Jugendliche zwischen Krise und Störung - Annette Streeck-Fischer - E-Book

Jugendliche zwischen Krise und Störung E-Book

Annette Streeck-Fischer

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Beschreibung

Jugendliche verstehen und behandeln - Differenziert: Was zeichnet die Adoleszenz aus und wann spricht man von einer Adoleszenzkrise? - Anschaulich: Was die Psychotherapie mit Jugendlichen besonders macht - Praktisch: Fallstricke in der Therapie Jugendlicher kennen und damit umgehen Jugendliche halten Erwachsenen einen Spiegel vor. Sie machen auf gesellschaftliche Mängel aufmerksam, reagieren auf die Hypokrise der Elterngeneration und demonstrieren gegen eine Politik, die sich unzureichend um ihre Belange und ihre Zukunft kümmert. Aber was, wenn sie in ihrer Entwicklung in eine Krise geraten? Dieses Buch befasst sich mit den Fragen, die für die Psychotherapie von Jugendlichen in der Adoleszenz von Bedeutung sind: - Sind Jugendliche heute "anders" als früher? - Wie wird die Adoleszenz heute bewältigt? - Ist ein grundlegendes Umdenken erforderlich, um aktuelle Erscheinungsformen von Adoleszenzkrisen und adoleszenten Störungsbildern zu verstehen? Der erste Teil des Buches stellt psychische, soziale und neurobiologische Prozesse dar sowie daraus entstehende Entwicklungsaufgaben, Wege der Bewältigung und Risiken, die die Adoleszenz kennzeichnen. Im zweiten Teil behandelt die Autorin praxisnah die Adoleszenz- und Identitätskrisen, wie sie im psychotherapeutischen Kontext erkennbar werden. Im letzten Teil werden die besonderen Anforderungen an eine Psychotherapie von Jugendlichen ausführlich besprochen, die auf ihre psychosozialen Bedingungen ausgerichtet ist. Anhand von Therapie-Beispielen mit "schwierigen" Jugendlichen werden schließlich häufige therapeutisch-technische Fehler diskutiert und Lösungswege vorgeschlagen. Dieses Buch richtet sich an: Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen aller Schulen, besonders PsychodynamikerInnen; Kinder- und JugendlichenpsychiaterInnen; SozialarbeiterInnen; PsychologInnen

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Seitenzahl: 398

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Annette Streeck-Fischer

Jugendliche zwischen Krise und Störung

Herausforderungen für die psychodynamische Psychotherapie

Impressum

Prof. Dr. med. habil. Annette Streeck-Fischer

Stromstraße 3

10555 Berlin

[email protected]

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Besonderer Hinweis

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Schattauer

www.schattauer.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © istock/AprilAnderton

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-40058-8

E-Book: ISBN 978-3-608-12139-1

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20510-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Die Adoleszenz – eine Entwicklungsaufgabe im Spiegel gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse

Adoleszenz – eine normative Krise?

1 Zur Adoleszenz Was ist Adoleszenz und warum ist sie so wichtig?

1.1 Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz

1.1.1 Die Veränderungen des Körpers

1.1.2 Loslösung von den Eltern

1.1.3 Neugestaltung von Beziehungen zu Gleichaltrigen

1.1.4 Selbstvertrauen und neue Wertorientierungen

1.1.5 Soziale und berufliche Entwicklung

1.1.6 Emerging Adulthood

1.2 Adam und Eva – eine Adoleszenzgeschichte

1.3 Adoleszenz und Neurobiologie

1.4 Identität – Bindung – Gleichaltrige

1.4.1 Zur Identitätsentwicklung

1.4.2 Bindungsentwicklung in der Adoleszenz

1.4.3 Die Bedeutung der Gleichaltrigen

1.5 Männlich – weiblich – divers: Krisen um den geschlechtlichen Körper

1.6 Selbst- und Identitätsentwicklung aus psychoanalytischer Sicht

1.6.1 Von der Differenzierung zur Ablösung

1.6.2 Die Frühadoleszenz

1.6.3 Kanalisierung des zunehmenden Triebdrucks – Grauen, Mutproben, Initiationsriten

1.6.4 Die eigentliche oder mittlere Adoleszenz

1.7 Spätadoleszenz

1.7.1 Phase der Entwicklung realistischer Selbst- und Objektbilder

1.7.2 Die Reinszenierung infantiler Konflikte und ihre ich-syntone Bewältigung

1.8 Eltern in der Adoleszenz

2 Adoleszenz zwischen Krise und Störung

2.1 Noch einmal zur Adoleszenzkrise

2.2 Krisen – wenn der Körper zum Austragungsort wird

2.2.1 Genderinkongruenz – Genderdysphorie – Transgender: ein Leben im falschen Körper?

2.2.2 Selbstverletzung – wenn der Körper attackiert wird

2.2.3 Essensverweigerung – Entwicklungsstillstand als Notmaßnahme

2.3 Scham und digitale Medien: Rückzug aus dem Sozialen

2.3.1 Suchtverhalten oder Verlorengehen in einer Pararealität

2.4 Wenn das Soziale bekämpft wird

2.4.1 Scham, Aggression und Gewalt

2.5 Jugendliche im Borderland – Identitätssuche in verschiedenen Welten

2.5.1 Identitätsfindung bei Migrationshintergrund

2.5.2 Borderland-Problematiken bei bi-kulturellem Hintergrund

3 Psychotherapie mit Jugendlichen

3.1 Adoleszenz und Strukturbildung – ein Beitrag zur Differenzierung

3.2 Entwicklung von Adoleszenz-Psychotherapie

3.3 Psychodynamische Therapieverfahren im Jugendalter und ihre Anwendungen

3.4 Das Gespräch

3.5 Der Fall Dora

3.5.1 Noch einmal weibliche Adoleszenz

3.5.2 Die gescheiterte Beziehung zwischen Freud und Dora

3.5.3 Fehler in der Behandlung

3.6 Was in der Therapie von Jugendlichen zu beachten ist

3.7 Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode (PiM)

3.7.1 Besonderheiten bei strukturellen Störungen jugendlicher Patienten

3.8 Zur psychodynamischen Arbeitsweise

3.9 Praktische Aspekte der Behandlung

3.9.1 Der Behandlungsbeginn

3.9.2 Aufklärung und Paktabsprachen

3.9.3 Die ersten Stunden

3.9.4 Affekte und Gefühle

3.10 Psychotherapeutische Arbeit mit den Eltern von Jugendlichen

3.11 Ein Fallbeispiel

3.11.1 Lebensgeschichtliche Bedingungen

3.11.2 Zur Therapie

3.12 Noch einmal zu Fehlern in der Behandlung

4 Gruppenpsychotherapie bei Jugendlichen

4.1 Noch einmal zur Bedeutung der Gruppe für Jugendliche

4.1.1 Gruppenprozesse in der stationären Psychotherapie

4.2 Gruppentherapie mit Jugendlichen

4.2.1 Zur Methode

4.2.2 Ein Beispiel aus der stationären Gruppenpsychotherapie

4.2.3 Die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie

Literatur

Sachverzeichnis

Vorwort

Wenn man Jugendlichen1 im Alter von etwa 13 bis 18 Jahren begegnet, kann man gelegentlich den Eindruck gewinnen, dass die Lebensphase der Adoleszenz für sie völlig ohne Probleme verläuft. Das kann leicht täuschen. Tatsächlich sind sie meist – ob nur innerlich verborgen oder von außen erkennbar – mit Fragen beschäftigt, die sie erheblich umtreiben. Die Adoleszenz ist eine Zeit, in der sich vieles verändert und kaum noch etwas so bleibt wie bis dahin gewohnt. Der Körper verändert sich in einer Weise, die beunruhigt und deshalb oftmals abgetan oder verleugnet wird. Jugendliche fragen sich, wer und wie sie eigentlich sind, wer sie sein wollen und was es damit auf sich hat, Mann oder Frau zu werden oder nicht zu wissen, welchem Geschlecht sie eigentlich zugehören. Sie beschäftigen sich damit, wie sie mit Gleichaltrigen in Beziehung treten können und wie sie sich dort geben wollen. Plötzlich schämen sie sich scheinbar grundlos ihrer selbst oder haben mit Ängsten zu tun, beschämt zu werden. Sie suchen Orientierungen, die jetzt weniger bei den Eltern, sondern im Internet oder bei Gleichaltrigen gefunden werden. Zumal die sozialen Medien jetzt den Ort bieten, der am ehesten Sicherheit verspricht.

