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»Haben die Herren gewählt?« Die weiche Stimme ließ John Sinclair zusammenzucken. Der Mann, der neben seinem Tisch stand, als wäre er plötzlich aus dem Boden gewachsen, trug ein Zahnpastalächeln unter einem Bleistiftschnurrbart und ein weißes Tuch über dem abgewinkelten linken Arm. Seine pomadisierten Haare, der schwarze Anzug, das weiße Hemd und die dunkle Krawatte schrien so laut »Klischee!«, dass er sich wunderte, dass niemand außer ihm es hörte.
»Gewählt?« John Sinclair wurde bewusst, dass er eine aufgeschlagene Speisekarte hielt. War es das, worüber er zuletzt nachgedacht hatte? Ob er sich für das Rumpsteak, das Zanderfilet oder einen Salat entscheiden sollte? Es sah ganz danach aus, aber irgendwie fühlte es sich ... falsch an!
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Hotel der Verlorenen
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Hotel der Verlorenen
Von Eric Wolfe
Ein Schreck, dass etwas schiefgegangen war, ein kurzer, heftiger Schmerz, dann war es vorbei.
»Du bist tot«, erklang eine Stimme von überall her. Dröhnend, aber einschmeichelnd. Ernst, aber belustigt.
»Tot? Das ist unmög...«
»Sieh zu Boden!«
Er tat es – und starrte auf eine Leiche. Auf seine Leiche. Mit gebrochenem Genick lag der Körper da.
»Aber das ...«
»Wie ich sagte: Du bist tot!«
»Wer bist du?«
»Asmodis.«
»Ich will nicht tot sein.«
»Ich habe gehofft, dass du das sagst. Und jetzt verrate ich dir, was wir dagegen unternehmen.«
Das Hämmern der Regentropfen riss mich aus den Gedanken. Ich drehte den Kopf nach links und versuchte, das Fenster mit Blicken zu durchdringen. Doch dahinter war es so dunkel, dass mir nur mein eigenes Gesicht entgegenstarrte. Die draußen über das Glas perlenden Tropfen vermittelten die Illusion, mein Spiegelbild würde weinen.
»Mistwetter!«, schimpfte Suko, der mir am Tisch des Hotelrestaurants gegenübersaß.
Ein Blitz zuckte über den Himmel, flutete die Landschaft mit grellem Licht und vertrieb mein reflektiertes Abbild. Ich sah dräuende Wolken, im Sturm wogende Bäume und eine zerklüftete Bergkette, die mich an ein verrottetes Gebiss erinnerte.
Ehe ich mehr erkennen konnte, versank die Welt jenseits der Scheibe erneut in der Nacht. Stattdessen grollte dumpfer Donner über das Hotel, ein wütendes Knurren aus der Ferne.
Ich schüttelte den Kopf.
»Was ist los?«, fragte Suko.
Verrottetes Gebiss? Dräuende Wolken? Wütendes Knurren?
»Nichts«, antwortete ich. »Wahrscheinlich lese ich zu viele schlechte Bücher mit zu vielen schlechten Metaphern.«
»Versteh' ich nicht.«
»Nicht so wichtig.« Ich winkte ab. Worüber hatte ich nachgedacht, ehe mich das Regenprasseln abgelenkt hatte? Ich konnte mich nicht erinnern.
Die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf, die Schulter- und Nackenmuskulatur verspannte. Etwas stimmte nicht.
Unauffällig schaute ich mich um und ließ die Umgebung auf mich wirken, als sähe ich sie zum ersten Mal.
Auf den Tischen weiße Decken, Kerzenständer mit schnörkeligen Verzierungen, geschmackvolle Blumendekoration. Die Einrichtung folgte keiner identifizierbaren Epoche, erinnerte mich aber eher an die Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Protzige Kronleuchter, ein flauschiger Teppich mit floralem Dekor, vor einem Kamin zwei Lesesessel.
Leise Barmusik schwebte durch die Luft, deren Quelle ich in einem schwarzen Flügel samt geschniegeltem Klavierspieler ausmachte, der mich freundlich anlächelte. Jenseits einer holzgerahmten Glastür sah ich einen Anzugträger mit streng gescheiteltem Haar und nicht minder strengem Blick, der in einem Reservierungsbuch prüfte, ob das vor ihm stehende Paar tatsächlich einen Platz vorbestellt hatte.
