Johnny Cash: Meine Arme sind zu kurz, um mit Gott zu boxen - Matthias Huff - E-Book

Johnny Cash: Meine Arme sind zu kurz, um mit Gott zu boxen E-Book

Matthias Huff

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Beschreibung

Er war berüchtigt für Exzesse im Drogenrausch - und überzeugter Christ. Johnny Cashs Kindheit und Jugend waren geprägt von harter Arbeit auf den Baumwollfeldern Arkansas. Nach drei Jahren als Soldat in Deutschland wird er in den 50er-Jahren zum größten RocknRoll-Star neben Elvis Presley. Ende der 60er-Jahre erreicht er mit legendären Gefängniskonzerten seinen Karrierezenit. Doch wer war der tief gläubige Mann hinter der düsteren Ausstrahlung? Matthias Huff, ein langjähriger Fan und Kenner der Szene, hat sich tief in das Leben des Musikers begeben und zwischen Höhenflügen und Abstürzen ungeahnte Einblicke gewonnen. Die inneren Kämpfe zwischen Sünde und Hoffnung auf Erlösung, die Johnny Cash fast zerrissen, konnten doch sein Vertrauen in Gott nicht erschüttern. Seine Biografie zum 20. Todestag des Musikers liefert inspirierende Einblicke in das Leben von Johnny Cash, die das bisher unvollständige Bild des legendären Weltstars ergänzen und vertiefen.

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INHALT

Vorwort

Kapitel 1: Erlösung

Kapitel 2: Baumwollfelder

Kapitel 3: Teeniestar

Kapitel 4: Wurzeln

Kapitel 5: Jesus

Kapitel 6: Liebe

Kapitel 7: Im Gefängnis

Kapitel 8: Politik

Kapitel 9: Der Teufel

Kapitel 10: Im Heiligen Land

Kapitel 11: In der Herde

Kapitel 12: Jesus als Cowboy

Kapitel 13: Schmerz

Kapitel 14: Die Wiederkehr Jesu

Kapitel 15: Am Jordan

Danksagung

Anmerkungen

Quellenverzeichnis

VORWORT

Anfang 1994 sucht ein Fotograf ein gutes Motiv für ein Album-Cover von Johnny Cash. Der Stil ist klar vorgegeben: stylisch-düster. Die Nashville-Musikindustrie hat den 61-Jährigen fallen gelassen. Jetzt arbeitet das unabhängige Label American Recordings an seinem Comeback und setzt darauf, sein dunkles Image von früher zu erneuern. Zufällig lassen sich zwei Hunde links und rechts neben Johnny Cash nieder. Damit steht das Foto. Mit dem Album „American Recordings“ gelingt das zweite große Comeback seiner Karriere.

„Den damaligen Medien nach zu urteilen, verschaffte mir das über Nacht einen Imagewechsel vom ‚ehemaligen Nashville Star‘ zur ‚Hip-Ikone‘.“1

Johnny Cash, der plötzlich wieder im Trend liegt, benennt in Interviews zum Album die Hunde „Sünde“ und „Erlösung“ und positioniert sich so eher beiläufig als Christ: „Sie heißen Sünde und Erlösung. Sünde ist der Schwarze mit dem weißen Streifen; Erlösung ist der Weiße mit dem schwarzen Streifen. Das ist sozusagen das Thema des Albums, und ich denke, das trifft es auch für mich. Als ich wirklich schlecht war, war ich nicht nur schlecht. Als ich wirklich versucht habe, gut zu sein, konnte ich nie ganz gut sein. Durch mich ging immer diese schwarze Ader.“2

Das ist ein guter Spruch in einem Interview. Und gleichzeitig viel mehr. Nichts kennzeichnet Johnny Cashs Glauben mehr als die Spannung zwischen Sünde und Erlösung. Johnny Cash ist beides: bibeltreuer Christ und „Badass“, Kirchgänger und Pionier in Sachen drogengetriebene Rock ’n’ Roll-Tourvandalismus. Aber wie sein Sohn John Carter Cash gehe ich davon aus, dass es eine Größe gibt, die jenseits der Widersprüche liegt: „Mein Vater war ein komplizierter Mensch. Daran kommt man nicht vorbei. Er war glaubensfest und in vielerlei Hinsicht wie ein offenes Buch. Aber er war auch sehr tiefgründig, mitunter rätselhaft, faszinierend und unberechenbar. Einige Leute vertraten die Ansicht, er definiere sich durch seine Misserfolge, Süchte und Schmerzen. Kris Kristofferson bezeichnete ihn sehr treffend als ‚einen wandelnden Widerspruch, halb Wahrheit, halb Dichtun‘. Aber nicht die Widersprüche machten ihn zu einer großen Persönlichkeit.“3

„A walking contradiction/partly truth and partly fiction“, der Spruch aus Kris Kristoffersons Song von 1971, „The Pilgrim, Chapter 33“, gilt über 50 Jahre später umso mehr: Endgültig ist Johnny Cash von Mythen und Legenden überwuchert. Über ihn nur entlang gesicherter historischer Fakten zu erzählen, wäre nicht nur unendlich schwierig, es wäre auch nicht die ganze Geschichte. Was andere über Johnny Cash erzählen und wie er sich erzählt, das gehört unbedingt dazu.4 Und unter den widersprüchlichen Identitäten, die Kris Kristofferson anbietet, „a pilgrim and a preacher and a problem when he’s stoned“, gilt die Vorliebe gerade deutscher Interpreten nicht dem Pilger oder dem Prediger, sondern dem „Problem unter Drogen“.