Solche für das Alter typischen Fragen und Verhaltensweisen können leicht ins Krisenhafte geraten und zu einem Wegbereiter von psychosozialen Störungen werden. Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens können manchmal wie in einer Art Modellsituation veranschaulich, wie die ohnehin kritische und störanfällige Entwicklung in der Adoleszenz in ungünstige Entwicklungsverläufe münden kann. So bringen die Einschränkungen des Lockdowns während der Corona-Pandemie für Jugendliche in der Adoleszenz unter Umständen spezifische zusätzliche Belastungen mit sich: Wenn etwa soziale Kontakte eine Distanz von einem oder zwei Metern und das Anlegen einer Maske verlangen, werden dadurch nicht selten die für die Adoleszenz typischen sozialen Ängste verschärft; das Verbot von Freizeitvergnügungen wie Discos oder Partys begünstigt die Suche nach Randale; wenn Sport, Musikveranstaltungen oder der Besuch von Actionfilmen untersagt sind, fehlen zentrale Aktivitäten und Herausforderungen, an denen sich Jugendliche reiben und erproben können. Geraten sie in einen Zustand von Vereinzelung, halten sie sich vor allem im Internet auf oder verfallen – eventuell begleitet von Drogenkonsum – in eine von Ideologien geprägte Pararealität. Die Adoleszenz gerät allzu leicht zur Krise. Psychische Störungen werden begünstigt, es kommt zum sozialen Rückzug, problematische Orientierungen aus dem Internet werden unkritisch übernommen; in der Folge entwickeln sich Abhängigkeiten, sie schließen sich Protestaktionen an, manchmal verbunden mit Zerstörung und Gewaltanwendung.

Um diese Krisen und Störungen verständlich zu machen, stelle ich in diesem Buch grundlegende Entwicklungsprozesse der Adoleszenz dar. Dabei habe ich u. a. aus der Vielzahl meiner früheren Arbeiten zur Adoleszenz, die zu einem Teil bereits in anderem Kontext2 veröffentlicht sind, Texte in überarbeiteter Form übernommen. Im Weiteren werden adoleszente biopsychosoziale Umstrukturierungen dargestellt, die zur Erklärung der Krisenanfälligkeit von Jugendlichen in der Adoleszenz wichtig sind. Ihre Labilisierungen fasse ich als eine Problematik zwischen Krise und Störung im Grenzbereich zwischen Normalität und Pathologie auf. Daraus ergeben sich besondere Anforderungen an den Umgang mit Jugendlichen und insbesondere an die Therapie. An dem von Freud (1905) dargestellten Fall der Jugendlichen Dora zeige ich, wie ein an einer Ein-Person-Psychologie orientiertes therapeutisches Vorgehen in eine Sackgasse führt. Schließlich gehe ich auf Fehler ein, die sich in der Behandlung von Jugendlichen in der Adoleszenz nicht selten einschleichen, bislang aber meist schamhaft verschwiegen werden.

Mein Dank gilt den vielen Jugendlichen, deren Entwicklungen ich begleiten konnte. Danken möchte ich auch Frau Nadja Urbani für ihre hilfreiche Lektoratsarbeit.

Berlin im Winter 2020

Annette Streeck-Fischer

Einleitung: Die Adoleszenz – eine Entwicklungsaufgabe im Spiegel gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse

Jugendliche halten Erwachsenen einen Spiegel vor Augen. Nicht wenige Eltern empfinden diese Zeit als besonders schwierig, werden sie doch oftmals mit unerkannten und ungelösten eigenen und transgenerationalen Konflikten(1)(1) konfrontiert. Jugendliche machen auf gesellschaftliche Probleme und Mängel aufmerksam und reagieren auf die Hypokrise der Elterngeneration(1)(1). Sie demonstrieren gegen eine Politik, die sich nur unzureichend um ihre Belange und ihre Zukunft kümmert und falsche Versprechungen macht. Unüberhörbar zeigt sich das aktuell in der Jugendbewegung Fridays for Future. (1)Die neuen Medien verleihen der Stimme von Jugendlichen Gewicht. Mit dem Klimawandel und den neuen klimaneutralen Technologien sowie der Digitalisierung werden überkommene alltägliche Lebensstile infrage gestellt.

Es stellt sich die Frage: Sind Jugendliche heute anders als früher? Wird die Adoleszenz(1) mit ihren Herausforderungen heute anders bewältigt? Taugen vertraute Konzepte nicht mehr zum Verständnis dieser Entwicklungsspanne? Ist ein grundlegendes Umdenken erforderlich, um aktuelle Erscheinungsformen von Adoleszenzkrisen und adoleszenten Störungsbildern zu verstehen?

Adoleszenz – eine normative Krise?

Während der Begriff Pubertät(1)die Zeit der Geschlechtsreifung(1) bezeichnet, (1)(2)gilt die Adoleszenz als die Zeit der psychischen und sozialen Entwicklung(1)(1)(1)(1). Wenngleich diese Unterscheidung vordergründig naheliegt, ist sie doch mit Skepsis zu betrachten, sind die biologischen doch kaum von den psychosozialen Entwicklungen(1)(1) zu trennen. Die Adoleszenz(1) als eine eng umgrenzte Zeitspanne, die einen Anfang und ein Ende hat, ist zunehmend in Auflösung begriffen.

Hinzu kommt, dass Verlauf und Erscheinungsformen der Adoleszenz vom sozialen Ort abhängig sind, von der kulturellen Umgebung, der zeitlichen Verortung und nicht zuletzt vom Geschlecht. Je unterschiedlicher die kulturellen Hintergründe sind, umso mehr Diversifizierung(1) weisen auch die adoleszenten Entwicklungen auf.

Margaret Mead (2002) hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Art und Weise, wie sich die Übergänge zwischen Kindheit und Erwachsenenalter gestalten, ein Indiz des sozialen Wandels darstellt. Beschreibungen der Adoleszenz der 50er Jahre(1) sind aus heutiger Sicht veraltet und sind allenfalls noch geeignet, einige Grundzüge dieser Entwicklungsphase abzubilden. Angelehnt an die Unterscheidung von kalten und heißen Kulturen(1)(1) (Levi-Strauss 1981)3 sprach Mario Erdheim (1983) mit Blick auf die westlichen Kulturen von einer heißen Adoleszenz. Während bei einer kalten Adoleszenz(1) die vorgegebenen Werte der Großelterngeneration(1) unhinterfragt übernommen werden und tradierte Werte – wie in sogenannten indigenen Kulturen – in einer zeitlich begrenzten Zeitspanne mit Hilfe von Initiationsriten gleichsam in Körper und Seele eingeschrieben werden, haben sich die Werte und Normvorstellungen der Enkel heute von denen der Großelterngeneration weit entfernt.

Die Lebensbedingungen(1), die Umwelt(1) ebenso wie kulturelle Orientierungen(1) haben Einfluss auf die menschliche Biologie. Im 19. Jahrhundert kamen weibliche Jugendliche gewöhnlich mit 16 Jahren in die Geschlechtsreife(1); heute tritt die Menarche(1) in der Regel im Alter von 11 oder 12 Jahren ein. Damals wurden weibliche Jugendliche früh verheiratet. Ihre Aufgabe war es, Kinder zu gebären und für den Haushalt zu sorgen. Heute sind derartige normative Vorgaben in den westlichen Kulturen(1) für weibliche Jugendliche kaum noch vorstellbar. Aber sie begegnen uns in Familien mit muslimischem Hintergrund, in denen die Töchter oft schon im Alter von 14 Jahren verheiratet werden, um sich früh in die Rolle der Frau und Mutter einzufinden. Adoleszenz als Durchgangsphase(1) findet hier nicht oder allenfalls peripher statt; die Adoleszenz nimmt einen gänzlich anderen Verlauf.

Einhergehend mit der Globalisierung und neuen Schicht-, Milieu- und kulturellen oder subkulturellen Differenzen(1) ist es zu einer Vielfalt unterschiedlicher Lebensstile und damit auch von Verläufen der Adoleszenz gekommen. Versuche, für die Jugend gegenüber solcher Diversität einen gemeinsamen Nenner zu finden, etwa als »Generation X«, »Generation Golf«, »Generation Internet«, »Global« oder »Facebook« sind in ihrer Pauschalität zweifelhaft.

Wie verläuft Adoleszenz heute? Ist es trotz aller Diversität und aller Differenzen möglich, in Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur und Gesellschaft gemeinsame Entwicklungslinien aufzuzeigen? Ist die Adoleszenz tatsächlich eine Avantgarde (Erdheim 1993), mit der die Entwicklung von Neuem einhergeht?

