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Das Prasseln des Regens gegen das Schlafzimmerfenster holte mich aus einem wirren Traum über eine traurige junge Frau, einen Keller voller Leichen und jemanden, der mich an der Fußsohle kitzelte. Nur Sekunden später konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Doch wozu auch? Träume waren es nicht wert, dass man sie sich merkte.
Im Halbschlaf dämmerte ich weiter dahin, bis mir auffiel, dass der Regen anders klang als sonst. Lauter. Unmittelbarer. Und warum war meine Matratze so hart?
Etwas packte mich an der Schulter, rüttelte mich. Eine Stimme brummte: "Verschwinde! Du darfst hier nicht sein."
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Der vergessliche Mister Sinclair
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Néstor Taylor/Bassols
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5927-5
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Der vergessliche Mister Sinclair
von Eric Wolfe
Das Prasseln des Regens gegen das Schlafzimmerfenster holte mich aus einem wirren Traum über eine traurige junge Frau, einen Keller voller Leichen und jemanden, der mich an der Fußsohle kitzelte. Nur Sekunden später konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Doch wozu auch? Träume waren es nicht wert, dass man sie sich merkte.
Im Halbschlaf dämmerte ich weiter dahin, bis mir auffiel, dass der Regen anders klang als sonst. Lauter. Unmittelbarer. Und warum war meine Matratze so hart?
Etwas packte mich an der Schulter, rüttelte mich. Eine Stimme brummte: »Verschwinde! Du darfst hier nicht sein.«
Ich öffnete die Augen und starrte in das bärtige Gesicht eines schlecht gelaunten Mannes. Instinktiv wollte ich hochfahren, doch ein scharfer Stich durch den Schädel zwang mich zu langsameren Bewegungen. Ich stöhnte auf und presste mir die Hand gegen die Schläfe.
»Was …?«, murmelte ich.
»Gestern wieder mal zu tief ins Glas geschaut, wie?«, fragte der Mann. »Oder waren es gleich ein paar Flaschen? Egal, sieh zu, dass du verschwindest. Du weißt genau, dass deinesgleichen hier nicht pennen darf.«
Deinesgleichen? Wovon, um Himmels willen, faselte der Kerl?
Nur langsam – sehr langsam für jemanden wie mich, einen Geisterjäger, dessen Überleben oft genug von schnellen Reaktionen abhing – verstand ich. Und begriff zugleich überhaupt nichts.
Der Geruch nach Regen und feuchter Erde. Der Mann vor mir, über dessen glänzendes Cape Wassertropfen perlten und im Schein der Straßenlaternen glitzerten. Das laute Prasseln, nicht etwa gegen mein Fenster, sondern gegen das Hartplastikdach über mir. Die unbequeme Matratze, dich sich als Bank erwies. All das vereinte sich zu einem rätselhaften Bild – und es zeigte nicht mein Schlafzimmer.
»Wo … wo bin ich?«, fragte ich. »Wie spät ist es?«
»Eine Bushaltestelle am Rand des Hyde Parks. Kurz vor sechs Uhr morgens.«
»Wie komme ich hierher?« Wenn nur das Dröhnen in meinem Schädel nicht gewesen wäre. Vielleicht hätte ich mich dann besser konzentrieren können.
Mein Gegenüber verdrehte die Augen. Ein Parkwächter, wie ich endlich erkannte. »Woher soll ich das wissen, Mann? Ich weiß nur, dass du hier nichts zu suchen hast. Also mach dich vom Acker, oder ich rufe die Polizei.«
Offenbar hielt er mich für einen Obdachlosen, der seinen Rausch auf öffentlichem Grund ausschlafen wollte.