Dabei ist der „Preacher“ bald nicht mehr nur eine Metapher. 1977 wird Johnny Cash offiziell Prediger.5 Wie fromm Johnny Cash ist, das ist eigentlich schwer zu übersehen. Einer seiner engsten Freunde ist „Amerikas Pastor“ Billy Graham, für den er bei über 30 Massenevangelisationen, den „Crusades“, singt. Und vor 150.000 Menschen auf der „Explo ’72“, einem Event, dem der Mitveranstalter und Hauptsprecher Billy Graham das wirksame Etikett „religiöses Woodstock“ verleiht.6

In allen seinen Konzerten singt er stets neben Mörderballaden auch Gospels, er veröffentlicht mehrere Gospel-Alben sowie eine Lesung des Neuen Testaments und dreht neben mehreren christlichen TV-Specials auch einen Jesus-Kinofilm.

Der fromme Johnny Cash begeistert Produzenten und Plattenfirmen nicht: „Mir schwant, meine Plattenfirma sieht mich lieber im Gefängnis als in der Kirche.“7

Johnny Cashs christlicher Glaube wird gern verdrängt, in Deutschland noch stärker als in den USA, wenn ich das richtig sehe.8 Ein schönes Beispiel ist das Interview von Reinhold Beckmann mit Johnny Cash und June Carter Cash 1988 backstage in Hamburg.9 Nach der obligatorischen Frage zu den Gefängniskonzerten kommt die ebenso obligatorische Drogenfrage, und Johnny Cash antwortet: „I don’t have a problem anymore. I turned it over to God and it’s working out really good. I feel good.“10 Reinhold Beckmann übersetzt das live in die Kamera: „Er fühlt sich absolut okay. Die Zeit mit den Drogen und dem Alkohol ist vorbei.“ Gott fällt unter den Tisch.

Es ist aber auch schwierig. Da ist Johnny Cash so ziemlich der einzige Country-Künstler, den man als liberaler Mainstream-Medienschaffender in Deutschland gut finden kann, ohne seltsam angeschaut zu werden. Der im Plattenladen im Regelfall einen Platz bei den seriösen Pop/Rockkünstlern findet und nicht in der irgendwo versteckten Country-Kiste. Er hat immerhin dieses Badass-Image, und vielleicht ist er gar nicht Country, sondern Crossover. Und dann ist er fromm, sehr fromm, fromm im Stil der Südstaaten. Diese Herausforderung kann man entschärfen, indem man das Christsein in endlosen Aufzählungen untergehen lässt. „Baumwollpflücker. Soldat. Vertreter für Elektrogeräte. Rock ’n’ Roll-Pionier. Liebender Ehemann und Vater. Untreuer Drogensüchtiger. Patriarch. Christ und Satansbraten. Patriot und Protestsänger. Die Stimme von Zuchthäuslern, Armen, Veteranen, den amerikanischen Indianern und anderen, deren Stimmen zu oft ungehört blieben.“11 Oft wird es auch völlig marginalisiert, als irritierendes Hobby, irgendwo bei Briefmarkensammeln und Spielzeugeisenbahnen verortet.

Für mich ist sein christlicher Glaube gerade in der Spannung zu seinem Badass-Image zentral für Johnny Cash. Der Kontrast ist schärfer als die Tatsache, dass auch gläubige Christen Sünder bleiben. Seine Plattenfirma verkauft ihn 1966 als „Johnny Cash – Mean As Hell“12, umso bemerkenswerter ist sein christliches Bekenntnis. „Johnny Cash machte es cool, ein Schurke zu sein, der Christus liebt.“13 Der Künstler geht dabei nicht im christlichen Glauben auf und umgekehrt.

„Lev Grossmann: Sehen Sie sich als christlichen Künstler?

Johnny Cash: Ich bin ein Künstler, der Christ ist. Ich bin kein christlicher Künstler.“14

Künstler und Christ sind fast nie in ruhiger Balance in ihm, oft im Widerspruch, das beginnt schon bei den ersten Samstagabendkonzerten, bei denen die Rückreise den Gottesdienst am Sonntagmorgen blockiert. Die Größe von Johnny Cash liegt über bloßen Widersprüchen, sie hat etwas damit zu tun, wie ein unerschütterlicher Glaube sich mit äußerster Heftigkeit in den Fallstricken des Lebens verfängt und dennoch behauptet.

Alles an Johnny Cash ist groß. Der Mann war rein körperlich so groß, dass handelsübliche Gitarren an ihm immer aussahen wie Spielzeug. Sein Werk ist unüberschaubar.15 Die Nachrufe von befreundeten Country-Stars wie Emmylou Harris oder Merle Haggard und dem Rockstar Bono von U2 zielen auf die menschliche Größe, die sich in den Songs nur ausdrückt: „Johnny Cash ist der coolste Mann der Welt. Ich glaube wirklich, man hat das Wort Charisma erfunden, um zu beschreiben, was Johnny Cash hat“ (Emmylou Harris).16 „Im Vergleich mit Johnny Cash sind wir alle Weicheier“ (Bono).17 „Er war wie Abraham oder Moses – einer der Großen, die die Erde beehren“ (Merle Haggard).18

Es heißt, der 9 Jahre jüngere und deutlich kleinere Bob Dylan hätte Johnny Cash beim ersten Treffen wie einen Baum umkreist und ihn dann von unten bewundernd angelächelt,19 um dann lebenslang zu ihm aufzuschauen.

„Johnny Cash war und ist der Polarstern, an ihm kann man sein Schiff orientieren – der Größte der Größten, damals wie heute. (…) Ich denke, wir können Erinnerungen an ihn haben, aber wir können ihn genauso wenig definieren, wie wir eine Quelle der Wahrheit, des Lichts und der Schönheit definieren können. Wenn wir wissen wollen, was es bedeutet, sterblich zu sein, brauchen wir nicht weiter zu schauen als bis zum Mann in Schwarz.“20

Darum geht es mir mit dem Blick auf Johnny Cash: über uns als Sterbliche zu erzählen. Im Image von Johnny Cash das Christliche stärker zu gewichten, ist nur der Weg, nicht das Ziel. Es geht mir um den großen christlichen Glauben von Johnny Cash, der mitreißen und begeistern kann.