Freud (1905) schrieb der Adoleszenz vor dem Hintergrund der Zweiphasigkeit(1) der sexuellen Entwicklung(1)(1) eine zentrale Rolle für kulturelle Entwicklungen und eine verändernde Kraft zu. Das zeigt sich in gesellschaftlichen Kontexten, aber auch in biologischen, psychischen und sozialen Ausdrucksformen der Adoleszenz(1). Abhängig vom sozialen Ort bietet die Adoleszenz(1) einen Übergangsraum, einen Möglichkeitsraum, in dem die Entstehung von Neuem zugleich eingebettet ist in die »Potentialität der Verhinderung« (King 2013, S. 52). Die Bedeutung der »zweiten Chance(1)«, also des Neuen, die Eissler (1995) der Adoleszenz attestiert hat, in der infantile Konflikte überwunden, bewältigt oder kreativ neu gestaltet werden können, kann leicht über-, aber auch unterschätzt werden. Neben der Entwicklung von Neuem können Entwicklungen in der Adoleszenz auch behindert und verhindert werden, in Sackgassen und Krisen münden und psychische Störungen(1) zur Folge haben.

Erikson (1976) sieht weniger die verändernde Kraft, die mit der Adoleszenz einhergeht, als vielmehr den Freiraum, den die Gesellschaft dem Jugendlichen einräumt, ein psychosoziales Moratorium(1)(1), einen Aufschub von erwachsenen Verpflichtungen und Bindungen und einen Raum zum Ausprobieren, Suchen und Experimentieren.

Die weitreichenden Veränderungen, die mit der Digitalisierung(1) einhergehen, sind bislang noch kaum zu überschauen. Noch lässt sich nur schwer beurteilen, ob und wie sich die digitale Welt auf die Persönlichkeit und deren Entwicklung auswirkt und wie zu beurteilen ist, dass die Jugendlichen in die Sphären von Instagram(1), Facebook(1), Snapchat(1) oder Twitter(1) eintauchen. Werden sie damit tatsächlich in narzisstische Entwicklungen(1)(1) gedrängt wie Kulturpessimisten behaupten? Bieten Chatrooms(1), in denen Themen wie das dritte Geschlecht und Geschlechtsumwandlung(1) verhandelt werden oder über Suizidalität(1) und Suizid gechattet wird, ein Forum zur Auseinandersetzung mit altersüblichen Konflikten(1)? Oder werden Jugendliche damit auf problematische Fährten gelenkt oder gar pathologisiert? Wie wirken sich die zunehmenden und neuen Möglichkeiten der körperlichen und kognitiven Selbstoptimierung(1)(1)(1) aus? Und was bedeutet es, wenn Neuro-Enhancements(1) (z. B. Methylphenidat) wie selbstverständlich für Zwecke der Leistungssteigerung(1) eingesetzt werden oder – in manchen gesellschaftlichen Gruppen – nicht mehr das eigene Auto Belohnung für das bestandene Abitur ist, sondern körpermodifizierende Eingriffe wie Brustvergrößerung oder -verkleinerung?

Um den Begriff der Adoleszenzkrisen(1) ist es heute still geworden. In den gängigen diagnostischen Klassifikationssystemen sucht man vergeblich nach dem Begriff »Adoleszenzkrise«. Stattdessen besteht die Gefahr, mit den in den diagnostischen Klassifikationssystemen vorgegebenen Begriffen Prozesse der Adoleszenz zu pathologisieren, etwa als Anpassungsstörung(1) oder Störung des Sozialverhaltens(1). Ich halte hier ausdrücklich an dem Begriff der Adoleszenzkrise fest. »Krise« ist potentiell eine Quelle des Neuen, ebenso wie »Krise« eine Reproduktion des Alten bedeuten kann. Gefährdungspotential beinhaltet die Krise in der Adoleszenz insofern, als existenzielle Selbstverständlichkeiten durch biologische, körperlich-geschlechtliche und mentale Veränderungen eine tiefgreifende Erschütterung erfahren. Selbstverständnis(1) und Körperlichkeit(1) fallen in irritierender Weise auseinander. Die Destabilisierung ist begleitet von neuronalen Veränderungen. Eine Krise ist zumeist auch ein Wende- oder Umschlagspunkt, der in ein neues Gleichgewicht münden muss. Das bisherige Verständnis der eigenen Person muss aufgegeben und ein neues Selbstbild(1) erarbeitet werden. Der Entwicklungsschritt vom Körpersein(1) zum Körperhaben(1) (Young 1992) wird durch die körperlichen Veränderungen des Jugendlichen massiv erschüttert. Die bis dahin erlebte »Unaufdringlichkeit des Körpers(1)(1)« (King 2013) wird in der Adoleszenz außer Kraft gesetzt. Die Veränderungen der eigenen Körperlichkeit werden unausweichlich krisenhaft durchlebt, zumal diese Veränderungen nicht alleine das Körpersein betreffen, sondern sich auf das gesamte Dasein auswirken. Fragen der Identität werden laut: Wer bin ich, was will ich? Fragen der sozialen Verortung tauchen auf, das bislang Gewohnte muss aus neu gewonnener Perspektive verarbeitet und mit Blick auf die Zukunft eine neue Positionierung in der sozialen Welt gefunden werden.

Im ersten Kapitel des Buches werden psychische, neurobiologische und soziale Prozesse sowie damit zusammenhängende Entwicklungsaufgaben(1), Mittel und Wege der Bewältigung, Chancen und Risiken dargestellt, die die Adoleszenz kennzeichnen. In Kapitel 2 werden die Adoleszenz- und Identitätskrisen(1) behandelt, wie sie im psychotherapeutischen Kontext erkennbar werden. Hier werden veränderte Ausgestaltungen von Adoleszenzkrisen sowie krisenhafte Entwicklungen(1) entlang einzelner typischer Entwicklungsaufgaben dargestellt. Im letzten Teil werden die besonderen Anforderungen an die Psychotherapie(1) von Jugendlichen sowie psychotherapeutische Techniken behandelt, die sich in Abhängigkeit von der psychischen Struktur der Jugendlichen unterscheiden. Anhand einzelner Beispiele aus Therapien mit Jugendlichen sollen schließlich häufige therapeutisch-technische Fehler diskutiert werden.

1 Zur Adoleszenz Was ist Adoleszenz und warum ist sie so wichtig?

Das Jugendalter ist eine Zeit rapider körperlicher, psychischer und sozialer Veränderungen. Es umfasst mittlerweile einen Zeitraum von 12 bis 15 Jahren und länger. So beginnt die Pubertät mit 9 bis 12 Jahren, die Adoleszenz endet oft erst mit 23 bis 25 Jahren, oder auch später. Das hat zum einen damit zu tun, dass die Pubertät durch die biologische Reifung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale deutlich früher beginnt, zum anderen damit, dass sich die Adoleszenz mit den psychosozialen Veränderungsprozessen immer weiter in das Erwachsenenalter (vgl. Arnett 2000) hinein verschiebt.

Tabelle 1-1 gibt einen Überblick über die verschiedenen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz(1)(1)(2)(2)(1)(1) (vgl. Spano 2004; Christie, Viner 2005).

Tab. 1-1 Die verschiedenen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz.

Veränderungen

Biologisch

Psychisch

Sozial

Frühe Adoleszenz

Pubertät

♀ Brust-

wachstum, Schamhaare, Wachstums-

schub, Menarche

♂ Hoden-

vergrößerung, Penis-

wachstum

Konkretes Denken, aber frühe moralische Konzepte, Auseinander-

setzung mit sexueller Identität (sexuelle Orientierung), Neubewertung des Körperbildes

Emotionale Trennung von den Eltern, Beginn ausgeprägter Identifikationen mit Gleichaltrigen, exploratorisches Verhalten, ggf, Rauchen, Gewalt

Mittlere Adoleszenz

♀ Ende des Wachstums-

schubs, Ausprägung eines weiblichen Körpers, Umverteilung des Fettgewebes

♂ Spermarche, nächtliche Pollutionen, Stimmbruch, Wachstums-

schub

Abstraktes Denken, Selbst noch eher gepanzert, wachsende verbale Fähigkeiten, Identifikation mit moralischen Werten, Begeisterung für Ideologien (religiös, politisch)

