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"Ich bin an dem Tag geboren, an dem die Sonne ihren höchsten Punkt im Jahr erreicht und zu der Stunde, in der ihr Schatten am längsten ist, in einem Land, in dem viel gekämpft wurde, viel gelitten, viel gehofft, viel gebetet, in einer Zeit, in der niemand wusste, wohin genau wir gingen und sich jeder wünschte, dass es irgendwann besser werden würde. Ich war der Sohn eines Mannes und einer Frau, die sich nicht besonders liebhatten und sich auch nicht besonders hassten, ein Kaufmann und eine Hebamme. Ich bekam einen Namen, der schon seit Generationen dem ersten Sohn in der Familie gegeben wird, als Zeichen der Verbundenheit mit dem fernen Vorvater des Volkes, dem ich angehöre Ich war stolz, ja Auf diesen Namen Ich sprach ihn gerne laut aus" Sein Name war Judas und sein Kuss veränderte die Welt. Lot Vekemans gibt dem Jünger, der Jesus verriet, ein Gesicht und eine eigene Geschichte. Und sie lässt ihn fragen stellen. Zum Beispiel: Was wäre gewesen, wenn ich in Gethsemane bei Jesus geblieben wäre? Was wäre aus ihm geworden? Und was wäre aus mir geworden. Und vor allem: Was wäre aus uns allen und dem Christentum geworden?
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Veröffentlichungsjahr: 2017
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© 2017 Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH
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Judas begrüßt die Leute, die eintreten, weist freie Plätze an, begleitet Leute an ihren Platz. Wenn es den Anschein hat, dass alle drinnen sind, sagt er zum Saalpersonal:
Alle drinnen?
Sind alle drinnen?
Noch ein paar Leute?
Nein?
Kein Einziger?
Nein?
Niemand mehr?
Er geht zur Tür, schaut nach, ob noch jemand kommt. Wenn deutlich ist, dass wirklich alle drinnen sind, kommt er wieder zurück.
Okay
Er hält den Daumen hoch Richtung Techniker. Lichtwechsel
Dann schaut er in den Saal. Kurze Stille
Ist hier jemand, der mich nicht kennt?
Nein?
Ja?
Na ja, ist auch egal
Alles wird von selbst klar werden
Hoffe ich
Ich fange gleich an
Ich meine, ich habe schon angefangen, aber gleich fange ich richtig an
Ich dachte, es wäre gut, bevor wir richtig anfangen
Dass ich dann
Bevor ich richtig anfange
Das ein oder andere erkläre
Ich meine
Vielleicht haben einige hier bestimmte Erwartungen
Bestimmte Erwartungen, die ich wahrscheinlich nicht erfüllen werde
Also, ich will eigentlich jetzt schon sagen
Erwartung ist schön und gut, aber sagt natürlich nichts über das, was da kommen wird
Es sei denn, Sie sind Wahrsager oder Hellseher
Das ist was anderes
Dann sagen die Erwartungen wahrscheinlich schon etwas über das, was da kommen wird
Oder was da möglicherweise kommen wird
Ja, ich muss vorsichtig sein mit dem, was ich sage, denn eh man´s sich versieht, dreht man mir die Worte im Munde um oder ich könnte auch sagen: Werden sie einem anders ausgelegt
Ich werde mein Bestes tun, so genau wie möglich zu sein
Heute Abend
Um so genau wie möglich zu sagen, was ich meine
Ich werde gleich das eine oder andere erzählen
Wenn ich gleich wirklich anfange, meine ich
Von mir
Und einem Mann
Von einem Mann und mir
Und noch ein paar Leuten
Es ist eine bekannte Geschichte
Jedenfalls teilweise
Was die Tatsachen angeht
Und es ist eine unbekannte Geschichte
Was ich erzählen will, ist die unbekannte Geschichte
Und darum fange ich nicht am Anfang an
Und auch nicht am Ende
Sondern irgendwo mittendrin
Und auch wenn Sie vielleicht denken: Das kenn ich doch alles schon
Oder: Den Teil können wir überspringen
Dann möchte ich Sie dennoch bitten
Ihm fällt plötzlich etwas ein. Ich muss noch eben etwas ...
Ich hab was vergessen
Nur ganz kurz, ja
zumPublikum Bin gleich wieder da
Er verlässt den Saal, kommt kurz danach mit der Geldkasse wieder, stellt sie auf den Tisch, er bleibt einen Augenblick still, unbehaglich.
Okay, dann fangen wir jetzt an
Wie ich bereits sagte ...
Ich sprach über Erwartungen und ...
