John Sinclair 2317 - Marlene Klein - E-Book

John Sinclair 2317 E-Book

Marlene Klein

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Beschreibung

Juni, am Morgen nach der Vollmondnacht, London

Sean Harold Biggs ließ den Mercedes GLE direkt unter dem Halteverbotsschild vor der Polizeiwache ausrollen. Bei dem, was er vorhatte, kam es darauf auch nicht mehr an. Er glaubte nicht, dass man ihm noch die Gelegenheit geben würde, den schweren und klobigen Luxus-SUV umzuparken. Der schwarze, makellose Lack schimmerte im Licht der Morgensonne.
Einen Moment blieb Biggs noch sitzen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Es war kein Zögern, er war nicht der Typ für Selbstzweifel. Es war ein Moment der absoluten Konzentration, des Innehaltens.
Sean Harold Biggs hob die Lider und ließ beim Ausatmen langsam die Luft aus der Nase über seinen beeindruckenden Schnauzbart gleiten. Er straffte die Schultern und zog mit einer ruckartigen Bewegung den Zündschlüssel ab, das Autoradio verstummte augenblicklich inmitten der Wettervorhersage für den anbrechenden Tag.
Es interessierte ihn nicht mehr. Hier und jetzt würde sich sein Leben ändern, und nichts könnte ihm egaler sein als das Wetter ...

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Inhalt

Cover

Wolfswinter

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Wolfswinter

von Marlene Klein

Juni, am Morgen nach der Vollmondnacht, London

Sean Harold Biggs ließ den Mercedes GLE direkt unter dem Halteverbotsschild vor der Polizeiwache ausrollen. Bei dem, was er vorhatte, kam es darauf auch nicht mehr an. Er glaubte nicht, dass man ihm noch die Gelegenheit geben würde, den schweren und klobigen Luxus-SUV umzuparken. Der schwarze, makellose Lack schimmerte im Licht der Morgensonne.

Einen Moment blieb Biggs noch sitzen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Es war kein Zögern, er war nicht der Typ für Selbstzweifel. Es war ein Moment der absoluten Konzentration, des Innehaltens.

Sean Harold Biggs hob die Lider und ließ beim Ausatmen langsam die Luft aus der Nase über seinen beeindruckenden Schnauzbart gleiten. Er straffte die Schultern und zog mit einer ruckartigen Bewegung den Zündschlüssel ab, das Autoradio verstummte augenblicklich inmitten der Wettervorhersage für den anbrechenden Tag.

Es interessierte ihn nicht mehr. Hier und jetzt würde sich sein Leben ändern, und nichts könnte ihm egaler sein als das Wetter ...

Der Vierundsechzigjährige mit den schlohweißen, längeren Haaren stieg schwungvoll aus, umrundete die Luxuskarosse und ließ per Knopfdruck auf der Fernbedienung die Kofferraumklappe wie von Geisterhand nach oben gleiten.

Biggs, der ein wenig zu Pedanterie neigte, hatte den schwarzen Veloursteppich im Kofferraum mit Folie ausgelegt, bevor er sein Transportgut darauf gebettet hatte, so behutsam, als bildeten weiche Rosenblätter die Unterlage und keine alte, grobe Zeltplane aus derben, militärgrünen Hartplastikstreifen.

Wenn schon der Kofferraum wenig pietätvoll erschien für diesen letzten Weg, so wollte er wenigstens im Umgang mit der Leiche den gebührenden Respekt zeigen, schließlich transportierte er den blutüberströmten Körper seiner eigenen Ehefrau.

Barbara Biggs war nur fünfundfünfzig Jahre alt geworden. Fast dreißig gemeinsame Ehejahre waren nun unwiederbringlich vorüber, Barbara Biggs nur noch Geschichte. Eine Erinnerung, ein Grab, mehr würde von ihrem gemeinsamen Leben nicht bleiben. Eine hübsche und patente Frau, auf deren Rat er privat wie beruflich großen Wert gelegt hatte.