An der Entwicklung dieses Glaubens gibt es nicht viel zu beschreiben: „Mein Glaube ist heute nicht anders als damals, als ich ein Kind war, nur folgten dann Jahre erwachsenen Lebens, auf denen ich Irrwege ging.“21

Johnny Cash kennt Gottferne, aber keine Glaubenskrisen. Im Rückblick auf seinen ersten Altar Call, das öffentliche Glaubensbekenntnis am Altar, mit 12 Jahren schreibt er: „Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich über so lange Phasen vor Ihm wegrennen würde – keine Verleugnung, aber viele Fluchten.“22

Johnny Cashs Glaube ändert sich nicht, aber er hat sich im Leben zu bewähren – mit gemischten Resultaten. Und so ist es spannend, entlang seines Lebens die Kämpfe zwischen Künstler und Christ zu erzählen. Der Countryboy aus Arkansas, der Junge vom Land, hat glaubwürdig in Gefängnissen gespielt, mit Präsidenten gespeist, sich mit Konzeptalben für die Armen und die indigene Bevölkerung eingesetzt. Er war eine Zeit lang das Gesicht Amerikas und blieb doch immer dem einfachen Landleben verbunden. Dabei ist immer beides gleichzeitig da: tiefes Gottvertrauen und die ebenso tiefe Sympathie mit der Anfälligkeit des Menschen für das Böse, erlebt am eigenen Körper und in der eigenen Seele.

Um von seinem Glauben zu erzählen, steht ihm als Pfarrer durchaus theologisches Besteck zur Verfügung, doch häufiger erzählt er Geschichten. In einem seiner schönsten Gospelsongs, „Half a Mile a Day“ (John R. Cash), verlegt Johnny Cash seinen eigenen langsamen und unsteten Weg ins Paradies in eine alte Dame: Der Sänger läuft nach einem Konzert durch die nächtliche Stadt und landet in einer kleinen Kirche. Er setzt sich neben eine kleine alte Dame in der hintersten Bank. Dort werden gerade Zeugnisgeschichten erzählt, ein Mann versichert dem Priester, dass er schnell und präzise wie ein Pfeil ins Himmelreich gelangen will, ein zweiter möchte wie ein Klipperschiff störungsfrei dorthin segeln, der dritte mit einem gigantischen Flugzeug auf silbernen Flügeln weit über allem Ärger und allen Versuchungen den Himmel ansteuern. Dann steht die kleine alte Dame auf und spricht, nicht zur Gemeinde, nicht zum Priester, sondern mit dem Blick nach oben: Angesichts all ihrer Irrwege, Versuchungen und Fehler schafft sie höchstens eine halbe Meile am Tag in Richtung Himmel.

Nun ist Johnny Cash alles andere als eine unauffällige alte Dame in der letzten Kirchenbank. Seine Kämpfe zwischen Gut und Böse, zwischen Sünde und Erlösung finden im grellen Scheinwerferlicht statt. Aber bei allem Stolpern und Straucheln trägt der Glaube aus seiner Baumwollpflücker-Kindheit in den Südstaaten ihn bis zum Lebensende.

Nach dem Tod seiner Frau June gibt er schwerkrank der Musikjournalistin Silvie Simmons eines seiner letzten Interviews: „Er saß eine Weile still da, seine halb erblindeten Augen starrten ins Nichts. Bis ich ihm eine Frage stellte: War er wütend auf Gott, weil Er ihn hier allein gelassen hatte? Er umklammerte die Armlehnen seines Rollstuhls und setzte sich aufrecht hin, die dunklen Augen funkelten. ‚Niemals, niemals‘, knurrte er – und wer schon einmal mit einem Johnny-Cash-Knurren bedacht wurde, der wird es nicht auf die leichte Schulter nehmen. ‚Nein, ich bin nicht wütend auf Gott. Wegen nichts.‘ Als die Krankenschwester kam, um ihn hinauszurollen, drehte er sich um und lächelte. ‚Meine Arme‘, sagte er, ‚sind zu kurz, um mit Gott zu boxen.‘“23

KAPITEL 1: ERLÖSUNG

Ende 1954 in den Sun Studios in Memphis. Memphis ist die Musikmetropole der Südstaaten mit einer magnetischen Wirkung auf afroamerikanische und weiße Musiker vom Land. Die Sun Studios sind die Geburtsstätte des Rock ’n’ Roll. Produzent Sam Phillips hat gerade Elvis Presley entdeckt und hält schon mal Ausschau nach dem nächsten potenziellen Star. Gerade spielen drei Automechaniker und ein Kühlschrankvertreter vor. Johnny Cash ist der Sänger der Truppe, er arbeitet mit denkbar geringem Erfolg als Vertreter für die „Home Equipment Company“. Über seinen Bruder hat er drei am Feierabend musizierende Automechaniker kennengelernt: Marshall Grant, Bass, Luther Perkins, Gitarre, und A. W. „Red“ Kernodle, Steel-Guitar, der allerdings schon nach dem ersten Vorspielen die Band verlässt.

Schon lange hat Johnny Cash das Studio und Sam Phillips belagert, nun bekommt er die Chance zum Vorspielen mit Band. Sie spielen „I Was There When It Happened“ (Jones/Davis), einen aktuellen Gospelsong. Johnny Cash weiß zwar, dass Sam Phillips nicht auf Gospel steht, aber er hofft, der Song stimmt ihn um. Das klappt nicht. Sam Phillips ist angetan, der raue Sound der Band hat was und der Sänger ohnehin. Aber Gospel gehen nun mal nicht. Sam sucht nicht die nächste Gospelband, sondern den nächsten Elvis. Mit einem eigenen Song, der nicht Gospel ist, könne er gern wiederkommen, teilt er Johnny Cash mit. Angesichts der asymmetrischen Machtverhältnisse knickt Johnny Cash ein, taucht beim nächsten Mal mit „Hey Porter“ (John R. Cash) auf und seine Karriere startet.

