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Der Bestseller aus den Niederlanden: melancholisch, spannend und hochemotional! Unbeholfen hatten sie sich auf dem Flughafen die Hand gegeben, Simon und sein Neffe. Ein unsicherer und schüchterner Junge, mit sehr langen Armen und gerade erst beginnendem Bartwuchs. Seine verzweifelte Mutter hatte nach Jahren des Schweigens plötzlich bei ihrem nach Calgary / Kanada ausgewanderten Bruder angerufen und ihn gedrängt, den Jungen "für eine Weile" bei sich aufzunehmen. Simons gemurmeltes "Soll er doch kommen" erweist sich bald als Fehler. Simon verliert mit der Aufnahme des Neffens seine liebgewonnene Unabhängigkeit. Es dauert nicht lange, bis die Dinge zwischen den beiden schieflaufen. Er ist genervt von dem Jungen, der lieber fernsieht, Pizza bestellt und jammert, er wolle in die Rocky Mountains. In einem Anfall von Nachsicht gibt Simon nach: ein Tagesausflug also. In einem Fast-Food-Restaurant treffen sie auf zwei begeisterte Bergwanderer: Vater und Sohn. Sie nehmen den Jungen mit auf eine Tagestour, während Simon zurückbleibt und wartet. Von der Wanderung kehren die drei mit tollen Geschichten zurück. Und nicht nur das: Sie sind auf den Geschmack gekommen und wollen das kommende Wochenende in den Bergen verbringen. Das Abendessen endet mit einem Streit und einer bodenlosen Demütigung für Simon. Am nächsten Morgen ist das Rocky-Trio spurlos verschwunden; sie haben ausgecheckt, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Wie in ihren Theaterstücken gibt Lot Vekemans auch in ihrem zweiten Roman Einblick in die dunklen Räume der menschlichen Seele, indem sie nach den verborgenen Beweggründen für unser tägliches Tun sucht.
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Seitenzahl: 263
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Lot Vekemans
Der Verschwundene
Roman
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Umschlag
Titel
Impressum
Der Verschwundene
Originaltitel:
Lot Vekemans: De verdwenene
© Cossee
Diese Übersetzung wurde von der
niederländischen Stiftung für Literatur gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2023
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Eva Mutter (evamutter.com)
ISBN (Print) 978-3-8353-5534-7
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8502-3
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8503-0
Im Nachhinein erwies sich seine Vorahnung von dem Jungen als richtig. Ab dem Moment, da Simon ihn in der Ankunftshalle des Flughafens von Calgary sah, ahnte er, dass es keine gute Idee gewesen war. Der Junge hier, bei ihm. Natürlich konnte er noch nicht wissen, was sein Kommen genau bedeuten würde. Hätte er es gewusst, hätte er ihn mit dem erstbesten Flugzeug wieder nach Hause geschickt. Zurück in die Niederlande, dem Land, das er vor fast fünfundzwanzig Jahren mit dem Vorhaben verlassen hatte, nie wieder dorthin zurückzukehren.
Seine Schwester hatte es für eine gute Idee gehalten, wenn ihr ältester Sohn ein paar Wochen, ein paar Monate, Gott weiß wie lange, bei ihm bliebe. Weil er »vom Weg abgekommen war«. Sie hatte es mit einem verzweifelten Schluchzen in der Stimme so gesagt. Mit einem Schluchzen, für das er empfänglich war. In Wirklichkeit meinte sie natürlich, dass sie keine Ahnung hatte, was sie mit ihrem ältesten Sohn anfangen sollte, und so ging es eher um ihr eigenes Versagen, das sie nicht mehr ertragen konnte, als um das Versagen des Jungen.
Simon war nicht begeistert gewesen. Er hatte nicht gesagt: »Soll er doch kommen. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.« Das Letzte vielleicht, das Letzte hatte er vielleicht gemurmelt. »Wir werden sehen, was dabei herauskommt« und dann »soll er doch kommen«. Ein Fehler, der sein Leben auf den Kopf stellen sollte.
Der Junge saß in der Ankunftshalle auf dem Fußboden und wartete auf ihn, lässig gegen seinen Rucksack gelehnt. Er trug eine abzippbare Wanderhose und einen knallgrünen Sweater mit Kapuze, die er weit über den Kopf gezogen hatte. Mit seinem Zwei-Wochen-Bärtchen sah er deutlich älter aus als sechzehn.
Als Simon näher kam, sah er, dass der Junge Bergschuhe trug. Er seufzte. Er hatte seiner Schwester absolut klargemacht, dass sie nicht in den Bergen waren. Das hier war Calgary. Eine Stadt mit über einer Million Einwohnern, wo Männer im Anzug und Frauen mit Stöckelschuhen das Sagen haben. Eine Stadt, gebaut auf Öl und Gaseinnahmen, mit einem Zentrum voller Bürotürme, die jeden Sonnenstrahl davon abhielten, die Straße zu erreichen. Kein Mensch hier trug Bergschuhe, es sei denn, sie waren auf dem Weg in die Rockys, oder kamen zurück. Zu denen gehörte er nicht, und er hatte seiner Schwester klipp und klar gesagt, dass er nicht vorhatte, mit dem Jungen in diese Richtung zu gehen. Er hätte es übrigens nicht mal gekonnt, mit seinem kranken Bein, aber wie schlimm es war, hatte er seiner Schwester verschwiegen. Schon seit Monaten hatte er eine Wunde am Schienbein, die einfach nicht heilte, und er konnte kaum länger als zehn Minuten am Stück gehen.
