Just one night in Rome - Tiziana Olbrich - E-Book
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Just one night in Rome E-Book

Tiziana Olbrich

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Beschreibung

Reicht ein unvergesslicher Abend aus, um das Leben zweier Fremder für immer miteinander zu verknüpfen, obwohl sie am anderen Ende der Welt voneinander wohnen? Als Josie ihre Italienreise bucht, will sie vor allem eins: ihrem Ex und der Männerwelt im Allgemeinen entfliehen. Im schönen Rom teilt sie sich ihr Hostel-Zimmer ausgerechnet mit dem Weltenbummler Leo. Der Chilene sieht nicht nur unverschämt gut aus, er bringt Josie mit seinen hartnäckigen Fragen auch so aus dem Konzept, dass sie ihre Lebensentscheidungen hinterfragt. Leo lädt sie auf das Abenteuer ihres Lebens ein: eine magische Nacht durch die Straßen Roms. Die Funken sprühen gewaltig, doch Leo wohnt am anderen Ende der Welt und Josie weiß nicht, ob sie ihn je wiedersehen wird. Ist eine Nacht voller Abenteuer genug, um ihr ganzes Leben umzukrempeln?

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Zur AutorinTiziana Olbrich ist eine deutsche Autorin und Lektorin. Sie hat Kulturmanagement und kreatives Schreiben an der Universität in Hildesheim studiert. Nach ihrem Studium arbeitete sie einige Jahre als Marketingmanagerin im Brandbuilding sowie im Bereich der neuen Medien, bis sie 2019 nach Südamerika auswanderte. Seitdem hat sie bereits in sechs Ländern gelebt und nimmt die Inspiration für ihre Geschichten aus den Erfahrungen mit den verschiedenen Kulturen.

Ihre Romane handeln von der Liebe und dem Leben, wobei es ihr ein Anliegen ist, wichtige Themen des Heranwachsens in amüsante und leicht zugängliche Erzählungen einfließen zu lassen. Wenn sie keine Wohlfühlbücher schreibt, erkundet sich am liebsten mit ihrem Backpack andere Länder, geht mit ihrem Freund wandern oder verliebt sich in ihrem Erkerfenster liegend in einen neuen Book-Boyfriend.

Disclaimer:Dieses Buch basiert auf einer wahren Begebenheit. Es handelt sich allerdings um ein fiktionales Werk, dessen (Neben-)Figuren und Geschehnisse auf der Fantasie der Autorin beruhen. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. Alle Rechte vorbehalten.

Für Nicholas

Das Leben ist ein Geschenk.

Vergiss nicht, es zu leben.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 1

Jakob:Verdammt noch mal, geh endlich ans Telefon!

Verpasster Anruf um 18:37.

Verpasster Anruf um 18:41.

Jakob:Was ist nur in dich gefahren? Einfach so abzuhauen … Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?!

Jakob:Ach, komm schon, Josie. Es ist nicht so, wie du denkst. Rede mit mir.

Verpasster Anruf um 19:52.

Jakob:Wo zum Teufel steckst du? Ich steh vor deiner Haustür. Mach auf!!

Verpasste Anrufe (13).

Jakob:Dann ignorier mich halt, aber heul mir später nicht die Ohren voll, ich hätte es nicht versucht. Du baust gerade richtigen Mist.

Verpasster Anruf um 22:54.

Jakob:Das sieht dir doch gar nicht ähnlich …

Wie konnte ich es bloß für eine gute Idee halten, den Tag mit einem Blick aufs Handy zu starten? Den irrsinnigen Entschluss bereue ich sofort. Eine Vielzahl von Nachrichten leuchtet mir vom Handydisplay entgegen. Nachrichten, auf die ich nach über einer Woche noch immer keine Antwort geben kann. Mein Herz hämmert immer schneller in der Brust. Dabei bewältige ich gerade keinen Sprintlauf, sondern liege im Bett. Mein Magen windet sich, krampft sich zusammen und wird hart. Allein Jakobs Namen auf dem Display zu lesen genügt, um Übelkeit in mir auszulösen. Obwohl der Eingang der letzten Mitteilung schon einige Tage zurückliegt, habe ich mich noch immer nicht an ihren Anblick gewöhnt.

Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange, um den Schmerz einzudämmen. Warum quäle ich mich selbst, indem ich sie immer wieder lese? Als hoffe ich darauf, dass sich die Bedeutung mit genügend Abstand ändern würde.

Schnell schließe ich das Nachrichtenfach von Jakob und überfliege den Mitteilungseingang der übrigen Kontakte. Mein Blick huscht sofort hoffnungsvoll zum Namen meiner besten Freundin, doch sie straft mich weiterhin mit Funkstille. Kein Foto, kein Emoji, nicht ein verdammtes Sterbenswörtchen. Es kränkt mich, dass Sara nicht einmal versucht, die Wogen zu glätten. Erwartet sie etwa, dass ich den ersten Schritt mache? Gar, dass ich mich entschuldige?

Heiße Tränen brennen in meinen Augen. Ich schließe sie ebenso schnell, wie ich das Handy verriegle. Sekunden später reiße ich sie wieder auf. Zu schmerzhaft ist die Szene, die sich in mein Gedächtnis gebohrt hat. Scharf gestochen, wie die Umrisse eines Tattoos, brennt ihr Anblick in meinen Augenlidern. Sara und Jakob – ausgerechnet meine beiden Lieblingsmenschen –, die sich innig küssen. Wie konnten sie mir das nur antun?! Wie viele Tränen ich auch vergieße, ich werde die Silhouette des umschlungenen Paares nicht los.

Ein kehliger Laut entweicht meiner Kehle. Schnell drehe ich mich beschämt zur Seite. Kehre dem Raum den Rücken zu und streiche meine feuchte Wange über den muffigen Kissenbezug. Verdammt, reiß dich zusammen! Du bist hier nicht allein. Ich drücke das Gesicht ins Kopfkissen und dämpfe das Schluchzen. Wie viele Tränen dieses Kissen wohl schon aufgefangen hat? Mit Sicherheit Tausende, bei all den Menschen, die auf ihm genächtigt haben.

Meine Nerven flattern, genau wie mein lädiertes Herz. Wie ein nasses Handtuch fühlt es sich an. Schwer und klobig. Egal, wie sehr ich versuche, es auszuwringen, die giftige Säure meines Zusammenbruchs bekomme ich nicht raus. Den Anblick des lügenden und betrügenden Mistkerls ebenfalls nicht.

Ich wünsche mir einen meiner Lieblingsmenschen herbei, ihren Zuspruch und eine Umarmung. Obwohl mir meist die Luft wegbleibt, wenn meine beste Freundin mich etwas zu stürmisch in die Arme schließt und anschließend eine dicke Duftwolke von Miss Dior an mir klebt, sehne ich mich nach ihr. Ich vermisse die Sara, mit der ich seit Schultagen befreundet bin und die mir für gewöhnlich bei Kummer zur Seite steht. Mich behutsam mit ihren großen Apfelbäckchen-Wangen anlächelt und die mit ihrem Blondschopf und den strahlend grünen Augen glatt als mein Zwilling durchgehen würde, wenn sie nicht einen guten Kopf kleiner wäre. Zierlicher von der Statur, dafür vom Charakter her um einiges bestimmender.

Sara, auf die ich mich immer verlassen und der ich so viele Geheimnisse anvertraut habe – vor allem über die Beziehung mit Jakob. Sie kennt all unsere Schwachstellen im Detail. Ob sie die bewusst gegen mich verwendet hat, um ihn mir auszuspannen?

