Kaffeekochen für Millionen - Mathias Mertens - E-Book

Kaffeekochen für Millionen E-Book

Mathias Mertens

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Beschreibung

Eine Kaffeemaschine der Cambridge University war das erste Live-Bild im Internet: Zehn Jahre lang lasen die Wissenschaftler des Computer Science Department daran ab, ob sich ein Gang in die Küche lohnte. 2,5 Millionen weitere Besucher aus aller Welt schauten per Mausklick oder persönlich vorbei – die Krups Pro Aroma erlangte Weltruhm und wurde Kult.

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www.campus.de

Mertens, Mathias

Kaffeekochen für Millionen

Die spektakulärsten Ereignisse im World Wide Web

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2006. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40238-3

|7|

»Das Web ist eher ein gesellschaftliches als ein technisches Produkt. Ich wollte die Zusammenarbeit erleichtern – und nicht ein technisches Spielzeug entwickeln. Das höchste Ziel des Webs ist die Unterstützung und Verbesserung einer netzartigen Lebensform. Wir schließen uns in Familien, Vereinigungen und Unternehmen zusammen. Wir entwickeln Vertrauen über Meilen hinweg und Misstrauen gegenüber Dingen, die in der Nachbarschaft geschehen. Was wir glauben, bewundern, akzeptieren und wovon wir abhängen ist im Web darstellbar und dort auch zunehmend zu finden.«

Tim Berners-Lee

Für mista_conni, Lucky Fragger, Felix und alle anderen Brickfilmer

|9|Einleitung: Die Mondlandungen des Internets

Im Jahr 2006 wird das Internet in der uns bekannten Form des World Wide Web gerade mal fünfzehn Jahre alt. Zu früh, um wirklich schon als ausdifferenziertes Medium betrachtet zu werden, zu früh wohl auch, um neben sozialpsychologischen Nutzerstudien oder schamanistischen Beschwörungen à la Sherry Turkles Life on the Screen oder J. C. Herz’ Surfing on the Internet fundierte kulturwissenschaftliche Auseinandersetzungen zu erwarten. Während die technischen Ursprünge im Arpanet schon gut dokumentiert worden sind, etwa in Where Wizards Stay Up Late von Katie Hafner und Matthew Lyon, ist wohl im WWW bisher zu wenig passiert, um Paradigmen, Entwicklungslinien, Wendepunkte aufzuspüren.

Wenn man sich andererseits die steil exponentiell erfolgende Entwicklung der Nutzerzahlen ansieht, die Schaffung völlig neuer Wirtschaftssparten, die (zeitweilige) Einrichtung eines eigenständigen Börsensegments, die politischen Initiativen zur Vernetzung der Schulen oder die drastische Umstrukturierung von Kommunikationsgewohnheiten, dann ist in diesen fünfzehn Jahren beinahe mehr geschehen, als in den ersten zweihundert Jahren nach Erfindung des Buchdrucks. Wir sind Zeugen und Teilnehmer einer Explosion, die aber, wenn überhaupt, als ein Schleichen wahrgenommen wird.

Das ist hauptsächlich auf den transzendenten und geschichtslosen Charakter des Mediums selbst zurückzuführen. Viel stärker noch als beim Fernsehen – dessen Geschichtsschreibung erst seit ein paar Jahren systematisch erfolgt und noch nicht sehr weit fortgeschritten ist, bei dem zumindest aber auf die Magnetband-Archive und auf private Videomitschnitte zurückgegriffen werden kann – ist der Inhalt des WWW ein flüchtiger. Die allermeisten Internetseiten verschwinden, wenn ihre aktuelle Relevanz nachgelassen hat. Die Nicht-Materialität des Mediums produziert keinen Abfall, der im Laufe der Zeit dann zu historischen Artefakten und Quellen werden kann. In der Rückschau gibt es also nichts, woran man |10|Entwicklungen festmachen kann, weshalb einem das Internet immer in seiner aktuellen Form als etwas Selbstverständliches erscheint. Die Rückschau lässt sich nicht an Konkretem festmachen, an dem man Entwicklungsstufen ablesen könnte, so dass sich keine Erzählung, keine Historie ergibt.

Diesem Buch liegt die These zugrunde, dass das Internet wegen seiner Transzendenz und Nicht-Materialität stärker als andere Medien auf Ereignisse angewiesen war und ist, um sich als Massenkommunikationsmittel zu etablieren. Während ein Buch auch nach seinem ereignishaften Erscheinen materiell vorhanden bleibt, jenseits aller Bestsellerlistenplatzierungen, Skandale oder Feuilletondebatten, die es vielleicht mit sich brachte, während Filme immer wieder gezeigt werden können, und sei es nur in Programmkinos, im Fernsehen oder auf Video, während Zeitungen in Archiven zu historischen Quellen heranreifen, ist das Internet einfach nur oder es ist nicht. Nur in Ereignissen gewinnt es eine momentane Dinglichkeit als Gegenstand der Kommunikation an anderen Orten. Nur das Ereignis lässt aus Millionen von vereinzelten Internetnutzern plötzlich eine Öffentlichkeit werden, die auf sich selbst reflektieren kann.