Die Tote im Kofferraum war so stark zugerichtet, dass sie mit der Barbara, wie er sie kannte, kaum noch etwas gemein hatte. Das würde ihm die Sache leichter machen. Distanz war wichtig in seinem Beruf, er war geübt darin, Dinge emotionslos und sachlich anzugehen. Biggs betrachtete die Leiche so, wie er alle Leichen seiner Berufslaufbahn betrachtet hatte. Unwillkürlich begann sein geschulter Blick, die Wunden am Opfer vor sich zu analysieren.

Die Bestie hatte Barbara Biggs angesprungen und bereits hierbei ihre Krallen in den Oberkörper geschlagen. Diese Wunden waren nur oberflächlich, sie hatten nicht ausgereicht, um seiner Frau eine gnädige Ohnmacht zu gönnen. Als sie und ihr Angreifer zu Boden gegangen waren, war ihr sicherlich bewusst geworden, dass sie sterben würde, eine so überraschende Erkenntnis, dass sie den Schmerz der tiefen Einstiche der gebogenen Krallen überlagerte.

Am Boden war es zum ersten Biss gekommen. Das Untier hatte die Kehle treffen und zerfetzen wollen, doch Barbara hatte sich so heftig hin und her geworfen, dass der Biss fehlging und an der rechten Halsbeuge einschlug.

Die Bestie riss den Kopf zurück, brach dadurch das Schüsselbein und riss einen Teil des Knochens zusammen mit dem umliegenden Fleisch heraus. Den so herausgelösten Batzen verschlang das Untier. Der sofort eintretende Blutverlust durch die große Wunde war immens. Doch auch diese Verletzung war weder tödlich, noch hatte sie Barbara die Sinne geraubt.

Im Nachhinein wunderte Biggs sich, dass sie nicht geschrien hatte. Lautlos ertrug sie ihr hilfloses Sterben. Ihre Gegenwehr erstarb nach diesem ersten Biss und machte ihre Tötung für den Mörder umso leichter. Die zentimeterlangen Krallen, scharf wie Dolche, öffneten mit einem einzigen Streich der Pranke den Oberkörper. Kurz unterhalb des Brustbeins ansetzend, eine leichte Kurve beschreibend, endete er über dem rechten Hüftknochen. Lediglich gebremst und abgelenkt vom festen Stoff ihrer Jeans und des Ledergürtels mit dem Nietenmuster. Diese ersten tiefen Einschnitte konnte er fast nur noch aus den rudimentären Ansätzen rekonstruieren, da die danach zugefügten Verletzungen sie überlagerten.

Zu diesem Zeitpunkt war ihr Bewusstsein langsam hinübergedämmert in den unendlichen Schlaf. Ihr Blick brach jedoch vermutlich erst, als der zweite Biss die Rippen aufgrund der brachialen Beißkraft der Kiefer durchbrach wie Streichhölzer, die große Lungenarterie zerriss, die Luftröhre perforierte und eine der beiden Herzkammern durchschlug.

Noch mehrere Male wühlte sich die gewaltige Schnauze durch den Brustkorb, er hatte es nicht zählen können. Als die Bestie ihren Blutdurst gestillt hatte, der Oberkörper regelrecht ausgeweidet war und kein Funken Leben mehr in Barbara Biggs steckte, ließ sie von ihr ab.

Das lag nur wenige Stunden zurück. Sean Harold Biggs wusste, dass er sich stellen musste, das Schlafzimmer in seiner modernen Villa im Süden Londons glich einem Schlachthaus. Er wusste, wie man einen Tatort inszenierte. Doch die stark zugerichtete Leiche ließ ihm nicht die Wahl, die Tat als etwas zu vertuschen, das sie nicht war, und den Fokus auf einen großen unbekannten Täter zu legen.

Der Angriff auf Barbara hätte nicht passieren dürfen, aber es war geschehen. Unter allen Umständen musste er vermeiden, dass John Sinclair, der Geisterjäger, zu sehr in diesen Fall involviert wurde!

Der Trenchcoat, der blaue Stickpullover, das darunter liegende Poloshirt und selbst seine Unterwäsche waren vom Blut seiner Frau durchtränkt. Er hatte sich nicht umgezogen, es erschien ihm sinnlos. Er fasste den Körper seiner Frau unter den Knien und den Achseln und hob ihn aus dem Kofferraum. So hatte er sie damals als Braut über die Schwelle getragen, so brachte er es nun zu Ende.