Für Johnny Cashs Glauben lohnt es, einen Blick auf den Song zu werfen, den er so starrsinnig wie vergeblich Sam Phillips andient und der erst einmal liegen bleibt. „I Was There When It Happened“ (Jones/Davis) ist ein aktueller Gospelhit in den Südstaaten von Jimmie Davis, zwei Mal demokratischer Gouverneur von Louisiana und Country-Star.

Der Song feiert die Erlösung: Der Sänger hat erlebt, wie Jesus ihn rettete, wie er ihm vergab, das ist wirklich, und er wird es verkünden. Damit schlägt der Song den Grundton des christlichen Glaubens von Johnny Cash an: Freude. Die Erlösung ist im Hier und Jetzt greifbar. Das Himmelreich ist nicht etwas, für das man als Christ in einem entsagungsreichen Leben hart arbeiten muss und auf das man nur hoffen kann. Die Erlösung von unseren Sünden kann jederzeit in unserem Leben geschehen. Wir können im Endlichen eins werden mit dem Unendlichen1, das Himmelreich ist ein anderes Dasein, das in die Welt hineinragt. In der King James Bible, die Johnny Cash vorrangig liest, ist das Reich Gottes nicht „mitten unter Euch“, sondern „within you“, und so taucht es in einem der bekanntesten Aussprüche von Johnny Cash auf: „Ich habe Drogen und etwas von allem anderen ausprobiert, und es gibt nichts auf der Welt, was die Seele mehr befriedigt, als wenn das Reich Gottes in dir wächst.“2 Und so ist Jesus zunächst einmal der Erlöser von unseren Sünden, nicht der Verkünder schöner ethischer Botschaften.

Die Pharisäer wollten von Jesus wissen: „Wann wird denn Gottes Reich kommen?“ Er antwortete ihnen: „Gottes Reich kann man nicht sehen wie ein irdisches Reich. Niemand wird sagen können: ‚Hier ist es!‘ oder ‚Dort ist es!‘ Denn Gottes Reich ist schon jetzt da – mitten unter Euch.“ Lukas 17, 20-21 (Hfa)

In „Man in Black“, seiner ersten Autobiografie von 1975, ist Johnny Cash da energischer und vor allem expliziter als meist: „Auf einigen Kirchen würde Er seinen Namen nicht sehen wollen, weil sie ihn auf einen bloßen Propheten oder einen philosophierenden Weltverbesserer reduzieren und seine Göttlichkeit leugnen. Ich bin toleranter gegenüber Menschen anderer Religionen, die traditionell die Göttlichkeit Jesu ablehnen, als gegenüber Menschen, die behaupten, Christen zu sein, aber die Jungfrauengeburt, die Auferstehung oder eines seiner Wunder leugnen.“3

Die Erlösungsfreude des Refrains könnte so jederzeit auch in einem eigenen Johnny-Cash-Song vorkommen. Die Grenze zwischen eigenen Songs und Covern ist im Bereich von Country, Blues und Folk sehr fließend, ganz im Gegensatz etwa zum Singer-Songwriter-Genre. Johnny Cash kann sich Songs in einem so außerordentlichen Maß aneignen, dass das seine Fähigkeit als Songwriter bisweilen in den Schatten stellt. Und dennoch spielen die von ihm selbst geschriebenen Songs eine besondere Rolle. Ich vermute, in einem eigenen Song würde er es dabei bewenden lassen, Erlösungsfreude zu feiern. Dagegen verteidigt „I Was There When It Happened“ in den Strophen den Glauben gegen Zweifler und Agnostiker. Ob wir gerettet sind oder nicht, dazu können wir schon etwas sagen, ich war dabei, ich sollte es wissen.

Im Deutschen steht „Glauben“ sprachlich nah an „Nichtwissen“. Der Song aber ist sehr klar: Erlösung ist nicht nur eine unmittelbare Erfahrung, sie ist auch Wissen. Wissen, das sich hier nicht auf die Bibel beruft, sondern auf die persönliche Erfahrung. Der seit der Aufklärung gängige Kompromiss, Glaube in ein Reservat ungesicherter privater Überzeugung neben der allgemeingültigen Vernunft zu verbannen, wird ausgeschlagen. In der Strophe befindet sich der Song in der Offensive von Paulus mit der Haltung: „Ihr haltet unseren Glauben für blanken Unsinn – na und?“

Was aber haben sie dann noch zu sagen, all die gebildeten Leute dieser Welt, die Kenner der heiligen Schriften und die Philosophen? Hat Gott ihre Weisheiten nicht als Unsinn entlarvt? Denn Gott in seiner Weisheit hat es den Menschen unmöglich gemacht, mit Hilfe ihrer eigenen Weisheit Gott zu erkennen. Stattdessen beschloss er, alle zu retten, die einer scheinbar so unsinnigen Botschaft glauben. Die Juden wollen Wunder sehen, und die Griechen suchen nach Weisheit. Wir aber verkünden den Menschen, dass Christus, der von Gott erwählte Retter, am Kreuz sterben musste. Für die Juden ist diese Botschaft eine Gotteslästerung und für die Griechen blanker Unsinn. Und dennoch erfahren alle, die von Gott berufen sind – Juden wie Griechen –, gerade in diesem gekreuzigten Christus Gottes Kraft und Weisheit. 1. Korinther 1, 20-25. (Hfa)

Noch kennzeichnender ist die Erlösungsfreude im Refrain für den christlichen Glauben von Johnny Cash. Er hat in einem bemerkenswerten Maß keine Angst vor Gott. Sich jederzeit selbst als Sünder erkennend, zeigt er ein faszinierendes Vertrauen auf Gott und hat die Gewissheit, erlöst und geborgen zu sein. In dieser freudigen Sicherheit schwingt der Paulus der Römerbriefe mit, durch den auch der angstgeschüttelte Mönch Martin Luther seinen Frieden fand und den strafenden Gott durch den gnädigen ersetzte.

Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die da glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und mangeln des Ruhms, den sie vor Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Römer 3, 23-24 (Luther 2017)

Wenn Johnny Cash ein Problem hat mit dem Vertrauen auf Gott, dann eher mit einem Zuviel als einem Zuwenig. So schreibt er über die erste Phase, in der er Amphetamine schluckte: „Als ich begann, Pillen zu nehmen, glaubte ich allen Ernstes, Gott hätte sie mir geschickt, damit ich ein besserer Bühnenkünstler werde.“4

Johnny Cash steht nicht in der Gefahr, sich mit guten Werken das Paradies erarbeiten zu wollen, also mit Gott dealen zu wollen. Das schwungvolle Bild, dass seine Arme zu kurz sind für den Boxkampf mit Gott, fängt auch die unüberbrückbare Distanz des sündigen Menschen zu Gott ein, die jedes Verhandeln ausschließt. Cash steht eher in der Gefahr, zu sorglos Gottes Vergebung seiner Sünden einzukalkulieren.

Der traditionelle Gospel „The Old Account Was Settled Long Ago“ begleitet Johnny Cash über lange Zeit. Er findet sich auf dem ersten Gospelalbum, es ist der erste Titel, den er auf Billy Grahams Crusades singt, und er singt ihn auch im Weißen Haus und in San Quentin. Wenn der Song das Wissen feiert, dass ein noch so altes und so großes Sündenkonto immer schon durch Jesus beglichen wurde, ist die Gefahr mit Händen zu greifen, es bei einem so generösen Gläubiger mit dem Anhäufen neuer Schulden nicht allzu genau zu nehmen.

Gott hat den Schuldschein, der uns mit seinen Forderungen so schwer belastete, für ungültig erklärt. Ja, er hat ihn zusammen mit Jesus ans Kreuz genagelt und somit auf ewig vernichtet.Kolosser 2, 14 (Hfa)

„Es gibt drei Arten von Menschen, die einen, die Gott dienen, nachdem sie ihn gefunden haben, die anderen, die sich bemühen, ihn zu suchen, da sie ihn noch nicht gefunden haben, und wieder andere, die dahinleben, ohne ihn zu suchen und ohne ihn gefunden zu haben. Die ersten sind vernünftig und glücklich, die letzten sind verrückt und unglücklich; die in der Mitte sind unglücklich und vernünftig.“5

Nach der ebenso groben wie zupackenden Unterteilung des christlichen Philosophen Blaise Pascal gehört Johnny Cash unbedingt zur ersten Art von Menschen, allerdings so, dass die Übersetzung von „Finden“ in „Dienen“ stetig hakt. Sünde und Erlösung sind bei Johnny Cash kaum eine Frage von Vorher und Nachher.

Seine zweite Ehefrau June Carter Cash kann auf ein richtiges Bekehrungserlebnis als Zehnjährige zurückblicken: „Ich glaube, dass ich zu den wenigen Glücklichen gehöre, die die Feuerzungen wie am Pfingsttag gesehen haben. Der Heilige Geist ist wirklich in meinen Körper eingedrungen, hat mich verändert und mich zu einem neuen Menschen gemacht.“6

Johnny Cash gehört zu der weniger glücklichen Mehrheit ohne einen solchen klaren Entscheidungsmoment. Auch wenn er immer wieder Erlösungserfahrungen macht und weiß, wovon er in „I Was There When It Happened“ singt – es gibt bei ihm nicht das eine große Bekehrungserlebnis. Mehrfach folgt er im Gottesdienst dem Aufruf, nach vorn zu kommen und Gott in sein Leben einzuladen, die sogenannten Altar Calls, der erste mit 12 Jahren. Und er lässt sich mehrere Male neu taufen, unter anderem im Jordan während der Dreharbeiten zu „Gospel Road“. 1973, in der Mitte seiner christlichsten Phase, schließt das Album „Any Old Wind That Blows“ mit dem Song „Welcome Back Jesus“ (John R. Cash). Die Bekehrung ist bei ihm kaum die eine definitive Umkehr. Es ist eine Wiederkehr – und die ist gut im Plural möglich. Einen Charakter aber behält sie: Es ist immer ein persönliches Bekenntnis zum christlichen Glauben und nicht nur eine blutleere kulturelle Prägung.

1978 klärt Johnny Cash mit seinem späteren Biografen Patrick Carr, dass er nicht aufdringlich missionieren will, aber dennoch klar entschieden ist:

„Patrick Carr: Eines der Dinge, die ich immer an dir mochte, ist, dass du ein überzeugter Christ bist und trotzdem mit Leuten arbeitest und Zeit verbringst, die man als schwarze Schafe betrachten könnte oder die nicht so christliche Gewohnheiten haben. Durchgeknallte Musiker, weißt du? Und du scheinst in der Lage zu sein, in beiden Welten zu leben.

Johnny Cash: Es ist nicht so, dass ich in beide Richtungen gehe. Ich mache keine Kompromisse. Ich mache keine Kompromisse bei meinem Glauben. Wenn ich mit jemandem unterwegs bin, der nicht über Religion sprechen will, spreche ich nicht darüber. Ich dränge mich niemandem in irgendeiner Weise auf, auch nicht mit Glaubensdingen. Wenn man jemandem etwas aufzwingt, ist man verletzend, finde ich. Obwohl ich evangelikal bin und die Gute Nachricht jedem weitersage, der sie hören will.“7

Johnny Cash benutzt den Begriff „evangelikal“ selten, aber er benutzt ihn. In Deutschland steht „evangelikal“ als Sammelbegriff für das freikirchliche Spektrum jenseits der Landeskirchen und ist nicht nur geliebt wegen seines konservativen Klangs. Auch wenn die kirchliche Landschaft in den USA anders ist, lässt sich Johnny Cashs Glaube in dem evangelikalen Profil fassen, das Thorsten Dietz beschreibt: „Evangelikale erkennt man an folgenden Merkmalen: an der Betonung der Bekehrung, am Ansporn zur Weltveränderung, an der Höchstschätzung der Bibel und an der Konzentration auf Jesus Christus als Erlöser.“8 Thorsten Dietz und Jürgen Mette haben in den letzten Jahren die Entwicklung des Begriffes und der Evangelikalen in den USA und Deutschland beschrieben.9