Anders formuliert: Anlässlich bestimmter Ereignisse war mir als Internetnutzer bewusst, dass ich vor meinem Bildschirm nicht meine private Kommunikation betrieb, sondern dass ich im selben Moment das tat, was Millionen anderer Menschen auch taten. So konnte ich mir sicher sein, dass ich das Medium auf die richtige Art und Weise benutzte. Die Frage, die diesem Buch voranging, lautet: Wann war das Internet also ein Massenmedium und nicht nur eine Kommunikationstechnik? Und weiter gefragt: Was war das Besondere an diesen Ereignissen, dass sie im Medium Internet geschahen, beziehungsweise was am Medium Internet ließ sie sich ereignen? Gegenstände des Buches sind also doppelte Medienereignisse. Zum einen ist es das jeweilige Geschehen, das durch das Internet dargestellt wurde, zum anderen das Internet selbst, das sich mittels dieser Ereignisse selbst ereignen konnte.

1969 saß »die Welt« vor dem Fernseher, um die ersten Schritte Neil Armstrongs auf dem Mond live zu verfolgen. Das Miterleben dieses Moments war so bedeutsam, dass noch heute die Allermeisten wissen, wo sie sich damals befunden und mit wem zusammen sie es gesehen haben. »Die Globalisierung der Medien, die eine Medienwelt, war seitdem Realität, natürlich nicht nur durch das spezielle Ereignis verursacht, aber in der Mondlandung zum übertragbaren Symbol geworden.«1 Das schreibt der |11|Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen in einem Buch, das er Die Mondlandung des Internets genannt hat, weil ihm die politischen Ereignisse des Jahres 1998 für das Internet so bedeutsam erschienen, wie es der 20. Juli 1969 für das Fernsehen gewesen ist. Auch mein Buch hätte Die Mondlandungen des Internets heißen können, aufgrund derselben Überlegung wie jenes von Kuhlen, aber in Abgrenzung zu seinem anfechtbaren Singular. Denn es war eher so, dass der rapide Anstieg der Nutzerzahlen von wenigen Tausend 1991 auf fast eine Milliarde heute nicht stetig verlief, wie Frank Patalong auf Spiegel Online betonte. »Immer wieder gab es Ereignisse, die Massen von Menschen ins Web lockten. Und immer geschah dasselbe: Einmal dort, blieben die meisten dabei.«2

Es soll in diesem Buch um solche Momente gehen, in denen Menschen vom Internet erfahren haben und sich eine Vorstellung von seinem Nutzen machen konnten. Im Untertitel heißt es, hier seien die »spektakulärsten« davon versammelt. Das ist natürlich subjektiv; die Auswahl spiegelt meine persönliche Netzsozialisation wider und ist nur bedingt repräsentativ wäre. »Spektakel« bezeichnet aber ursprünglich ein Schauspiel, das etwas ausstellt und veranschaulicht. Die Auswahl in diesem Buch ist sicherlich nicht vollständig, aber diskussionswürdig. Sie versammelt solche Spektakel, in denen massenwirksam gezeigt werden konnte, was das Internet sein kann und was dort konkret geschieht.

Dieses Buch ist nicht der erste Versuch einer Geschichtsschreibung des Internets, es gibt schon zahlreiche und sehr gute Veröffentlichungen. Man findet sie im Buchhandel in den Regalen, die mit »Computer« beschriftet sind und Hunderte von Einführungen in das Programmieren mit C+, Java und Perl oder das Arbeiten mit Photoshop oder Office XP versammeln. Ihr Inhalt beschäftigt sich dementsprechend mit den technischen Gegebenheiten des WWW. Als Medienwissenschaftler befriedigen mich diese Darstellungen nicht. Sie wirken auf mich so, als würde man eine Filmgeschichte schreiben, in der es nur um das Prinzip des Malteserkreuz-Antriebs des Projektors und um den Aufbau der Kinosäle im Wandel der Jahrzehnte geht; oder eine Literaturgeschichte, die sich nur mit der Entwicklung der Druck- und Bindeverfahren und der Entstehung des Großhändlersystems im Buchvertrieb beschäftigt. Als hätte es keine Filme und keine literarischen Werke gegeben. Den Erfolg als Massenmedium kann das Internet aber nicht aufgrund seiner faszinierenden Technik gehabt haben. Sondern weil irgendetwas in ihm passiert ist, was die Menschen bewegt.