Es tut mir leid, ich muss doch noch schnell etwas los werden
Es ist mir sehr unangenehm, darüber zu reden, aber …
Ich muss es doch ansprechen
Bevor ich weitermachen kann
Irgendjemand hier …
Es ist mir wirklich sehr unangenehm
Aber irgendjemand hier
In diesem Saal
Wurde mir gerade gesagt
Jemand in diesem Saal
Ich weiß nicht wer
Also kann ich auch niemand direkt anschauen
Aber die Kassiererin hat mir gerade gesagt, dass jemand in diesem Saal noch nicht
Bezahlt ... hat
Schauen Sie, vielleicht kommt Ihnen das unwichtig vor
Unbedeutend
Ich will daraus auch keine große Sache machen
Aber es ist nicht ... anständig
Über Ehrlichkeit will ich gar nicht erst reden
Ich meine, was ist ehrlich?
Ich hab immer gesagt: Ehrlich ist, wenn man in den Spiegel schauen kann.
Aber ich habe eine ganze Menge unehrlicher Leute gesehen, die lautstark behaupteten, in den Spiegel schauen zu können
Ich mein ja nur, Ehrlichkeit ist ein schwieriger – heikler
Ehrlichkeit ist ein heikler Begriff
Darüber werde ich also nicht sprechen
Aber es ist nicht anständig
Ich habe von Anfang an gesagt
Von dem Moment an, in dem diese Idee entstand:
Ich muss damit nicht unbedingt was verdienen
Nein, darum geht es mir nicht
Aber ich will auch nicht draufzahlen
Schauen Sie, wir wissen doch alle, was die Dinge so kosten
Dass Dinge etwas kosten
Auch für mich
Gut, ich will echt keine große Sache draus machen
So wichtig ist es natürlich auch wieder nicht
Aber ich will es doch gesagt haben
Ich sag nur, wem der Schuh passt ...
Okay
Ich fange an
Es ist wieder einen Augenblick still.
Mein Assistent hat vorgeschlagen, mit einem ... Witz? ... anzufangen
Was Leichtem
Was zum Lachen
„Das mögen die Leute“
Ist hier jemand, dem die Idee gefällt, mit einem ... Witz? ... anzufangen
Nein?
Ja?
Um nochmal ganz von vorne anzufangen
Ein Neuanfang sozusagen
Okay?
Er erzählt einen Witz, wartet auf Reaktionen, und egal, wie die ausfallen, erzählt er noch einen Witz, lacht vielleicht selbst auch darüber, dann plötzlich:
Jajajajaa
Ich rede nicht einfach so daher
Vielleicht sieht es so aus, als ob ich hier die Zeit totschlage
Als ob ich das Vorprogramm zur versprochenen Hauptdarbietung bin
Das, wofür Sie alle gekommen sind
Aber das ist nicht so
Das gehört alles dazu
Das ist alles Teil des Geschehens sozusagen
Ich weiß ganz genau, wie das geht: „Sprechen in der Öffentlichkeit“
Wie man eine Geschichte aufbaut
Eine Einführung
Einen Spannungsbogen
Einen roten Faden
Einen Höhepunkt
Die Botschaft
Und so weiter
Ich habe jahrelang einem Mann zugehört, der das ungewöhnlich gut beherrschte
Ungewöhnlich gut, das kann man schon sagen
Zugehört und zugeschaut
Natürlich
Denn ein Mensch sagt mehr als seine Worte
Auch das habe ich gelernt
Ich will Euch was erzählen
Von mir, ja
Ich bin an dem Tag geboren, an dem die Sonne ihren höchsten Punkt im Jahr erreicht und zu der Stunde, in der ihr Schatten am längsten ist, in einem Land, in dem viel gekämpft wurde, viel gelitten, viel gehofft, viel gebetet, in einer Zeit, in der niemand wusste, wohin genau wir gingen und sich jeder wünschte, dass es irgendwann besser werden würde.
Ich war der Sohn eines Mannes und einer Frau, die sich nicht besonders liebhatten und sich auch nicht besonders hassten, ein Kaufmann und eine Hebamme. Ich bekam einen Namen, der schon seit Generationen dem ersten Sohn in der Familie gegeben wird, als Zeichen der Verbundenheit mit dem fernen Vorvater des Volkes, dem ich angehöre.
Ich war stolz, ja
Auf diesen Namen
Ich sprach ihn gerne laut aus
Es heißt, ich wäre ein hitzköpfiges Kind gewesen
Dass mein Vater mich verstoßen hat, aus Angst vor der Wut, die ich in mir trug
Also, das ist nicht wahr
Ich war ein Raufbold, ja1
Als ich neun Jahre alt war
Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendwer mal so richtig Angst vor mir hatte
Das ist der Anfang
Ich weiß nicht, ob es wichtig ist
Ob, woher man kommt, etwas darüber sagt, wer man ist
Das ist jedenfalls, woher ich komme
Ich hatte zwei Brüder und eine Schwester