Hinter ihm lag der Rezeptionsbereich mit weiteren Kronleuchtern, flauschigen Teppichen und Textiltapeten.
Sehr gediegen, sehr hochwertig. Ein Fünf-Sterne-Hotel mit einer Drei-Sterne-Küche, vermutete ich. Nichts, wo ich mich üblicherweise aufhielt, aber noch lange kein Grund zur Beunruhigung.
Woher stammte dann mein ungutes Gefühl?
Die anderen Gäste jedenfalls ließen sich nicht von dem allgegenwärtigen Prunk einschüchtern, zumindest nicht alle. Sicherlich, das Paar, das den Hüter des Reservierungsbuchs gerade überwunden hatte und von einem Kellner zu einem Tisch in einer Nische geführt wurde, trug Abendgarderobe. Er einen Smoking, Fliege, gestärktes Hemd und Lackschuhe, die so glänzten, dass ich mich darin deutlicher gespiegelt hätte als in der Fensterscheibe. Sie trug ein helles Kleid, das mehr Falten warf als ihr Gesicht – und das waren einige –, auf dem Kopf thronten auftoupierte Haare, und um den dürren Hals hing eine Kette mit Perlen in der Größe von Billardkugeln.
An einem anderen Tisch hingegen saß ein unrasierter Mann mit Baseballmütze und Game-of-Thrones-T-Shirt. Am Nachbartisch fläzte eine Frau auf ihrem Stuhl, Mitte zwanzig, mit schwarz geschminkten Lippen, schwarz umrandeten Augen und tiefschwarz gefärbten Haaren. Ihr Netzoberteil über dem Top wies etliche Löcher auf, ob in modischer Absicht oder schlampiger Nachlässigkeit, konnte ich nicht sagen. Allzu genau nahm man es mit einer Kleiderordnung in diesem Etablissement also nicht. Wieso auch bei zahlenden Gästen?
Da fiel mir ein Mann an der Bar auf. Er saß auf einem Hocker mit dem Rücken zum Bartender, einen Arm angewinkelt auf dem Tresen liegend, in der anderen Hand einen Cognac-Schwenker. Er mochte Mitte fünfzig sein, wenngleich sein wallendes Haar genauso schneeweiß war wie die buschigen Augenbrauen – und die üppige Brustbehaarung, die oben aus dem karierten Hemd wucherte.
Er musterte mich und Suko mit unverhohlener Neugier, wirkte dabei aber keineswegs bösartig. Eher ... mitleidig? Als er bemerkte, dass ich ihn ansah, nickte er mir zu, nahm einen Schluck Cognac und wandte sich ab.
Hatte ich unbewusst seinen Blick gespürt und war mir beobachtet vorgekommen? Lag daran mein ungutes Gefühl?
Unruhig rutschte ich auf dem Stuhl hin und her. So kannte ich mich gar nicht, und das beunruhigte mich fast noch mehr. Am schlimmsten aber war das Gefühl, ja, das Wissen, dass es sich beim Anlass meiner Nervosität um etwas total Offensichtliches handelte – das ich trotzdem nicht sah.
Ein Knall ließ mich auf dem Stuhl herumfahren. Mein Herz raste und beruhigte sich auch nicht, als gleich darauf Gelächter erklang. In einer leicht erhöhten, von einer niedrigen Balustrade umgebenen Abteilung des Restaurants hatte eine Hochzeitsgesellschaft eine Flasche Champagner geöffnet und ließ das Brautpaar hochleben.
»Auf Mimi und Jonathan«, toastete ein älterer Herr auf dem Platz neben der Braut. »Möge ihre Liebe ewig halten und mögen sie uns einen Stall von Enkeln bescheren.«
Das Gelächter wurde lauter, es folgte ein weiterer Toast – und ich fragte mich, warum mir die Gesellschaft erst jetzt aufgefallen war.
Ein Satz ging mir durch den Kopf. Etwas, das ich vorhin gedacht hatte.
Schau dich um und lass die Umgebung auf dich wirken, als sähest du sie zum ersten Mal.
