmesser. Ein ohrenbetäubendes Knistern erfüllte die Luft, als stünde das Gewebe des Seins in Flammen.

Das Phänomen dauerte nur wenige Sekunden an, und als die Kugeln mit einem Knall schlagartig auf ihre ursprüngliche Größe schrumpften, lagen überall um die Säulen bewusstlose Körper. Fremde.

Später stellte sich heraus, dass sie den Untergang eines Kontinents überlebt hatten, den sie Atlantis nannten. Offenbar hatten sie im letzten Moment versucht, auf magischem Weg zu entfliehen, und dabei – wohl eher versehentlich – Kontakt zu den Magiequellen von Toghan bekommen, was sie im Augenblick der Katastrophe in unsere Heimat schleuderte.

Die meisten anderen Atlanter, also der Großteil der Bevölkerung, waren beim Untergang ums Leben gekommen, einige hatten sich woanders hin geflüchtet.

Immerhin hatte die Magie der Kraftsäulen einen winzigen Teil der Atlanter gerettet.

Und genau darin bestand das Problem. Hatten die Fremden auf diese Weise nicht gegen das Dekret verstoßen? Hatten sie nicht die Magie für ihre eigenen Zwecke missbraucht? Spielte es eine Rolle, dass es dabei ums nackte Überleben ging?

Der Kroagh sprach sie damals von allen Vorwürfen frei, da die Atlanter erstens nichts von dem Gesetz wussten und da sie zweitens nicht mutwillig dagegen verstoßen hatten. Er verfügte, dass die Flüchtlinge in die Bevölkerung Toghans zu integrieren seien.

Viele Einheimische betrachteten sie mit Skepsis und einer gehörigen Portion Misstrauen. Trotzdem blieben sie über lange Zeit fair und friedlich.

Bis vor einigen Wochen.

Seitdem machte sich eine zunehmend boshafte Stimmung gegen die Atlanter breit. Das zeigte sich nicht zuletzt in der Gründung der Retter von Toghan.

Ich war mir nicht sicher, aber ich vermutete, dass dafür der Mann verantwortlich war, den Lurion als Wanderer bezeichnet hatte.

»Ich weiß nicht recht«, sagte ich nach einigem Nachdenken, »ob ich mir wirklich anhören will, was er zu verkünden hat.«

»Du magst ihn nicht«, stellte Lurion fest. Das Lächeln blieb wie festgemeißelt in seinem Gesicht hängen.

»Ich kenne ihn nicht. Wie soll ich beurteilen, ob ich ihn mag?«

»Dennoch hast du dir ein Urteil über ihn gebildet. Vorschnell, wie ich finde. Hör zu, was er zu sagen hat, anschließend kannst du ihn immer noch ablehnen.«

Es fiel mir schwer, es zuzugeben, aber Lurion hatte recht. Normalerweise entsprach es nicht meinem Naturell, einen Menschen zu beurteilen, ohne mir vorher selbst ein Bild gemacht zu haben.

Vielleicht fand ich ja heraus, was es mit dem Kerl auf sich hatte, dass ihm inzwischen bereits viele Leute folgten.

»Also gut«, sagte ich. »Ich komme mit.«

***

Der Tempel, in dem der Wanderer auftrat, lag etwas außerhalb von Chamahl. Er war einem der Alten Götter geweiht, den heutzutage kaum noch jemand anbetete. So kam es, dass dort gelegentlich Redner zu philosophischen, politischen oder sonstigen Themen sprachen, häufig genug vor gerade einmal einer Handvoll Zuhörer.

An diesem Tag jedoch quoll der kleine Tempelsaal beinahe über. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass der Fremde bereits so viele Anhänger um sich scharte. Oder bestand die Menge überwiegend aus Neugierigen, wie ich eine war?

Die Besucher saßen auf den Steinbänken, drängten sich in Nischen, standen sogar bis in den Vorraum hinaus.

Lurion und seine Freunde schoben sich langsam immer weiter nach vorne auf den Altar zu und verschafften sich, wenn es sein musste, auch mit sanfter Gewalt einen freien Weg. Manchmal beschwerten sich Leute darüber, wenn sie aber Lurion erkannten, schlug ihre Stimmung um. Sie lachten, klopften ihm auf die Schulter und gingen freiwillig zur Seite. Offenbar genoss er großes Ansehen unter den Verblendeten.

Ich folgte der Fünfergruppe, lächelte verlegen, wenn ich jemanden anrempelte, und kam schließlich unmittelbar vor dem Altar zum Stehen.

Die Luft im Saal roch verbraucht und war zum Schneiden dick.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, entdeckte den Wanderer aber nirgends. Andererseits hatte ich ihn bisher erst einmal gesehen – und das aus weiter Ferne –, deshalb war ich mir nicht sicher, ob ich ihn überhaupt wiedererkennen würde.

Über den Köpfen des Publikums hingen Feuerschalen an jeweils drei Ketten, in denen magisch leuchtende Bälle lagen. Der Saal war erfüllt von ihrem gelblichen, warmen Licht.

Mein Blick wanderte langsam über die Gesichter der Anwesenden. Ganz normale Leute. Dicke, dünne, junge, alte, hübsche, hässliche. Keinem von ihnen hätte man angesehen, welche Abscheu gegenüber den Atlantern sie erfüllte.

Plötzlich ging erst ein Raunen durch die Menge, dann brandete Applaus auf. Männer johlten, Frauen schrien. Wie von Geisterhand bildete sich eine Gasse zwischen den Leuten, durch die eine Gestalt schritt.

Der Wanderer.

Zum ersten Mal sah ich ihn aus der Nähe und konnte ein leichtes Gefühl der Enttäuschung nicht unterdrücken. Denn für Leute wie ihn war der Begriff »unscheinbar« erfunden worden.

Ein durchschnittliches Gesicht, glatt rasiert, durchschnittliche Größe, durchschnittlicher Körperbau, eine durchschnittliche Frisur aus kurzen schwarzen Haaren.

Nichts verriet mir, wie dieser Mann auf seine Anhänger so faszinierend wirken konnte …

… bis zu dem Augenblick, in dem er auf den Altar stieg, die Arme ausbreitete und verschmitzt lächelte, als die Menge schlagartig verstummte. Er schaute über die Köpfe der Zuhörer hinweg, streifte dabei auch kurz meinen Blick, und mit einem Mal fühlte ich mich, als hätte er mir in die Seele gesehen.

Ein leichter Schwindel erfasste mich, und mir wurde bewusst, wie heftig mein Herz plötzlich schlug. Merkwürdig, aber dieser eine Blick reichte aus, mir ein Gefühl der Geborgenheit zu geben.