»Hören Sie«, sagte ich. »Das ist ein Missverständnis. Ich bin die Polizei. Und …«
Eine Augenbraue des Kerls schnellte in die Höhe und verschwand unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. »Ach ja? Und ich bin die Queen beim Morgenspaziergang.« Er grinste humorlos. »Wo sind denn nur meine Corgis?« Theatralisch sah er sich um. »Wenn ich nicht ständig auf diese Hundchen aufpasse, streunen sie überall herum.« Schlagartig wurde er wieder ernst. »Hau ab!«
»Nein, wirklich, mein Name ist John Sinclair und …« Ich wollte den Dienstausweis aus der Jacke holen. Da erst fiel mir auf, in welchem beklagenswerten Zustand sich meine Kleidung befand. Verdreckt von oben bis unten, an manchen Stellen gerissen. Kein Wunder, dass mir der Parkwächter nicht glaubte.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah mir mit betont geduldiger Miene zu, während ich die Jackentaschen durchsuchte.
Mein Ausweis war verschwunden. Genauso wie das Portemonnaie und das Handy. Verdammt.
Ein heißer Schreck durchfuhr mich, als mir meine anderen Besitztümer einfielen. Ich fasste nach dem Pistolenholster. Leer! Noch schlimmer aber war, dass ich auch mein Kreuz nicht finden konnte. Jemand hatte mir meine wichtigste und stärkste Waffe gegen das Böse gestohlen.
Mir wurde flau im Magen.
Hektisch ließ ich den Blick über den Boden gleiten und schaute sogar unter die Bank des Bushäuschens. Nichts.
Was war denn nur passiert? Ich tastete mich ab, entdeckte aber glücklicherweise keine Bisswunden, die auf den Angriff eines Werwolfs oder Vampirs hindeuteten.
Nur als ich eine Stelle an der Stirn berührte, zuckte ich schmerzerfüllt zusammen.
»Bluterguss«, kommentierte der Parkwächter. »Und ein prächtiges Hörnchen. Was ist nun, Mister Polizist?«
»Sinclair«, wiederholte ich. »Der Name ist Sinclair. Mein Ausweis ist verschwunden. Offenbar hat mich jemand ausgeraubt.«
»Und Ihre Papiere gestohlen?« Er klang zweifelnd, aber immerhin war er zu einem förmlicheren Tonfall übergegangen. Vielleicht hatte er auch das leere Holster bemerkt und überdachte seine ursprüngliche Einschätzung. »Wer sollte damit etwas anfangen können?«
»Keine Ahnung. Ich kann mich an nichts erinnern. Der Schlag auf den Kopf muss … muss mich …« Mitten im Satz verlor ich den Faden. Ich kniff die Augen zusammen. Konzentrier dich, John! »Haben Sie ein Telefon dabei?«
»Na sicher, aber …«
Ich streckte die Hand aus. »Geben Sie es mir.«
»Vergessen Sie es, Mann!«
»Bitte!«, drängte ich. »Ich werde auch nicht damit davonlaufen. Polizistenehrenwort. Wie heißen Sie eigentlich?«
»Harrington. Ned Harrington.«
»Prima, Ned. Ich bin John. Mir ist klar, dass ich nicht den vertrauenerweckendsten Eindruck auf Sie mache. Aber mal ehrlich: Sehe ich wirklich wie ein Tippelbruder aus? Nicht eher wie das Opfer eines Überfalls?«
Er kniff die Augen zusammen und musterte mich, mein vor einem Tag rasiertes Kinn und meine zwar schmutzige und kaputte, aber keineswegs verschlissene Kleidung. Seine Gesichtszüge wurden etwas weicher.
»Wenn Sie mir Ihr Telefon kurz leihen, könnte ich einen Kollegen anrufen. Der wird Ihnen meine …« Geschichte bestätigen, wollte ich sagen. Aber ich bekam Zweifel. Woher sollte mein Freund und Partner Suko wissen, was mir zugestoßen war? Wir hatten uns am Vortag kurz nach Dienstschluss getrennt und … Ja, was und? Erneut presste ich die Hand gegen die Schläfe.