Emotionale Trennung von den Eltern, starke Identifikation mit Gleichaltrigen, gesteigerte Gesundheits-

risiken (Rauchen, Alkohol), beginnende berufliche Pläne

Späte Adoleszenz

♂ Körper-

behaarung, Muskel-

wachstum

Komplexes abstraktes Denken, Differenzierung zwischen Gesetz und Moral, verstärkte Impuls-

kontrolle. Identitäts-

bildung

Entwicklung von sozialer Autonomie, intime Beziehungen, berufliche Perspektiven

Psychotherapeuten und Jugendforscher entwerfen unterschiedliche Bilder der Adoleszenz. Während in der psychoanalytischen Literatur die Adoleszenz als eine Phase der Krise, des »Sturm und Drang« und des Aufruhrs dargestellt wird, die mit einer gewissen Ich-Schwäche(1) einhergeht, wird in der akademischen Psychologie das Bild eines Jugendlichen beschrieben, der einen emotionalen und kognitiven Reifungsprozess durchläuft und vorwiegend adaptive Fähigkeiten zeigt, ein Jugendlicher, der neue Strategien des Umgangs mit und der Bewältigung von sozialen Bedingungen(1)(2) entwickelt und der über vielfältige Potenziale verfügt (Olbrich u. Todt 1984, Flammer, Alsaker 2002). Tatsächlich ist die Adoleszenz eine Zeit der biopsychosozialen Umstrukturierung(1), die sowohl mit der Entwicklung neuer Fähigkeiten als auch mit dem Verlust eines bisherigen inneren und äußeren Gleichgewichts einhergeht, eine Phase des Übergangs oder ein psychosoziales Moratorium(2)(2)4 im Sinne von Erikson (1976). Wenngleich die meisten Jugendlichen die Entwicklungsaufgaben dieser Zeitspanne erfolgreich bewältigen, geht die Adoleszenz in der Regel mit mehr Unruhe(1) einher als die Kindheit und das Erwachsenenalter (Cicchetti, Rogosch 2002), so dass die Grenzen zwischen Normalität und Pathologie unklarer sind. Die Shellstudie (2019) kommt zu dem Ergebnis, dass die Jugend pragmatisch und tolerant in die persönliche Zukunft schaut. Das Internet ist allgegenwärtig, wird aber von zwei Drittel der Jugendlichen auch skeptisch betrachtet. Hervorgehobene Themen sind Umwelt und Klimawandel.

Die unterschiedlichen Sichtweisen spiegeln nicht nur die Vielfalt der Bilder wider, die Jugendliche bieten. Sie zeigen auch, dass Psychotherapeuten und Jugendforscher jeweils eine andere Seite des Jugendlichen erfassen. Die akademische Psychologie hat mit ihren Fragebögen vor allen Dingen Zugang zu den kognitiven Strategien(1), den Copingstrategien(1) und der Beschäftigung der Jugendlichen mit aktuellen gesellschaftlichen Themen. Demgegenüber beschäftigen sich Psychotherapeuten in erster Linie mit den emotionalen Bedingungen der Adoleszenz, die – wie epidemiologische und neurobiologische Studien zeigen – mit einigen Turbulenzen einhergeht (Dahl 2004; Blakemore et al. 2010).

Lange wurde die Adoleszenz als ein Stiefkind der Psychoanalyse(1) bezeichnet. Das ist insofern erstaunlich, als Freud (1905) zu Beginn seiner psychoanalytischen Tätigkeit mit Jugendlichen (Dora 18 Jahre, Katharina 16 Jahre sowie der namenlosen homosexuellen Jugendlichen) (Glenn 1980) gearbeitet hat. Allerdings fehlten damals sowohl Konzepte zum Verständnis dieser Entwicklungsphase und ihren Besonderheiten als auch praktische therapeutisch-technische Strategien zum Umgang mit Jugendlichen. Ab Ende der 50er Jahre verhalfen wichtige Beiträge wie die von A. Freud (1980a), Blos (1973), Erikson (1976) und Eissler (1966) der Psychotherapie Jugendlicher zu einem Durchbruch. Probleme, die sich aus dem adoleszentären Umstrukturierungsprozess(1) und den damit verbundenen Labilisierungen(1) ergeben, konnten nun in die Psychotherapie aufgenommen werden.

In diesen frühen psychoanalytischen Beschreibungen wurde vermieden, eine klare Grenze zwischen krisenhaften und pathologischen Verläufen dieser Altersspanne zu ziehen, ein Umstand, der der Psychoanalyse(2) wiederholt vorgeworfen wurde. Psychotische Schübe(1) oder schwere Verhaltensstörungen(1) wurden als »adolescent breakdown(1)« gekennzeichnet, um diagnostische Festlegungen zu vermeiden (z. B. Laufer u. Laufer 1989; Nicolo 2003). Das war insofern sinnvoll, als damit den Entwicklungspotentialen dieser Zeitspanne Rechnung getragen und vermieden wurde, den Jugendlichen voreilig zu stigmatisieren, etwa mit der Diagnose einer Psychose. Die Vorstellung, eine Adoleszenzkrise(2) könne sich auch in schweren Störungen der Persönlichkeitsentwicklung(1) zeigen, ist nach heutigen Erkenntnissen obsolet (Streeck-Fischer 2014). So gehen etwa Fonagy und Target (2004) und andere davon aus, dass ein adoleszentärer Zusammenbruch das Resultat früher Entwicklungsstörungen(1) bei einer mangelhaften Konsolidierung der Symbolisierungsfähigkeit ist. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Begriff der Adoleszenzkrise aus der Literatur verschwunden ist. Man hat damit allerdings das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, weil nun manche normalen Prozesse der Adoleszenz als psychische Störungen(2) (etwa als Störung des Sozialverhaltens(2)(1)(1), F 91 oder als Anpassungsstörung(2), F 43,2) klassifiziert werden.

Vergegenwärtigen wir uns das anschauliche Bild, das Dahl für die Adoleszenz vorschlägt, dann können wir erahnen, was diese Zeitspanne kennzeichnet: »Starting the engines with an unskilled driver« (Dahl 2001; s. Abb. 1-1).

Abb. 1-1 Trieb- und Impulsdruck: die Lokomotive-Metapher.

Der Vergleich mit einer Maschine oder Lokomotive, die von einem unausgebildeten Fahrer in Bewegung gebracht wird (Dahl 2004), bringt anschaulich die Situation des Jugendlichen zum Ausdruck, der unter Trieb- und Impulsdruck steht und vielleicht einmal zu schnell, dann wieder zu langsam fährt, der Signale übersieht oder vielleicht auf Nebengleisen landet – beschämende Erfahrungen, die bewältigt werden müssen.

Morbidität(1) und Mortalität steigen zwischen mittlerer Kindheit und später Adoleszenz um 300 % an. Unfälle, Suizide, Depressionen(1)(2), Alkoholkonsum, Substanzmittelmissbrauch(1), Aggression, Gewalt, HIV- sowie Hepatitis-C-Infektionen, unerwünschte Schwangerschaften, Magersucht und Bulimie nehmen in dieser Zeit erheblich zu. Ein großes Gesundheitsproblem ist in diesem Alter insbesondere der Alkoholmissbrauch(1) (Dahl 2001; Eaton et al. 2006). Diese Gefährdungen machen deutlich, wie wichtig es ist, zu verstehen, warum Jugendliche zu risikoreichem Verhalten neigen. Weiter kommt es häufig zu Konflikten mit Erwachsenen und Eltern (Steinberg 2004). Die Zunahme der emotionalen Reaktionsbereitschaft führt möglicherweise zu affektiven Störungen(1) in dieser Zeitspanne (Steinberg 2005).

Für Jugendliche ist es häufig schwierig, ihr Verhalten und den Ausdruck ihrer Emotionen(1) zu kontrollieren. Diese Dysregulationen kennzeichnen das krisenhafte Verhalten in dieser Zeitspanne. Dabei gilt das »ungesteuerte«, auf Grenzüberschreitung(1) ausgerichtete Verhalten als wichtig für die Ablösung(1) und Individuation in der adoleszentären Entwicklung.

In einer repräsentativen kanadischen Studie an 669 städtischen Jugendlichen (Korenblum et al. 1990) zeigten 46 % der 13-jährigen, 33 % der 16-jährigen und 42 % der 18-jährigen Jugendlichen auffällige Persönlichkeitsmerkmale. Korenblum et al. (1990) gehen davon aus, dass die frühe und späte mehr noch als die mittlere Adoleszenz eine besondere Risikoperiode für Störungen darstellt. Sie stellen weiter fest, dass Jugendliche, die in der frühen und mittleren Adoleszenz als antisozial eingestuft wurden, in der späten Adoleszenz sich mehr dem histrionischen, narzisstischen oder Borderline-Cluster(1) näherten. Andere epidemiologische Studien sprechen dafür, dass die Hälfte der psychiatrischen Erkrankungen im Erwachsenenalter ihren Beginn um das 14. Lebensjahr herum haben (Kessler et al. 2005), also in der biologischen und sozialen Reifungsphase(1)(1) der Adoleszenz. Das sind Befunde, die einmal mehr auf die Bedeutung dieser Übergangsperiode verweisen.