Wenn ich bei Johnny Cash immer wieder Spiegelungen evangelikaler Diskussionen in Deutschland heute finde, ist das hoffentlich nicht nur meinem Blickwinkel geschuldet. Johnny Cash hat seinen Glauben besonders offensiv gelebt in der Zeit und dem Umfeld, die die evangelikale Bewegung in Deutschland maßgeblich inspiriert haben – die USA der frühen 70er-Jahre mit der prägenden Figur Billy Graham.10

Aber wenn schon Billy Graham im evangelikalen Kontext für die Offenheit gegenüber anderen Konfessionen und Religionen steht,11 so ist Johnny Cash da noch deutlich liberaler. Als Künstler und Weltreisender ist er kein Freund konfessioneller Enge. Allein schon wegen Vivian, seiner tiefgläubigen ersten Ehefrau, hat er großen Respekt vor dem katholischen Glauben. In seinem Tourbus hängt neben einem Navajo-Traumfänger ein Kreuz der Heiligen Brigitta.

„Auf meinen Reisen nach Europa, Asien und Australien ist mir immer klarer geworden, dass das Evangelium die einzige Lehre ist, die wirklich funktioniert, und zwar für alle Menschen. Konfessionen sind wichtig, um eine Gruppe von Gläubigen zusammenzubringen und sie zu stärken und zu motivieren, aber wenn diese oder jene Konfession anfängt zu glauben oder, noch schlimmer, zu lehren, dass ihre spezielle Interpretation des Wortes Gottes die einzige Tür zum Himmel öffnet, dann halte ich das für gefährlich.“12

Als er 1986 sein Paulus-Buch veröffentlicht, möchte ihn ein Interviewer in journalistischer Kurzform auf eine konfessionelle Perspektive festnageln. Indem er mit stoischer Sachlichkeit zu genau argumentiert und theologisch hochgestochen formuliert, lässt Johnny Cash ihn auflaufen:

„‚Ist es aus baptistischer Sicht geschrieben?‘, fragte einer. ‚Sie sind doch Baptist, oder nicht?‘

‚Paulus war kein Baptist‘, antwortete ich, ‚er hat diejenigen getadelt, deren Lehre Johannes den Täufer in den Mittelpunkt stellte.‘

‚Dann sind Sie vielleicht Katholik?‘, fragte er.

‚Vielleicht‘, sagte ich, ‚denn katholisch bedeutet allgemein‘.

‚Aber Sie meinen nicht die römisch-katholische Kirche?‘, fragte er.

‚Nein‘, sagte ich. ‚Paulus war Jude. Er war ein Gesetzeslehrer.‘

‚Dann ist es aus jüdischer Sicht geschrieben, oder?‘

‚Nein, aus meiner‘, sagte ich.

‚Aber Sie sind Baptist?‘

Am Ende entschloss ich mich zu einer grundsätzlichen Antwort: ‚Ich, der ich glaube, dass Jesus von Nazareth, ein Jude, der Christus der Griechen, der Gesalbte Gottes ist (geboren aus dem Samen Davids, aus dem Glauben Abrahams, und es wurde ihm als Rechtschaffenheit zugeschrieben), bin in den wahren Weinstock eingepfropft und einer der Erben des Bundes, den Gott mit Israel geschlossen hat.‘

‚Was?‘

‚Ich bin Christ‘, sagte ich, ‚stecken Sie mich nicht in eine andere Schublade.‘“13

Johnny Cash ist so überkonfessionell, dass Protestanten und Katholiken im nordirischen Bürgerkrieg 1980 einen Waffenstillstand schlossen, um ihn in einer Kirche in Belfast auftreten zu lassen.14 Aber die Grundmelodie seines Glaubens wird immer die evangelikale Südstaatenprägung aus der Kindheit behalten.

KAPITEL 2: BAUMWOLLFELDER

Johnny Cash wird am 26. Februar 1932 in Kingsland/Arkansas als Sohn von Ray und Carrie Rivers Cash geboren, als viertes von sieben Kindern. Als er drei Jahre alt ist, zieht die Familie nach Dyess/Arkansas. Ein Sozialprogramm im Rahmen des „New Deal“ von Franklin D. Roosevelt bietet mittellosen Farmern die Chance, ein eigenes Stück Land, sumpfig und mit Dornenbüschen übersät, urbar zu machen.

„Die Baumwolle, die wir erzeugten, wurde der Gemeinschaftsernte zugeführt, die sich in größerem Umfang zu besseren Preisen verkaufen ließ als einzelne kleine Erntemengen. Ich wuchs also, wie schon gesagt, in einer Art Sozialismus auf. Vielleicht wäre ‚Kommunalismus‘ das bessere Wort.“1

Wie für Kinder üblich beginnt Johnny Cash früh, Wasser aufs Feld zu bringen, und etwa mit 10 Jahren dann selbst zu pflücken.2 Sein Vater ist ein harter, verschlossener Mann, der es Johnny Cash schwer macht, das zweite Gebot zu befolgen, und mit dem er erst spät seinen Frieden macht. Und natürlich ist der Vater entschiedener Gegner von Musik, die in seinen Augen Zeitvergeudung ist. Die Mutter hingegen, die singt, Gitarre und Geige spielt, unterstützt Johnny in seinen Neigungen.