»Ja, ja, schon gut«, brummte Harrington. Er hob das Regencape hoch, kramte in der Jackentasche darunter und reichte mir schließlich ein altertümliches Klapphandy. »Aber fassen Sie sich kurz. Ich hab keine Flatrate.«
»Versprochen.«
Ich öffnete das Gerät und starrte die Tastatur an. Für einen Augenblick fürchtete ich, mich nicht an Sukos Nummer erinnern zu können, aber dann flogen meine Finger doch wie von selbst über die Ziffern.
Es tutete einige Sekunden. Niemand hob ab. Düstere Gedanken geisterten mir durchs Hirn. Hatte ich mich am Vortag mit Suko noch auf den Weg gemacht, um einen Fall zu bearbeiten? Waren wir beide in einen Hinterhalt gelaufen, und nun lag er ebenfalls bewusstlos in einem Bushäuschen? Oder tot?
Das Tuten brach ab – und Shao meldete sich. Sukos Lebenspartnerin klang verschlafen.
»Ich bin’s«, sagte ich.
»Du?« Die Müdigkeit verschwand aus ihrer Stimme. »Wieso kommst du nicht einfach rüber? Moment mal, was ist das überhaupt für eine Nummer, von der aus du anrufst?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Und eine, die ich dir gerne erzählen würde, wenn ich mich nur daran erinnern könnte. »Ist Suko da?«
»Wo sollte er sonst sein? Er kommt gerade aus dem Schlafzimmer. Was ist denn los?«
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Mit raschen Sätzen erklärte ich ihr das Wenige, das ich wusste.
Shao gab den Hörer an Suko weiter.
»Was machst du denn für Sachen, mein Alter?«, begrüßte er mich. Offenbar hatte er alles über Raumlautsprecher mitgehört. »Ich hole dich ab.«
Ich fühlte mich dankbar bei seinen letzten Worten.
Und hilflos wie selten.
***
»Gedächtnisverlust?«, fragte Suko anderthalb Stunden später.
In rekordverdächtiger Zeit war er beim Hyde Park angekommen. Währenddessen hatte mich Ned Harrington keine Sekunde aus den Augen gelassen. Offenbar hatte er mir immer noch nicht vollständig geglaubt.
Erst als Suko aus dem Wagen gesprungen war und ihm den Dienstausweis präsentiert hatte, war sein Misstrauen geschwunden.
Gemeinsam mit meinem Partner hatte ich im strömenden Regen die Umgebung des Bushäuschens abgesucht, aber von dem Silberkreuz und den anderen Sachen fehlte jede Spur.
Und nun saßen wir in seinem BMW und parkten uns durch den inzwischen dicken morgendlichen Berufsverkehr. Denn Fahren konnte man unsere Art der Fortbewegung kaum nennen.
Die Wischerblätter taten ihr Bestes, um mit den Regenmassen fertigzuwerden. Mit geringem Erfolg. Also blickte ich – nur unterbrochen von gelegentlichen Momenten klarer Sicht – durch einen Feuchtigkeitsschleier auf die Welt, die hinter der Scheibe verschwommen und irreal wirkte. So ähnlich musste es in meinem Kopf aussehen.
»Hoffentlich wird das bei uns nicht allmählich zur Gewohnheit«, fuhr Suko fort.
Ich sah ihn von der Seite an und runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
Mir fiel das breite Pflaster auf seiner Stirn auf. Ein Andenken an unseren letzten Einsatz.
»Na, ich meine, weil sich auch Bill nach Sheilas Tod erst mal an nichts hatte erinnern können.«
Bill? Für einen Augenblick war ich verwirrt. Oh, klar, Bill! Mein ältester Freund. »Sheila ist tot?«, entfuhr es mir.