Es ist deshalb angebracht, an dem Begriff der Adoleszenzkrise(3) festzuhalten (vgl. Kap 2.1), ohne dessen Bedeutung übermäßig auszuweiten. So sollte der Zeitfaktor, der jeweilige (adoleszenzspezifische) Auslöser für das krisenhafte Geschehen, der den Jugendlichen daran hindert, die Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, und der Tatbestand, dass keine schwere psychische Dekompensation bzw. Psychopathologie vorliegt, bei der Bewertung, ob eine Krise oder Störung vorliegt, eine Rolle spielen (Streeck-Fischer et al. 2009). Grundsätzlich ist die Trennschärfe zwischen Noch-Normalität und Pathologie in der Adoleszenz noch schwächer ausgeprägt, als das schon üblicherweise der Fall ist (Streeck-Fischer 2014).

1.1 Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz

Die Phasen der Adoleszenz sind Meilensteine der Entwicklung(2)(3) (Flammer, Alsaker 2002). Oft werden sie aber zu Hemmschwellen, an denen sich Entwicklungsstörungen verdichten.

Havighurst (1953) benennt acht Aufgaben: Aufbau neuer und reiferer Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts, Übernahme der männlichen oder weiblichen Geschlechtsrolle(1), Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung, effektive Nutzung des eigenen Körpers, emotionale Unabhängigkeit(1) von den Eltern und anderen Erwachsenen, Vorbereitung auf Ehe- und Familienleben, Vorbereitung auf die berufliche Karriere, Entwicklung von Wertorientierungen(1)(1) und eines ethischen Systems sowie Aneignung sozial verantwortlichen Verhaltens(1). Diese Aufgaben sind gesellschaftlichen Wandlungsprozessen – etwa späterer Ablösung, neuen Formen des Zusammenlebens – unterworfen, jedoch immer auch Herausforderungen für den einzelnen Jugendlichen. Bei der Entwicklung von charakteristischen Störungsbildern der Adoleszenz wie Pubertätsmagersucht(1), Alkohol(2)- und Drogenabusus(1), Nesthockersyndrom(1), schulischem oder beruflichem Scheitern und schweren Störungen der Identitätsbildung werden sie gleichsam zum Angelpunkt der Krise oder Störung. Corey (1946) hebt fünf verschiedene altersspezifische Entwicklungsaufgaben hervor, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Dabei ist wichtig zu sehen, dass die körperlichen und psychischen Umwandlungsprozesse immer auch mit äußeren Bedingungen wie dem sozialen Umfeld, der Kultur und gesellschaftlichen Bedingungen in Verbindung stehen.

1.1.1 Die Veränderungen des Körpers

Die Auseinandersetzung mit den körperlichen Veränderungen(1) in der Adoleszenz ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe.

Die in Verbindung mit der biologischen Reifung eingetretenen Veränderungen des Körperbildes zu akzeptieren, ist für jeden Jugendlichen ein mehr oder weniger großes Problem (Flammer, Alsaker 2002). Gerade mit Blick auf diese körperlichen Wandlungsprozesse ist es angezeigt, die Adoleszenz als ein krisenhaftes Geschehen zu sehen. Die bisherige Übereinkunft mit dem Körper – King (2013) spricht von Unaufdringlichkeit(1) – geht verloren. Häufig sind Depersonalisationserfahrungen(1), Panikreaktionen(1) oder massive Beschämungsängste(1) mit diesen Veränderungen verbunden. Der Körper kann als völlig fremd erlebt werden und Gedanken tauchen auf, diese Veränderungen zu blockieren oder ungeschehen zu machen. Die Begegnung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil scheint vor allem für Mädchen kaum erträglich zu sein. Sie binden sich die Brüste ab, suchen Unterstützung im Web bei Gleichgesinnten und stellen Überlegungen an, wie das Frauwerden zu verhindern ist. Jugendliche können mit übertriebener Beachtung des eigenen Körpers auf der einen Seite und Verleugnung und Missachtung der körperlichen Veränderungen(2) auf der anderen Seite reagieren. Mit stundenlangem In-den-Spiegel-Sehen wird Kontinuität und Wiedererkennung gesucht. Die farbige oder zu Rastalocken gedrehte Frisur als Protestmittel jenseits der Erwartungen Erwachsener soll Sicherheit geben. Im körperlichen Vergleich mit gleichaltrigen Mädchen wird danach gesucht, ob die Veränderungen – etwa die breiteren Hüften und die dickeren Oberschenkel – noch ansehnlich oder doch verunstaltend sind. Unrealistische Wahrnehmungen und Beurteilungen des Körpers sind bei Jugendlichen, insbesondere bei magersüchtigen Jugendlichen, häufig. Die schlaksigen ungelenken Körperbewegungen werden zum Problem; die Körperteile scheinen nicht mehr zusammenzupassen. Das pickelige Gesicht, der unzureichende oder zu früh einsetzende Bartwuchs ist von Schamgefühlen begleitet. Die bange Frage bewegt den Jugendlichen, ob er mit seinen Geschlechtsteilen nicht mangelhaft ausgestattet und das Genitale nicht möglicherweise zu klein geraten ist.

Die Unsicherheit ist tiefgreifend und verlangt nach Bewältigung, nach Kompensationen und nach Auswegen. Schwierige Situationen, die mit dem unangenehm erlebten und irritierenden sexuellen Körper konfrontieren, werden gerne vermieden oder verursachen Angst. Mancher Jugendliche mag nicht mehr am Schulsport teilnehmen. Alles, was mit dem äußeren Erscheinungsbild zu tun hat, wird ausgeblendet. Andere Jugendliche beginnen, sich heftig zu schminken, ihr Gesicht unter Schminke oder Ornamenten zu verdecken. Wieder andere behängen sich mit Attributen und Accessoires, die eine Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen sichern und nach außen signalisieren sollen. Der punkige Haarschnitt, die vergammelten Hosen, die Tätowierung, das Piercing(1) und die weite, alles verbergende Kleidung sollen nach außen hin abschirmen. Aussagen wie »Ich weiß überhaupt nicht, wer ich bin und wer ich sein möchte« sind typisch und drücken die Suche nach Identität aus. Mal jungenhaft, mal mädchenhaft, mal Kind, mal Erwachsener, mal grau, mal grell, je nach innerer Befindlichkeit – so pendeln Jugendliche zwischen verschiedenen Vorstellungen von sich selbst hin und her. In der Regel führt die Auseinandersetzung mit den körperlichen Veränderungen dazu, dass der Jugendliche sich damit arrangiert und seinen eigenen Typ findet und entwickelt. Dabei werden Idealvorstellungen, wie man sein möchte, mit tatsächlichen, realistischen Bedingungen so weit wie möglich in Einklang gebracht. Dieser Prozess der Aussöhnung(3) mit dem veränderten Körper und dessen Integration in das Selbstbild(1) wird allerdings durch den expandierenden Markt operativer Maßnahmen, die den Körper verschönen sollen, erschwert. Gleichzeitig werden neue Räume der Auseinandersetzung mit der Geschlechtszugehörigkeit(1) eröffnet. Immer häufiger werden ausgeprägte Geschlechtsdysphorien(1) erkennbar, die oftmals mit Panikreaktionen(2) hinsichtlich der körperlichen Veränderungen einhergehen und eventuell in transidente Entwicklungen münden. Statt Unterwerfung gegenüber einer dualen Perspektive, die von Mann- und Frausein bestimmt ist, werden neue Wege der Diversität gesucht – mit ungewisser Perspektive. Körperliche Selbstoptimierung ist nicht neu, jedoch das Ausmaß der möglichen, den Körper verändernden Eingriffe war bis dahin unbekannt.

1.1.2 Loslösung von den Eltern

Abhängig vom (2)kulturellen Ort, an dem Jugendliche leben, spielt die Loslösung eine geringere oder größere Rolle. In unserer westlichen Gesellschaft suchen Jugendliche nach Eigenständigkeit(1) und Autonomie(1) und wollen zugleich gesehen und versorgt werden. Anders als noch vor 30 oder 40 Jahren erfolgt die Ablösung nicht abrupt – vielmehr spielen die Eltern als nahe Vertraute eine sehr viel wichtigere Rolle als das in der Vergangenheit der Fall war (Shellstudie 2019). Zwischen Wünschen nach dem »Hotel Mama(1)« und Autonomie finden sie, ebenso wie die Eltern, mitunter nur schwer den Weg heraus. Zugleich werden die Eltern jetzt von ihren Kindern im Hinblick auf ihre Lebensform und ihre Beziehung zueinander kritisch betrachtet und geprüft. Es ist die Zeit, in der sich die Eltern oftmals fragen und infrage stellen müssen, ob ihr eigener Lebensentwurf tatsächlich zum Nachahmen und zur Identifizierung(1) geeignet ist.