|12|Es soll also darum gehen, die Eigenheiten und die Entwicklung des Mediums zu erfassen, und zwar nicht anhand der unvermeidlichen Technikgeschichte, sondern im Sinne von Marshall McLuhan anhand der »Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die [das Medium] der Situation des Menschen bringt«.3 Es soll nicht darum gehen, technische Details zu klären. Wie die Namensvergabe im Internet genau funktioniert, wie sich der Programmcode von Viren, Würmern und Trojanern im Einzelnen unterscheidet oder wie Napster genau gearbeitet hat – das alles ist nicht Gegenstand dieses Buches, weil es auch nicht Gegenstand der Medienereignisse ICANN-Wahl, I love you-Virus respektive Napster gewesen ist. Dabei haben andere, narrative, spektakuläre Aspekte eine Rolle gespielt, in denen sich die abschreckende und unverständliche Technik gewissermaßen verstecken konnte, um akzeptiert zu werden. Was Musik ist, welchen Genuss man aus ihr ziehen kann und wie viel es kostet, sie zuhause spielen zu können, wusste jeder; als mit Napster plötzlich ein simples Programm im Internet auftauchte, mit dem praktisch jedes nur erdenkliche Musikstück umsonst auf den eigenen PC befördert werden konnte, war seine Relevanz schlagartig klar. Und dass sich zudem die spannende Geschichte eines respektlosen Davids damit verband, der sich monatelang gegen den übermächtigen Goliath Unterhaltungsindustrie behaupten konnte, verlieh dem Ganzen auch noch ein attraktives Image. Was das Peer-to-Peer-Verfahren ist, können wahrscheinlich immer noch die Wenigsten – mich eingeschlossen – präzise erklären, intuitiv verstanden haben es durch Napster allerdings die Allermeisten.

Bevor das erste Kapitel mit dem ersten Internetereignis »Trojan-Room-Coffee-Machine« beginnt, gibt es deshalb auch ein Kapitel Null, um zu verdeutlichen, wie schwer es gefallen ist, vom Internet zu erzählen, bevor es etwas gab, das man erzählen konnte – eine literaturwissenschaftliche Abschweifung, die zum Verständnis der nachfolgenden Kapitel nicht nötig ist, die aber auf andere Weise verdeutlichen soll, wie wichtig Ereignisse gewesen sind, damit sich die Öffentlichkeit ein überzeugendes Bild vom Internet machen konnte.

Bei der Auswahl der hier versammelten Ereignisse fällt auf, dass es um 1999/2000 herum einen Kulminationspunkt gibt und danach nur noch ein paar Ereignisse beschrieben werden. Das spiegelt nicht meine eigene Nutzerhistorie wider, sondern hat mit dem Dilemma der Geschichtsschreibung zu tun, dass Gegenwärtiges nicht als historisch wahrgenommen und damit schwer eingeordnet werden kann. Man denke nur an das Urteil der literarischen |13|Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, wonach Kotzebue als bedeutendster Dramatiker seiner Zeit galt, und vergleiche es mit heutigen Literaturgeschichten und Theaterspielplänen. Als historisch relevant erweist sich etwas erst, wenn es eine Historie gibt, in der es sich zeigen kann. Vielleicht wird man in zehn Jahren den Kopf darüber schütteln, dass die Machinima-Serie Red vs. Blue in diesem Buch als Ereignis gefeiert wird, andere Netzinhalte aus derselben Zeit dagegen keine Erwähnung finden, die dann längst als kulturelle Meilensteine kanonisiert sind. Vielleicht wird die Trojan-Room-Coffee-Machine in dreißig Jahren bloß noch als Kaffeekochen für Millionen wahrgenommen und nicht als signifikanter Moment in der Entwicklung des WWW. Das ist sehr wahrscheinlich. Der Fokus dieses Buchs liegt aber auf den Medienereignissen, die diese Ereignisse hervorriefen, also der Aufmerksamkeit, die sie in der zeitgenössischen Öffentlichkeit erregt haben. Es soll Beispiele für die öffentlich betriebene Erzählung vom Internet liefern; ob dadurch (hoffentlich) ein Beitrag zu einer Geschichte des Internets geleistet wird, kann erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten entschieden werden.

Das ist auch der Grund dafür, dass hier so ausführlich auf Medienberichte Bezug genommen und so ausführlich zitiert wird. Denn nur so kommt zum Ausdruck, was die Öffentlichkeit zum damaligen Zeitpunkt anlässlich der Ereignisse vom Internet dachte und wie seine Möglichkeiten verstanden wurden. Dadurch ist es allerdings auch – stärker als ich es vorher gedacht hätte – ein Buch über Journalismus und Journalisten geworden. Es wäre eine eigene Studie und Würdigung wert, wie sich der Stand der Journalisten innerhalb weniger Jahre gegen die Entprivilegisierung durch Netzberichterstattung zur Wehr setzen musste und neu behaupten konnte. Hier wird das nur ansatzweise versucht. Bei aller Kritik an den Unzulänglichkeiten, den Eitelkeiten und den professionellen Deformationen der Journalisten, zeigt das Buch aber hoffentlich, wie groß der Beitrag ist, den, um stellvertretend zwei zu nennen, Frank Patalong von Spiegel Online oder Florian Rötzer von Telepolis geleistet haben, um dem Internet zum Durchbruch zu verhelfen.

|14|

|15|0. Ein verschwommenes, fragmentarisches Mandala

Wie vom Internet geredet wurde, als es noch nichts gab

»Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen. Und wer waren alle?«

Bertolt Brecht: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«

Seit 1991 gibt es das Internet. Stimmt nicht. Das Internet gibt es schon seit 1969, als die ersten Server an Universitäten in Massachusetts, Kalifornien und Utah aufgestellt, miteinander verbunden und danach kontinuierlich weiter vernetzt worden sind.