Am liebsten hätte ich mir gleich danach gegen die Stirn geschlagen. Sheila war tot gewesen. Doch inzwischen war sie wieder zu uns zurückgekehrt. Obwohl mir im Moment partout nicht einfallen wollte, wie das zugegangen war.1)
»Kleiner missglückter Scherz«, behauptete ich rasch, um das Missgeschick zu überspielen. »Was die Gedächtnislücke angeht: Das kann man nicht vergleichen. Bei Bill hat ein traumatisches Erlebnis die Amnesie ausgelöst. Und nicht ein Schlag auf den Kopf wie bei mir.«
»Du vermutest nur, dass es bei dir daran liegt. Aber wer sagt dir, dass du nicht auch etwas Traumatisches erlebt hast? Immerhin kannst du dich an die letzte Nacht nicht erinnern. Du erinnerst dich?«
Erst verwirrte mich, was er sagte. Doch dann begriff ich das Wortspiel und musste grinsen, auch wenn ich es sofort als den Versuch vorgetäuschter Lockerheit durchschaute, hinter der Suko seine Sorge um mich verbarg.
»Ach was«, gab ich zurück. »Es war der Schlag auf den Kopf. Ganz sicher.« Er musste es einfach gewesen sein. »Vielleicht eine kleine Gehirnerschütterung. Mehr ist da nicht.«
»Das solltest du unbedingt von einem Arzt abklären lassen.«
»Übertreib mal nicht. Eine heiße Dusche, frische Klamotten, und ich bin ganz der Alte. Wirst sehen.« Ich deutete auf das Pflaster an seiner Stirn. »Außerdem: Wie sehr hast du dich geziert, als ich meinte, du solltest das untersuchen lassen.«
»Ja, ja. Trotzdem, irgendetwas ist geschehen«, beharrte Suko. »Immerhin hat man dir das Kreuz gestohlen.«
Eine Hitzewelle durchströmte mich bei diesem Satz. Instinktiv fasste ich mir an die Brust. Tatsächlich, mein Talisman hing dort nicht mehr.
»Wenn …« Ich räusperte mich. »Wenn ich mich erst mal wieder an alles erinnere, wird mir auch einfallen, was damit passiert ist.«
»Dein Wort in Gottes Gehörgang. Was ist denn das Letzte, was du noch weißt?«
»Ich saß mit einem Chinesen in einem Auto. Ein BMW, glaube ich. Und er fragte mich, was das Letzte ist, was ich noch weiß.«
»John! Das ist kein Spaß. Du nimmst diese Angelegenheit viel zu locker.«
Das täuscht, mein Freund. Das täuscht.
Ich seufzte. »Also schön. Wir haben gestern Nachmittag einen Fall bearbeitet. Den mit dem Hexer-Ehepaar. Wie hießen sie gleich wieder? Statson?«
»Stanton«, korrigierte Suko.
»Oder so. Auf jeden Fall ist die Sache nicht besonders gut gelaufen.« Leider stand mir ausgerechnet diese Erinnerung noch glasklar vor Augen. Ich wünschte mir, die Gedächtnislücke hätte auch diese Ereignisse ausgelöscht. »Danach sind wir ins Büro zurückgekehrt, haben den Bericht geschrieben und dann … Filmriss.«
Mein Partner nickte und schüttelte gleich darauf nachdenklich den Kopf. »Da fehlt dir ja ein ganz schönes Stück.«
»Das du hoffentlich zum Teil auffüllen kannst.«
»Leider nicht. Als wir das Yard Building verlassen haben, wolltest du nicht mit nach Hause kommen.«
»Nein?«
Der Verkehr vor uns setzte sich in Bewegung, und Suko fuhr los. Wir kamen höchstens zwanzig Meter weit, dann standen wir wieder. Er schaute mich an. »Die Sache bei den Stantons hat dich ziemlich mitgenommen. Du meintest, du wolltest dir die Füße noch ein bisschen vertreten, den Kopf freibekommen, vielleicht in einem Pub ein Bier trinken und dann mit dem Taxi heimfahren.«
Ich blickte an mir hinab. Dieselben Klamotten wie am Vortag, nur eine Spur ruinierter. »Sieht nicht so aus, als wäre mir das gelungen.«
»Ich hätte deinem Gedächtnis gerne auf die Sprünge geholfen. Sorry, Alter.«
Betont locker winkte ich ab. »Mach dir keine Sorgen. Das wird schon wieder. Und das, was bei den Statsons passiert ist …«
»Stantons«, unterbrach mich Suko.
»Ja, richtig. Stantons.« Ich sah aus dem Seitenfenster.
Nach ein paar Sekunden fragte Suko: »Was wolltest du sagen?«
Ich löste den Blick von einem Mann im Anzug, der sich eine Zeitung über den Kopf hielt und über den Bürgersteig rannte. »Hm?«
»Du hast deinen Satz nicht beendet. Und das, was bei den Stantons passiert ist …«
Tatsächlich? Ich zuckte mit den Schultern. »Nicht so wichtig.«
»Kann es sein, dass … na ja … Ich meine …«
»Drucks nicht so herum. Was willst du mich fragen?«
»Kann es sein, dass du im Pub mehr als ein Bier getrunken hast?«
»So etwas Ähnliches hat mich der Parkwächter auch gefragt, dieser Ned … Ned …« Für einen Moment kam ich aus dem Konzept. »Ich will es nicht ausschließen, kann es mir aber nicht vorstellen. Ein Kater fühlt sich anders an.« Ich fasste mir an die Beule auf der Stirn. »Außerdem: Glaubst du, ich bin beim Rausgehen gegen den Türstock gelaufen? Und hab anschließend meinen Ausweis weggeworfen?«
»Auch wieder wahr.«
Den Rest der Fahrt verbrachten wir in grübelndem Schweigen. Nur gelegentlich wechselten wir ein paar belanglose Worte.
Als Suko den BMW schließlich in die Einfahrt zur Tiefgarage unseres Hauses lenkte, hätte ich nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war.
Wir stiegen aus und gingen zum Aufzug. In der Kabine starrte ich für einen Augenblick unschlüssig die lange Reihe mit den Knöpfen für die Stockwerke an, da griff Suko an mir vorbei und drückte den richtigen.
Oh Mann, ich brauchte wirklich dringend eine Dusche. Und zwei bis sieben Kopfschmerztabletten.
Vor der Wohnungstür blieb ich stehen und durchwühlte meine Taschen.
»Ich fürchte«, sagte ich, »die Schlüssel sind auch weg.«
»Warte. Ich hole rasch den Ersatzschlüssel.«
Suko verschwand in seiner Wohnung. Kurz darauf trat Shao in den Hausflur. »Du siehst ganz schön mitgenommen aus.«
»Was für eine Begrüßung«, beschwerte ich mich mit einem Lächeln.
Sie kam ganz nahe an mein Gesicht und betrachtete den Bluterguss. »Halb so schlimm«, sagte sie schließlich. »Ein paar Tage wirst du wie ein Einhorn aussehen, aber danach ähnelst du bald wieder einem normalen Menschen.«
»Das sag mal deiner besseren Hälfte! Der will mich am liebsten zum Arzt schleppen.«
»Das wäre vielleicht nicht die schlechteste Idee.«
In diesem Augenblick kam Suko aus der Wohnung und reckte den Ersatzschlüssel in die Höhe. Er sperrte meine Tür auf, drückte mir den Schlüssel in die Hand und sah auf die Armbanduhr. »Ich ruf Glenda an und sag ihr, dass wir später kommen. Und du springst unter die Dusche. In einer halben Stunde hole ich dich ab. Klar?«
»Klar.«
Auf dem Weg ins Badezimmer streifte ich nach und nach die Kleidung ab und warf sie achtlos auf den Boden.
In der Duschkabine ließ ich das Wasser auf meinen Schädel prasseln und genoss das Gefühl der über den geschundenen Körper fließenden Wärme.
Ich schloss die Augen und ließ die letzten Momente Revue passieren, an die ich mich erinnerte. Der Einsatz bei den Statsons, die Rückkehr ins Büro und … und …
Mehr wusste ich nicht. Verdammt, irgendetwas musste doch aus den Tiefen meines Unterbewusstseins auftauchen, wenn ich mir nur genügend Mühe gab.