Ist das, was die Eltern vorleben, unattraktiv, kommt es entweder zu heftigen Auseinandersetzungen, oder der Jugendliche zieht sich enttäuscht zurück. Was von den Eltern gesagt und vorgelebt wird, wird dann nur noch negativ beurteilt. Unter solchen Bedingungen kann es leicht dazu kommen, dass der Dialog mit den Eltern mit der Folge wechselseitiger Verständnislosigkeit ganz abgebrochen wird. Mit dem abrupten Bruch mit den Eltern, der die notwendige innere und äußere Auseinandersetzung verhindert, hält der Jugendliche an idealen Elternbildern(1) seiner Kindheit fest. Die Auseinandersetzung mit den Eltern ist wichtig und notwendig; der Heranwachsende kann die Eltern realistischer mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen sehen und sich potenziell irgendwann einmal mit ihnen und ihrer Unvollkommenheit aussöhnen. »Wir kämpfen um unsere Träume und die (Eltern?, Erwachsenen?), die sie zu verhindern suchen, wissen warum, sie kommen darin nicht vor« (Zitat aus einem Flugblatt von Jugendlichen). Hier werden Träume von einer besseren Welt beschworen, die aus Idealvorstellungen(1) genährt sind und mit der als böse und bitter empfundenen Realität der Erwachsenenwelt nicht übereinstimmen. Träume von einem besseren Leben haben eine wichtige zukunftsweisende Funktion. Ist die Kluft zwischen ersehntem Traum und bitterer Realität jedoch zu groß, wird es schwer und manchmal unmöglich, akzeptable Lebensverhältnisse zu finden.

Die Loslösung von den Eltern mit ihrer tatsächlichen oder in Träumen herbeigesehnten Bedeutung und Stärke verlangt von jedem Jugendlichen Trauerarbeit. In Verbindung mit dem Trauer- und Trennungsprozess(1)(1) durchläuft der Heranwachsende ein narzisstisches Durchgangsstadium (Blos 1973), das für die Bewältigung der Adoleszenz eine wichtige Bedeutung hat. Dieses Stadium ist vorübergehend und bei einigen Jugendlichen weniger, bei anderen stärker ausgeprägt und im letzteren Fall oft schwer zu ertragen. Übergangsformen zwischen Abhängigkeit(1) und Selbstständigkeit(1), die zur Bewältigung der Trennungskrise dienen, sind für diese Entwicklungszeit typisch. Eltern werden durch das teils unverantwortliche, teils selbstschädigende Verhalten ihres jugendlichen Kindes immer wieder auf den Plan gerufen. Sie werden veranlasst zu kontrollieren, zu überwachen und hinter ihrem Kind herzulaufen, für es zu sorgen und fürsorgliche Funktionen zu übernehmen. Ob sich das an der Ernährung manifestiert, oder ob sich das an seinen Belangen wie Schule, Körperpflege oder Kleidung zeigt, die nur mangelhaft oder schlampig wahrgenommen werden, oder ob es sich um andere Formen mangelhaften Für-sich-Sorgens(1) oder Sorgen-Könnens(1) handelt – immer braucht der Jugendliche Zeit, um die fürsorglichen elterlichen Funktionen selbst zu übernehmen und sich damit zu identifizieren. In jedem Fall erfolgt dieser Prozess schrittweise. Der Loslösungs- und Verselbständigungsprozess des Jugendlichen wird auf dem Hintergrund der in der Kindheit erreichten Loslösung und Verselbstständigung wiederbelebt und alters- und entwicklungsspezifisch neu gestaltet. Es ist ein Prozess, der Gefahren, aber auch Chancen für die weitere Entwicklung mit sich bringt.

Ein passiv verwöhntes Kind etwa, dem von einer überängstlichen Mutter anstehende Schwierigkeiten immer wieder aus der Hand genommen wurden und dem die Mutter wenig zugetraut hat, wird im Jugendalter Mühe haben, Schritte von den Eltern weg in Richtung Selbstständigkeit zu gehen. Wenn solche Kinder in der Familie besondere Funktionen haben, etwa für die Mutter als Trost oder gar als Ersatz bei einer anhaltenden und nicht zu überwindenden Ehekrise, wird die Trennung besonders schwer. Der Jugendliche merkt, dass seine Eltern sich nichts mehr zu sagen haben, wenn er sie verlässt, und fürchtet zu Recht, dass sie sich womöglich trennen, dass der Lebensinhalt der Mutter verloren geht und sie in Depression oder Resignation verfallen könnte. Die Loslösung des Jugendlichen von den Eltern bedeutet immer auch eine Loslösung der Eltern von ihrem jugendlichen Kind und mündet nicht selten in einer Familienkrise. Man kann von einer »familiären Adoleszenzkrise(1)« sprechen, die alle Familienmitglieder erfasst. Mitunter trennen sich auch die Eltern, eigene Wünsche nach einem Leben ohne Verantwortung für andere werden aktiviert.

Manche Jugendliche trennen sich abrupt mit 15 Jahren von der Familie und verselbstständigen sich forciert. Andere wohnen bis zum Alter von 25 Jahren zu Hause. Die äußeren Faktoren alleine sagen noch nichts über den inneren Trennungsprozess(1) aus. Der jugendliche »Nesthocker(2)« hat nicht unbedingt weniger innere Trennungsschritte von den Elternfiguren vollzogen als der Jugendliche, der schon früh und abrupt seine Eltern verlässt. Da der Ablösungsprozess mittlerweile deutlich länger andauert, wird von einer neuen Phase gesprochen, der »emerging adulthood(1)(1)« (Arnett 2000; Kap 1.1.6).

1.1.3 Neugestaltung von Beziehungen zu Gleichaltrigen

Die Kontakte zu gleichaltrigen, sowohl gleichgeschlechtlichen als (1)(1)auch andersgeschlechtlichen Jugendlichen bekommen in der Adoleszenz eine herausragende Bedeutung. Sie unterstützen die Ablösung von den Eltern und ermöglichen es, Normen und Orientierungen in Abgrenzung zur Erwachsenengeneration zu finden. Dabei spielt die digitale Welt eine zunehmend zentrale Rolle, in Form von Facebook, Instagram, Twitter oder in Chatrooms. Damit ist ein ständiger Flow an Kontakten gewährleistet, mit deren Hilfe Jugendliche sich ihrer Bedeutung und dem Gesehenwerden ihrer Ansichten versichern können.

Die Integration von sexuellen Bedürfnissen(1) in die Beziehung zum Freund bzw. zur Freundin ist eine schwierige Aufgabe. Auch hier eröffnen sich virtuelle Räume des Ausprobierens, die mitunter gefährlich sind und z. B. in Bloßstellung oder Cybermobbing(1) münden können. Andere stürzen sich geradezu in sexuelle Beziehungen zu Gleichaltrigen oder zu Älteren. Sie werden mit den andrängenden Triebimpulsen(1) nicht fertig, zum Teil auch, weil sich unbewusste sexuelle Impulse auf den gleich- oder gegengeschlechtlichen Elternteil richten und sie sich davon bedroht fühlen. Wieder andere Jugendliche onanieren exzessiv und suchen im Internet nach Befriedigungen. Die Integration der Sexualität(1) in zwischenmenschliche Beziehungen setzt die Fähigkeit zur Steuerung und Integration dieser Gefühle und Impulse voraus. Die Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Identität(1), Frau oder Mann sein zu wollen, ist für Jugendliche nicht selten – offenbar insbesondere für Mädchen – ein brennendes Problem. Laufer (1980) sieht in der Bildung der definitiven Sexualorganisation(1) die zentrale Aufgabe der Adoleszenz.