Stimmt doch. Denn was damals das Internet war, ging nur eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern und Technik-Freaks etwas an, die per Telnet, Usenet, FTP oder irgendwann auch E-Mail miteinander kommunizierten und Daten austauschten. Das Internet – also das, was wir seit einigen Jahren ganz selbstverständlich in Gesprächen so bezeichnen und was in Zeitungsartikeln und Fernsehberichten genauso allumfassend verwendet wird – gibt es dagegen erst, seit Tim Berners-Lee 1991 einen neuen Bereich im Internet kreierte: das »World Wide Web«. Hier wurden nicht mehr nur schnöde Textwüsten verschickt und kryptische Dateienverzeichnisse durchwühlt, sondern hier konnten Bilder angezeigt und mit dem Text in einem sinnvollen Layout zusammen präsentiert werden. Erst so konnte das Internet auch Menschen ansprechen, deren ästhetische und kommunikative Bedürfnisse über die Präsentation von grünen, pixeligen Buchstabenkolonnen auf schwarzem Hintergrund hinausgingen.

Die wichtigste Eigenschaft, die Berners-Lee dem World Wide Web verlieh, war die Möglichkeit, »Links« zu setzen. Mit einem »Link« wird von einer Stelle im WWW auf eine andere verwiesen, und durch einen Klick darauf gelangt man sofort dorthin. Auf diese Weise gibt es nicht nur das Netz von Servern und Telefonleitungen zwischen ihnen; über dieses physikalische |16|legt sich ein zweites Netz der gesamten Querverbindungen zwischen allen Inhalten, die im World Wide Web zu finden sind. Das Internet meint auch dieses assoziativ und explosionsartig wuchernde Gemenge an Information, das sich aus der Verbindung von Informationen ergibt.

Schon der vorangegangene Absatz aber klingt so blumig, dass der Erfolg des WWW verwundern muss. Wie kann etwas so viele Menschen ansprechen, über das man entweder nur technologisch-verwirrend oder idealistisch-abstrakt reden kann? Man sehe sich zum Beispiel einen Bestseller aus den neunziger Jahren über das Thema an, Sherry Turkles Leben im Netz, und frage sich, wann man dergleichen mal selbst beim Surfen erlebt hat:

»Als User wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt zwar immer nur einem der Fenster auf Ihrem Bildschirm zu, aber in gewissem Sinne sind Sie fortwährend in allen präsent. [...] Ihre Identität am Computer ist die Summe Ihrer aufgeteilten Präsenz. [...] [I]n der alltäglichen Praxis vieler User sind Fenster zu einer starken Metapher für die Annahme geworden, dass das Selbst ein multiples, dezentriertes System ist. Das Selbst spielt nicht mehr bloß verschiedene Rollen in verschiedenen Kontexten zu verschiedenen Zeitpunkten, etwa bei einer Frau, die sich beim Aufwachen als Geliebte, bei der Zubereitung des Frühstücks als Mutter und bei der Fahrt zur Arbeit als Anwältin erlebt. Die Fenster nötigen uns vielmehr die Lebenspraxis eines dezentrierten Selbst auf, das in vielen Welten existiert und viele Rollen gleichzeitig spielt. [...] Die Erfahrung dieses Parallelismus bestärkt einen darin, das Leben ›on-screen‹ und ›off-screen‹ in erstaunlichem Maße gleich zu behandeln. Erfahrungen im Internet erweitern die metaphorische Bedeutung der Fenster – nunmehr kann RL [Real Life] selbst, wie Doug sagte, zu ›einem Fenster unter vielen‹ werden. MUDs [Multi User Dungeons] sind besonders anschauliche Beispiele dafür, wie die computervermittelte Kommunikation als ein Ort der Konstruktion und Rekonstruktion von Identität dienen kann.«4

Zunächst einmal klingt das wie eine gewisse poststrukturalistische Wissenschaftsprosa, der man mehr oder weniger Erkenntnisinteresse und Erkenntnisgewinn zuschreibt. Tatsächlich fungiert Turkles Buch ja auch als sozialpsychologische Studie. Eine genauere Untersuchung der Einzelaussagen zeigt aber die große Affinität zu künstlerischen Phantasien. Die technische Apparatur übt einen Zwang auf die Benutzer aus, »nötigt« eine »Lebenspraxis« auf. Dadurch beginnen sich Körper- und Geistgrenzen aufzulösen, man kann nicht mehr zwischen »on-screen« und »off-screen« unterscheiden, weil diese Trennung für den Alltag irrelevant geworden ist. Das Raum-Zeit-Kontinuum wird aufgelöst, wenn man fortwährend an verschiedenen Plätzen gleichzeitig präsent ist. Außerdem schreibt sich die |17|Apparatur in den Körper und die Welt ein, die Fenster, die in Windows noch umschreibende Funktion besitzen, werden zu realen Phänomenen, zu Körpererweiterungen, zu neuen Sinnesorganen. Science-Fiction im allerbesten Sinne.