Und Jakob, dessen Aufgabe es als mein Partner wäre, mich bei Kummer zu trösten. Mich in den Arm zu nehmen und mir Mut zuzusprechen. Nicht, dass er das in den letzten Monaten, in denen wir ein Paar waren, je getan hätte. Dafür gab es keine Gelegenheiten, wir hatten nie Zoff in unserer Beziehung. Und mit Familiensorgen oder Arbeitsstress wollte ich ihn nicht belasten.

Jakob, der für meinen Geschmack zwar etwas zu oft Playstation zockt, statt in der Realität einen Ball zu kicken, aber dafür allerhand andere Qualitäten hat. Zuverlässig ist er, hat immer angerufen, wenn er es versprochen hat. Außerdem gibt er keine blöden Machosprüche von sich und teilt im Kino bereitwillig sein Popcorn mit mir. Was mir am meisten imponiert hat, war, dass er meine beste Freundin stets miteinbezogen hat. Doch jetzt frage ich mich, ob er das überhaupt für mich tat oder nicht vielmehr, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte. Wann es wohl zwischen den beiden angefangen hat?

Tausend Fragen.

Ein Gefühl, das bleibt: Verrat.

Obwohl ich sonst stolz auf meine Eigenständigkeit bin, sehne ich mich nach Beistand. Danach, dass mir jemand anderes die Entscheidung abnimmt, was ich als Nächstes unternehmen soll. Wie ich den heutigen Tag überstehe und endlich dem Taschentuch-Verbrauch der letzten Tage Einhalt gebiete.

Vor Hilflosigkeit schaue ich abermals auf mein Handydisplay, aber natürlich hat sich nichts an meiner Situation geändert. Keine neue Nachricht, keine Entschuldigung und erst recht kein Lösungsvorschlag. Ich würde es niemals zugeben, doch insgeheim leide ich am meisten darunter, dass niemand kommt, um nach mir zu sehen. Es hilft alles nichts. Ich dränge meine Gefühle zurück. Schließlich bin ich nicht allein in diesem Zimmer, indem ich vor Einsamkeit vergehe. Ich atme tief ein, um klarer zu denken.

Ich schaffe das. Ich habe schon ganz andere Dinge geschafft, einfach einatmen und ausatmen. Einatmen und ausatmen. Einatmen und ausatmen.

Der Druck in meiner Brust lässt allmählich nach und das pochende Herz schlägt wieder in gewohnten Bahnen. Ich seufze erleichtert auf und drehe mich wieder auf den Rücken. Ich blicke an die von schmalen Rissen durchzogene Zimmerdecke, die nur einen knappen Meter über mir endet, gerade genug, dass ich mich, ohne den Kopf anzustoßen, aufrichten kann. Das Stockbett knarzt und wackelt unangenehm. Gott, wie sehr ich dieses Metallgerüst mit seiner mickrigen Matratze hasse. Selbst mein altes Kinderbett ist breiter gebaut. Zudem fehlt ein Sicherheitsgitter, sodass ich die schmalen neunzig Zentimeter nur zum Teil nutzen kann und mich jede Nacht, aus Angst in die Tiefe zu fallen, gegen die Zimmerwand presse.

Nicht weit von mir erklingt ein Gähner und eines der anderen Betten knarzt. Ich richte mich entschlossen auf und winde mich aus dem dünnen Tuch, welches zum Deckenersatz dient. Sogleich greife ich mir in den verspannten Nacken. Nicht zum ersten Mal bereue ich die Entscheidung mein kuschliges Bett, das gute eintausendvierhundertfünfzig Kilometer nördlich von mir liegt, gegen dieses klapprige Gestell mit durchgelegener Matratze ausgetauscht zu haben. Ich hatte gehofft, mit wachsender Entfernung würde auch der Schmerz nachlassen. Wer mag schließlich keinen Urlaub?

Allerdings hatte ich nicht bedacht, dass Liebeskummer einen nicht gerade in eine Stimmungskanone verwandelt. Mein innerer Sparfuchs hat von Deutschland aus blöderweise ein Vierbettzimmer in einem Hostel gebucht. Aber keiner weint gerne, während ihm drei Fremde dabei zugucken.

Obwohl mir danach ist, mich unter der Bettdecke zu verkriechen und die ganze Welt auszublenden, zwinge ich mich dazu die Leiter hinunterzuklettern. Ich kann kaum den Großteil meines Tages auf dem mir zugewiesenen Hochbett verbringen, Schokoladenmassen verdrücken und einen Serienmarathon veranstalten. Allein schon wegen des schlechten WLAN-Empfangs. Die Vorstellung, was meine Zimmergenossen von mir denken könnten, treibt mich voran.

Ich tapse durch den halbdunklen Raum zum Fenster, sammle dabei mit meinen Füßen Krümel und Staubpartikel auf. Igitt. Mit einem klirrenden Geräusch lässt sich der schwere Fensterknauf drehen. Ich lehne mich aus dem Fenster, um der stickigen Zimmerluft zu entkommen. Gierig sauge ich die florale Mailuft ein. Ich inhaliere den Duft von frischem Gebäck, der sich mit den Aromen von Kaffee und Pinienbäumen vermischt. Mein Blick wandert die kleine Gasse entlang auf der Suche nach etwas Sehenswertem, bis mich ein Laut zusammenfahren lässt. Ein kehliger Gähner erklingt hinter mir.

»Morning Sunshine!«

Das hat mir gerade noch gefehlt.

Ich brauche mich nicht einmal umzudrehen, ahne auch so, dass es sich nur um die größte Nervensäge dieses Zimmers handeln kann. In einer zügigen Drehung wende ich mich dem Raum zu und sehe, dass mein Verdacht sich bestätigt. Mein Bettgenosse – oder vielmehr derjenige, der im unteren Teil meines Hochbetts liegt – ist aufgewacht.

Nathan gähnt ungeniert und streicht sich über den gebräunten Bauch. Er zwirbelt mal wieder seine Bauchhaare, die, im Gegensatz zu seiner hellen Mähne, in einem dunklen Braun sprießen und lässt mich dabei keine Sekunde aus dem Blick. Mit seinen Haarbüscheln zu spielen, scheint zu seiner Lieblingsbeschäftigung zu zählen, kurz nach Oben-ohne-Herumlaufen, versteht sich.

Er hält sich für unwiderstehlich, stößt bei mir aber eher auf Unverständnis. Wer so mit seinen äußeren Merkmalen protzt, hat nicht viel anderes zu bieten. Und in einem gemischten Schlafsaal könnte er mehr Rücksicht auf die weiblichen Mitbewohner nehmen, finde ich zumindest. Wobei ich mit der Ansicht, als derzeit einzige Frau, wohl allein dastehe.

Am liebsten würde ich ihm zur Antwort den Mittelfinger entgegenstrecken, um ihn auf Abstand zu halten. Da das gegen meine Anstandsregeln geht – meine Mutter wäre stolz auf mich, zumindest in dieser Hinsicht – ignoriere ich seinen Gruß und widme mich stattdessen dem Metallkorb, der unter seinem Lattenrost steht. Ich hocke mich hin und wühle durch meine Sachen. Unterwäsche, Kosmetikartikel, Bücher – alles liegt wild durcheinander. Der auf vier Rollen montierte Korb ist zu klein, um Ordnung zu bewahren. Flink greife ich nach einem blauen Sommerkleid und presse es mir vor die Brust, um zu verhindern, dass Nathan ungewollten Einblick in den Ausschnitt meines Schlaftops erhält. Das hält meinen Bettgenossen allerdings nicht davon ab, mich weiterhin mit seinem penetranten Blick aufmerksam von oben herab zu mustern.