»Haben die Herren gewählt?« Die weiche Stimme ließ mich erneut zusammenzucken.
Der Mann, der neben unserem Tisch stand, als wäre er plötzlich aus dem Boden gewachsen, trug ein Zahnpastalächeln unter einem Bleistiftschnurrbart und ein weißes Tuch über dem abgewinkelten linken Arm. Seine pomadisierten Haare, der schwarze Anzug, das weiße Hemd und die dunkle Krawatte schrien so laut »Klischee!«, dass ich mich wunderte, dass niemand außer mir es hörte.
»Gewählt?«
Der Kellner nickte flüchtig in Richtung meiner Hände.
Mir wurde bewusst, dass ich eine aufgeschlagene Speisekarte hielt. War es das, worüber ich zuletzt nachgedacht hatte? Ob ich mich für das Rumpsteak, das Zanderfilet oder einen Salat entscheiden sollte? Es sah ganz danach aus, aber irgendwie fühlte es sich ... falsch an.
Schau dich um und lass die Umgebung auf dich wirken, als sähest du sie zum ersten Mal.
Suko legte seine Speisekarte auf den Tisch, ohne sie zuzuklappen. Auch er machte einen irritierten Eindruck.
»Ich fürchte, wir brauchen noch einen Moment.«
»Wie Sie wünschen.« Der Kellner wieselte davon.
Ich schaute ihm nach, bis er außer Hörweite war. Währenddessen hallte der Satz in mir wider.
... als sähest du sie zum ersten Mal.
Das war es! So offensichtlich, so klar, dass ich nicht begriff, warum es so lange gedauert hatte, es zu bemerken.
Ich beugte mich über den Tisch und raunte Suko zu: »Halt mich nicht für senil, aber ich habe keine Ahnung, was das für ein Hotel oder Restaurant ist oder wie und warum wir hierhergekommen sind.«
Bill Conolly wuchtete den Koffer aufs Bett. Auspacken würde er später. Erst einmal wollte er in aller Ruhe daheim ankommen und sich ein heißes Bad gönnen.
Um kurz nach acht Uhr morgens war er in London gelandet und hatte sich danach von einem Taxi eine Stunde durch den Wahnsinn des Berufsverkehrs vom Flughafen nach Hause bringen lassen. Unterwegs hatte ihm Sheila telefonisch mitgeteilt, dass sie einiges für die Stiftung zur Unterstützung der Opfer übernatürlicher Phänomene und schwarzmagischer Angriffe, deren Schirmherrin und Gründerin sie war, zu erledigen hatte und ihn deshalb nach seiner Rückkehr nicht mit einem Kuss begrüßen konnte. Sie hatte versprochen, es zeitnah nachzuholen.
Vielleicht war es besser so, denn Bill fühlte sich wie gerädert. Sein Körper behauptete, dass es ein Uhr nachts wäre. Daran änderte auch nichts, dass er im Flieger versucht hatte, ein bisschen zu schlafen. Das war ihm nicht sehr gut gelungen, weil er zu aufgeputscht gewesen und in seinen Adern Adrenalin statt Blut geflossen war. Dass er in den zwei Nächten davor auch nur jeweils höchstens vier Stunden geschlafen hatte, machte es nicht besser.
Aber das war es wert gewesen. Die letzten Tage in Los Angeles hatten sich als Volltreffer erwiesen. Dort hatte Bill für eine Reportage recherchiert: Es ging um betrügerische Machenschaften auf dem internationalen Bau- und Immobilienmarkt, begangen von einem Firmengeflecht aus Bauträgern, Maklerbüros, Gutachtern, Holdinggesellschaften und vielen mehr. Sie hielten Anteile aneinander und waren so verwirrend verflochten, dass kaum zu durchschauen war, wer im Hintergrund die Fäden zog. Dazu brauchte es Geduld und Hartnäckigkeit im Übermaß.
Bill Conolly verfügte über beides, vor allem, wenn er sich in eine Sache verbissen hatte. Dann ließ er nicht locker, ehe er die Beute erlegt hatte. Die hatte sich schließlich als Dudley Hamilton erwiesen, das Oberhaupt eines Familienclans mit Sitz in L.A., das sogar in der amerikanischen Politik seine Duftmarken setzte.