Science-Fiction wie von William Gibson geschrieben, dessen Roman Neuromancer 1984 den Ton angab und seitdem durch alle Überlegungen zum Internet zu geistern scheint. Sein Begriff des »Cyberspace«, einer »Konsens-Halluzination, tagtäglich erlebt von Milliarden zugriffsberechtigte[n] Nutzer[n] in allen Ländern«,5 kann heute noch, nach mehr als zehn Jahren Erfahrung mit dem realen Internet, als beinahe neutraler Fachbegriff verwendet werden, um Technik, Anwendung und Kultur eines Computer-Netzwerkes zu beschreiben. Der Computernutzer, der sich in den Cyberspace einklinkt, um dort halluzinatorische Erfahrungen zu machen, ist zu einem selbstverständlichen Topos der Internet-Darstellung geworden, zum in unzähligen Texten, Sendungen und Filmen wieder aufgegriffenen Stereotyp:

»Er zog sich das schwarze Frotteestirnband über den Kopf und achtete auf den richtigen Sitz der flachen Sendai-Elektroden. [...]

Er schloss die Augen.

Fand den geriffelten EIN-Schalter.

Und in der blutgeschwängerten Dunkelheit hinter seinen Augen fluteten silberne Phosphene von den Grenzen des Raums heran, hypnagoge Bilder, die wie ein wahllos zusammengeschnittener Film vorüberzuckten. Symbole, Ziffern, Gesichter, ein verschwommenes, fragmentarisches Mandala visueller Information.

Bitte, betete er, jetzt ...

Eine graue Scheibe von der Farbe des Himmels über Chiba.

Jetzt ...

Die Scheibe begann zu rotieren, immer schneller, wurde zu einer hellgrauen Kugel. Dehnte sich aus ...

Und strömte, erblühte für ihn. Wie ein Origamitrick in flüssigem Neon entfaltete sich seine distanzlose Heimat, sein Land, ein transparentes Schachbrett in 3-D, das sich in die Unendlichkeit dehnte. Das innere Auge öffnete sich, und die abgestufte, knallrote Pyramide der Eastern Seaboard Fission Authority ragte leuchtend hinter den grünen Würfeln der Mitsubishi Bank of America auf. Hoch oben und sehr weit weg sah er die vielen Spiralarme militärischer Systeme, auf immer unerreichbar für ihn.

Und irgendwo er, lachend, in einem weiß getünchten Loft, die fernen Finger zärtlich auf dem Deck, das Gesicht von Tränen der Erleichterung überströmt.«6

Dass dieser Topos des delirierenden Netz-Nutzers so verbreitet ist, verwundert allerdings angesichts der eigenen Internet-Erfahrung. Weder fluten |18|silberne Phosphene durch die Augen, wenn man sich einloggt, noch erinnert das Browserfenster an einen entfalteten Origamitrick in flüssigem Neon, noch besteht die Seite der eigenen Bank im Netz aus grünen Würfeln oder knallroten Pyramiden auf einem transparenten Schachbrett. Und noch weniger sah das Netz in den Jahren vor Flash-Animationen und Active-X-Applikationen so aus, als diese Metaphorik geprägt worden ist – weder bei Gibson, der bestenfalls Bildschirme mit ASCII-Zeichen gekannt haben konnte, die Mailboxen darstellen sollten, noch bei Turkle, deren erste Erfahrungen mit MUDs ebenfalls auf reines Text-Geschehen beschränkt gewesen sein können. Trotzdem spricht man diesen Beschreibungen zu, dass sie bestimmte Aspekte der Netzerfahrung zum Ausdruck bringen, dass Gibsons »verschwommenes, fragmentarisches Mandala visueller Information« und Turkles Fensterförmigkeit der Realität Gemeinsamkeiten mit nüchternen Handbüchern wie dem 1994er Internet: Werkzeuge und Dienste des Springer Verlags teilen.7

Dass beides gleichzeitig präsent sein kann – die Entrückungspoesie der künstlerischen Bearbeitung wie die doch recht nüchterne Erfahrung mit Homepages und Mailprogramm-Benutzeroberflächen – verwundert. Man sollte meinen, dass ein paar grün leuchtende Zeichen auf einem schwarzen Bildschirm in den achtziger Jahren, ein paar Textseiten in Primärfarben mit rudimentären Links Mitte der neunziger Jahre, oder die tabellengestützten Zeitungsseiten mit aufklappbaren Artikeln der gegenwärtigen Internetkultur nicht dazu angetan wären, solch wuchernde Sprache zu provozieren.

Man kann diese Ambivalenz als Symptom verstehen. Sie zeigt an, dass es einen beeindruckenden Gegenstand gibt, der nichts zum Gegenstand hat. Und weil man dem eigenen Beeindrucktsein Ausdruck verleihen will, jedoch gar nicht weiß, worüber man sprechen soll, werden technische Gegebenheiten zu Inhalten stilisiert und rhetorisch mit Bedeutung aufgeladen. Niemand ist beispielsweise auf die Idee gekommen, beim Telefon von Dematerialisation am eigenen Ort und Projektion zu einem anderen Ort zu sprechen – obwohl in gewisser Weise genau das geschieht. Solche Metaphorik wäre sofort als unangemessen empfunden worden, weil man von Anfang an wusste, was man mit einem Telefon machen kann: nämlich Gespräche führen, etwas, mit dem man seit Jahrtausenden vertraut war und dem das neue Medium nur die Bedingungen veränderte. Am beiläufigsten über das Internet wurde dann gesprochen, wenn es eine konkrete Anwendung gab, bei E-Mail zum Beispiel, die an Brief- und Telefonerfahrungen anknüpfte. Nur da, wo es erkennbare Strukturen gibt, deren Zweck allerdings |19|nicht ersichtlich ist, sucht die Beschreibung Zuflucht bei äquivalenten Bildern, um von deren Gehalt profitieren zu können.