»Du kannst auch gerne noch näherkommen, Suze.« Er zwinkert mir zu. »In meinem Bett ist reichlich Platz.«

Ich funkle ihn an und verschwinde mit mehr Elan ins angrenzende Badezimmer als gewöhnlich. Die Tür scheppert, als sie hinter mir ins Schloss fällt, und kurz darauf ertönen die Stimmen der anderen Zimmergenossen, die durch meinen lauten Abgang aus ihrem Delirium zum Leben erwachen.

Suzy Sunshine, so nennt mich der Vollidiot. Da mein Gemüt in letzter Zeit alles andere als sonnig ist, tippe ich darauf, dass er mir den Spitznamen aufgrund meiner hellen Haare zugeteilt hat. Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir, ein wenig kecker wie Sara zu sein, die stets einen flotten Spruch auf den Lippen hat und ungewollten Anmachen gekonnt Einhalt gebietet.

Das fensterlose Badezimmer ist so winzig, dass ich so wenig Zeit wie möglich darin verbringen will. Es müffelt leicht und auch, wenn es regelmäßig von den Reinigungskräften geputzt wird, ist klar zu erkennen, dass die vergilbten Fliesen ihren Zenit schon vor Jahrzehnten überschritten haben. Den ranzigen Duschvorhang würde ich nur mit einer Pinzette anfassen. Normalerweise bevorzuge ich die Duschen im Gemeinschaftsbad am Flurende. Nathans Kommentar hat mich jedoch dermaßen aus dem Konzept gebracht, dass ich nicht nachgedacht habe. Und jetzt möchte ich mir meine Kurzschlusshandlung nicht anmerken lassen. Ich streife mir gerade die Kleider vom Körper, da werden die Stimmen von nebenan lauter.

»Und ist sie gestern Abend endlich ausgegangen?«, dringt eine tiefe Stimme an mein Ohr und ich halte für einen Augenblick inne.

Der lateinamerikanische Akzent verrät mir, dass es sich dabei um den Typen im Hochbett gegenüber handeln muss, der wie ich auch, im oberen Bett schläft. Wir haben bislang nur wenige Worte miteinander gewechselt, was vor allem daran liegt, dass wir kaum zur selben Zeit im Zimmer sind. Mit seiner verwuschelten Mähne, dem kleinen Kinngrübchen und den buschigen schrägen Augenbrauen erinnert er mich stark an Diego Boneta. Auch wenn ich nicht weiß, ob er ebenso gut singt. Seine samtige Stimme lässt es zumindest vermuten. Fest steht, er ist eine Nachteule und unsere Tagesrhythmen könnten nicht konträrer sein.

»Dude, sie ist wie immer früh ins Bett«, spottet eine wesentlich hellere Stimme, die Nathan gehört.

»Wir sollten sie mal auf einen Drink mitnehmen«, gibt der Latino nachdenklich von sich.

»Hübsch ist sie ja, aber so ´ne Spaßbremse? Nee, lass mal!« Nathan lacht auf. Am liebsten würde ich ihm etwas Schweres an den Kopf werfen. Meine Harry-Potter-und-der-Orden-des-Phönix-Ausgabe käme nicht schlecht, schließlich ist sie der mächtigste Band der Reihe. Wobei die viel zu schade für sein blödes Gesicht wäre. Also murmle ich stattdessen nur Silencio und stelle mir vor, wie ihm die Spucke im Hals stecken bleibt. Den Rest ihres Gespräches übertönt zum Glück der warme Wasserstrahl der Dusche. Nervige Idioten, die sollen mich besser in Ruhe lassen. Ich lege keinen Wert auf neue Kontakte und auf so unsympathische schon gar nicht!

Hostel-Bewohner sind ein Griff in die Glückskiste: Man weiß nie, was man bekommt. Der Kanadier Nathan zum Beispiel hält sich für unsagbar heiß. Ich schätze ihn auf Anfang zwanzig, und sein oberstes Ziel scheint es zu sein, in so vielen Bars wie möglich zu trinken. Zumindest vermute ich das. Denn er kam in den letzten Nächten stets volltrunken ins Zimmer getaumelt, stürzte jedes Mal erneut über einen der Stühle in der Zimmermitte und machte rücksichtslos das grelle Deckenlicht an. Um fünf Uhr morgens. Am unangenehmsten war es mir, als er vor zwei Tagen so betrunken war, dass er die Tür zum Badezimmer offenließ und wir Zeuge seines Urinier-Konzerts wurden. Vielen Dank Nathan, echt großartig. Also wir werden sicher keine Freunde.

Der Latino ist ebenso lange unterwegs und kam die eine Nacht sogar gar nicht zurück. Bislang ist mir nur aufgefallen, dass er nachts leise schnarcht und ein Faible für langes Duschen hat. Was er da wohl derart lange anstellt? Entweder er nutzt den im Hostelleben kostbaren Moment des Alleinseins für ein wenig Selbstliebe oder hat eine Haarpflegeroutine, die mit einem Beauty-Blogger mithalten könnte. Letzteres würde mich bei seinen glänzenden Haaren nicht einmal überraschen. Ich schätze ihn als ebenso partyaffin ein wie Nathan. Ansonsten scheint er ganz okay zu sein. Nicht, dass ich das tatsächlich beurteilen könnte. Mehr als zwei Sätze habe ich mit keinem meiner Zimmergenossen gewechselt. Wobei ich ihnen zugutehalte, dass sie nicht allzu unordentlich sind.

Und seit gestern ist da noch ein Inder, der ähnliche Schlafgewohnheiten hat wie ich. Aber so ist das halt. Hostel-Bewohner wechseln alle paar Tage, und man weiß nie, ob es sich lohnt, sich mit jemanden anzufreunden. Was rede ich denn da? Zum Freundefinden bin ich ohnehin nicht hier.

Ruhe ist alles, wonach ich mich momentan sehne. Und da Jakob nach einigen Stunden vor meiner Tür kampierte, blieb mir nichts anderes übrig, als abzuhauen.

Dank meiner Kurzschlussentscheidung bin ich nun um eine Erkenntnis reicher: Wer sich, aus welchem Grund auch immer, in heftigem Selbstmitleid suhlen möchte, sollte lieber zuhause bleiben, anstatt in den Urlaub zu fahren. Zwar gibt es in Rom allerlei Ablenkungsmöglichkeiten, jedoch wird es auch jedes Mal kommentiert, wenn ich mich gegen eine Aktivität entscheide. Vor mich hinvegetieren, ist demnach keine Option.

Komm schon Josie, tu es für dich selbst! Wenn Jakob dich so sehen könnte …

Der Gedanke schafft es, meinen Elan zu wecken. Ein betrügender Ex-Freund ist es nicht wert, ihm hinterher zu trauern und dadurch den schönen Ort vor meiner Tür zu verpassen.

Kurz darauf schnappe ich mir meine Sachen, wünsche meinen Zimmergenossen einen angenehmen Tag und mache mich auf den Weg zum beeindruckendsten Denkmal der Stadt. Wenn ich es schon nicht geschafft habe, meinen Herzschmerz zu lindern, will ich wenigstens einen gebührenden Abschluss für meine Reise finden.

Kapitel 2

Über den Dächern Roms sitze ich auf einer Balustrade im Petersdom, lasse die Beine baumeln und den Blick über den Vatikan schweifen. Mit beeindruckenden Altarbildern im Kopf sowie zahlreichen Eindrücken, die helfen mich abzulenken. Immer in Bewegung bleiben, ist mein Motto. Seit meiner Ankunft in Italien takte ich meine Tage durch und laufe von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Die Kontrolle gibt mir Halt.

Ich starre imposante Deckengemälde an, auf der Suche nach etwas, das die Leere in meiner Brust zu füllen vermag. Doch so viele überwältigende Bauten ich in den letzten Tagen auch besucht habe, im Gedächtnis ist mir keins geblieben, geschweige denn ihre Namen. Dafür werde ich die fünfhundert Stufen, die ich die kleine Wendeltreppe zum Petersdom hochgestiegen bin, ganz sicher nie wieder vergessen. Meine Beine sind überhitzt und schwer, die dünnen Sandalen nicht für ein stundenlanges Umherwandern ausgelegt. Am liebsten würde ich zurück ins Hostel, aber das käme einer Niederlage gleich.

Ich habe Rom als Reiseziel in Hommage an meinen Mentor ausgewählt. Mein ehemaliger Literaturprofessor hat stets von der Ewigen Stadt geschwärmt und unzählige Male erzählt, wie schon Goethe seine Wiedergeburt hier erlebte. Dass dieser erst in Rom zum ersten Mal in seinem Leben glücklich gewesen sei, genauso wie mein Professor. Eine Wiedergeburt, ein Neuanfang – vielleicht habe ich zu hoch gepokert? So faszinierend eine Stadt auch sein kann, sie hat keine magischen Heilkräfte.

Aus dem Affekt heraus hatte ich den Flug nach Italien gebucht und mir geschworen, nur das zu tun, worauf ich Lust hatte. Endlich einmal mich selbst, statt einen Typen, an erster Stelle zu setzen. Wie bitterlich dieser Vorsatz gescheitert ist, immerhin habe ich es meinen Zimmerkollegen – und Nathan im Speziellen – zu verdanken, dass ich aus meinem eigenen Hostelzimmer geflüchtet bin.

Warum bin ich bloß derart schlecht darin, für mich selbst einzutreten? Warum kann ich nicht ein einziges Mal egoistisch handeln, etwas mal nur für mich tun?

Ich wende den Blick von der Engelsburg ab und beobachte die vereinzelten Paare, die gemächlich an mir vorbeischlendern. Händchenhaltend, kichernd, gut gelaunt. Ein Mann, nicht wesentlich älter als ich, breitet seine Arme weit aus, um die auf ihn zulaufende Frau aufzufangen. Sie quietscht begeistert auf, als er sie herumwirbelt und ihr hellrotes Kleid sich zu einem Fächerkranz um sie herum ausbreitet.

»Ciao bella«, höre ich ihn sagen und beobachte, wie er ihr eine Locke ihrer glänzenden dunklen Haare hinters Ohr streicht. Die Frau strahlt ihn an und ich kann den Blick ebenfalls nicht abwenden. Bin fasziniert von ihrer lockerleichten Art, den verliebten Blicken, die sie einander zuwerfen. Erst als sie sich küssen, schaue ich schnell weiter zu zwei Männern mit asiatischen Zügen, die ein Selfie miteinander schießen. Abermals wende ich mich ab, nur um ein anderes Paar zu sehen. Ein älteres diesmal, aber die liebevolle Geste, wie die ältere Dame ihrem Mann eine Strähne aus dem Gesicht streift, versetzt mir einen Stich.

Paare über Paare, nur ich scheine ganz allein zu sein. Umgeben von Zweisamkeit komme ich mir noch einsamer vor. Trotz des schönen Urlaubsortes haben die letzten Wochen es nicht geschafft, mein Herz zu heilen. Vielmehr wird mir durch die Urlaubsgespanne noch stärker vor Augen geführt, wie sehr ich unter der unerwarteten Trennung leide. Kein Partner, keine Freundin, nicht einmal ein Familienmitglied habe ich, dass mit mir in den Urlaub fahren würde.

Ich ziehe meine Beine an den Oberkörper. So nah, dass sich Knie und Brust berühren. Den Kopf lege ich seitlich auf den Knien ab und greife mit den Händen um die Beine. Ich verschmelze mit der Umgebung und keiner nimmt mich wahr. Gäbe es einen Preis, für die unscheinbarste Person der Welt, wäre ich trotz meiner leuchtend hellen Haare die unschlagbare Siegerin. Ich brauche keinen Tarnumhang, um mich zu verstecken.

Ich hatte eine exakte Vorstellung davon gehabt, wie es sein würde, wenn ich erst einmal in Italien wäre. Ich habe mich durch die wunderschönen Gassen schlendern sehen, mit einem Eis in der Hand, einem mit Spaghetti Carbonara gefüllten Bauch und vielleicht sogar einem hübschen Italiener, der mir einen neckischen Spruch zuruft. Ich dachte, wegzufahren und vor meinen Problemen davon zu laufen, würde sie auflösen. Dass ich mich befreiter fühlen würde oder selbstbewusster. Aber so ist es absolut nicht. Keine meiner Sorgen ist verschwunden, ich habe nur die Pausentaste gedrückt. Genauso wie ich mein Leben angehalten habe, als ich diese Auszeit angetreten bin. Doch das bedeutet nicht, dass ich mich der Realität früher oder später nicht trotzdem stellen muss. Der Gedanke an die Zukunft trübt meine Gegenwart.

Bis auf wenige Worte des Small Talks habe ich seit Tagen mit niemandem mehr gesprochen. In der Hoffnung, Trübsal wegzublasen, habe ich jede touristische Sehenswürdigkeit abgeklappert. Bis auf ein paar Geldscheine weniger im Geldbeutel und einige neue Fotos auf dem Smartphone habe ich jedoch keinerlei hilfreiche Erkenntnisse errungen. Die Tage sind an mir vorbeigezogen und heute ist bereits mein letzter Nachmittag. Meine letzte Möglichkeit, das Ruder herumzureißen. Doch die Chance auf ein Abenteuer findet sich nicht an jeder Straßenecke und ich bin ohnehin zu ausgelaugt, um nach einer zu suchen. Wobei liegt die Magie unvergesslicher Erlebnisse nicht darin, dass sie einen findet, statt andersherum?

Kurze Zeit später schließe ich die Tür zum Hostel-Zimmer auf. Der Raum ist in ein Halbdunkel getaucht und zu meiner Erleichterung verlassen. Im Gegenzug zu heute Morgen ist der Boden gereinigt und von herumliegenden Chipstüten und leeren Dosen befreit.

Wie immer ziehe ich als Erstes den durchsichtigen Vorhang, der mehr zu Deko- als Verdunklungszwecken dient, zur Seite und öffne das angelehnte Fenster weit. Frische Luft strömt ins Zimmer und ich atme tief ein. Ich könnte schon wieder eine Dusche gebrauchen, so klebrig fühlt sich das blaue Sommerkleid auf meiner rosigen Haut an, aber die Erschöpfung ist stärker. Achtlos streife ich meine Sandalen ab. Dann visiere ich das Hochbett an und klettere die knarzenden Stufen der Metallleiter hinauf. Gähnend reibe ich mir über die Augen, bevor ich endlich den Kopf aufs Kissen sinken lasse.

Was für eine Wohltat.

Nachdem ich mich die letzten Stunden durch Menschenmassen der Vatikanischen Museen gedrängt habe, genieße ich die Ruhe und Abgeschiedenheit des Raums. Schläfrig greife ich nach meinem Handy und suche auf Netflix nach einer passenden Ablenkung. Lieblingsserie, ich komme! Wenn mein eigenes Leben fade ist, möchte ich zumindest durch Bücher oder Serien Abenteuer aus zweiter Hand miterleben. Da das WLAN in den Zimmern zu wünschen übrig lässt, habe ich mir in weiser Voraussicht ein paar Folgen heruntergeladen. Ich kann es kaum erwarten, die neueste Episode von Emily in Paris anzuschauen, da lässt mich ein Laut innehalten. Ein Knarzen erklingt. Ich ordne es gerade den Dielen im Flur zu, da öffnet sich mit einem Klicken die Tür.

Mein erster Impuls ist es, mich schlafend zu stellen. Meine Wangen werden heiß und Scham steigt in mir auf. Mist. Ich fühle mich wie eine Schülerin, die sich verbotenerweise vor dem Unterricht drückt. Nur, dass ich gehofft hatte, von keinem meiner Mitbewohner dabei erwischt zu werden, wie ich um fünf Uhr nachmittags lieber eine Serie auf dem Handy anschaue, statt die kulinarische Metropole vor der Haustür zu erkunden. Zu meiner Verteidigung könnte ich höchstens anbringen, dass ich nach meinem Fußmarsch fix und fertig bin. Für heute habe ich mehr als genug Menschen gesehen.

Noch bevor ich das Handy weglegen und die Augen schließen kann, erscheint der Latino in meinem Blickfeld. Er zieht grinsend die Augenbrauen hoch. Sein forschender Blick verstärkt den Wunsch, mich in Luft aufzulösen. Vor allem, da er nicht im Geringsten überrascht aussieht. Vielmehr als hätte er damit gerechnet, mich hier zu finden. Aus irgendeinem Grund missfällt mir das. Dabei sollte es mich nicht kümmern, ob er mich für eine Langweilerin hält. Keine Ahnung, warum ich mich ertappt fühle. Ein Teil von mir verspürt den Drang, sich zu rechtfertigen. Aber nach all den stummen Tagen fühlt sich meine Zunge zu schlaff an, um direkt zu kontern. Worte tanzen in meinen Gedanken, doch keins erscheint passend und so erblicken sie nie die Außenwelt.

Stattdessen beobachte ich angespannt, wie er auf das gegenüberliegende Hochbett klettert und seine Mähne ebenfalls aufs Kopfkissen sinken lässt. Seine Augenlider fallen augenblicklich zu. Kaum lässt das quietschende Geräusch des Metallbettes nach, breitet sich eine erdrückende Stille aus. Ich wage es kaum, zu atmen, geschweige denn mich zu bewegen.

Blöderweise sind meine Kopfhörer noch in den Tiefen meines Gepäcks verstaut. Jetzt kann ich mir die Serie wohl abschminken. Sie laut anzusehen wäre unhöflich. Unschlüssig blicke ich mich im Zimmer um. Ich könnte lesen. Irgendwo in meinem Reisekoffer befindet sich noch der neueste Kyra-Groh-Roman. Aber dafür müsste ich ebenfalls aufstehen. Und wenn es etwas gibt, dass ich mehr verabscheue als Menschenmassen, sind es diese blöden Hochbettleitern. Ich komme mir wie ein ungelenkes Kleinkind vor, wenn ich versuche, unbeschadet, in das obere Bett zu klettern.

Die Warteschlange im Vatikan ist nichts im Vergleich zu den Menschenmassen, die sich die Sixtinische Kapelle ansehen. Meine Füße schmerzen und danken es mir nicht gerade, dass ich beide Sehenswürdigkeiten an nur einem Tag erkundet habe. Noch ein Grund, warum ich mir geschworen habe, dieses Bett erst wieder zu verlassen, wenn ich morgen zum Flughafen fahre.

Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange und sehe zu meinem Bettnachbarn hinüber. Er trägt ein simples weißes T-Shirt, das im Kontrast zu seiner gebräunten Haut steht und Ausblick auf seine muskulösen Arme gibt. Dazu trotz des sommerlichen Wetters eine dunkle Jeans. Viel über seinen Charakter sagt das schlichte Outfit nicht aus. Sein Gesicht wirkt entspannt und der Atem geht gleichmäßig. Ob er schläft? Ich brauche immer Stunden zum Einschlafen, aber anderen fällt dies ja bekanntlich leichter.

Es erscheint mir merkwürdig, einem Mann, dessen Namen ich nicht einmal kenne, beim Schlafen zuzusehen. Auch wenn es nicht ohne seine Zustimmung geschieht, kommt es mir doch zu intim vor – als würde ich unerlaubt in seine Privatsphäre eintauchen. Nein, dieser Anblick ist nicht für mich bestimmt. Trotzdem hält mich etwas davon ab, wieder wegzuschauen. Der Latino scheint meinen Blick auf sich zu spüren. Völlig unerwartet richtet er das Wort an mich.

»Machst du auch ein kurzes Nickerchen?«, fragt er in lateinamerikanischem Englisch. Sein Akzent ist so stark, dass ich ihn zunächst nicht verstehe. Erst mit einigen Sekunden Verzögerung antworte ich.

»Ich … Ja! Also nein, nein … Ich ruhe mich nur vor dem Abendessen aus«, bringe ich schließlich verdutzt hervor. Die Worte schießen mir so schnell aus dem Mund, dass ich froh darüber bin, nicht meine Zunge zu verschlucken. Ich bin es nicht gewohnt, Englisch zu sprechen, und werde augenblicklich verlegen. Mein Herz rast vor Nervosität und ich ärgere mich über mich selbst. Verdammt, jetzt muss ich doch noch einmal raus. Immerhin will ich nicht als Lügnerin dastehen.

Warum ist mir die Meinung anderer bloß immer so wichtig?, ärgere ich mich. Ich werde diesen Typen ohnehin nie wiedersehen.

Ich überlege, noch etwas hinzuzufügen, weiß allerdings nicht was. Dabei zupfe ich an der Nagelhaut meines Daumens, während mein Blick durch den Raum gleitet. Wenige Sekunden später landet er wieder bei ihm. Abermals mustere ich ihn aufmerksam, verharre diesmal länger auf seinem Gesicht.

Wo er wohl herkommt?

Die Augen des Typen bleiben geschlossen und er erwidert nichts mehr. Auch gut. Dann widme ich mich halt wieder meinem Handy.

Ich öffne WhatsApp und ermahne mich dazu, nicht wieder am Namen meiner ehemaligen besten Freundin hängen zu bleiben. Stattdessen scrolle ich durch meine Kontakte, bis ich Cocos Namen erspähe. Kurzerhand beschließe ich, ihr eine Nachricht zu schicken. Sie ist die Einzige, bei der ich mich aus dem Urlaub gemeldet habe, wenn auch nur, weil sie als meine Nachbarin so lieb ist, meine Blumen zu gießen. Coco heißt eigentlich Corinna und wohnt schräg gegenüber von mir. Sie ist alleinerziehend und bereits achtundzwanzig. Während meine übrigen Nachbarn in dem Lebensstadium angekommen sind, indem sie sich ihrer Rente entgegensehnen, ist Coco einer der energievollsten Menschen, die ich kenne. Egal, wie viel Schlechtes ihr passiert ist, sie verliert nie den Glauben an das Gute. Und Coco ist schon eine ganze Menge Schlechtes passiert.

Allen voran ihr Ex-Freund Timo, der sie sitzenließ, als sie nach fünf Jahren Beziehung schwanger wurde und dass, obwohl der Nachwuchs von beiden geplant war. Timo kam jedoch nicht mit der neuen Verantwortung zurecht und machte sich aus dem Staub. Coco hingegen ist eine großartige Mama und immer, wenn ich bei ihr zu Besuch bin, blüht mein Herz auf und ich fühle mich sofort wohl. Ihre Wohnung ist ein gemütliches Chaos und passt perfekt zu Cocos farbenfroher Natur. Sie hat Modedesign studiert, hält sich im Moment aber mit Kellnerjobs über Wasser. Zwei- bis dreimal pro Woche passe ich auf ihre kleine Tochter Emily auf, damit Coco Spätschichten einlegen kann. Mich stört das nicht im Geringsten, zum einen wohnen die beiden am Ende des Hausflurs und zum anderen bin ich es, die dankbar ist, Zeit mit Cocos süßer Tochter verbringen zu dürfen.

Jedenfalls ist Coco eine Wucht, und wenn ich ihr von meinem abrupten Beziehungsende erzählen würde, wäre sie sicherlich mit einigen aufmunternden Ratschlägen und einer Flasche Wein zur Stelle. Schätze ich zumindest, getestet habe ich es bislang nicht. Mir fällt es schwer, meine Gefühle anderen zu offenbaren. Ich will niemandem zur Last fallen und kläre meine Probleme lieber selbst.

Josefine:Vermisse die Kleine. Der Brunnen hätte ihr gefallen.

Ich wähle eins der weniger verkorksten Fotos von mir auf der Piazza Navona vor dem sagenhaften Brunnen aus. Einer der Nachteile des Alleinreisens ist, dass es eine richtige Herausforderung sein kann, einen Fremden zu finden, der in der Lage ist, ein schönes Foto zu knipsen. Eins, auf dem man nicht nur halbwegs passabel aussieht, sondern ebenfalls das jeweilige Wahrzeichen, vor dem man posiert, abgebildet ist. Meist werden diese leider abgeschnitten. In ein Fotobuch würde ich das Bild zwar nicht kleben, aber um Coco zum Schmunzeln zu bringen, reicht es.

Ihre Antwort folgt prompt und ich blicke auf ein verwackeltes Selfie von Coco und ihrer strahlenden Tochter, die, nach ihrem schokoladenverschmierten Gesicht zu urteilen, eben erst ein Eis verdrückt hat.

Ein Schmunzeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Die Sehnsucht nach der Kleinen wächst. Ich drücke mir das Handy an die Brust und genieße den kurzen Moment der Leichtigkeit.

Ein Räuspern erklingt. Ich zucke zusammen und schaue überrascht zu meinem Bettnachbarn hinüber, der mich geradewegs ansieht. Hat er mich etwa beobachtet?

Seine Augen starren in meine. Zum ersten Mal sehe ich ihn richtig an, statt ihm nur einen verlegenen Seitenblick zuzuwerfen. Sein Blick ist fesselnd, aber was mich am meisten überrascht, sind seine Augen. Sie sind gar nicht braun, sondern schimmern in einer gräulichen Mischung, die ich aus der Entfernung nicht ganz ausmachen kann.

»What´s your story?«, fragt er mich aus heiterem Himmel.

Mein Kopf braucht einen Moment, um es für mich zu übersetzen.

»Meine Geschichte?«, entgegne ich verwirrt. »Keine Ahnung. Ich habe keine.«

Was für eine seltsame Frage.

»Wie ist denn deine?« Damit greife ich zur Gegenfrage. Der Typ betrachtet mich eingehend, während er meinen abgehakten Worten lauscht. Meine Stimme kommt eher wie ein leises Krächzen rüber. Unsicherheit schwingt in ihr mit. Der Satz kostet mich einiges an Überwindung. Entweder es ist ihm nicht aufgefallen oder er ist höflich genug, um darüber hinwegzugehen, ohne mich aufzuziehen. Ein Schmunzeln breitet sich auf seinen Lippen aus, während sein Blick noch immer den meinen nicht loslässt.

»Keine direkten Gegenfragen«, sagt er in einem spielerischernsten Tonfall. »Das ist die grundlegende Regel des Spiels.«

»Was für ein Spiel?«, schießt es ein wenig zu schnell aus mir heraus. »Das Spiel des Lebens?«

Seine Mundwinkel zucken. Ich wende verlegen den Blick ab. Meine Augen huschen zur Zimmerdecke. Sanfte Schattierungen, nichts an dem man länger verweilen könnte. Die direkte und fordernde Art des Typen verunsichert mich. Kurz darauf lacht er leise auf und in meinem Bauch bereitet sich ein flatterndes Gefühl aus. Was für ein merkwürdiger Kerl, von dem ich absolut nichts weiß und dessen erste Frage intimer ist als all die Sachen, nach denen sich meine Mitmenschen für gewöhnlich erkundigen.

Meine Geschichte? Meine Gedanken kreisen ein paar Sekunden um seine Frage und ich überlege, ob sie ernst gemeint ist. Wie beantworte ich das? Haben echte Menschen überhaupt so etwas wie eine Geschichte? Oder kommt das nicht vielmehr aus Büchern, wo alles kompakt und nach Logik sortiert ist? Wo verwirrende Handlungsstränge einfach wegfallen und es nur ein geradliniges und meist nachvollziehbares Geschehen gibt. Noch bevor ich zu einer zufriedenstellenden Antwort komme, gibt er mir den nächsten Anlass zum Grübeln.

»Also hör zu: Du kannst mich fragen, was du möchtest. Aber jede Frage darf nur einmal gestellt werden. Und bitte verschone mich mit langweiligem Small Talk, es gibt wirklich interessantere Dinge, über die man sprechen kann«, fährt er fort.

Eingebildet klingt er. Oder selbstbewusst? Mein endgültiges Urteil ist noch nicht gefällt.

»Gut, okay«, erwidere ich unentschlossen und durchforste mein Gehirn nach einer passenden Antwort. »Und wenn ich eine Frage nicht beantworten will?«

»Dann lässt du es eben«, erwidert er gelassen.

»Gehört zu einem echten Spiel nicht auch ein Gewinn?«

»Oh, du wärst überrascht. Aber du lenkst ab.«

»Meine Geschichte«, murmle ich zögerlich, um Zeit zu schinden. Selbst wenn ich es will, fällt es mir schwer, mich zu öffnen. »Warum soll ich dir etwas derart Persönliches erzählen?«

Noch während die Worte aus meinem Mund sprudeln, ärgere ich mich, dass ich ihn so abblocke. Auch wenn er mich nervös macht, tut es gut, endlich mal wieder ein richtiges Gespräch mit jemandem zu führen.

»Um einen unvoreingenommenen Blick auf dein eigenes Leben zu kriegen. Vielleicht hilft es dir ja. Und wenn nicht, hast du zumindest jemand Neues kennengelernt.«

»Ach und das musst ausgerechnet du sein? Ich kenne dich doch gar nicht. Jemandem, dem ich nicht mal meine Dreckwäsche anvertrauen würde, offenbare ich gewiss nicht meine tiefsten Geheimnisse.«

Wo kam das denn auf einmal her? Überrascht von meiner zynischen Antwort ziehe ich zischend die Luft ein. Jetzt lasse ich meinen Frust schon an einem Fremden ab. Mensch Josie, krieg dich mal wieder in den Griff!

Mein Zimmergenosse zuckt jedoch nicht einmal mit den Achseln, bleibt gelassener, als ich es je könnte.

»Fremden gegenüber öffnet man sich leichter. Immerhin ist die Wahrscheinlichkeit, dass du mich wiedersiehst, gering. Klar, du kennst mich nicht, das können wir allerdings ändern«, antwortet er. Kurz mustert er mich und sein Blick hinterlässt eine seltsame Hitze auf meiner Haut, kurz darauf setzt er erneut an. »Dass du vor etwas wegläufst, ist offensichtlich. Vielleicht bin ich tatsächlich der Falsche, um darüber zu reden, aber ich wollte es zumindest anbieten.«

Seine forschen Worte lassen mein Herz rasen. Einen Moment lang ist der Raum in Stille gehüllt. Er wendet den Blick wieder ab und lässt mich in Ruhe. Seine Worte verstärken die Fragezeichen in meinem Kopf mehr, als dass sie welche beantworten. Verwirrt von den Emotionen, die in seinen Worten mitschwingen, schlucke ich. Es fällt mir schwer, sie auf Anhieb einzuordnen. Nachzuhaken kommt nicht in Frage, so platze ich stattdessen mit einer anderen Frage heraus: »Wo warst du vorgestern Nacht? Du bist nicht zurück ins Hostel gekommen.«

»Das ist dir aufgefallen?«

Jetzt klingt er verblüfft. Seine Stimme wird augenblicklich ein Stückchen lauter. Er dreht sich auf die Seite und stützt sich auf seinem rechten Unterarm ab, um mich besser zu betrachten. Ich nicke kurz, richte mich auf und lehne mich mit dem Rücken an die Wand hinter mir, sodass ich ihn direkt anschaue. Mir ist zwar nicht kalt, trotzdem ziehe ich das dünne Bettlaken über meine Beine, um mir keine Gedanken machen zu müssen, falls mein Kleid hochrutscht.

»Ich war bei einem Tennisspiel von Nadal und Shapovalov«, beginnt er.

»Bei einem Tennisspiel?«, falle ich ihm ins Wort. »Soweit ich weiß, finden die tagsüber statt.«

»Oh, wir haben hier wohl eine kleine Detektivin. Ein großer Sportfan scheinst du jedoch nicht zu sein.« Er wartet nicht auf meine Bestätigung und fährt direkt fort. »Diese Woche sind die Rom-Masters. Das sind Tennisspiele zwischen den absoluten Profis. Ich bin hergeflogen, um sie mir anzuschauen.«

»Von wo?«, hake ich direkt nach.

Jetzt, wo wir den ersten Wortwechsel ausgetauscht haben, werde ich munterer und die Nervosität schwächt langsam ab.

»Ah!«, stoppt er mich und hält seinen Zeigefinger hoch. »Immer nur eine Frage nach der anderen.«

»Hey, du hast meine gar nicht wirklich beantwortet«, erwidere ich und entspanne mich allmählich.

Je mehr wir sprechen, desto weniger seltsam kommt es mir vor ein Gespräch mit einem Fremden zu führen. In der Rolle der Fragenden fühle ich mich wohl und es tut gut, sich mal wieder mit jemandem auszutauschen.

»Weil du viel zu gerne unterbrichst, statt richtig zu zuhören«, zieht er mich auf. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine sehr ungeduldige Art hast?«

Ich rolle zur Antwort nur die Augen und deute mit meiner Hand an, dass er fortfahren soll. Komisch. Obwohl wir uns kaum kennen, necken wir einander wie alte Bekannte. Das gefällt mir. So als hätte ich ein Talent dafür, neue Freunde zu finden, dabei bin ich miserabel darin, auf andere zu zugehen.

Mein Gegenüber streckt seine Arme aus, dann richtet er sich auf, um sich ebenfalls an die Wand zu lehnen. Wieder quietscht das Bett, doch diesmal empfinde ich es nicht als unangenehm. Gespannt warte ich darauf, dass er seine Erzählung fortführt.

»Also wo war ich gerade? Ach ja, das Tennismatch des Jahres, und ich war live dabei. Echt beeindruckend war das! Danach habe ich meinen Cousin besucht, er lebt für ein paar Monate hier und hat mir einige seiner Geheimspots gezeigt. Wir saßen die halbe Nacht an einem kleinen Brunnen und haben Wein getrunken, Pizza gegessen und uns mit Italienern unterhalten. Der Geschmack liegt mir immer noch auf der Zunge. Knusprig und weich zugleich! Die Italiener wissen, wie sie einen Gaumen verwöhnen!«

Beim Gedanken an Pizza läuft mir sofort das Wasser im Mund zusammen. Es gibt doch nichts Besseres als ein heißes Stück. Vielleicht sollte ich mir nachher eine aufs Zimmer liefern lassen.

»Wenn du einen Cousin in Rom hast, wieso schläfst du dann hier, statt bei ihm zu übernachten?«

»Hast du es noch nicht gehört? Die Ratten in Römer-Wohnungen sollen größer als so mancher Hund sein. Mit denen möchte ich nachts lieber nicht kuscheln«, scherzt er mit einem verschmitzten Glitzern in den Augen.

»Verstehe, du riskierst lieber ein Zimmer mit schnarchenden Fremden und Bettwanzen, als in einem gemütlichen Heim mit selbstgemachtem Essen zu übernachten. Klingt, als hättest du ein Faible für Abenteuer«, kontere ich kopfschüttelnd, wobei ich versuche, meine aufkeimende Bewunderung für seine Kühnheit zu verbergen.

»Man macht interessante Bekanntschaften in Hostels«, entgegnet er derart nüchtern, dass ich kurz in Betracht ziehe, ob er scherzt. »Nun ja, ich könnte meinen Cousin fragen, ob er uns Gesellschaft leisten will, aber ich möchte nicht, dass es hier zu voll wird.«

Er wackelt mit den Augenbrauen und ich kräusle die Stirn. Seine Dreistigkeit verschlägt mir für einen Augenblick die Sprache. Flirtet er etwa mit mir? Nein, das muss ich missverstanden haben. Wenn er die Wahrheit sagt, würde er mich da miteinschließen? Bei dem Gedanken muss ich unweigerlich den Kopf schütteln. Ich wette, sie haben vor allem mit Italienerinnen geflirtet. Wenn sein Cousin nur halb so gut aussieht wie er, haben sie mit Sicherheit schnell Gesellschaft gefunden.

Mit einem aufmerksamen Blick mustere ich ihn. Die Gesichtszüge meines Bettnachbarn sind kantig, seine Haut ist gebräunt und seine braune Mähne ist verwuschelt. Anfangs war ich mir sicher, dass er ein Latino ist, nun fällt es mir aufgrund seiner hellen Augen schwerer, ihn einzuordnen. Vielleicht sollte ich ihn das als Nächstes fragen, wobei es in die von ihm verhasste Kategorie Small Talk fällt.

»Das waren gleich zwei Fragen, also bin ich doppelt dran«, freut er sich, bevor er mich ebenfalls abschätzend mustert.