Die Reste der zerrissenen Kleidung, Fleisch- und Hautfetzen, Teile der Gedärme, sogar der linke Unterarm, der nur noch von wenigen Sehnen am eigentlichen Korpus gehalten wurde, hingen herab.

Den Kofferraum ließ er offen stehen. Die Polizeistation war von zahlreichen Kameras gesichert, ihm war bewusst, dass sein Weg wurde und jede seiner Bewegungen von den ehemaligen Kollegen wahrscheinlich analysiert wurde.

Ohne Hast ging er die paar Schritte bis zur vorgelagerten Treppe, drei Stufen trennten ihn von der Tür. Vor dem Eingang hob er den Kopf und blickte direkt in das runde Auge der Überwachungskamera.

Dass die Tür sich mit einem leisen Summton öffnete, wunderte ihn nicht. Ebenso wenig wie die Polizisten, die ihn plötzlich umschwirrten wie Motten das Licht, ihre Dienstwaffen zückten und auf ihn richteten. Barbara wurde ihm aus den Armen gerissen, Befehle wurden gebrüllt, denen er ohne Widerstand nachkam.

Sean Harold Biggs fiel auf die Knie, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Es herrschte hektische Betriebsamkeit, die den Eindruck souveräner Professionalität vermitteln sollte, doch auf ihn als Profi unkoordiniert und laienhaft wirkte

Ein älterer Sergeant baute sich fragend vor ihm auf, sein verblüffter Gesichtsausdruck konnte nicht verhehlen, dass er die Situation nicht einzuordnen wusste. Vermutlich erkannte er ihn, nein, mit Sicherheit erkannte er ihn. Er hatte schließlich einen Namen in Polizei-Kreisen.

Mit fester Stimme legte Sean Harold Biggs ein Geständnis ab: »Verhaften Sie mich, ich habe meine Frau getötet!«

Selbst wenn ich nicht John Sinclair, der Geisterjäger, gewesen wäre, wäre ich zwangsläufig auf diesen Mord aufmerksam geworden. Jede Radiostation berichtete über ihn, das Internet überschlug sich vor Eilmeldungen.

Sean Harold Biggs war eine kleine Berühmtheit in Großbritannien. Der beste Profiler, den die Insel je gesehen hatte, vielleicht sogar weltweit. Biggs war nicht beim Yard angestellt gewesen. Als ehemaliger Kriminalbeamter verdiente er sich nun als privater Berater eine goldene Nase, denn seine Ermittlungsmethoden waren ebenso unkonventionell wie erfolgreich. Biggs rief man an, wenn alle Spuren im Sande verliefen, wenn es keinerlei Hinweise auf den Täter gab und der Fall kurz davor stand, als ungelöst für immer zu den Akten gelegt zu werden.

Auch bei Scotland Yard wurden seine Dienste gern in Anspruch genommen, wahrscheinlich hatte er in seiner langen Laufbahn jede Mordkommission des Landes mindestens einmal unterstützt. Natürlich kannte auch ich ihn. Ich würde ihn nicht als guten Bekannten bezeichnen, aber per Zufall hatten wir uns in der Kantine einmal einen Tisch geteilt und über unsere Fälle geplaudert, worüber wir beinahe das Ende der Pause vergessen hatten. Ich denke, der Respekt für die Ergebnisse unserer Arbeit war gegenseitig.

Und nun war der Mann, der so viele Morde quasi im Alleingang aufgeklärt hatte, heute selbst Morgen wegen des Mordes an seiner eigenen Ehefrau verhaftet worden. So weit, so tragisch. Das Detail, das meine Mitwirkung am Fall erklärte, war die Tatsache, dass Biggs behauptete, sich letzte Nacht in einen Werwolf verwandelt und seine Frau in Gestalt dieser Bestie zerfleischt zu haben.

Ich sollte mit Hilfe meines Kreuzes nun seine Aussage bestätigen oder widerlegen, je nachdem, wie er auf meinen Talisman reagierte. So fuhr ich also mit Suko zum Wormwood-Scrubs Gefängnis, wohin man Biggs nach seiner Verhaftung gebracht hatte. Dort sollte er in Untersuchungshaft bleiben.