Die Schnelligkeit von Datenfernübertragung und die Netzwerkstruktur des Internets lassen an Straßennetze und Autos denken, und weil dort Menschen sich von einem Ort zum anderen bewegen, stellt man sich dasselbe beim Internet vor, nur eben viel körperloser und rauschhafter. So entstand dann die Metapher vom »Information-Highway«, die der Spiegel in seinen Artikeln zum Internet anfänglich noch als »Infobahn« übersetzte und verwendete.8 Die Beobachtung von Menschen, die vor Bildschirmen sitzen und sich gleichzeitig gedanklich auf oder in ihnen zu befinden scheinen, erinnert an Trance- und Rauschzustände, so dass man der Internetbenutzung ebensolche suchterzeugende oder religionsstiftende Wirkung zuschreibt. Dasselbe kann man bei Bücherlesern beobachten, allerdings verhindert die eigene Lektürepraxis, dass man esoterische Phänomene feststellen muss. Dass Bildschirmdarstellungen aus Lichtpunkten zusammengesetzt sind, die auch für jedes andere Bild verwendet werden können, legt Vergleiche mit Quecksilber nahe, mit Reflexen auf Wasseroberflächen, mit Sandgebilden, mit aufgewirbeltem Staub im Sonnenlicht, kurz mit metamorphotischen Naturvorgängen; und so erscheint es im Rückschluss logisch, dass der Mensch, der sich mit diesen Bildern beschäftigt, ebenso flüssig und amorph wird, verschiedene Identitäten annehmen oder sich gänzlich auflösen kann. Fernsehkonsum, bei dem man es grundsätzlich mit denselben technischen Begebenheiten zu tun hat, wird bestenfalls mit dem Schreckensbild der verfetteten und lethargischen »Couch-Potatoe« diskreditiert, weil die eigene Wohnzimmererfahrung jeglicher Entgrenzung widerspricht.

Die Visionen vom Internet sind vor allem ein sprachliches Phänomen. Die Notwendigkeit, dort anschaulich werden zu müssen, wo es nichts anzuschauen gibt, lässt Metaphern Eigendynamiken entwickeln. Wer in den achtziger und neunziger Jahren über das Internet schrieb, wurde somit zwangsläufig zum Propheten, zu jemandem, der den Willen eines höheren Wesens für andere interpretiert und verstehbar macht, der zukünftige Ordnungen verkündet, der von einer neuen Wahrheit beseelt worden ist und sich nun den anderen verständlich machen muss. Gerade weil es außer langweiligen Textseiten nichts im Internet zu sehen gab, legitimierte sich dieses Sprechen durch sich selbst.

Der Cyberspace, so schrieb Gibson, wird erlebt »von Kindern, denen man mathematische Begriffe erklärt«. Wenn man erklärte, war man nachweislich |20|nicht eins von den unwissenden Kindern, also musste das eigene Erklären von Wissen und Verständnis geprägt sein, auch wenn es noch gar nichts zu wissen und zu verstehen gab. Wie Beschreibungen eines zukünftigen Radio- oder Fernsehprogramms hätten aussehen können, wissen wir nicht, weil die Geräte von Anfang an schon mit einem Programm vorhanden gewesen sind, so dass keine Prophezeiungen nötig waren. Beim Internet gab es aber die Situation, dass viele einen Computer besaßen und auch schon an das Netz angeschlossen waren, dass es aber kein Programm gab, keine Ereignisse, anhand derer man reale Erfahrungen mit dem Internet hätte machen können.

Inzwischen ist das Genre »Internet-Schamanismus« beinahe aus den Buchhandlungen und Zeitschriftenläden verschwunden. Denn sein Gestus wirkt nur noch lächerlich. Viel zu viele Menschen haben eine zu konkrete Vorstellung vom Internet, als dass man sie mit raunenden Beschwörungen noch beeindrucken könnte. Seitdem sie selbst im Internet sind, ist jegliche Mystik verschwunden. Das WWW ist für sie Amazon, Google, eBay und Spiegel Online, völlig selbstverständliche Dienste, die sich in den Alltag wie Aldi, Bahnhofsbuchhandlung, McDonald’s und Fitnessstudio einfügen. Um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, muss man das Außergewöhnliche im Netzalltag finden und beschreiben. Denn darin finden sie ihre Erfahrungen gespiegelt, damit können sie sich identifizieren. Schließlich sind sie durch solche Geschichten überhaupt erst auf das Internet aufmerksam geworden, haben es ausprobiert und sind dabei geblieben.