Auf dem Weg der Verselbstständigung(1) und Individuation(1) kommen dem Jugendlichen Übergangsbedingungen zu Hilfe, Mittel, Werkzeuge und Medien, die die Funktion von Übergangsobjekten(1) haben, heutzutage am allermeisten das Smartphone (Downey 1978; Winnicott 1965/1974). Der Begriff »Übergangsobjekt« bezieht sich auf die Beobachtung, dass Kleinkinder sich auf dem Weg der Trennung von der Mutter und der Selbstfindung mit Hilfe von Objekten wie Kuscheltieren, Teddys, einem weichen Tuch oder ähnlichem vor dem Alleinsein und der Gefahr des Im-Stich-gelassen-Seins schützen. Zwar findet bei Jugendlichen die Ablösung von den Eltern auf einem anderen Niveau statt, dennoch haben Objekte wie das Smartphone, aber auch das Führen eines Tagebuches, die Zugehörigkeit zu einer Jugendgruppe, schmückende Accessoires, Tattoos, Piercings, Idole in Film, Internet und Literatur vergleichbare Funktionen und dienen letztlich der Selbstfindung(1). Äußere Uniformierungen(1), die Jugendkulturen mit bestimmten Attributen anbieten, können für Jugendliche ein probates Mittel sein, um durch sichtbare Angleichung an ausgewählte Gruppennormen(1) die oft erheblichen Verunsicherungen und Beunruhigungen infolge von körperlichen Veränderungen zu nivellieren. Allerdings scheinen diese Versatzstücke vor dem Hintergrund der schwindenden Bedeutung von Jugendkulturen weniger attraktiv zu sein. Übergangsobjekte unterstützen den Jugendlichen im Trennungsprozess von infantilen elterlichen Objekten(1). Mit ihrem Symbol- bzw. Zitatcharakter (Baacke 1987, S. 90) bieten sie einen intermediären Erfahrungsbereich zwischen Familie und Gesellschaft und helfen, die innere und äußere Welt zu konturieren. Der Jugendliche bedient sich ihrer als Bindeglied, um neue Kompromisse auf dem Weg von einer infantilen zu einer erwachsenen Identität(1)(1) zu finden. Je unsicherer der Jugendliche ist, je labiler und erschütterter sein Selbstgefühl, umso mehr ist er auf Accessoires angewiesen.

Das Experimentieren, zu dem die Erprobung verschiedener Rollen und Gruppenzugehörigkeiten(1) gehört, kann als eine Art sozialer Spiegel verstanden werden (Erikson 1976). Es ist ein Kräftemessen und Auseinandersetzen mit Umwelt und sozialer Mitwelt, die über das kindliche Spiel deutlich hinausgehen.

Die Hinwendung zur Drogenszene kann einerseits ein Schritt in die Gleichaltrigengruppe sein, gleichzeitig zu einer problematischen Entwicklung beitragen. Drogen, okkultistische Praktiken(1) oder Jugendsekten(1) können es mit sich bringen, dass wichtige Fähigkeiten der Lebensbewältigung und des Umgangs mit Realitäten sowie die Arbeits- und Beziehungsfähigkeit von Jugendlichen beeinträchtigt und zerstört und die Jugendlichen untüchtiger und lebensunfähiger werden. Hier wird leicht ein Teufelskreis in Gang gesetzt. Weil die Alltagswelt als gefühlskalt, sinnentleert und oberflächlich erlebt wird, schließt sich der Jugendliche derartigen Gruppen an. Auf der Suche nach Sicherheit, Geborgenheit und Sinn verstrickt er sich in drogenähnliche Abhängigkeiten mit der Folge, dass er die Alltagswelt als zunehmend feindlich empfindet. Eine ähnliche Gefahr kann bisweilen auch vom Internet ausgehen.

1.1.4 Selbstvertrauen und neue Wertorientierungen

Auch die vierte Aufgabe der Adoleszenz, die Entwicklung von Selbstvertrauen(1)(1) und eines eigenständigen Wertesystems, ist eine wichtige und schwierige Anforderung zugleich. Es ist die Zeit, in der sich in der Adoleszenz neue Möglichkeitsräume eröffnen und Neues entstehen, aber auch verhindert werden kann. Die kindlichen Norm- und Wertorientierungen sind ursprünglich ganz nach denen der Eltern ausgerichtet. Der Jugendliche stellt mit der Ablösung von den Eltern(3) auch deren Werte und deren Normorientierungen(1) in Frage. Er muss jetzt eigene, von der Zustimmung der Eltern unabhängige Wert- und Lebensvorstellungen entwickeln. Das bedeutet oft, dass bis dahin gültige Wertorientierungen zwar verloren gehen, neue zunächst jedoch noch nicht an deren Stelle gerückt sind. Dieser relative Verlust kann sich in antisozialen Verhaltensweisen(1), unter Umständen gar in kriminellen Handlungen bemerkbar machen. Kohlberg hat dieses Verhalten treffend als Raskolnikov-Syndrom(1) bezeichnet (vgl. Keniston 1980). Er erklärt dies als Folge einer passageren Über-Ich-Regression(1). Wert- und Normorientierungen(2)(1) der Eltern und der Erwachsenenwelt werden überprüft und hinterfragt, inwieweit das Vorgelebte sinnvoll, vorbildhaft und lebenswert ist.

Gegenwärtige gesellschaftliche Werte, die anhaltend mit technologischem Fortschrittsdenken wie Digitalisierung und künstlicher Intelligenz, mit expandierendem Wirtschaftswachstum oder mit militärischer Aufrüstung verknüpft sind, sind für viele Jugendliche fragwürdig. Klimaveränderungen, betrügerische Manipulationen, die zu unserem Alltag gehören, etwa – wie zuletzt – durch die Autoindustrie, eine von Konsum und grenzenlosem Mediengebrauch(1) geprägte gesellschaftliche Welt sind Bedingungen, die Jugendliche auf der Suche nach verbindlichen Werten eher zu Protest oder zum Ausstieg verleiten als zur Integration in diese Gesellschaft. Die »Fridays for Future«-Bewegung(2) ist dafür ein aktuelles Beispiel. Interessant ist, dass Fridays for Future, ausgehend von der Jugendlichen Greta Thunberg, insbesondere eine Bewegung zu sein scheint, die von weiblichen Jugendlichen getragen wird und sich vor allem gegen die Männerwelt der Konzernchefs wendet. Letztlich sucht der Heranwachsende nach Vorbildern und Identifikationsmöglichkeiten. Aber nicht blinde Überzeugungstreue kann Jugendliche zur Nachahmung verleiten. Notwendig ist vielmehr das Bewusstsein der Eltern ihres eigenen Nichtwissens, ihrer eigenen Neigung zu Vorurteile(1)n und ihrer Fähigkeit, einen Standpunkt einzunehmen, der auch Unzulänglichkeiten einschließt. Protest, kritische Fragen und Infragestellungen sind geeignet, eigene Wertvorstellungen und ein moralisches Bewusstsein erst zu entwickeln, wie eine amerikanische Untersuchung an jugendlichen Protestlern im Vergleich zu jugendlichen Nichtprotestlern deutlich macht. Die Studie stellt fest, dass das moralische Entwicklungsniveau bei den Protestlern prozentual höher lag als bei den Nichtprotestlern (Smith, zitiert nach Keniston 1980, S. 298).

1.1.5 Soziale und berufliche Entwicklung

Die Aufgabe der Entwicklung einer sozialen und beruflichen(1)(2) Identität(1)(1) steht am Ausgang der Adoleszenz. Mit dem notwendigen Prozess der Selbst- und Berufsfindung können infantile und aus der Kindheit fortdauernde Konflikte über die gewählte berufliche Ausrichtung und in der Berufsrolle auf einem neuen und gesellschaftlich integrierten Niveau ausgetragen und sublimiert werden. So kann es sein, dass ein Jugendlicher, der als Kind von Ungerechtigkeiten(1) im Schulsystem betroffen war, es sich als Heranwachsender zum Ziel setzt, im Beruf des Lehrers dazu beizutragen, die schulische Ausbildung zu verbessern; ähnlich das Kind, das erleben musste, dass ein Elternteil schwer krank und hilfsbedürftig war und das hiervon das persönliche Ziel ableitet, einmal als Arzt arbeiten zu wollen (A. Freud 1936/1968, S. 95).

Im günstigen Fall werden eigene lebensgeschichtliche Erfahrungen mit verallgemeinerten Idealvorstellungen verknüpft und zu beruflichen Zielen verdichtet (Erikson 1973, 76). Gerade im Hinblick auf die soziale und berufliche Identität entwickelt der Jugendliche wichtige und oft tragende Bewältigungsstrategien. Die Fähigkeit, produktiv mit konflikthaften psychischen Situationen umzugehen, hat vor allem Jugendforscher interessiert. Im Blickpunkt stehen dort meist die Ich-Fähigkeiten(1) wie Konflikttoleranz(1) oder die Wahrnehmung und der Umgang mit der Realität(1), die dem Jugendlichen zur mehr oder weniger geglückten Bewältigung verhelfen.