Der Junge hob die Hand, als er ihn entdeckte, und rappelte sich auf. Er warf sich seinen Rucksack über die Schulter und nahm einen kleineren Rucksack und eine gelbe See-buy-fly-Plastiktüte vom Boden.
»Hallo«, sagte er, als er vor Simon stand. Sie gaben sich die Hand.
»Hattest du einen guten Flug?«, fragte Simon. Der Junge nickte. Steif standen sie sich gegenüber.
»Tja, dann werden wir mal«, sagte Simon. Er ging vor dem Jungen her Richtung Parkplatz und bemühte sich, den kleinen Hüpfer, mit dem er sein linkes Bein entlastete, möglichst gut zu verbergen. Sein Auto, ein alter Honda, stand eingeklemmt zwischen einem Jeep und einem Land Rover. Simon öffnete die Heckklappe, und mit Schwung warf der Junge sein Gepäck in den Kofferraum. Nur die gelbe See-buy-fly-Tüte behielt er bei sich.
»Ist die für mich?«, fragte Simon.
»Wenn du nett zu mir bist«, sagte der Junge.
»Das könnte noch problematisch werden.«
Der Junge grinste, als hätte er einen Scherz gemacht.
Schweigend fuhren sie über den Außenring zur Südseite der Stadt, wo er ein Apartment in einem kleinen Gebäudekomplex hatte, an der Kreuzung von zwei Ausfallstraßen. Wenn man das Wohnzimmerfenster öffnete, hörte man den ganzen Tag den rasenden Verkehr, der in die Stadt hinein oder aus ihr hinaus strömte. Das war ihm egal. Es war sein erstes eigenes Apartment, aus dem niemand ihn vertreiben konnte. Nach über zehn Umzügen in zwanzig Jahren war das die größte Beute in seinem Leben.
Unterwegs schaute der Junge aus dem Fenster zu den Autos und Verkehrsschildern. Calgary lag in einer kahlen Ebene, und von der vierspurigen Autobahn aus tauchte über der steil ansteigenden Böschung nur ab und an verstreute Bebauung auf.
Hier gab es keinerlei Spuren der spektakulären Landschaft, sicherlich nicht an dieser Seite der Stadt, wo sogar der Ausblick auf die Rocky Mountains weit weg war.
»Hast du Hunger?«, fragte Simon.
»Immer.«
Er bog bei Glenmore Landing ab. Er mochte diesen Ort. Als er seine Hunde noch hatte, ging er hier jeden Samstag spazieren. Er parkte sein Auto mitten auf dem Parkplatz. »Du hast die Wahl: Hamburger oder Pizza.«
Einen Moment später saßen sie mit einem doppelten Cheeseburger an einem Tisch am Fenster, mit Aussicht auf den Parkplatz. Der Junge zeigte auf ein Mountainbike, das draußen im Fahrradständer stand. »Das Rad da ist nicht abgeschlossen«, sagte er.
»Nichts ist hier abgeschlossen.«
Der Junge machte große Augen. »Also kann ich das einfach klauen?«, fragte er.
»Das glaube ich kaum.«
»Warum nicht?«
»Weil ich dir dann eine runterhaue.«
Der Junge ging in Deckung wie ein Boxer. »Bäng bumm«, sagte er.
»Soll ich jetzt Angst kriegen?«
Der Junge ließ die Arme sinken und nahm einen großen Bissen von seinem Cheeseburger. Er kaute kaum, bevor er schluckte.
Es wunderte ihn, wie sehr sich der Junge verändert hatte. Das letzte Mal, das er ihn gesehen hatte, war vor fünf Jahren gewesen, als er nach langem Drängen zum ersten Mal zurück in die Niederlande gekommen war, weil sein Vater fünfundsiebzig wurde. Damals war der Junge erst elf, ein schlaksiges Kerlchen mit Armen und Beinen, die sich in alle Richtungen zu bewegen schienen. Seine dunklen Locken steckten unter einer schwarzen Baseballkappe, auf der sein Name gestickt war: Daan. Jetzt war er fast einen Kopf größer als Simon.
Der Junge stand auf, um einen zweiten Becher Cola zu holen. Er hatte einen trägen, federnden Gang, als würde er im Zeitlupentempo über eine Hüpfburg laufen. Mit einem übervollen Becher kehrte er langsam zurück, um nicht zu kleckern, und er schlürfte einen ersten Schluck ab. Cola tropfte in sein Bärtchen.
»Was soll dieser Bart übrigens?«, fragte Simon.
»Was?«
»Dieser Bart.«
»Was soll damit sein?«
»Hast du den schon lange?«
»So lang ist der nicht«, antwortete der Junge.
»Lässt du den Witzbold raushängen?«
Der Junge grinste und setzte sich hin.