»Also, was ist deine Geschichte?«, lässt er nicht locker. Er legt den Kopf leicht schief, mustert mich und seine Mundwinkel zucken amüsiert.

»Ich sagte doch, ich weiß es nicht. Die Frage ist komisch«, weiche ich ihm verlegen aus.

Fragen gestellt zu bekommen ist bei Weitem nicht so angenehm, wie sie zu stellen.

»OK, dann eine andere. Wenn du keine Angst hättest, zu scheitern, was würdest du erleben wollen?«

»Wie lange hast du Zeit?« Seufzend denke an all die Dinge, die ich schon immer mal machen wollte, aber bislang nie gewagt habe.

»Die ganze Nacht. Ich gehöre ganz dir«, entgegnet er. Seine Augen werden zu kleinen Halbmonden. »Eine Wahrheit, für eine Wahrheit.«

Kapitel 3

Meine Geschichte. Seine Worte geistern durch meinen Kopf, wieder und wieder. Ich starre auf eine Kerbe in der Wand, während ich versuche, meine Gedanken zu ordnen. Abwesend streichen meine Finger über meine Schläfen. Ich spüre, wie sich meine Schultern langsam entspannten und meine Hände sich öffnen.

»Es gibt da etwas, von dem kaum einer weiß. Wenn ich es tue …« Ich zögere einen Augenblick, nehme einen tiefen Atemzug, bevor ich weiterspreche. »Wenn ich es tue, fühle ich mich lebendig.«

Seine Augen werden groß und er mit einem Mal ganz stumm. Er nickt langsam, wie um mich darin zu bestärken fortzufahren.

»Die Wahrheit ist, ich liebe es, zu schreiben. Ich wäre gerne Autorin«, sprudeln die Worte aus mir hervor. »Wenn ich schreibe, tauche ich ab an einen Ort, an dem ich viel mutiger sein kann und alles möglich ist. Mit Worten, eine eigene Welt zu erschaffen, fühlt sich magisch an. Und diese Vielfalt an Gefühlen, die man beim Lesen eines guten Buchs spürt, die finde ich oftmals viel fesselnder als die im echten Leben.«

»Autorin?«, hakt er erstaunt nach und sein Mund formt ein überraschtes Oh.

»Ja, ich schreibe wirklich gerne.« Ich nicke und bin erstaunt, wie locker meine Stimme klingt. So als wäre dies kein intimes Gespräch und seine nachfolgende Antwort könnte mich nicht mitten ins Herz treffen.

Meine Ehrlichkeit erstaunt mich selbst. Ich bin es gewohnt, meinen Wunsch aus Angst vor all den Sprüchen, die andere mir an den Kopf schmeißen könnten, zu verheimlichen. Bücher finden die meisten Menschen langweilig und gegen Autoren gibt es noch viel mehr Vorurteile. Mir graust es vor Abwertung. Lieber behalte ich meine Wünsche und Träume für mich. Wenn niemand von ihnen weiß, macht auch keiner Jagd auf sie.

Verrückt, dass er es geschafft hat, mir innerhalb weniger Minuten etwas so Intimes zu entlocken. Doch noch merkwürdiger finde ich es, dass ich es bislang nicht einmal bereue, es laut ausgesprochen zu haben. Vor einem Fremden kommt mir mein Wunsch nicht ganz so illusorisch vor. Immerhin weiß der Typ nichts über mein Leben oder mich als Person.

»Wer hätte gedacht, dass in dir ein Künstlerherz schlägt.«

»Was? O nein, quatsch!«, widerspreche ich sofort. »So ist das nicht. Wenn überhaupt bin ich das absolute Gegenteil eines Künstlertypen! Schau mich doch an. Ich habe keine bunten Haare, steh nicht aufs Nachtleben und bin ein Organisationstalent. Bei mir verläuft alles immer in geregelten Bahnen. Ganz anders als eine Künstlerin!«

Energisch weise ich seine Worte zurück und schüttle den Kopf. Ich fahre mir durch die Haare und zupfe an den Enden meiner Strähnen. Er wiederum lehnt noch immer gelassen an der Wand.

»Du magst zwar nicht deiner eigenen Vorstellung einer Künstlerin entsprechen«, erwidert er und seine Mundwinkel zucken belustigt auf, »aber das ändert nichts daran, dass in dir das Herz einer Künstlerin schlummert.«

»Also, ich weiß nicht …« Ich halte inne und suche nach einer passenden Formulierung. »Künstler führen ein abenteuerliches Leben, sind immer unterwegs und ich … ich schreibe nur. Meist daheim, in meinen vier Wänden, nicht einmal in einem Café.«

Nervös spiele ich mit den Ringen an meinen Fingern. Lasse meinen Blick überall hin schweifen, nur nicht zu ihm.

»Gut, lassen wir mal vom Künstlerbegriff ab. Wenn du so gern schreibst und Autorin sein möchtest, warum bist du es dann nicht?«

»Als wäre das so leicht«, verspotte ich seine Worte und deute eine wegwerfende Handgeste an. Ich drehe den Kopf zur Seite und starre an die Wand. Schaue auf die vielen Kerben und Risse in der ehemals weißen Tapete.

Weitere Worte liegen mir auf der Zunge. Ich will sagen, dass Schreiben etwas Persönliches für mich ist und ich nicht danach strebe, nur für die Massen zu produzieren. Dass er keine Ahnung von der Branche hat. Davon, wie zahlreich die Konkurrenz ist, und dass nicht jeder mal eben so seinem Traum folgen kann.

Ich schlucke den aufkommenden Ärger hinunter. Statt weiter auf mich einzureden, gibt er mir einen Moment und wartet ab. Die Stille lässt den Druck abklingen. Druck, den ich mir selbst mache. Nicht er. Das ist mir schon klar. Trotzdem bin ich sauer, dass er es geschafft hat, nach nur wenigen Minuten einen derart sensiblen Punkt in mir zu treffen. Oder reagiere ich emotional aufgrund meiner angespannten Lage?

Nach einigen Sekunden, die mir wie Minuten vorkommen, wende ich mich ihm wieder zu. Abwehrmanöver liegen mir auf der Zunge, doch mein Bettnachbar schaut mich so gespannt an, dass ich ihn nicht mit stumpfen Halbwahrheiten abwürgen will.

»Das würde voraussetzen, anderen meine Texte zu zeigen«, gestehe ich zögerlich in der Hoffnung, dass er den Rest heraushört und das Thema ruhen lässt.

»Du hast Angst, dass sie nicht gut genug sind«, sagt er und nickt dabei leicht mit dem Kopf.

»Nein, das ist es nicht. Ich weiß, dass sie nicht schlecht sind. Es ist vielmehr so, dass …« Ich breche ab und schlucke. Zwinge mich diesmal dazu, nicht wieder an die Wand zu starren, sondern direkt in seine Augen. »Weißt du, Menschen haben stets ein festes Bild von einem und wenn ich auf einmal eine Schriftstellerin sein wollte, würde ich bei vielen anecken.«

»Du meinst, du würdest nicht mehr in ihre Schubladen passen«, stellt er fest. Ich höre an seinem Ton, dass ihm diese Ansicht nicht gefällt.

»Vielleicht«, weiche ich zögerlich aus und drehe eine Strähne meines sandblonden Haares um den Zeigefinger. Vom kalkgetränkten Wasser sind die Haarlängen spröde geworden und ich mache mir einen innerlichen Vermerk, gleich morgen Abend eine Kur einwirken zu lassen, wenn ich zuhause bin.