Es kam nicht häufig vor, dass wir bei unseren Fällen den mutmaßlichen Täter bereits vorher gekannt hatten. Suko und ich waren ein wenig schockiert und schwiegen auf der Fahrt vor uns hin.

Warum allerdings sollte das Schicksal ausgerechnet einen genialen Profiler wie Biggs verschonen? Es war nicht auszuschließen, dass er tatsächlich von einem Werwolf gebissen worden war und den Keim in sich trug.

Vor dem historischen Tor der Gefängnisanlage, das eher an eine mittelalterliche Burg als an einen Knast erinnerte, trafen wir Inspektor Murphy, mit dem wir ja schon öfter zusammengearbeitet hatten. Ihn begleitete ein junger Mann in den Dreißigern, mit etwas längerem braunen Haar und sympathischem Lächeln, der uns als Kian McDurmont, psychologischer Gutachter, vorgestellt wurde.

Er sollte Biggs Reaktion auf mein Kreuz aus psychologischer Sicht beurteilen und war mir, im Gegensatz zu seinem berühmten Patienten, komplett unbekannt. Noch während wir von einem Wärter durch die Anlage und die vielen Türen und Tore zum Vernehmungsraum geschleust wurden, machte er keinen Hehl daraus, dass er davon ausging, dass Biggs unter einer Psychose litt, einer ausgeprägten Lykanthropie.

Ich erwiderte darauf erstmal nichts, ich hatte keine große Lust, noch bevor wir auf Biggs getroffen waren, bereits mit dem Psychologen zu streiten. Ich hatte meine eigenen Erfahrungen mit Lykanthropie gemacht. Leider sehr reale, keine eingebildeten Wahnvorstellungen.

Vor der Tür des Vernehmungszimmers nahm ich mein Kreuz ab, um es in der Jackentasche verschwinden zu lassen. So konnte ich es einfacher in die Hand nehmen, um zu prüfen, ob es sich bei der Anwesenheit des Profilers erwärmte.

Der Raum war so klein, dass er eigentlich schon mit uns vieren überfüllt war. Der einzige Stuhl am festgeschraubten, kleinen Metalltisch war noch unbesetzt. Als Sean Harold Biggs in einem orangenen Gefängnisoverall zusammen mit einem Wärter den kleinen Raum betrat, hätte ich ihn fast nicht wiedererkannt, trotz der markanten Frisur nebst Schnäuzer. Er erinnerte mich nicht nur wegen des scharfen Verstandes immer ein wenig an Albert Einstein.

Während er sich auf den für ihn vorgesehenen Stuhl setzte, platze es fast aus mir heraus: »Mister Biggs! Ich bin überrascht Sie hier zu sehen!«

Biggs lächelte verschmitzt. »Sehen Sie, Mister Sinclair, im Gegensatz dazu war mir klar, dass Sie hier auftauchen werden. Ich falle nun in Ihr Ressort, sozusagen.«

Ich fühlte in meiner Jackentasche nach meinem Talisman, unverändert kühl, kein Anzeichen von Erwärmung oder einer Reaktion.

Murphy musste lediglich den Psychologen vorstellen, alle anderen kannten sich ja bereits. Biggs wünschte uns gelassen und höflich einen Guten Tag. Danach herrschte ein eisiges Schweigen, das etwas zu lang war, um nicht peinlich zu wirken. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass man von mir erwartete, es zu brechen, doch es war der mordverdächtige Biggs, der als Erstes eine Frage stellte.

»Wollen Sie mir keine Silberkugel in den Kopf jagen, Mister Sinclair?«

»Sollte ich das?«, war meine Gegenfrage.

»Nun, ich habe bereits bei meiner ersten Vernehmung zugegeben, ein Werwolf zu sein. Das ist Ihnen bekannt, sonst wären Sie nicht hier. Töten Sie nicht Werwölfe, Mister Sinclair? Mit Silberkugeln aus Ihrer Dienstwaffe?«

Wollte er etwa von mir erschossen werden? Es kam immer wieder vor, dass Selbstmörder Verbrechen begingen, in der Hoffnung, dass die Polizei ihnen mit einen finalen Rettungsschuss die Arbeit abnahm, die sie selbst nicht imstande waren zu tun. Aber vorher seine eigene Frau bestialisch abzuschlachten, passte da nicht ins Bild.