»Und kommt die Kappe noch runter?«
Der Junge schob die Kapuze zurück. Seine Locken waren steif vom Gel und würden wahrscheinlich abbrechen, wenn man mit den Fingern darüberstriche.
Simon schaute auf seine Armbanduhr. Es war vier Uhr, was für den Jungen bedeutete, dass es sich wie Mitternacht anfühlte. Kurz spürte er Panik, als ihm klar wurde, dass der Junge gleich wirklich bei ihm zu Hause wäre. Er hatte noch nie Logierbesuch gehabt, geschweige denn einen Mitbewohner. Bis zu diesem Moment war er immer derjenige gewesen, der aufgefangen wurde.
In den fünfundzwanzig Jahren, die Simon in Kanada lebte, war an jedem Schnittpunkt in seinem Leben unerwartet Rettung aufgetaucht. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen aufgelösten Eindruck hätte machen wollen, auf wen auch immer und in welcher Situation auch immer, aber dennoch war an einem Schnittpunkt immer jemand da gewesen, der ihm einen Schubs in die richtige Richtung versetzt hatte. Möglicherweise gab es auch keine richtige Richtung, und die Schubse hatten seine Richtung bestimmt, und er hatte sich wie ein Hamster bei einem Hamsterrennen so schnell wie möglich in das nächstbeste Häuschen gerettet. Es war egal. Everything is for a reason. Daran glaubte er schon sein gesamtes Leben lang.
Simons erster Retter war sein Onkel gewesen, und auch wenn er ihn wegen der Kacke, in die er ihn geritten hatte, jahrelang nicht hatte sehen oder sprechen wollte, wusste er, dass er ohne ihn niemals nach Kanada gegangen wäre. Er wäre zwangsläufig in einer hoffnungslosen Imitation seines Zwillingsbruders Ruud erstickt, der ihm auf Zellenniveau ähnelte wie ein Ei dem anderen, aber nur da. Schon jahrelang sprachen sie nur an ihrem Geburtstag miteinander. Zehn Minuten telefonieren, fragen, wie es geht, antworten, dass es gut geht, ein paar Höflichkeiten über Arbeit und Gesundheit austauschen und einander zum Abschluss ein gutes neues Lebensjahr wünschen. Wenn das Ritual vorbei war, legten sie auf, und es dauerte 365 Tage, bis sie sich wieder sprachen. Viele Leute fanden das seltsam. Simon nicht. Wenn er länger mit seinem Bruder redete, ergab sich eine Meinungsverschiedenheit, und nach dieser Meinungsverschiedenheit folgte ein Wortwechsel und nach diesem Wortwechsel ein Streit. Auch das war ein Ritual, das sie nicht durchbrechen konnten.
Simon wusste nicht mehr genau, wann die Idee, nach Kanada zu emigrieren, in seinem Kopf entstanden war. Er wusste nur, dass sie eines Tages da war und er sich ab diesem Moment sicher war, dass er gehen würde. Drei Jahre hatte es gedauert, ein Visum zu bekommen, und kein einziges Mal hatte er gezweifelt. Er hatte sich entschieden, und über gefallene Entscheidungen brauchte man nicht mehr nachzudenken. You gotta walk and don’t look back. Er hatte es keinen einzigen Tag bereut. Inzwischen war es fast fünfundzwanzig Jahre her, dass er auf Schiphol mit einem großen Koffer und einem roten Leinenrucksack mit Ledergurten eincheckte. In dem Rucksack waren ein Walkman mit fünf Kassetten mit Musik von Cuby & Blizzards, ein Portemonnaie mit fünfhundert kanadischen Dollar, ein Brustbeutel aus Leder mit seinem Ausweis und seinem wohlverdienten Visum, den er sich um den Hals hängen konnte, zwei Stifte, ein gebraucht gekaufter Fotoapparat, ein Heft und ein dünnes Büchlein mit dem Titel Geheimnisvolle Kulturen. Das Büchlein hatte er kurz zuvor auf dem Flohmarkt in Amsterdam gefunden. Der Titel hatte ihn angesprochen, und er konnte es – obwohl er noch kein Wort darin gelesen hatte – nicht zwischen den Sachen zurücklassen, die bei seiner Mutter in Kartons auf dem Dachboden landen würden. Er wollte nicht, dass die Sachen bei ihr verwahrt wurden. Er wollte die Sachen wegschaffen. Wohin, war ihm ganz egal. »Bring alles nur weg«, hatte er zu ihr gesagt. Aber sie hatte sich geweigert. Indem sie seine Sachen in Kartons auf dem Dachboden behielt, bestand noch die Chance, dass er irgendwann zurückkommen würde. Er wusste damals schon, dass so etwas nie passieren würde. Seine Mutter musste weinen am Tag seines Abflugs. Schamlos laut, sie versuchte nicht einmal, es zu verbergen. Er wusste, dass sie nicht seinetwegen weinte, sondern ihrer selbst wegen. So wie sich alles im Leben seiner Mutter um sie selbst drehte. Trotzdem umarmten sie die Menschen um sie herum, als würde ihr ein kostbarer Besitz weggenommen.