In einer seiner zentralen Kindheitserzählungen verbindet Johnny Cash in seiner zweiten Autobiografie (1997, „Cash“) Mutter, Musik und Gott: „Das erinnert mich an den Tag, als ich in den Stimmbruch kam und meine Mutter zum ersten Mal diese neuen Baßtöne von mir hörte. Ich kam singend zur Hintertür herein, und sie wandte sich erschrocken vom Herd ab und fragte: ‚Wer war das?‘ Ich sang ihr noch etwas mehr vor und erforschte meinen neuen Stimmumfang. Als ich entdeckte, wie tief ich runterkam, füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie sagte: ‚Du klingst genauso wie mein Daddy.‘ Dann sagte sie: ‚Diese Gabe ist ein Geschenk Gottes, mein Sohn. Vergiß das nie.‘“3

In zwei Gospelsongs über Kindheitserinnerungen, die Johnny Cash singt, erscheint mütterliche Liebe als irdische Stellvertretung der Liebe Gottes. In „Suppertime“ (I. Stanphill), einem Song, den er im Lauf seiner Karriere immer wieder aufnimmt,4 blendet die Stimme der Mutter, die die Stimme der Kinder zum Abendessen nach Hause ruft, langsam über in das Bild Gottes und den Ruf zum „greatest suppertime of them all with our Lord“. Und ganz ähnlich taucht in „Are All the Children in“ (C. Starrett) von seinem ersten Gospelalbum die Frage der Mutter, ob alle Kinder zu Hause sind, auch in der Todesstunde wieder auf.5

Die bedingungslose Liebe Gottes, der wir Menschen nur unzulänglich nacheifern können,6 trägt für Johnny Cash mütterliche Züge. Und ohne ideologische Genderfragen bekommt dadurch sein Bild des liebenden Gottes eine kräftige weibliche Einfärbung. Als Antwort auf diese bedingungslose Liebe, gut zu sein, erweist sich als ähnlich schwierig wie aus Angst. Der Rat der Mutter wird ihn nicht daran hindern, in den 60er-Jahren mit seiner Stimme ausgesprochen fahrlässig umzugehen. Und schon als die Mutter seine Stimme als „Gabe Gottes“ identifiziert, ist Johnny bereits rauchend und renitent als der schwierige Sohn gegenüber dem zwei Jahre älteren Jack unterwegs.

Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. 1. Korinther 13, 4-7 (Luther 2017)

Von dessen Tod handelt die zweite zentrale Kindheitserzählung: Jack stirbt mit 14 Jahren, als er beim Bau von Zäunen für die Schule in eine Kreissäge gerät. Der zwei Jahre jüngere Johnny ist währenddessen beim Angeln. Von bösen Vorwarnungen getrieben, hatte er seinen Bruder zwar angefleht, mit ihm angeln zu gehen, aber im Endeffekt faulenzt er, während sein Bruder, für die Familie arbeitend, sich tödlich verletzt. Dass sein Vater wenig später äußert, es hätte den falschen Sohn getroffen, ist so hart wie naheliegend.

Jack war der gute Bruder, der vorbildliche Sohn, der nachts die Bibel las, während Johnny Radio hörte.7 Jacks Berufsziel war klar: Er würde die Tradition des Großvaters William Henry Cash fortführen, der Farmer und reitender Prediger war. Johnny sieht sich nach Jacks Tod mit dem Auftrag konfrontiert, das Predigeramt zu übernehmen – was er nicht so kann wie Jack, nicht will. Aber Johnny Cash als Gospelsänger wird immer etwas von diesem Auftrag in sich tragen. Sein erster Altar Call mit 12 Jahren ist eng an Jack gebunden8 und der Bruder bleibt als Gewissensinstanz sein Leben lang präsent: „Manchmal sage ich mir: ‚Nun, was würde Billy Graham darüber denken?‘ Aber normalerweise ist es: ‚Was würde mein Bruder Jack tun?‘“9

Der Titel des Songs „Jesus was Our Saviour/Cotton was Our King“ (B. J. Shaver) ist eine Art Parole für diese Art von Kindheit. Johnny Cash nimmt ihn 1975 auf. Er läuft auf die Pointe hinaus, dass Jesus der Erlöser bleibt, wenn die Baumwolle nicht mehr König ist. Auch Johnny Cash bleibt Jesus treu, während er die Baumwolle gern hinter sich zurücklässt. Es ist erstaunlich, wie viele der frühen Blues-, Folk- und Countrysänger, ob afroamerikanisch oder weiß, tatsächlich in ihrer Kindheit mit Baumwollfeldern zu tun hatten. Johnny Cash benutzt seine Baumwollpflücker-Vergangenheit, um seine Authentizität als Countrysänger zu belegen, und liest in „Cash“ erst einmal den modernen Country-Fans die Leviten, dass sie keine Ahnung hätten von der Schönheit der Baumwolle und der Härte des Baumwollpflückens.10 Aber nur in einer sehr verzerrten akademischen Perspektive ist dies damit Baumwollpflücker-Musik. Im Zuge des Folkrevivals der 50er- und 60er-Jahre genießt es das studentische Publikum, in den urbanen Clubs „authentische Baumwollpflücker“ musizieren zu hören. Doch Größen wie B. B. King und Muddy Waters waren bereits privilegierte Traktorfahrer auf den Baumwollplantagen. Sie wurden zu Profimusikern, nicht, um die werktägliche Landarbeit zu vertonen, sondern für die Stimmung am Freitag- und Samstagabend in der Stadt.

Auch bei Johnny Cash spricht alles dagegen, dass er gern Pflücker war; auch bei ihm ging es um Musik statt Baumwolle. Besonders pointiert kommt das in „I Never Picked Cotton“ (C. Williams/ B. George) daher. Diesen Song singt Johnny Cash 1996 auf „Unchained“: Der Sohn von Baumwollfarmern gerät auf die mit Whiskey, schnellen Autos und langhaarigen Mädchen gepflasterte schiefe Bahn. Als jemand ihn als Baumwollpflücker beschimpft, schlägt er ihn tot. Auf dem Weg zum Galgen hat er nicht viel, worauf er stolz sein kann, aber doch das eine: nie Baumwolle gepflückt zu haben.