»Ja, Mister Biggs, sie haben recht. Wenn sich die Bestie nicht kontrollieren lässt und Menschenleben gefährdet, erlöse ich den Wirt von seinem Fluch.«

»Sie ermorden Werwölfe.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich erlöse einen Menschen von dem Fluch, weitere Menschen zu töten oder ebenfalls mit dem Keim zu infizieren. Ich rette unschuldige Leben. So unschuldig wie das Leben ihrer Frau gewesen war.«

Bei der Erwähnung von Barbara Biggs senkte Sean Harold Biggs den Kopf und zog schnaufend die Luft ein. Die schlohweißen Haare fielen ihm ins Gesicht und vor seine Augen, sodass ich leider seinen Blick nicht deuten konnte. War dieser Mann eine blutrünstige Bestie? Ich war hier, um genau das herauszufinden. Ich fasste nach meinem Talisman. Keine Erwärmung.

»Sie wissen, dass ich ein besonderes Kreuz besitze, Mister Biggs?«

»Natürlich. Das weiß jeder, der sich ein wenig mit der Materie beschäftigt.«

Ich machte Nägel mit Köpfen, zog es aus der Tasche und legte es demonstrativ vor Biggs auf den Tisch. Ich war auf die Reaktion gespannt – und trotzdem überrascht.

Biggs keuchte und versuchte, aufzuspringen, der Wärter hinter ihm drückte ihn wieder an den Schultern auf seinen Stuhl.

»Sie wollen mich töten Sinclair! Abschlachten wie einen tollwütigen Hund! Mörder!«, schrie er hysterisch.

Nun war es an Murphy, sich einzumischen. Er trat vor und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: »Verdammt, Biggs, Sie haben Ihre Frau bestialisch ermordet!«

»Ich wollte das nicht! Es war ein Unfall!«

»So sah die Leiche nicht gerade aus!«, insistierte Murphy.

»Nehmen Sie das Kreuz weg, Sinclair! Das ist Folter! Ich kenne meine Rechte!«, kreischte der Kriminalist und hob drohend seine gefesselten Hände.

Das zumindest glaubte ich ihm sofort! Allerdings dachte ich gar nicht daran, seiner Aufforderung Folge zu leisten, im Gegenteil, ich nahm das Silberkreuz wieder in die Hand und führte es dichter an ihn heran. Schreiend sprang Biggs nun wirklich auf, selbst der Wärter konnte ihn nicht halten.

»Mörder!«, schrie er in einer Art Wahn immer wieder, variiert mit Sätzen wie: »Er will mich töten!«

Dem Wärter allein gelang es nicht, Biggs festzuhalten, der sich aufführte wie toll. Suko und Murphy sprangen ihm zur Seite. Auch zu dritt konnten sie den tobenden Profiler kaum bändigen. Es tat mir fast in der Seele weh, den Mann, den ich bisher nur ruhig und reflektiert erlebt hatte, in einem solchen Zustand zu sehen. Der Wärter klapperte schon mit dem Schlüsselbund, um Biggs aus dem Vernehmungsraum zu führen, als ich zu dem Entschluss kam, die Probe aufs Exempel zu machen.

Biggs »Mörder! Mörder!«-Schreie schienen mir direkt bis ins Herz zu dringen. Sollte dieser Mann tatsächlich ein Werwolf sein, musste ich ihn erlösen, bevor noch mehr Leid angerichtet wurde. Mit dem Kreuz in der Hand sprang ich über den kleinen Tisch, suchte zwischen Suko, Murphy und dem Wärter eine Lücke und presste dem privaten Ermittler das Kreuz direkt ins Gesicht.

Biggs gellender Schrei erfüllte den kleinen Raum. Er wollte selbst dann nicht enden, als ich meine Hand längst zurückgezogen hatte. Mit unverminderter Kraft stemmte er sich nach wie vor gegen den Vollzugsbeamten, Murphy und Suko. Von Zusammenbruch oder Vernichtung keine Spur. Die Tür wurde aufgerissen, und zwei weitere Beamte stürmten herein. Wahrscheinlich hatte der erste Wärter einen stillen Alarm ausgelöst. Es bedurfte aller drei Vollzugsbeamte, um den in Handschellen tobenden Biggs aus dem Raum zu zerren.