Er hatte keine einzige Träne vergossen. Er hatte auf Wiedersehen gesagt, seine weinende Mutter von sich geschoben, seiner Schwester einen Kuss gegeben, seinem Bruder die Hand gereicht und fertig.
Sein Vater war nicht da gewesen. Der wollte nicht sehen, wie er das Flugzeug nahm, um zu emigrieren. Ausgerechnet zu seinem Onkel, mit dem sein Vater schon sein Leben lang eine düstere Fehde führte und den er ohne Ausnahme »Die Firma List und Betrug« nannte. Seinen Namen, Gerard, hatte sein Vater in seiner Gegenwart niemals ausgesprochen. Dass Simon ausgerechnet zu Gerard ging, war für seinen Vater eine öffentliche Niederlage. Ein Knockout in einer einzigen Runde.
Sein Vater war davon überzeugt, dass der ganze Emigrationszirkus, wie er es nannte, Gerards Idee war. Mit dem Ziel, ihm eins auszuwischen. Simon ließ sich seiner Meinung nach ausnutzen, und sein Onkel machte ihn zur Trophäe in ihrem jahrelangen Bruderstreit. Simon fand diese Vorstellung jämmerlich. Als hätte er nicht seine eigenen Gründe, den Ozean zu überqueren. Als wäre er ein Spielball in ihrem Zerwürfnis.
Er weiß noch, wie sein Vater mit dem Rücken zu ihm gewandt dastand, als er ihn in seiner renovierten Bauernwohnung auf dem platten Land in Zeeland besuchte, um sich zu verabschieden. Hinter ihm trötete seine zweite Frau über all die tollen Chancen, die Simon in Kanada bekomme. Je schillernder sie seinen Aufbruch darstellte, desto grantiger wurde sein Vater. Halt die Klappe, hatte er gedacht, so kann er doch nichts sagen. Aber sie hielt die Klappe nicht, und sein Vater schwieg. Auch als er Simon später zum Bahnhof brachte und sie zu zweit an dem nahezu verlassenen Gleis standen und über die leeren Weiden blickten, sagte sein Vater nichts. Sie standen beide mit den Händen in den Taschen da. Simon mit offener Jacke und sein Vater mit zugeknöpfter. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie den Zug ankommen sahen.
»Tja, dann gehe ich mal«, sagte Simon, als der Zug vor ihnen stand. Kurz bevor er sich umdrehte, nahm sein Vater die rechte Hand aus der Jackentasche und streckte sie einen halben Meter vor sich aus. Simon dachte, er wollte ihm die Hand geben. Aber statt sie weiter auszustrecken, hob sein Vater die Hand an und machte eine kurze Armbewegung, wie ein Schwenken. Dann drehte er sich um und ging zurück zu seinem Auto. Lange Zeit war dieses halbe Schwenken das erste Bild, das in ihm aufkam, wenn er an seinen Vater dachte. Als würde man ihn auswischen statt ihm nachzuwinken.
* * *
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend ging der Junge die Treppe hinauf zum Apartment. Den Rucksack hatte er sich an einem Gurt über die Schulter gehängt. Simon dirigierte ihn zur zweiten Etage und dann zur ersten Tür rechts.
»Du schläfst da hinten«, sagte er, als sie kurz darauf im Flur standen. Er zeigte auf den schmalen Gang, der zum Badezimmer, seinem Schlafzimmer und seinem Musikzimmer voller Kartons führte. »Und ach ja, hier drinnen ziehst du diese Dinger aus.« Ohne Murren zog der Junge seine Bergschuhe aus. Er trug blaue Wandersocken mit einem roten, eingestrickten Buchstaben R am rechten und einem L am linken Fuß.
Simon hatte seine Wohnung gezwungenermaßen aufgeräumt und sein Bestes getan, die Spuren seiner schon Jahre dauernden Renovierungstätigkeiten zu minimalisieren. Der Fernseher stand wieder an seinem Platz, ebenso wie die Stereoanlage und das kleine Bücherregal, das mit einer bunten Sammlung Heimwerker- und Lehrbüchern, einem englischen Wörterbuch und einem Buch über Hunderassen gefüllt war. Auch Geheimnisvolle Kulturen stand noch dort. Er hatte es noch immer nicht gelesen, aber bei keinem seiner Umzüge zurücklassen oder wegtun können.
Der Junge stand im Flur und kramte in seinem Rucksack. Mit zwei Geschenken kam er ins Wohnzimmer. »Das hier ist von Oma«, sagte er und reichte ihm ein flaches Paket im A4-Format.
»Und dieses hier ist von Mama.«
Simon tastete beide Päckchen ab und legte sie aufs Sofa.
»Packst du sie nicht aus?«, fragte der Junge.
»Ich weiß eh schon, was drin ist«, sagte Simon. »In dem großen ein Fotorahmen. Wahrscheinlich ein Foto von meiner Mutter. Und das hier …« Er nahm das Päckchen seiner Schwester vom Sofa und schüttelte es. »Eine CD, schätze ich, obwohl es dafür ein wenig zu dick ist – wahrscheinlich eine Doppel-CD.«
Der Junge schaute enttäuscht.