Johnny Cash versucht, auf allen für einen armen Südstaatenjungen klassischen Wegen dem Land und der Armut zu entkommen. Ein Versuch, in einer Automobilfabrik in Memphis zu arbeiten, scheitert, ebenso der Job in der Margarinefabrik, in der auch sein Vater das Familieneinkommen aufbessert. Doch dieser Ausflug liefert ihm immerhin beim Eintritt in die Armee die Berufsbezeichnung „Buttermaker“. 1950 geht Johnny Cash zur Air Force, von 1951 bis 1954 ist er knapp drei Jahre lang in Deutschland stationiert. Aber vorher, noch in der Ausbildung in den USA, verliebt er sich auf einer Eislaufbahn Hals über Kopf in die 17-jährige Vivian Liberto, ein katholisches Südstaatenkind. Nach drei Wochen steht für ihn fest: Sie und keine andere wird er einmal heiraten.

Dann geht es ab nach Deutschland. Er erwirbt sich einen Ruf als erstklassiger Funker und eignet sich einige Deutschkenntnisse an. Gern führt er später bei Auftritten in Deutschland sein „GI German“11 vor. In Deutschland geht er auch die ersten Schritte als Musiker: Er kauft sich für 20 Mark die erste Gitarre und singt in einer Unterhaltungsband. Nur sechs Jahre nach Kriegsende nennt sich die Band an dem Ort, an dem Hitler „Mein Kampf“ schrieb, „Landsberg Barbarians“.

„Bei der Luftwaffe habe ich Dinge gelernt, die jedem Soldaten beim Militärdienst beigebracht werden: zu fluchen, nach Frauen Ausschau zu halten, zu trinken und mich zu prügeln.“12 Andererseits bleibt er eifriger Kirchgänger und ist völlig auf Vivian fixiert, die er kaum kennt und doch über drei Jahre mit Briefen regelrecht überschüttet.

Diese inneren Widersprüche werden in der Cash-Literatur gern Namen zugeordnet, auch von ihm selbst: In seiner Kindheit heißt er „J.R.“, wohl ein Kompromiss der Eltern zwischen „John“ und „Ray“, beim Eintritt in die Armee wird er zu „John R. Cash“, als Rockabilly-Musiker in Memphis ist er dann „Johnny Cash“.

KAPITEL 3: TEENIESTAR

Am 4. Juli 1954 landet Johnny Cash, aus der Armee ehrenvoll entlassen, in Memphis.

Er heuert bei der „Home Equipment Company“ an und wird zum erfolglosen Vertreter für Kühlschränke und andere Haushaltsgeräte. Im August 1954 heiraten Vivian und er tatsächlich, im Juni 1955 kommt mit Rosanne das erste Kind auf die Welt. Insgesamt bekommen die beiden vier Töchter. An den Wochenenden probt er mit der Band aus Automechanikern, die er in Memphis über seinen Bruder kennenlernte, mit so gut wie keinem Equipment und sehr limitierten instrumentalen Fähigkeiten.

Dass Johnny Cash von 1954 bis 1958 Künstler bei Sun Records ist, ist mehr als eine Datenlage. Seine Karriere beginnt im Zentrum der Bewegung, die die populäre Musik revolutioniert. Am 5. Juli 1954, einen Tag, nachdem Johnny Cash in Memphis angekommen ist, gelingt Sam Phillips in den Sun Studios mit Elvis Presley und „That’s Alright Mama“ (A. Crudup) der Durchbruch zum Rock ’n’ Roll. Nach Johnny Cash nimmt er Carl Perkins und Jerry Lee Lewis unter Vertrag – 1956 werden die vier als „Million Dollar Quartet“ zusammen jammen.

Lange muss der Erfolgsproduzent Sam Phillips Johnny Cash beim Vorspielen wohl nicht überreden, ihn zum nächsten Elvis zu machen, wenn er zunächst auf Gospelsongs verzichtet. Und wirklich wird er als Rockabilly-Star etwas in die Richtung des nächsten Elvis.

Vermutlich wäre Johnny Cash auch ohne diese Verbindung Musiker geworden, allerdings wohl eher konventioneller Gospel- oder Countrymusiker. Der Start im Epizentrum des Rock ’n’ Roll gibt der Karriere von Johnny Cash einen enormen Energieschub und seinem Image eine dauerhafte Prägung.

Erst drei Jahre später, 1957, veröffentlicht Johnny Cash den Song „I Was There When It Happened“ als Beiwerk auf seinem ersten Album „Johnny Cash: With His Hot and Blue Guitar“. Und erst 1959 kann er sein erstes Gospelalbum veröffentlichen.

Sam Philipps hat in den Sun Studios mit B. B. King, Howlin’ Wolf und vielen anderen zunächst afroamerikanischen Rhythm & Blues aufgenommen. Dann mischt er ihn mit Hillbilly. Nur wenn man afroamerikanischen Blues ausschließlich als getragene Klage einsamer Männer versteht, will das nicht recht zusammengehen. Doch die hochtanzbare und hochsexualisierte Musik afroamerikanischer Profimusiker für den Freitag- und Samstagabend passt hervorragend zum Hillbilly mit etwa denselben Zielen.

Musikalisch gibt es kaum Grenzen, weiße und afroamerikanische Musiker tauschen wild Songs, Stile, Arrangements untereinander. Aber die Rassentrennung erfordert Mitte der 50er noch weiße Künstler, um das weiße Mehrheitspublikum zu erreichen. Den Weißen mit dem schwarzen Feeling (und vor allem am Anfang mit Songs von afroamerikanischen Künstlern) hat Sam Phillips mit Elvis Presley gefunden. Rock ’n’ Roll stürmt das Radio, Elvis schwingt sein Becken, Mädchen kreischen.

Natürlich ist es eine ungerechte und falsche Vereinfachung, dass Rock ’n’ Roll sinnfrei von der Hüfte abwärts auf die Fans zielte, bis Bob Dylan auch das Hirn ansprach. Aber Rock ’n’ Roll Mitte der 50er im engsten Sinn ist tanzendes und singendes Werbeverhalten, eine gern auch sehr explizite Tradition von afroamerikanischen Musikern, mit weißen Performenden für ein weißes Publikum etwas domestiziert.