Selbst im Flur hörte ich ihn noch schreien: »Mörder! Er ist ein Werwolf-Mörder! Er wollte mich töten! Mörder! Mörder! Mörder!«

Fassungslos sahen Suko, Murphy, der Psychologe und ich von der Tür des Vernehmungsraums dem Tross hinterher. Biggs weigerte sich, zu gehen, sodass er über den Flur geschleift wurde. Die Sohlen seiner Einheitsstiefel hinterließen quietschend schwarze Striemen auf dem hellen Linoleum. Wie ein Stier im Rodeo bäumte er sich immer wieder gegen die Beamten auf. Bis zum Ende des Gangs stachen der orangene Overall und das weiße Haar aus dem Hintergrund der blauen Uniformen der Vollzugsbeamten heraus. Als sie um eine Ecke bogen, konnte ich sie zwar nicht mehr sehen, aber Biggs noch immer hören.

»Mörder! Mörder! Werwolf-Mörder!«

Mit Beschimpfungen jeglicher Art war ich beinahe täglich konfrontiert. Selten gingen sie mir so nahe wie aus dem Mund des genialen Profilers Sean Harold Biggs.

Resigniert ließ ich mich auf den Stuhl fallen, auf dem der Untersuchungshäftling gerade noch gesessen hatte, legte mein Kreuz vor mir ab und ließ stöhnend meinen Kopf in die aufgestellte Hand fallen.

Meine Mitstreiter in dem kleinen Raum schwiegen ebenso, nur ein gezischtes, scharfes Atmen war hin und wieder zu hören.

Kian McDurmont fand als Erster die Sprache wieder.

»Was haben wir da gerade erlebt, Mister Sinclair!?«

Ich schnaubte. »Sie sind doch der psychologische Gutachter, sagen Sie es mir doch!«

Ich war etwas durch den Wind und meine Antwort schnippischer, als es sonst meine Art war.

»Ihre Testung mit diesem Artefakt hat also ergeben, dass Biggs kein Werwolf ist. Sonst hätte es irgendwie reagieren müssen, oder?«

Ich nickte stumm, und Suko antwortete an meiner Stelle: »Das Kreuz hätte ihn töten müssen, als es in Kontakt mit Biggs kam. Hat es aber nicht.«

»Es hat sich noch nicht einmal erwärmt. Keine Reaktion auf Biggs«, gab ich zu.

»Das heißt, Sean Harold Biggs ist kein Werwolf! So wie ich es ja bereits vermutet habe.«

Klugscheißer, dachte ich, konnte mich aber noch beherrschen, es auszusprechen. Der Psychologe fuhr fort. »Offensichtlich hatte er beim Anblick dieses Kreuzes Todesangst. Woher wusste er über seine Funktion Bescheid?«

Die Antwort war ebenso simpel wie banal: »Weil er mich kennt.«

Murphy klatschte abschließend in die Hände und wollte wohl zum Aufbruch blasen. Mit einem langgezogenen »Gut ...« begann er, die Lage und das weitere Vorgehen zusammenzufassen. »Biggs ist kein Werwolf, sondern ein Psychopath. Somit ist das kein Fall für Euch!« Er sah dabei Suko und mich an, als täte es ihm fast leid. »Mister McDurmont, bitte erstellen Sie ein psychologisches Gutachten, das wir an die Staatsanwaltschaft weitergeben können. Somit würde ich sagen, sind wir für heute durch. Vielen Dank so weit, Gentlemen, alles Weitere geht dann seinen normalen Gang.«

Wir wollten gerne gehen, mussten aber auf einen Wärter warten, der uns die zahlreichen Türen auf- und wieder zuschloss. Meine Laune war nicht nur aufgrund der Beschimpfungen im Keller. Die Tatsache, dass ein derart genialer Ermittler wie Biggs quasi über Nacht durchdrehte und zu einem psychopathischen Mörder wurde, der seine Frau in einem Wahn abschlachtete, gefiel mir gar nicht. Aber offensichtlich war es so.