Häufig sind Heranwachsende heute mit der Bewältigung ihrer adoleszenzspezifischen Aufgaben überfordert. Deshalb begegnen wir auf der einen Seite Jugendlichen, die überangepasst und überkonform festgelegte Rollenerwartungen(1) blind übernehmen, auf der anderen Seite Jugendlichen, die Schritte der Integration in bestehende gesellschaftliche Subsysteme verweigern (vgl. Marcia 1966). Der überkonforme Jugendliche ist außerstande, sich gegen hohen Anpassungsdruck zu wehren; er übernimmt unkritisch vorfabrizierte Rollen und wichtige Entwicklungsschritte der Identitätsbildung(1) unterbleiben. Der sich verweigernde Jugendliche zieht sich entweder in passiv-apathische Haltungen – unter Umständen mit Drogen- und Alkoholmissbrauch(3)(2) – zurück oder entwickelt eine »Aussteigeridentität(1)« mit einem relativ starken Ich, wobei die angebotenen Rollen als unvereinbar mit den eigenen Idealvorstellungen(2) erlebt werden. Aktuell zeigt sich dies etwa in der angestrebten Berufswahl von Schulabgängern, die sich noch an traditionellen beruflichen Vorstellungen orientieren, statt neue Berufsperspektiven, die durch die Digitalisierung entstehen, zu erkennen.

1.1.6 Emerging Adulthood

Obwohl die Zeitspanne zwischen 18 und 24 Jahren(2)(2) mit besonders hohen Prävalenzen für psychische Störungen einhergeht, findet diese Lebensphase nur selten die notwendige Beachtung. Die späte Adoleszenz(1) und das junge Erwachsenenalter gehen heute mit ganz anderen Herausforderungen einher als dies vor etwa 50, aber auch noch vor 20 oder 30 Jahren der Fall war. Arnett (2000), ein amerikanischer Jugendforscher, bezeichnete die Zeitspanne am Ende der Adoleszenz als »emerging adulthood(3)«. Er stellt fest, dass Verhaltensweisen, die der Adoleszenz zuzuordnen sind, prolongiert Bedeutung haben. Merkmale des Erwachsenenalters wie Heiraten, Familiengründung, Sesshaftigkeit oder Verantwortung als Staatsbürger zu übernehmen werden heute zumeist erst im Alter von 30 bis 40 Jahren realisiert. Der früher selbstverständliche Weg, nach Schul- und Berufsausbildung eine feste berufliche Position einzunehmen und finanziell abgesichert zu sein, ist heute nur noch schwer vorstellbar. So bekommen Lebensformen eine Bedeutung, die mit einer verlängerten Identitätsexploration(1), mit Instabilität, Egozentrismus(1) und grandiosen Vorstellungen, »alles ist möglich«, verbunden sind. Arnett beschreibt Persönlichkeitszüge, die mit Eigenschaften wie der Suche nach »fun and flexibility(1)« einhergehen. Studien zu dieser Altersgruppe zeigen, dass es sich dabei um eine Hochrisikogruppe handelt, die mit ihrer Lebensform häufig Einsamkeit und infolge eines hohen Suchtmittelgebrauches gravierenden gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt ist. Hinsichtlich des Alkoholkonsums(4) der 18- bis 24-Jährigen gibt es alarmierende Zahlen, die sich in den letzten Jahren kaum verändert haben. So liegt die 30-Tage-Prävalenz bei 76,6 %, bei 33,4 % findet regelmäßiger Alkoholkonsum statt und 37,8 % trinken bis zum Koma (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2018).

Eine weitere wichtige Gruppe von jungen Erwachsenen, die aus meiner Sicht ebenfalls der »emerging adulthood« zugeordnet werden sollte, sind die »Nesthocker(3)«, Jugendliche und junge Erwachsene, die bestimmte progressive Schritte der Adoleszenz nicht vollziehen, sondern zu Hause bleiben, sich versorgen lassen, keine direkten Kontakte zu Gleichaltrigen pflegen und manchmal mit Hilfe des Computers die ganze Welt ins eigene Zimmer holen (Streeck-Fischer 2013). Oft handelt es sich um Jugendliche mit sozialen Ängsten, einem Störungsbild, das eine erhebliche Bedeutung in dieser Altersspanne hat, aber noch weit unterschätzt wird. Aufgrund mangelnden Kontaktes mit der Außenwelt werden die Ängste vor der äußeren Realität und vor realen Kontakten verstärkt. In der Folge entsteht ein Teufelskreis, der dazu führen kann, dass jegliche Ablösung und Verselbständigung misslingt, die Betroffenen schulisch und beruflich nicht Fuß fassen und nur über virtuelle Kontakte mit der Welt und anderen interagieren – unabhängig davon, ob eine Traumatisierung vorliegt oder nicht. (s. Kap. 2.3.1)

1.2 Adam und Eva – eine Adoleszenzgeschichte

Mit einem Exkurs in die biblische Geschichte über Vertreibung aus dem Paradies sollen einige spezifische Entwicklungsaspekte der Adoleszenz(1) anschaulich dargestellt werden. Auf den meisten Abbildungen (zum Beispiel Lucas Cranach der Ältere) erscheinen Adam und Eva als Jugendliche, die sich von der Schlange dazu verführen lassen, von den verbotenen Früchten des Baums der Erkenntnis zu essen: »Und sie waren beide nackt«, heißt es im 3. Kapitel der Genesis, »der Mensch und sein Weib und schämten sich nicht«. Zuerst isst Eva vom Baum der Erkenntnis, auf Geheiß der Schlange, dann reicht sie die Frucht an Adam weiter. »Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schürzen.«

Vieles spricht dafür, den »Sündenfall« als Ablösung des heranwachsenden Menschen von seinen Eltern zu lesen, als eine Adoleszenzgeschichte. Schon die hebräische Bibel erlaubt diese Lesart. Auch Kant (1784) und Schiller (1790) sind dieser Spur gefolgt. Kant sieht im Sündenfall die erste Vernunfthandlung. Die Übertretung des Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen, bringt dem Menschen die Freiheit. Diese Freiheit, sich in jedweder Situation entscheiden zu können, bildet die Grundlage von Gut und Böse. Die Ursünde wird wie eine Jugendsünde verstanden; Jugendlichen werden Übertretungen, Risikoverhalten, als entschuldbar zugestanden. Sie handeln aus Übermut, sind für ihr Tun noch nicht verantwortlich und müssen sich aus der elterlichen Fürsorge und Bevormundung erst noch emanzipieren (Krüger 2008).

Unter dem Blickwinkel der sexuellen Entwicklung(2)(2) in der Adoleszenz deutet der Sündenfall an, dass der Jugendliche damit in den Besitz der ursprünglich nur Göttern – Erwachsenen – vorbehaltenen Sexualität gelangt. In späteren Bibelversionen wurde der sexuelle Aspekt auf die Entdeckung von Nacktheit und Scham reduziert, eine Thematik, die auch im Jugendalter eine zentrale Bedeutung hat. Beschämungsängste(2) haben eine wichtige, das Selbst konturierende Funktion (vgl. Kap 1.6.2.2). In den psychoanalytischen Theorien gilt der Schamaffekt(1) als ein Affekt, der durch den Blick des anderen aktiviert wird und Selbstreflektion in Gang setzt. Um Scham zu vermeiden, werden intime Bereiche verborgen gehalten. Dies wird durch kritische Betrachtung von sich selbst und des anderen induziert. Der Ort des geschlechtlichen Unterschieds wird gleichsam zum Angelpunkt der Wahrnehmung von sich selbst und des anderen. Genau dieser neue Blick tritt nach dem Essen von der verbotenen Frucht bei Adam und Eva auf »… und sie flochten sich Feigenblätter …«

Unter moralischen Gesichtspunkten bedeutet das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis die Überschreitung eines Verbotes und konfrontiert mit Handlungsalternativen, wie Kant hervorhebt, mit der Möglichkeit, zwischen Gut und Böse zu wählen. In diesem Zusammenhang hat Dohmen (1988) auch vom »Urknall sittlicher Autonomie(1)(1)« gesprochen. Denn von nun an kann nicht mehr ethisch indifferent gehandelt werden. Solange das Verbot eingehalten wird, besteht Übereinkunft mit Gott bzw. den Eltern, und der damit verbundene paradiesische Zustand ist gesichert. Sich seiner selbst gewahr zu werden als eine Person, die wählen und Rechtes wie Unrechtes tun kann, konfrontiert mit einer neuen Wirklichkeit, in der vor allem Jugendliche lernen müssen, für sich selbst einzustehen. Adam und Evas Übertretung des Verbots lässt sich als Ausdruck der Risikobereitschaft von Jugendlichen verstehen – zugleich wird der Jugendliche zunehmend strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Wie der Jugendliche diesen Schritt hin zur Eigenverantwortlichkeit(1) in seiner weiteren Entwicklung bewältigt, ist u. a. abhängig von seinen selbstreflexiven Fähigkeiten.

Das Essen der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis geht mit kognitiven Veränderungen einher, die zum Erwerb von Weisheit führen und eine mündige Lebensführung(1)