»Okay«, sagte er. »Dann mache ich sie halt auf.« Er öffnete erst das Päckchen seiner Mutter. Es war tatsächlich ein Fotorahmen, nicht mit einem Foto seiner Mutter, sondern von der gesamten Familie.
»Das war Omas Fünfundsiebzigster«, sagte der Junge.
Seine Mutter stand in der Mitte, links von ihr der Junge und rechts sein jüngerer Bruder Jurre. Beide hatten einen Arm um die Schultern seiner Mutter gelegt. Vor ihnen kniete Lisa, die Schwester des Jungen. Links hinter seiner Mutter stand seine Schwester Hanne mit ihrem Mann Robbert, der sowohl hinsichtlich seiner Länge als auch Breite alle übertraf. Daneben sein Zwillingsbruder Ruud, rechts von ihm eine Frau, die Simon nicht kannte, bestimmt seine neue Freundin. Ruud wechselte die Freundinnen wie andere ihre Sommer- und Winterreifen. Das Foto war in Ruuds Garten aufgenommen worden. Simon erkannte das Schwimmbad im Hintergrund, das sein Bruder vor zwei Jahren hatte bauen lassen. Es war protzig groß, besonders wenn man wusste, dass sein Bruder überhaupt nicht gern schwamm. ›Relokalisierung von Kapital‹ hatte Ruud den Bau genannt, was so viel bedeutete, wie das Finanzamt übers Ohr zu hauen. Simon kapierte nicht, wie man das Finanzamt zum Narren halten konnte mit etwas, das sich so deutlich sichtbar neben dem eigenen Haus befand, aber Ruud zufolge bestand das Finanzamt ausschließlich aus Trotteln, die hinsahen, wo sie nicht hinsehen sollten, und nicht hinsahen, wo sie hinsehen müssten. Er fand die gesamte Idee der Steuererhebung sowieso blödsinnig. Menschen bestrafen, weil sie Geld verdienen, und mit dem Geld, das man ihnen abnahm, Sachen machen, die kein Mensch brauchte.
Er schaute noch immer auf das Foto. Alle waren da, außer er. Und sein Vater natürlich. Der war seit der Scheidung nicht mehr zum Geburtstag seiner Mutter gekommen. Sogar nach fünfunddreißig Jahren konnte sie nicht über ihre Opferrolle hinwegkommen.
Jahrelang hatte Simon zugeschaut, wie die Streitereien seiner Eltern entstanden, wie seine Mutter immer hysterischer wurde und sein Vater immer schweigsamer. Wie die eine die Fäuste immer öfter auf dem Tisch landen ließ und der andere sie immer tiefer in den Hosentaschen versenkte. Und obwohl sie es wahrscheinlich noch jahrelang gemeinsam hätten aushalten können – ihre Auseinandersetzungen als rituelles Suchtmittel –, änderte sich alles, als sein Vater eine andere Frau kennenlernte, die ihm nicht die ganze Zeit auf die Pelle rückte und nicht um Aufmerksamkeit bettelte. Innerhalb von drei Monaten war er aus dem Haus und ein halbes Jahr später hatte er wieder geheiratet. Seine frühere Ehefrau war als jammerndes Opfer zurückgeblieben. Eine Rolle, die sie seither mit Hingabe spielte.
»Den Rahmen hat Mama ausgesucht«, sagte der Junge, während er sich noch immer das Foto ansah. Es war ein weißer Rahmen.
»Schön«, sagte er. »Weiß. Die Farbe mag ich, das weiß deine Mutter.« Er legte das Foto neben sich.
»Wo hängst du’s auf?«
»Da«, sagte er und zeigte auf die Wand gegenüber dem Fernseher. »Wenn das Wohnzimmer fertig ist.«
Der Junge schaute zu der Wand, die mit Holzlatten verkleidet war, und aus der an verschiedenen Stellen Stromkabel ragten. Simon war schon eine ganze Weile mit der Wand beschäftigt, vor allem mit der Elektrik, die er hinter Gipsplatten verschwinden lassen wollte, was viele Meter Kabel ziehen bedeutete.
Simon wickelte den Fotorahmen wieder in das Geschenkpapier und schob ihn unters Sofa. Das Päckchen seiner Schwester ließ er noch kurz liegen. Er ging in die Küche.
»Möchtest du was trinken?«
»Hast du Cola?«, fragte der Junge.
»Cola ist Gift«, sagte er.
»Dann etwas anderes?«
Er öffnete den Kühlschrank. »Bier«, sagte er. »Oder Wasser.«
»Dann eben Bier.«
Simon nahm zwei Dosen Bier und warf dem Jungen eine davon zu. Er griff daneben und die Dose fiel hinter ihm aufs Sofa.
»Lass nur liegen«, sagte Simon. »Sonst spritzt du das ganze Wohnzimmer voll.« Er nahm eine neue Dose aus dem Kühlschrank und stellte sie auf die Holztheke, die er zwischen Küche und Wohnzimmer gezimmert hatte. Der Junge öffnete die Dose vorsichtig.
»Du darfst doch Bier trinken, oder?«, fragte Simon.
»Klar«, sagte der Junge. Unbeholfen lehnte er an der Theke und trank sein Bier, als wäre es Cola.
Simon konnte noch immer nicht glauben, dass da der älteste Sohn seiner Schwester stand. Seiner kleinen Schwester, um genau zu sein, die für ihn noch immer nicht älter als zwanzig war. Eine Studentin, keine Mutter von drei Kindern, keine Frau mit einem Mann und einem Haus mit einem Kredit. Das ging ihm einfach nicht in den Kopf. Er sah noch vor sich, wie sie aus dem Haus ging, um in Rotterdam zu studieren. Er hatte ihr beim Umzug in ein Dachzimmer geholfen, in das nur ganz knapp ein Bett, ein Tisch und ein Schrank passten. Seine Schwester war entzückt gewesen. Endlich weg von zu Hause. Natürlich verstand er, dass sie erleichtert war, befreit von dem Gejammer und den Fragen ihrer Mutter. Und sich freute über ihre errungene Selbstständigkeit. Letzteres war natürlich ein Missverständnis. Niemand aus ihrer Familie war jemals wirklich selbstständig geworden. Selbstständig im Sinne von selbst stehend, unabhängig vom Rest. Er war da wahrscheinlich noch am nächsten dran, viele Jahre war es ihm sogar schlichtweg gelungen, weil er als Einziger in der Familie bereit gewesen war, den Preis für diese Selbstständigkeit zu bezahlen. Er konnte sich zum Alleinsein verhalten, und lange Zeit hatte er gedacht, das sei seine Rettung. Wissen, wie man jeden Tag allein aufsteht und allein ins Bett geht, allein aß, ohne sich zu beratschlagen, seine eigenen Entscheidungen traf. Er hatte Übung darin bekommen. Über fünfundzwanzig Jahre lang. Alleinsein war seine zweite Natur geworden.
Der Junge drückte seine Bierdose zusammen und rülpste.
»Sorry«, sagte er. »Ich habe zu schnell getrunken.« Er hielt die zusammengedrückte Dose hoch.
»In der Küche ist ein Mülleimer.«
Er ging in die von Neonlicht erleuchtete Küche und warf die Dose brav weg. Danach wusch er sich die Hände.
»Wenn du duschen möchtest«, sagte Simon.
»Nein, geht schon«, sagte der Junge.
»Etwas anderes?«
Er zuckte die Achseln.
»Oder möchtest du schon schlafen gehen?«, fragte Simon.
»Vielleicht später. Man sagt ja, man sollte am besten möglichst lange aufbleiben.«
»Wer sagt das?«
»Ich weiß nicht. Ich hab’s gegoogelt.«
»Was?«
»Wie man einen Jetlag am besten vermeidet.«
Er schüttelte den Kopf. Machten Sechzehnjährige sich heutzutage darüber Gedanken?
Simon stand auf. »Komm, ich zeig dir mal dein Zimmer.«
Er ging vor ihm her zu seinem eigenen Schlafzimmer. Es war ein mittelgroßer Raum mit einem kleinen Doppelbett und zwei umgedrehten Holzkisten, die als Nachtschränkchen dienten. Sonst standen nur noch ein alter Ledersessel mit einem Riss in einer der Armlehnen dort und ein großer weißer Kleiderschrank. Den hatte er für den Jungen leergeräumt. Der Inhalt stand in drei aufeinandergestapelten Kartons in der Ecke. Das Zimmer hatte lange nicht mehr so aufgeräumt ausgesehen.
»Schlafe ich hier?«
»Nicht gut?«
»Doch, ja, total gut, sehr gut, ausgezeichnet sogar.« Er schwieg einen Moment, bevor er fragte: »Aber wo schläfst du denn?«
»Ich schlafe auf dem Sofa.«
Simon hatte lange über die Schlafplätze nachgedacht und schließlich beschlossen, dass er die meiste Bewegungsfreiheit hätte, wenn er das Wohnzimmer zu seinem Reich erklären würde.
Der Junge stellte seinen Rucksack aufs Bett.
»Dann lass ich dich mal in Ruhe, okay?« Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte Simon sich um und ging zurück ins Wohnzimmer. Er hörte, wie der Junge die Schlafzimmertür schloss. Ein Luftstrom entwich Simons Mund. Zu klein für einen Seufzer, aber zu groß, um ihn nicht zu bemerken. In Gedanken sah er sich einen Strich an die Wand malen.
* * *
Am ersten Morgen hatte er dem Jungen erklärt, wie er mit dem C-Train ins Zentrum fahren konnte und ihm Tipps für ein paar Sachen gegeben, die sich lohnten. In Wirklichkeit gab es nur wenig in Calgary, das sich lohnte, aber Simon fand, dass er das selbst entdecken sollte. Der Junge hörte ihm kaum zu. Als Simon abends nach Hause kam, saß er noch immer im Schlafanzug auf dem Sofa und spielte Games auf seinem Handy.
»Noch was unternommen?«, fragte Simon.
»Ich war müde.« Einen Moment lang ließ der Junge von seinem Handy ab.
Simon ging in die Küche und nahm eine Dose Bier aus dem Kühlschrank. »Hast du deine Mutter angerufen?«
»Sie lässt dich grüßen«, sagte der Junge.
»Hat sie sonst noch was gesagt?«
»Glaub nicht.«
Er nahm einen Schluck Bier und realisierte, dass er dem Jungen genau dieselben Fragen stellte, die ihm vor fünfundzwanzig Jahren bei seiner Ankunft in Vancouver gestellt worden waren.
Seine Cousine Cynthia hatte ihn abgeholt und ihn umarmt wie einen lieben Bruder, obwohl sie sich kaum kannten. Zu seinem großen Erstaunen ließ sich sein Onkel nirgends blicken. Ursprünglich sollte er die ersten Monate bei ihm bleiben. Cynthia zufolge war ihr Vater an diesem Morgen unerwarteterweise für Geschäfte nach Winnipeg gerufen worden. Simon würde vorläufig bei ihnen bleiben. Sie hatte ihn mitgenommen zu ihrem Haus in Richmond mit einem Vorgarten, einer Auffahrt und einer Terrasse mit blau glasierten Pflanzentöpfen. In seinem Zimmer standen ein Schreibtisch aus Walnussholz und ein Ledersessel, und auf seinem Bett lagen zwei Handtücher mit einem Lavendelsäckchen darauf. All seine Sachen hoben sich armselig ab gegen die Sachen in diesem Zimmer. Genau wie sein heutiges Apartment sich armselig abhob gegen alles, was der Junge gewöhnt war. Das Apartment glich dem Haus seiner Schwester in keinerlei Hinsicht. Bei ihr bekam man das Gefühl, in eine Wohnzeitschrift zu steigen.
Simon nahm Möhren, Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten und holte Hackfleisch aus dem Kühlschrank. Mit der Klinge eines großen Kochmessers zerdrückte er den Knoblauch und schnitt Zwiebeln in perfekte Ringe. Er musste an seine erste eigene Bleibe in der Nähe der Druckerei denken, bei der er über Cynthia einen Job als Wartungsmonteur bekommen hatte. Zwei Zimmer im Kellergeschoss eines Hauses. Im Schlafzimmer war neben dem Einzelbett eine Art begehbarer Schrank aus Pappe mit einer Dusche gebaut worden. Die Schimmelflecken weichten allmählich Löcher in die falschen Fliesenwände. Im Wohnzimmer stand eine uralte Küche mit einer elektrischen Kochplatte. Er lernte zahllose Eintöpfe darauf zuzubereiten. In seiner Erinnerung war er glücklich, obwohl sein Onkel es bei seinem ersten Besuch eine Spelunke genannt hatte.
Simon rührte mit einem Kochlöffel durch das gebratene Hackfleisch mit Zwiebeln und gab dann die Tomaten und Möhren hinzu. Der Junge hing quer über dem Sofa, seine Füße berührten die Sitze nur knapp nicht.
»Gefällt dir das Zimmer?«, fragte er.
»Ganz in Ordnung«, antwortete der Junge ohne aufzusehen.
Als sie kurze Zeit später mit einem Teller Nudeln nebeneinander an der Küchentheke saßen, sprachen sie kein Wort. Sie schauten vor sich hin zu den schmutzigen Töpfen auf der Anrichte. Simon durchbrach die Stille.
»Was machst du morgen?«
Der Junge hob die Schultern.
»Ich kann dich auf dem Weg zur Arbeit irgendwo absetzen.«
Wieder hob der Junge die Schultern, während er endlos Spaghetti auf seine Gabel drehte. Kleine Tröpfchen Tomatensoße spritzten über seinen Tellerrand. Simon wischte sie mit seiner Serviette weg.
»Was für Arbeit machst du eigentlich?«, fragte der Junge.
»Ich fräse Bohrgestänge«, brummte Simon. »Nichts Besonderes.«
Er arbeitete schon seit ein paar Jahren in einer Maschinenfabrik, wo er Bohrrohre für Ölbohrer auf genau den richtigen Durchmesser fräsen musste. Er arbeitete allein, und wenn es gut lief, bekam er alle drei Tage zwei fertig. Seine Kollegen waren allesamt Koreaner, die kein Wort Englisch sprachen, oder jedenfalls nicht mit ihm. Ihr hektisches Gequake nervte ihn oft, und er war froh, dass sie ihn in Ruhe ließen. Nie setzte sich beim Mittagessen jemand zu ihm an den Tisch, nie grüßte ihn jemand. Und genau so hatte er es gern. Er kam zum Arbeiten dorthin, und das war alles.
»Klingt langweilig«, sagte der Junge.
»Was möchtest du denn später arbeiten?«
Der Junge dachte kurz nach. »Sowas wie Onkel Ruud könnte ich mir vorstellen.«
»Nennst du das Arbeit?« Simon nahm die Teller von der Theke und stand auf. Ruud produzierte Jingles für deutsche Werbung. Liedchen, die bis in alle Ewigkeit hängen bleiben sollten. Simon fand sie alle gleich schrecklich. Während er den Abwasch erledigte, blieb der Junge auf seinem Hocker sitzen. Simon konnte seine Laschheit nur schwer ertragen. Selbst hatte er sein ganzes Leben lang fast nichts anderes gemacht als zu arbeiten. Urlaub kannte er nicht. Das war ein Wort, an das er sich nur aus seiner Jugend erinnerte. Wenn er einen Tag lang nicht arbeitete, bekam er kein Geld, und weil er es sich nicht leisten konnte, einen Tag nichts zu verdienen, arbeitete er immer. Es gab Zeiten, da er drei Jobs hatte, um sich über Wasser halten zu können. Er hatte sich nie darüber beklagt. Nicht jammern, hatte er oft zu sich selbst gesagt.
Er trocknete die Teller und Töpfe ab und stellte alles zurück in den Schrank. Als er sich umsah, starrte der Junge schon wieder auf sein Handy.
»Was machst du bloß die ganze Zeit auf diesem Ding?«
»Nichts Besonderes, daddeln eben«, antwortete der Junge.
Simon schüttelte den Kopf und blätterte durch die Reklameblättchen, die jede Woche in seinem Briefkasten lagen. Jedes Mal wieder staunte er über die Angebote von Toilettenpapier, Erfrischungsgetränken, Raumspray, abgepacktem Fleisch. Wie konnten die Leute, die daran gearbeitet hatten, um Himmels willen noch etwas verdienen? Die Armen hielten die Armen arm und die Reichen machten die Reichen reich. So lief es überall und immer.
»Du kannst besser in dein Zimmer gehen«, sagte er zu dem Jungen. »Ich möchte gern schlafen. Ich muss morgen wieder früh raus.«
»Okay«, sagte der Junge nur und schob sich von seinem Barhocker.
Simon nahm sechs Scheiben Brot aus der Tiefkühltruhe und bestrich sie mit Butter. Das Messer schabte über die gefrorene Fläche. Er belegte zwei mit Käse, zwei mit Salami und bestrich zwei mit Erdnussbutter. Er legte die Brote in eine Plastikdose, die er in den Kühlschrank stellte. Danach schlich er ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Erst zwei Tage vorbei, dachte er, als er danach im Dunkeln auf dem Sofa lag. Er war noch nie so froh gewesen, am nächsten Tag zur Arbeit gehen zu können.
* * *
Simon war ein geregeltes Leben gewohnt, in dem er sich an den Ritualen festhielt, die ihm Sicherheit gaben, und sich in die Routinen fügte, die von ihm verlangt wurden. Reinheit, Ruhe und Regelmäßigkeit, so erinnerte er die drei Rs. Jeden Tag arbeitete er von acht bis vier in der Fabrik und kaufte danach bei Co-op ein. Er kochte jeden Abend, darauf war er stolz. Samstags verdiente er sich als Monteur etwas dazu. Die verbleibende Freizeit verwendete er für die Renovierung seines Apartments, ebenso wie das Geld, das von seinem Gehalt übrigblieb. Er wusste, dass seine beste Zeit hinter ihm lag. Das war kein Selbstmitleid, sondern eine objektive Tatsache. Seine Gesundheit würde sich nur noch mehr verschlechtern, wodurch er immer weniger würde arbeiten können und weniger verdienen würde. Die Chance auf irgendeine Liebe, die sich sowieso nie als groß erwiesen hatte, nahm jedes Jahr exponentiell ab. Die Ankunft des Jungen machte ihm das alles mehr denn je klar. Er hielt ihm unbeabsichtigt einen Spiegel vor, der ihm die Falten und die Augenränder und das immer schütterer werdende Haar zeigte. Seine Augenlider waren im Laufe der Jahre immer schlaffer geworden und ähnelten Sonnenschirmen, die das gesamte Licht zurückhielten und Schatten über seine Zukunft warfen. Er realisierte, dass er nicht mal mehr an die Zukunft dachte. Er hatte keine Wünsche oder Sehnsüchte. Er lebte, wie er bei seiner Arbeit bezahlt wurde, Tag für Tag. »Carpe diem«, hatte Ruud letztes Jahr auf seinen linken Oberarm tätowieren lassen. Simon hatte ihn ausgelacht. »Du bist bestimmt wieder an so einem jungen Ding hängen geblieben«, hatte er gesagt. Ruud hatte zustimmend gelacht. Simon hatte nie begriffen, was junge Frauen anziehend fanden an älteren Männern mit Bauch und zurückgehendem Haaransatz. Sie konnten doch nicht alle auf der Suche nach einer Vaterfigur sein. Bei Ruud erlebten sie dann sowieso einen Reinfall. Mit ihm holte man sich eher ein kleines Kind als einen Vater ins Haus. Ruud, der sich mit seinem Spielzimmer brüstete, in dem ein Billardtisch, ein Flipperautomat und ein Tischfußballspiel standen. Eine Welt, in der eine schöne junge Frau lediglich als Pin-up-Girl willkommen war. »Mann, du bist einfach nur neidisch«, erwiderte Ruud höhnisch in ihrem letzten Telefongespräch. »Wann gibst du das endlich mal zu? Dass ich lebe wie ein junger Gott und du wie ein gescheiterter Migrant.«