|22|

|23|1. Supernova aus der Kindheit

Die Trojan-Room-Coffee-Machine, 1993

Im März 2001 geschah etwas, das die Aufmerksamkeit der Weltpresse auf sich zog. Etwas, das mit einer Internetseite zu tun hatte, die nun verschwinden sollte. Wenn man die Kriterien berücksichtigt, nach denen etwas als nachrichtenwert ausgewählt wird – etwa sein Ausmaß und seine Intensität, seine Klarheit und Kategorisierbarkeit, seine Bedeutung für die Gesellschaft, seine Referenz auf Elite- und Führungspersonen, um nur einige zu nennen –, dann musste dieses Ereignis von großer Tragweite sein, wenn es sogar auf Seite Eins der Times gebracht wurde. Tatsächlich deutete die Rhetorik der Berichte genau darauf hin. Das Conway-Magazin sprach von einer »Supernova aus der Kindheit des Internets«,9The Guardian konstatierte, die Seite besäße »denselben ikonischen Status wie Marconis erste Radio-Übertragungen oder Gutenbergs erste gedruckte Bibel«,10 die Washington Post sah in der Seite nicht nur einen »Pionier«, sondern zugleich einen Indikator dafür, dass die »Anfänge des Internets nun Artefakte« seien.11 Ganz im Sinne der Times, die in dem Verschwinden der Seite den »Abschied von den Anfängen des Internets« erkannte. Einer der Beteiligten, der Wissenschaftler Quentin Stafford-Fraser, schilderte in Interviews, dass er sich »kaum noch vor Interviewanfragen retten«12 konnte und stand selbst fassungslos vor der Bedeutung des Ereignisses: »Vor gerade einmal fünf Jahren war es noch etwas Neues, jetzt hat es schon historische Bedeutung. Nur im Netz konnte etwas diesen Übergang so schnell vollziehen.«13

All diese Beschwörungen eines historischen Ereignisses bezogen sich darauf, dass die Seite www.cl.cam.ac.uk/​coffee/​coffee.html fortan nicht mehr zeigte, wie der aktuelle Pegelstand einer Kaffeekanne war, die im Flur vor dem »Trojan Room« im zweiten Stock des Arup Buildings auf dem New Museums Areal der Universität Cambridge aufgestellt war. Mehr war niemals auf der Seite zu sehen gewesen. Nur ein kleines Schwarzweißbild |24|einer Krups ProAroma, daneben die Aufforderung »Click here for an up to date picture of the Trojan-Room-Coffee-Machine«. Zehn Jahre lang konnten hier fünfzehn Wissenschaftler des Computer Science Departments prüfen, ob es sich lohnte, den Weg zur Maschine anzutreten, ohne dass sie vor einer leeren Kanne stehen und womöglich selbst Kaffee kochen mussten. Denn obwohl sie sich in einem »Coffee Club« organisiert hatten, in dem mit Strichlisten überprüft wurde, dass die Arbeit an der Maschine gleichmäßig verteilt wurde, gab es laut Stafford-Fraser immer wieder Probleme: »Der Ausflug dorthin war oft umsonst, wenn die nächtlichen Dauer-Hacker des Trojan Rooms einem zuvorgekommen waren. Diese Unterbrechungen unseres Forschungsfortschritts haben uns natürlich einigen Stress bereitet.«14 Also setzten sie sich zusammen, um eine Lösung des Problems zu finden, und kamen auf die Idee mit der Kamera, für die Stafford-Fraser und Kollege Paul Jardetzky ein Programm namens Xcoffee schrieben, um auf den Computern des hausinternen Netzwerkes das Bild empfangen zu können. »Wir brauchten bloß einen Tag, um das ganze System zu konstruieren, aber es war nützlicher als alles andere, was ich jemals für ein Netzwerk geschrieben habe«,15 meinte Stafford-Fraser.

Im November 1993 war die erste Kamera kaputt. Stafford-Fraser und Jardetzky hatten ihren Doktorgrad und waren nicht mehr da, um das System zu reparieren. Also bauten andere Wissenschaftler eine neue Kamera, schrieben das Programm etwas um und benutzen nun das WWW, um das Bild zu zeigen. Es entstand das, was »als das erste Live-Bild angenommen wird, das im sich gerade entwickelnden World Wide Web gezeigt worden ist.«16 Und obwohl die Seite, wie es der spätere Kamerabetreuer Daniel Gordon ausdrückte, nur »unwesentlich aufregender war, als Farbe beim Trocknen zuzuschauen«,17 zog sie im Laufe der Zeit 2,4 Millionen Besucher an, nicht nur virtuelle, sondern auch ganz reale, »die [...] alle zwei Wochen vorbeischauten, um die Kanne zu bestaunen«, wie Betreiber Tim Harris während ihrer Laufzeit zu berichten wusste: »Vor einigen Tagen war wieder ein Pärchen aus Texas hier. Die beiden waren wegen irgendeiner Konferenz in Cambridge und wollten unbedingt die Trojan-Room-Kaffeemaschine sehen.«18 Stafford-Fraser erzählte auch von den Beschwerde-E-Mails aus anderen Zeitzonen, in denen eine 24-stündige Beleuchtung der Maschine angemahnt wurde, weil beim Surfen oft die englische Nacht erwischt wurde und nur ein schwarzes Bild zu sehen war.