Aber da war nichts. Nur eine riesige Leere.
Mich schauderte bei der Vorstellung, zu dem Einsatz später noch den Bericht zu schreiben. Dann würde ich alles noch einmal durchleben müssen.
Ohne es zu wollen oder mich dagegen wehren zu können, glitten meine Gedanken zurück in die nahe Vergangenheit und zu dem Hexer-Ehepaar.
Und zu ihrem Opfer, das …
… das ich …
***
Am Nachmittag zuvor
Das Wetter war zum Davonlaufen. Seit Tagen goss es, was das Zeug hielt. Der Himmel bestand aus einer durchgehenden, gelblichen Wolkenmasse, die aussah wie verschüttete Milch und höchstens für zwei oder drei Stunden pro Tag die Regenfälle zurückhielt.
»Was für ein Winter«, sagte Suko. »Was ist nur aus dem guten alten Schnee geworden?«
Ich blickte über den Schreibtisch zu ihm hinüber. »Klimawandel, der große Gleichmacher. Irgendwann kann man die Jahreszeiten gar nicht mehr voneinander unterscheiden. Vielleicht sollte man sie umtaufen und allen den gleichen Namen geben. Wie wäre es mit Schmodder?«
Suko grinste. »Ich erinnere dich im Hochsommer daran, wenn du dich wieder beschwerst, dass es viel zu heiß ist.«
»Wieder?« Ich tat empört. »Als hätte ich mich schon jemals beschwert, dass …«
Das Klingeln des Telefons riss uns aus den meteorologischen Betrachtungen.
Ich schnappte mir den Hörer. »Sinclair.«
Es meldete sich ein Kollege aus der Notrufzentrale. »Ich habe hier etwas, das in Ihren Zuständigkeitsbereich fallen könnte.«
Ich schaltete den Raumlautsprecher ein, damit Suko alles mitbekam. »Schießen Sie los!«
»Vor wenigen Minuten ging der Anruf einer gewissen Evelyn Montgomery ein. Sie war mit ihrem Hund im Green Park spazieren …«
Bei dem Wetter?, schoss es mir durch den Kopf, aber ich verkniff mir die Frage und ließ den Kollegen weitererzählen.
»Allerdings nicht an der Leine, wie es sich gehört hätte. So kam es, dass ihr der Hund durchgegangen ist, als er ein Kaninchen entdeckte. Sie ist ihm bis zu einem Gebüsch nachgerannt, das unmittelbar bis an ein Wohnhaus reicht. Nachdem das Tier auf ihre Rufe nicht reagierte, kroch sie selbst in das Gesträuch, um es herauszuholen. Dabei kam sie an einem Kellerfenster vorbei, das die Pflanzen eigentlich verbargen. Da im Keller Licht flackerte, sah sie instinktiv hinein und … na ja … Es klingt nicht besonders glaubhaft, was sie gesehen haben will. Aber da wir angehalten sind, sonderbare Meldungen an Sie weiterzuleiten, nun …«
»Jetzt spucken Sie’s schon aus.«
»Sie behauptet, sie hätte eine schwebende Frau bemerkt. Nackt. Angeblich sah es aus, als läge sie in anderthalb Meter Höhe mit herunterhängenden Armen und Beinen auf einem Brett. Aber da war kein Brett, sagt sie. Nur ein Mann und eine Frau, die in nachtschwarzen Gewändern mit gespreizten Armen neben ihr standen. Wie bei einer satanischen Messe, sagt sie.«
»Verstehe.« Ich nickte Suko zu, der aufstand, seine Jacke von der Stuhllehne pflückte und hineinschlüpfte. »Wir kümmern uns darum. Wie lautet die genaue Anschrift?«
Der Kollege aus der Notrufzentrale gab sie mir.
»Wer wohnt dort?«