Unter dem Vorwand, für ein englisches Wirtschaftsjournal eine Reportage über die Lebensleistung des Mannes zu schreiben, war es Bill gelungen, einen exklusiven Interviewtermin zu ergattern. Er hatte an Arroganz, Selbsteingenommenheit und Geltungsbedürfnis appelliert – und Hamilton hatte zugeschnappt, ohne den vergifteten Köder zu bemerken.
Bewaffnet mit Notizblock, Kugelschreiber und Diktiergerät war Bill nach einer Leibesvisitation durch zwei Muskelpakete in Hamiltons Arbeitszimmer vorgelassen worden. Er hatte das eingeschaltete Diktiergerät zwischen sich und den nonchalanten »Nennen-Sie-mich-Dudley« auf den Tisch gelegt, einige schmeichelhafte Fragen gestellt, ein bisschen auf dem Notizblock herumgekritzelt, als ob ihn die Antworten interessierten, und hatte an den richtigen Stellen genickt.
»Wie fühlt es sich an, stets Erfolg zu haben?«
»Kann einen der Erfolg zu sehr verwöhnen?«
»Was raten Sie jungen Geschäftsleuten, die Sie als Vorbild betrachten?«
Und dann, als Bill das ohnehin übergroße Ego Hamiltons angefüttert hatte, hatte er den Notizblock eingesteckt und gefragt: »Jetzt mal ganz unter uns, Dudley. Plagt Sie nicht das Gewissen, wenn Ihr Firmenimperium und damit Ihre Familie und Sie immer reicher werden, die Menschen, die Sie mit um ihre Ersparnisse bringen, aber ärmer?«
In der Folge hatte er Hamilton provoziert, hatte Organigramme von der Größe einer Tischtennisplatte vor ihm ausgebreitet und erläutert, wie darin Firmen erblühten, ihre Gelder über verwinkelte Kanäle in Hamiltons Taschen spülten, irgendwann Insolvenz anmeldeten und die Anleger im Regen stehen ließen. Er hatte den plötzlich gar nicht mehr so nonchalanten Dudley mit dessen kreativer Buchführung und mit anonymen Zeugenaussagen ehemaliger Beschäftigter konfrontiert. Die meisten hatte Bill zwar in dem Moment erfunden, als er sie aussprach, aber er wollte sie auch nicht in den Artikeln verwenden, sondern Hamilton aus der Reserve locken und mit gezielten Stichen über den Siedepunkt bringen.
Und endlich hatte er ihn so weit gehabt.
Nach Minuten erst freundlichen Abwiegelns, dann unwirschen Dementierens und schließlich trotzigen Schweigens war Dudley Hamilton ausgerastet. Er hatte sich das Diktiergerät geschnappt, es auf den Marmorboden geknallt und unter der Sohle seines Schuhs zermalmt.
Mit knallrotem Gesicht und von den Lippen fliegenden Speicheltröpfchen hatte er Bill angebrüllt: »Sie halten sich für besonders schlau, was? Kommen hier rein und belästigen mich mit Unterstellungen. Aber ich sage Ihnen was. Ich zahle meinen Anwälten in einer Woche mehr, als Sie mit Ihrer Schmiererei in einem Leben verdienen können. Sollten Sie es wagen, Ihre durch nichts belegbaren Behauptungen zu veröffentlichen, klage ich Ihnen den Arsch weg. Sie werden nie wieder für Zeitungen schreiben, sondern sich nur noch unter der Brücke damit zudecken! Haben wir uns verstanden, Freundchen?«
»Ich glaube schon«, hatte Bill kleinlaut erwidert und den Eingeschüchterten gespielt. »Heißt das, dass ich mit allem recht habe?«
»Natürlich haben Sie recht! Aber wen interessiert das? Die Öffentlichkeit liebt mich. Die Wahrheit interessiert niemanden. Außerdem ist die Wahrheit nicht das, was Sie schreiben, sondern das, was ich sage.«
Anschließend hatte er sich in einer Mischung aus Wut und dem Gefühl der Unangreifbarkeit noch einige Minuten lang selbst belastet, ehe er Bill rausgeworfen hatte.
Bill konnte sich auch Stunden später das Grinsen nicht verkneifen.
Klar, das Diktiergerät war hinüber, aber auf die Idee, dass seine Bediensteten Bill nicht nur auf Wanzen oder Waffen hätten durchsuchen können, war Hamilton bis zum Schluss nicht gekommen. Oder auf den Gedanken, dass das Diktiergerät nur einem Zweck diente, nämlich Hamilton etwas zu geben, auf das er seine Wut richten konnte. Eine Ablenkung. Er sollte es ausschalten, ohne sich zu fragen, ob es noch mehr gab. Und so war dem guten alten »Nennen-Sie-mich-Dudley« entgangen, dass die Mikrokamera im Druckknopf von Bills Kugelschreiber das komplette Geständnis aufgezeichnet hatte.
Noch vom Hotel aus hatte Bill die Artikel und das Video an die Redaktion gemailt, und spätestens morgen würde die Öffentlichkeit Dudley Hamilton nicht mehr ganz so sehr lieben.
Ja, Reise und Schlafmangel hatten sich gelohnt. Außerdem empfand es Bill als befriedigend, sich einmal nicht mit Dämonen herumschlagen zu müssen, sondern bodenständigem Journalistenhandwerk nachgehen zu können.
Doch wer weiß, was passiert wäre, wenn ihn Silvias Anruf nicht ausgerechnet in Amerika ...
Silvia! Ach je, daran hatte er gar nicht mehr gedacht.
Er ging ins Wohnzimmer, ließ sich aufs Sofa plumpsen, zückte das Smartphone und wählte John Sinclairs Mobilnummer. Es meldete sich nur die Mailbox. Er hinterließ keine Nachricht und rief stattdessen bei Suko an. Mit dem gleichen Ergebnis.
Bill runzelte die Stirn. Befanden sich die beiden im Einsatz und hatten die Telefone stumm oder ausgeschaltet, um nicht im ungünstigsten Augenblick einen verräterischen Anruf zu bekommen?
Er wählte die Nummer von Glenda Perkins bei Scotland Yard. Wenn jemand wusste, wo sich die Geisterjäger herumtrieben, dann sie.
Es dauerte eine Minute, bis sie sich meldete. Und sie klang fürchterlich. Als hätte sie sich einen Blecheimer über den Kopf gestülpt.
»Bist du krank?«, fragte Bill.
»Die Mutter aller Erkältungen ist bei mir zu Besuch«, antwortete sie. »Und sie hat ihre Freunde Halsschmerz und Schädelbrummen dabei. Aber ich bin auf dem Weg der Besserung.« Glenda schnäuzte sich lautstark und hustete anschließend.
»Hört sich nicht so an. Du solltest im Bett liegen und dich auskurieren.«
»Da war ich die letzten zwei Tage. Jetzt hat mich das Pflichtgefühl wieder ins Büro getrieben.«
»Du weißt also nicht, ob John und Suko etwas herausgefunden haben?«
»Ich weiß nicht nur das nicht. Ich weiß nicht einmal, wovon du überhaupt sprichst. Im Büro erschienen sind sie bisher jedenfalls nicht. Sir James hat schon nach ihnen gefragt.«
»Also weiß er auch nichts?«
»Er war gestern sehr lange in einer Konferenz mit der Chefin und anderen hochrangigen und zu gut verdienenden Persönlichkeiten. Ging bis spät in die Nacht, hat er gesagt. Ob sich für John und Suko ein neuer Fall ergeben hat, weiß er nicht. Deshalb sucht er sie ja auch so dringend. Um aufs Laufende gebracht zu werden.«
»Das beunruhigt mich ein bisschen. Auf dem Handy erreiche ich sie auch nicht. Hast du dich bei Shao erkundigt?«
»Klar. Fehlanzeige. Ebenso bei Jane Collins. Niemand weiß was. Oder nein, das stimmt nicht ganz. Shao hat erzählt, Suko hätte sich gestern am späten Nachmittag bei ihr gemeldet. Er und John müssten noch etwas überprüfen, hat er ihr gesagt, danach käme er nach Hause. Was bisher nicht geschehen ist. Details konnte sie mir allerdings nicht sagen.«
Bill dachte nach, und ein ungutes Gefühl überkam ihn.
»Das kann kein Zufall sein«, murmelte er. »Es passt zu gut zusammen.«
»Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht auf dem Damm bin, aber ich weiß immer noch nicht, wovon du sprichst, Bill. Was passt zusammen?«
»Entschuldige. Ich bin ein bisschen neben der Spur. Schlafmangel trifft auf Jetlag. Keine gute Kombination. Ich hatte in Los Angeles zu tun. Deshalb konnte ich mich nicht darum kümmern, als mich eine Frau anrief und um Hilfe bat. Ihr Name ist Silvia Thorstvedt.«
»Sollte mir das was sagen?«
»Sie ist Norwegerin. Die Tochter von Sander Thorstvedt, einem Kollegen von mir. Ein True-Crime-Journalist. Ich habe ihn vor einigen Jahren bei einem Kongress kennengelernt. Ethik im Journalismus – Online-Berichterstattung im Spannungsfeld von Recherche und Zugriffszahlen. Oder so ähnlich. Wir hatten nie etwas miteinander zu tun, wenn man von einem feucht-fröhlichen Abend an der Bar absieht. Ich hätte überhaupt nicht mehr an ihn gedacht, hätte mich seine Tochter nicht an ihn erinnert. Sander schreibt Reportagen über ungelöste Kriminalfälle. Manchmal, damit sie nicht in Vergessenheit geraten, häufig bohrt er aber auch selbst nach, verfolgt andere Ansätze, als es die Polizei getan hat, geht obskuren Spuren nach und entwickelt zuweilen ... gewagte Theorien.«
»Was hat das mit John und Suko zu tun?«
»Zuletzt recherchierte Sander in einem Vermisstenfall. Die Spur führte nach London. Vor drei Wochen rief er seine Tochter an. Silvia Thorstvedt sagt, er hätte völlig aufgelöst geklungen. Total durch den Wind und fahrig. Soweit sie es verstanden hat, war er auf etwas gestoßen, von dem er ihr noch nichts erzählen wollte, weil es zu verrückt klang. Was ihn – hier zitiere ich Silvia – früher nie gestört hat. Aber in diesem Fall wollte er seiner Sache erst sicher sein, ehe er seinen Ruf aufs Spiel setzte.«
»Sogar den Ruf bei seiner Tochter?«
»Anscheinend. Und ihr hat er sonst alles erzählt. Behauptet sie zumindest. Aber jetzt kommt's: Er bat sie, mich zu kontaktieren, falls ihm etwas zustoßen oder falls er verschwinden sollte. Ich fragte sie, wie er erstens auf so eine Idee und zweitens gerade auf mich kam.«
Bill machte eine Pause und rief sich ins Gedächtnis, was Silvia geantwortet hatte.
»Jetzt bin ich gespannt«, sagte Glenda.
»Ich kann mich an den Kongress-Abend an der Bar nicht mehr gut erinnern, aber ich habe den im Preis enthaltenen Getränken reichlich zugesprochen und Sander mehr von meiner Arbeit, von Dämonen und der Hölle erzählt, als für meinen Ruf bei ihm gut war. Um es mit Silvias Worten zu sagen: Er hielt mich für einen Spinner. Einen sympathischen Spinner, aber dennoch einen Spinner. Glücklicherweise hatten wir Telefonnummern ausgetauscht, denn das, worauf er bei seiner Recherche gestoßen war, hat ihn seine Meinung überdenken lassen.«
»Und sie hat dich angerufen, weil er tatsächlich verschwunden ist?«
»Wie er es befürchtet hat. Weil die Vermissten in dem Fall, in dem er recherchierte, nach seiner Aussage nicht die ersten und auch nicht die letzten waren. Und wenn er der Sache nicht nachging und ihr Einhalt gebot, könnten weitere dazukommen. Auf jeden Fall sagte Silvia, dass sie nach diesem Telefonat nichts mehr von ihrem Vater gehört hat. Sie hat wiederholt versucht, ihn anzurufen, erreicht ihn aber nicht. Und nun macht sie sich Sorgen.«