Was machte diese Seite so immens erfolgreich? Warum war es ein so großes und berichtenswertes Ereignis, als die Kamera abgeschaltet wurde, |25|weil das Computer Lab in das neue William Gates Building in West Cambridge umzog? Warum war Spiegel Online bereit, die kaputte Kaffeemaschine, dieses »Stück Internet-Geschichte«, für 3.350 britische Pfund – umgerechnet 10.452,70 Mark – auf eBay zu ersteigern, um »die Tradition« fortzusetzen?19 Die Art und Weise, wie über diese Auktion, die Restauration der Maschine und ihre Wiederbetriebnahme in der Redaktion von Spiegel Online selbst berichtet wurde, geben schon Hinweise auf den Grund für die Aufregung um die Trojan-Room-Coffee-Machine. Unter der reißerischen Überschrift »Spiegel Online rettet die Trojan-Room-Kaffeemaschine« wird die Ersteigerung detailliert als heroischer Akt beschrieben:

»Bei zehn Pfund, rund 31 Mark, hatte der Startpreis für das Lot mit der Nummer 1260882480 gelegen. Schon am ersten Auktionstag hatte sich der Preis verzehnfacht. In den letzten beiden Stunden der Auktion hatte sich der Preis von 750 Pfund auf über 3.000 Pfund mehr als vervierfacht. Um 14.39 Uhr und 29 Sekunden fiel der Hammer. Viel Geld, wenn man bedenkt, dass die Krups ProAroma, die von Oktober 1997 bis März 2001 vor der Kamera im Einsatz war, derzeit noch nicht einmal zum Kaffeekochen taugt: ›Wir müssen Sie warnen, dass die Maschine kaputt ist, möglicherweise so sehr, dass sie nicht mehr repariert werden kann. Sie verliert Wasser, außerdem haben wir den Stecker abgeschnitten‹, hieß es in der Objektbeschreibung bei eBay.«20

Der Eindruck des Heroischen wird noch verstärkt, wenn in einem späteren Artikel die Inbetriebnahme als »virtuelles Museum« auf www.spiegel.de und die vorherige Restauration als archäologische Operation beschrieben werden:

»Zuvor war das gute Stück vom Hersteller Krups kostenlos renoviert worden. Um sicher zu gehen, dass die Techniker die Uralt-Maschine nicht einfach in den nächsten Müllcontainer werfen, wurde vor dem Versand nach Solingen die Seriennummer notiert und die wertvolle Maschine mit ein paar kleinen Kratzern auf dem Boden unauffällig markiert. Nach ein paar Tagen kam das Original technisch einwandfrei zurück«.21

Das scheint auf den ersten Blick zu allen Klischees der Nerd-Kultur zu passen, deren Vertreter unnützen technischen Schnickschnack goutieren, Geld nicht in Diskotheken oder Boutiquen sondern im Elektroladen verprassen, Sozialkontakte für Basteleien im Keller des Elternhauses vernachlässigen und deren Helden die analytisch überlegenen Mr. Spock und Data aus Star Trek sind. Aber wenn, dann würde diese Kategorisierung bestenfalls auf die Mitglieder des »Coffee Club« zutreffen, die lieber ein Überwachungssystem konstruieren anstatt sich unnötiger körperlicher oder |26|sozialer Belastung zu unterwerfen. Millionen von Besuchern und Redakteure eines der am häufigsten frequentierten Netz-Magazine fallen nicht unter diese Kategorie. Was man stattdessen aus den Bemühungen von Spiegel Online ablesen kann, ist, dass versucht wird, an einem Kultphänomen teilzuhaben und von dessen Status selbst zu profitieren. Deshalb die bemühte Ironie durch pathetische Schilderungen, deshalb die Detailversessenheit und die Authentifizierungswut. Und um nicht Spiegel Online zu einem Epigonen abzustempeln und alle vorherigen Besucher der Kameraseite als die wahren Rezipienten erscheinen zu lassen, sei betont, dass diese selbstwertdienlichen Bemühungen jeden Teilnehmer eines Kultes auszeichnen, egal zu welchem Zeitpunkt er dazustößt.

Es wäre allerdings präziser, von der Trojan-Room-Coffee-Machine nicht als einem Kult-, sondern als Camp-Phänomen zu sprechen. In dem Essay »Anmerkungen zu Camp« hat Susan Sontag 1964 diese »Betrachtung der Welt unter dem Gesichtspunkt [...] eines besonderen Stils« analysiert als »Liebe zum Übertriebenen, zum ›Übergeschnappten‹, zum ›alles-ist-was-esnicht-ist‹«.22 Die Weltsicht des Camp ist die der »Anführungsstriche«, es geht um den doppelten Sinn von einigen Sachen, »Camp in Personen oder Sachen wahrnehmen heißt die Existenz als das Spielen einer Rolle begreifen«.23 Die wichtigste Eigenschaft von Camp ist seine naive Extravaganz: