Kaleidoskop Kluge - Christoph Streckhardt - E-Book

Kaleidoskop Kluge E-Book

Christoph Streckhardt

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Beschreibung

Alexander Kluge, so die These dieser außergewöhnlichen Studie, befreit die Kritische Theorie aus ihrer diskursiven Verschanzung der letzten Jahrzehnte und verknüpft sie auf ästhetische wie bildungsphilosophische Weise wieder mit Gesellschaft. Dabei arbeitet Kluge, wie Christoph Streckhardt zeigt, im Grunde nach vier Prinzipien: Entschleunigung, Subjektivierung, konstellative Darstellung sowie kooperative Gegenproduktion. Mit allen Freiheiten eines multimedial agierenden Erzählers gelinge es ihm darüber hinaus, auch die theoretischen Grundlagen insbesondere die Walter Benjamins und Theodor W. Adornos weiterzuentwickeln. Die Studie wird eingerahmt von zwei exklusiven Interviews mit dem "Hofpoeten" der Frankfurter Schule. Zusätzlich gewährt sie spannende Einblicke in bislang unveröffentlichtes Material wie verlagsinterne Protokolle aus dem Siegfried Unseld Archiv (Deutsches Literaturarchiv Marbach) oder die Briefkorrespondenz zwischen Kluge und Adorno aus dem Theodor W. Adorno Archiv (Berliner Akademie der Künste). Als ein Novum in der Kluge-Forschung erläutert sie zudem in einem etwa 30-seitigen lexikon-untypischen Kluge-Lexikon zentrale Schlüsselbegriffe und -motive. Der Autor war mit diesem Buch für den "Opus Primum", den Förderpreis der VolkswagenStiftung für die beste wissenschaftliche Nachwuchspublikation des Jahres 2016 nominiert.

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Seitenzahl: 828

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Christoph Streckhardt

Kaleidoskop Kluge

Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln

A. Francke Verlag Tübingen

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar

 

Die vorliegende Studie wurde von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg im Juli 2015 als schriftliche Habilitationsleistung angenommen. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet.

 

 

 

© 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

Inhalt

„Kunst der Gegenwart.VorwortForschungsstand, Arbeitsmethoden und Aufbau1 Thekengespräch in der Cinémathèque2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie2.1.1 Die Haltung der Kritischen Theorie I2.1.2 Zweifel und Widerstand2.1.3 Neuausrichtung2.1.4 Eine kurze Genealogie der Vernunft (Ratio plus Emotio)2.1.5 Arbeit (Habermas’ blinder Fleck)2.1.6 Wahre Ware2.1.7 Die Haltung der Kritischen Theorie II2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen2.2.1 Subjekt-Objekt I2.2.2 Subjekt-Objekt II2.3 Öffnung und Kooperation2.3.1 Die Öffnung der Wissenschaften nach „unten“ (und zur Seite)2.3.2 ‚Kälte’ als Metapher der Moderne2.3.3 Denkbewegung: Prozess vs. Resultat2.3.4 Fürchtet sich Intelligenz aus Verlustängsten ihrer Identität davor, verstanden zu werden?2.3.5 Zwischenfazit: Zum Selbstverständnis einer kritischen Theorie2.4 Identität und Öffentlichkeit2.4.1 Arbeit am Projekt einer authentischen Öffentlichkeit2.4.2 „Cogito quia natus sum“: Odysseus und der Begriff der Identität2.4.3 Übergang: Wissensspeicher Literatur2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion2.5.1 Kritische Theorie und die Rolle der Kunst2.5.2 Ästhetische Theorie und Praxis bei Kluge2.5.3 Multi-, Trans- und Intermedialität2.5.4 Fröhliche Wissenschaft und Anti-Stil: Merkmale Kluges Ästhetik2.5.5 Erzähltheorie und Geschichtsschreibung2.5.6 Über Verstehen und Wollen: Produktion und Rezeption2.5.7 Übergang: Kunst – Öffentlichkeit2.6 Mündigkeit – Zum Verhältnis von Freiheit und Vernunft, Denken als intersubjektiver Vorgang, öffentlicher Raum zum Erfahrungsaustausch2.6.1 Die historische Idee der Bifurkation2.6.2 Zum Zeitbedarf von Revolutionen2.6.3 Der Antirealismus des Gefühls2.6.4 Selbstregulierung als Antwort auf die Gefahr des Selbstwiderspruchs2.6.5 Zum Verhältnis von ‚Mündigkeit’ und ‚Humanismus’2.6.6 Ästhetische Erfahrung und Wahrnehmung2.6.7 Ästhetische Bildung zur Mündigkeit2.6.8 Resümee: Philosophie in BewegungLeuchtfeuer PhilosophieLeuchtfeuer PhilosophieDas schönste GoldGeerdete KonstellationenKluge-LexikonSiglen und QuellenverzeichnisLiteratur (Alexander Kluge)Siglen und Abkürzungen:Ohne Sigle:Film, TV & Web-TVHörspielInterviews und RezensionenWeitere LiteraturSiglen:Ohne Sigle:Sonstige Online-QuellenVerzeichnis aller Abbildungen und Bild-Text-ArrangementsDank

„Kunst der Gegenwart.

Stellung der Wissenschaften zur Kultur

Die soziale Frage.

 

Besser leben, nicht mehr erkennen.

Die jetzigen Menschen Trümmerhaufen.“1

Abb. 1: Der Triumph des Kaleidoskops oder das Grabmal des Kopfzerbrechers.

Vorwort

Alexander Kluge ist in seiner Haltung wie auch in seiner Ästhetik, hierin sind sich Forschung und Feuilleton einig, ein aufklärerischer Geist im besten Sinne. Gemäß dieser Hypothese gilt es, das klugesche Gesamtwerk auf seine ästhetische Gestalt sowie seinen philosophischen Gehalt hin zu untersuchen: Kann Alexander Kluge als ein außergewöhnlich agierender Vertreter der Kritischen Theorie bezeichnet werden? Und wenn ja, was nützt eine solche Kategorisierung?

Vorweggenommen sei: Es geht nicht darum, Kluge in die philosophischen Bibliotheken einzuspeisen, sondern im Gegenteil darum, die Philosophie zu entriegeln und ihr Ausdrucksmittel, Kommunikationswege und Kooperationsmöglichkeiten außerhalb des universitären Betriebs aufzuzeigen. Grund hierfür ist die Überzeugung, dass sich die Philosophie mit einem alten Vorwurf in Zeiten aufgeregter Unsicherheit und anhaltender Ungerechtigkeit neu auseinandersetzen muss: Ob sie nicht mit dem Übergewicht ihrer Ausrichtung auf Wissenschaftlichkeit den Anschluss an ihren eigentlichen Untersuchungsgegenstand verloren hat: das Leben.1

Ob nun sie in abstrakten Diskursen und auf verwinkelten Wegen den Menschen vergessen hat oder ob dieser in seiner hektischen Effizienz verlernt hat zu staunen, zu hinterfragen, zu entdecken, ist einerlei. Da Philosophie eine Bildungsgröße ist, muss sie Verantwortung übernehmen und Schritte einleiten, die gegen diese Auflösungserscheinungen arbeiten. Die vorliegende Dissertation entzieht sich deshalb nicht, Wissenschaft im Allgemeinen und Philosophie im Besonderen in die Pflicht zu nehmen, aus inneren Zirkeln auszubrechen und in die Gesellschaft hineinzuwirken. Gelingt es, sich von akademischen Verklausulierungen und persönlichen Eitelkeiten zu verabschieden, ist die notwendige Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit möglich, wie sie das klugesche Werk vorlebt.2

Gegenstand der Untersuchung ist das kaleidoskopische Werk eines multimedial agierenden Künstlers und Theoretikers – die Arbeit soll dessen emanzipatorischen Gehalt in Form und Inhalt entfalten sowie, darauf basierend, sein Emanzipationspotenzial eingehend behandeln: Ob Kluges Kunst zu einer ästhetischen Ausbildung der menschlichen Sinneswelt beitragen kann und dies auch zum mündigen Demokraten befähigt, soll kontrovers und selbstprüfend diskutiert werden; etwa und besonders, ob Kluge durch seine anspruchsvolle Arbeit nicht einen großen Teil der Gesellschaft ausklammert, ob er vielleicht tatsächlich nur Intellektuellenprogramm, Nischenprogramm betreibt – und somit gar keine gesellschaftliche Relevanz besitzen kann, da er die Gesellschaft dann weder ansprechen, geschweige denn erreichen würde?

An der Schnittstelle zwischen Wissen und Wissensvermittlung will diese Arbeit über Alexander Kluge eine dreifache Öffnung bewirken: Ihr ist es gleichermaßen um den Bruch mit Anti-Intellektualismus wie um den Bruch mit elitärer Hochkultur zu tun. Jedoch nicht, um sich in Schöngeistigem und Abstraktem zu verlieren, sondern um die Sinne, die Wahrnehmung, das tägliche Unterscheidungsvermögen zu schärfen. Gewissermaßen Kant, Schiller und Adorno verknüpfend und humanistische Bildungsideale mit kritischer Emanzipationsfähigkeit vereinend, soll die Arbeit Alexander Kluges als ästhetische Bildung zur Mündigkeit beleuchtet werden. Es gilt zu veranschaulichen, wie gegenwartszugewandt und möglichkeitsprojizierend das klugesche Werk ist, gerade indem es in produktivem, wechselseitigem Austausch mit Vergangenem steht. Man wird sehen, dass es ein prozessuales Projekt darstellt, das die alte Angst vorm Nichtverstehen nehmen, Mut zum Hinterfragen geben und schließlich Lust am selbstständigen Nachdenken machen will.

 

„Wissen ist nicht ausschließlich begrifflicher Art.“3 Destruktiv wäre es deshalb, wollte man versuchen, Kluges Arbeit krampfhaft zu systematisieren und mit Begriffen festzuzurren. Seine bildungsphilosophisch geprägte Kunst, die zwar hier einer geisteswissenschaftlichen Beobachtung unterzogen wird, wird als Grenzgänger zwischen den Künsten und zwischen den Wissenschaften angesehen. Ihre autonome, sich immerfort metamorph und perpetuierend verhaltende, sich spontan aufspaltende und wie von selbst in neuen Kombinationen zusammensetzende Form muss in ihrem organischen Charakter, will man sie nicht zerstören, sondern wirklich verstehen, erhalten bleiben. Unter diesem Leitstern steht deshalb auch das angehängte Lexikon. Es soll Kluges Kunst nicht systemisch einfangen, sondern dieses Glossar, das bewusst experimentellen Charakter besitzt, soll wie ein Schlüsselkasten benutzt werden, um ein Werk aufzuschließen, das allgemein unter dem Vorwurf steht, kompliziert zu sein. Da die vorliegende Arbeit einen Erkenntnisgewinn anstrebt und der Form nach den Bedingungen für eine ordentliche Doktorarbeit einer philosophischen Fakultät einer Universität nachzukommen hat, kommt sie auch selbstverständlich gar nicht umhin, mit Begriffen zu hantieren, die sie zunächst einmal zu erläutern hat, will sie mit diesen zur Kritik schreiten. Es wird sich zeigen, dass Begriffe und Bilder, dass Wissenschaft und Kunst bei Kluge so sehr ineinander überlaufen, dass der Boden jeder Schublade längst aufgeweicht ist und es schon wieder in die nächste träufelt. – Gerade weil das so ist, besteht für die Auseinandersetzung mit ihm die Gefahr, sein Verfahren nur zu wiederholen. Diesem Problem wird hier durch den nötigen Abstand in Form (z.B. keine Montage-Dissertation) wie Inhalt (kritische Reflexion und geistesgeschichtliche Einordnung etc.) Einhalt geboten – ohne jedoch die Freiheit zur eigenen Ausdrucksweise zu untergraben.

 

Grundsätzlich umkreisen die Themen Kluges und somit auch diese kritische Betrachtung philosophische Urfragen: Wie ist es um den menschlichen Anspruch auf Glück, auf Sicherheit und Wissen bestellt? So wird es um die Suche nach Identität und Wege des Identifizierens gehen, um eine überindividuelle Ontologie, um die Respektierung und die Förderung der Entfaltung des Subjekts im Angesicht seines ungleichen Plurals (die anderen).

Dies mündet in die konkrete Frage, welche politischen Handlungsmöglichkeiten mir als zur Emanzipation strebendes Individuum zur Verfügung stehen, auch wenn keine Infrastruktur einer entsprechenden Bewegung existiert? Kluge antwortet darauf mit folgender Idee: Mithilfe der Störung des gängigen Unterhaltungsprogramms durch eine antikommerzielle und ästhetische Bespielung von Medien und Leitmedien wächst die Möglichkeit, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen und dieser Material und Plattform zugleich zu bieten, um somit eine kritische und mündige Öffentlichkeit entstehen zu lassen. Insofern: To fight the devil with fire – oder um es mit Heiner Müller zu sagen: Die Hölle ist kalt.

Forschungsstand, Arbeitsmethoden und Aufbau

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller und dem Filmemacher Alexander Kluge ist in Tiefe wie Breite durchaus beträchtlich, wenngleich er in den einschlägigen Feuilletons eine noch beachtlichere Aufmerksamkeit erfährt. Während Letzteres vermutlich auf das nicht-akademische und doch intellektuelle Moment sowie die multikünstlerische Form zurückzuführen ist, ist Ersteres besonders den Kluge-Spezialisten Rainer Stollmann und Christian Schulte zu verdanken, von denen auch die vielleicht interessantesten und schönsten Gespräche mit Kluge stammen.

Seltsamerweise existiert bis auf wenige inhaltlich verwandte Essays wie zu unrecht entlegene Beiträge Schultes1 und Stollmanns2 oder eine treffende Titelzeile einer Kurzrezension Uwe Schüttes3 im Prinzip keine Literatur, die den Weg dieser Arbeit bis zum Ende verfolgt: Das Werk Alexander Kluges, betrachtet als eine ästhetische Begleitung der Philosophie, als Gesellschaftsanalyse in erzählerischer Darstellung, als Fortschreibung der Kritischen Theorie mit Ausdrucksmitteln der avantgardistischen Moderne, die Verwandtschaftsgrade etwa mit dem epischen Theater, dem Russischen Formalismus oder dem frühen Stummfilmkino aufweist und gleichzeitig eigene Strömungen wie die des Neuen Deutschen Films mitbegründet hat. Letztlich haben insbesondere Aussagen Christian Schultes der Ausrichtung dieser Dissertation indirekt Mut gegeben. Das gilt ebenso für das Kluge-Panel im Rahmen der Konferenz „Critical Theory, Film and Media: Where is ‚Frankfurt’ Now?“,4 die im August 2014 an der Frankfurter Goethe-Universität bzw. im Institut für Sozialforschung stattfand sowie für das zweite Alexander-Kluge-Jahrbuch, das unmittelbar vor dieser Publikation erschien.5 Denn dass jene Spuren in der Forschung existieren und sich aktuell verdichten, weist auf den Sinn hin, dem Ausgangsgefühl nachzugehen, der Mangel an ihnen wiederum auf die Notwendigkeit, weitere Fußabdrücke zu hinterlassen – im Grunde die Daseinsberechtigung der folgenden Seiten.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Alexander Kluge in der Sekundärliteratur reagiert lebendig und vielfältig auf den Reiz der unzähligen theoretischen wie ästhetischen Anknüpfungspunkte, die sein Werk anbietet. Auch dieses Buch schlägt immer wieder Verbindungen zu verschiedensten Autoren, Bewegungen und Diskursebenen, um Ähnlichkeitsrelationen aufzuzeigen und Kluges Arbeiten besser beleuchten zu können. Im Umkehrschluss besteht zugleich aber auch die Gefahr der Beliebigkeit oder dem Eindruck, man habe es mit einem homogenen Autorenblock zu tun. Dem Wunsch, die Vielpoligkeit zu erhalten, soll mit dem Drang, Letzterem entgegenzuarbeiten, verbunden werden. Deshalb soll es bei der Suche nach etwas Grundlegendem keineswegs um ein Reduzieren gehen, sondern um das Bereitstellen von Verlässlichem.

Für die Dissertation gilt deshalb die Leitthese, dass sich Alexander Kluges Werk trotz aller Polyphonie als Zusammenhang, gewissermaßen als Physiognomie eines philosophischen Denkzusammenhangs rekonstruieren lässt. Und der scheint mit der Chiffre „Kritische Theorie“ am kompaktesten zusammengefasst, auch und gerade weil diese sich einer geschlossenen Definition verwehrt. Diese unternimmt bekanntlich eine Analyse und Kritik von Gesellschaft, insbesondere hinsichtlich ihrer Macht-, Gewalt- und Freiheitsverhältnisse unter dem handlungsorientierten Leitstern, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“.6 Die Kritische Theorie denkt Kant, Hegel, Marx, Freud und andere zusammen, ist ihren wesentlichen programmatischen Äußerungen nach undogmatisch und selbstreflexiv, ist antikapitalistisch, ideologiekritisch und antiautoritär. Entscheidend ist dabei, dass die Kritische Theorie kein geschlossenes System ist, sondern in erster Linie eine Haltung. Auf Kluge bezogen darf dabei ein methodisches Problem nicht unerwähnt bleiben: Sein theoretisches und sein künstlerisches Werk stehen nicht einfach im Verhältnis von Theorie und Anwendung. So geht es also nicht um den Versuch ästhetischer Darstellung von Theorie.7 Vielmehr partizipieren auch die theoretischen Schriften Kluges an seiner literarischen Praxis und umgekehrt. Ja eigentlich kann man nicht einmal solche Einteilungen vornehmen, da die dicken Bände mit Oskar Negt noch voller Poesie stecken und selbst der entlegendste Minutenfilm Theoretisches transportiert. Vielleicht liegt genau hier der besondere Reiz an Kluge: analytisch und ästhetisch zugleich am Werk zu sein. Es scheint, dass Form und Inhalt, theoretische Reflexion, intellektuelle Intervention und nie rein ästhetische Produktion (vielmehr: praktisches Arbeiten) im Gesamtprozess wahrgenommen werden müssen, will man etwas „Wahres“ aussagen. Um es mit seinem eigenen Vokabular zu verdeutlichen: Die Lücken und Bruchstellen im Werk sind „durchlässige“ und „reiche“ „Nahtstellen“, weil sie eine komplementäre, wechselseitige Durchdringung von „spontan (idiosynkratisch)“ und „bewusst (kritisch)“ ermöglichen.8

Wenn man Kluge deshalb so etwas wie „Systematik“ andichten wollte, bestünde eine ähnliche Gefahr als wenn man ihm vorschnell „Unsystematik“ vorwürfe. Sein „System“ ist ein nach allen Seiten offenes und dennoch in sich stimmiges Anti-System und deshalb vielleicht treffender als „Zusammenhang“, als die „Kunst des Zusammenhangs“ zu bezeichnen.

 

Die erwähnte Frankfurter Grundhaltung ihrerseits hat bekanntermaßen spezifische Theorien und Methoden geprägt, von denen Alexander Kluge zahlreiche nicht nur theoretisch aufgegriffen, kritisiert und weiterentwickelt hat in Bezug auf Probleme des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Gerade bezogen auf den praktischen Impetus der Weltveränderung hat er verblüffende neue Wege beschritten, die wie en passant die Kritische Theorie selbst ins nächste Jahrhundert vermittelt haben, indem er öffentlichen Erfahrungsraum zwischen Universität und Marktplatz, zwischen Metropole und Provinz, zwischen Intelligenzia und Proletariat eingerichtet hat. Dies, das werden die Untersuchungen zeigen, gelingt ihm durch zweierlei, durch etwas „Theoretisches“ und etwas „Praktisches“: Durch form-ästhetische Umsetzungen Adornos und Benjamins erkenntniskritischer Idee der Konstellationen sowie durch nach ähnlichem Prinzip funktionierende inner- wie außerästhetische Kooperationen. Alexander Kluges Werk ist daher unbedingt auch als ein kugelhaftes Buch benjaminscher und adornoischer Wirkungsgeschichte zu lesen.

 

Es war Paul Feyerabend (Wider den Methodenzwang, 1975/76), der darauf hingewiesen hat, dass es nicht die eine objektivistische Methode der Wissenschaften gibt, sondern höchstes durch Methodenpluralismus so etwas wie „Erkenntnis“ überhaupt möglich werden kann. Nach der Auseinandersetzung mit Kluge kann selbst dies nur ein Kompromiss sein.

Überzeugt von der Ansicht, dass es entsprechend der Eigenarten eines so ungewöhnlichen Gegenstandes adäquater Werkzeuge bedarf, um diesen zu erfassen, verhält sich die Methodik dieser Untersuchung an ihre vielförmige Materie kritisch-assimilierend (jedoch nicht imitierend). Da wir es beim Werk Alexander Kluges mit multimedialen Formen und transmedialen Erzählweisen zu tun haben, da sein Inhalt von opulenter Artenvielfalt gekennzeichnet ist, die sich furchtlos allen Wissenschaften aufschließt und mit interesselosem Wohlgefallen fragt und lauscht, geradezu rauschhaft assoziiert, Grenzen verwischt und der es vor allem immer um den großen Zusammenhang gelegen ist – da wir es mit einem solch außerordentlich komplexen Werk zu tun haben, muss auch der daran angewandte Schlüssel der Methode und Sprache transdisziplinär gegossen sein. So bedient sich diese Auseinandersetzung etwa dem Vokabular der Philosophie wie auch der Allgemeinen Rhetorik, der Filmanalyse wie der Literaturwissenschaft, der Erzähltheorie wie der Sozialwissenschaften – jedoch nicht um akademisch-eloquent zu verschlüsseln, sondern um, umgekehrt, die Substanz unversehrt herausarbeiten zu können.

Wiederholungen und Überschneidungen wurden versucht auf ein Minimum zu komprimieren, sodass die verbliebenen schlicht aus der Tatsache resultieren, dass die Grenzen in erster Linie theoretische Konstrukte sind und in der künstlerischen Praxis ineinander überlaufen. Dieser Konflikt ist sehr ernst zu nehmen, zumal er mit dem Sujet der Arbeit frappant korrespondiert.

Auf dem skizzenhaften Hintergrund der Kritischen Theorie werden konturenartig die theoretischen Reflexionen der gemeinsamen Arbeiten Alexander Kluges und Oskar Negts gezeichnet, bevor diese anhand Kluges kaleidoskopischem Narrativ Ausmalungen erfahren. Es wird sich zeigen, wie die anfänglichen, schwarzen Skizzen plötzlich von Neuem aufscheinen, formvollendet unvollendet und in allerlei Farben.

 

Alle „maskulinen“ Begriffe, wie etwa „der Rezipient“, stehen in dieser Arbeit für jedes und kein Geschlecht.

1 Thekengespräch in der Cinémathèque

Aus einem persönlichen Gespräch vom 27. April 2013 während der mehr als einmonatigen Filmschau Alexander Kluge Rétrospective – Prospective. Odyssée Cinéma der Cinémathèque française vom 24. April bis 3. Juni 2013 in Paris stammen die nun folgenden Seiten.

Wenn nun in diesem geschichtsträchtigen Institut ganze sechs Wochen lang jeden Tag Kluges große Kinofilme wie auch kleine Minutenfilme gespielt werden, werden nicht nur besondere Einschnitte der Geschichte, die in seinen Filmen behandelt werden, in die Gegenwart geholt und mit dieser konfrontiert, auch tote Filmarbeit wird durch seinen Namen und die Namen, die ihn umgeben, stimuliert und wiederbelebt – die Bewegungen der Nouvelle Vague und des Neuen Deutschen Films sind schließlich Schwestern. Sofort blitzen Namen wie Godard und Langlois auf. Zudem wird die Cinématèque nicht von ungefähr „Gedächtnis des Kinos“ genannt. Oder ist das nur ein nostalgisches Gefühl und in Wirklichkeit herrschen längst institutionelle „Trägheitsverhältnisse“? Mindestens zwei Dinge sprechen sofort dagegen, zumindest formal: Wenn man allein sieht, wie oft das Institut seinen Ort in der Stadt gewechselt hat (übrigens immer intra muros und immer in Reichweite zur Seine), dürfte es immer wieder neue Impulse ausgelöst haben. Das derzeitige Gebäude jedenfalls ist ohne Frage ein besonderes. Entworfen hat es Frank Gehry. Ich musste an ein Gebäude von ihm in Prag denken, vor allem weil ich es mit dem bekannten Marx-Zitat verbinde: Es heißt „Das tanzende Haus“ („Man muss die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zwingen.“). Das konnte ich Alexander Kluge leider nicht mehr sagen, denn dann ging es weiter für ihn mit dem Programm. In einer der „Pausen“ nahm er sich die Zeit für ein Gespräch, das wir einige Monate später dann am Telefon fortsetzten.

Es ist ordentlich was los an diesem Tag im Café und Restaurant der Cinémathèque, das mit der „51“ die Hausnummer im Namen trägt. Uns umgibt ein lautes Gemurmel aus Französisch, Deutsch, Englisch, fremde Gesprächsfetzen sind zu vernehmen, fließen mit ein, Leute kommen und gehen, stehen oder sitzen, essen, trinken, diskutieren, lachen, Musik dudelt, Gläser klirren. Es ist eine lebendige und ungezwungene, eine urbane Atmosphäre, eben: ein Thekengespräch.

Kluge: […] Wenn Sie mir noch einmal kurz in Erinnerung rufen könnten, an was Sie genau arbeiten?

CS:

Gern. Ich beschäftige mich in meiner Arbeit mit Ihrem Werk aus einer philosophischen Perspektive heraus, weil meines Erachtens, und für mich unverständlich, eine solche vollkommen fehlt. Ich bin davon überzeugt, dass einem dadurch etwas Entscheidendes entgeht. Konkret gesagt, geht es mir um Kritische Theorie – und zwar als Erzählung. Meine Arbeit wagt den Titel: „Die Fortsetzung Kritischer Theorie mit epischen Mitteln.“

Kluge: Das ist ein sehr schöner Titel, den Sie da gewählt haben. Vielleicht besser „narrativ“. Obwohl, „episch“ können Sie auch sagen.

CS:

An dieser Stelle bin ich mir auch unsicher. Ich will die Verwandtschaft zum epischen Theater so gern dabei haben, auch wenn das natürlich nicht der einzige Verwandtschaftsgrad Ihrer Arbeit ist und gleichzeitig ist der Begriff auch irreführend, weil er so viel bedeutet, weil er anderes ausschließt, was ich nicht ausschließen möchte. Mit „episch“ meine ich nicht Buddenbrooks, sondern natürlich eher Brecht. Wiederum ist es ja keine Moralveranstaltung, hier habe ich eher Verfremdungseffekte, Multimedia oder den Einsatz von Musik im Sinn …

Kluge: Sie verfolgen da einen richtigen Gedanken. Das Thema, Philosophie mit Erzählung zu begleiten, ist ein Uraltthema der Kritischen Theorie. Wenn man eine Enzyklopädie je neu schreiben würde, müsste man sie mindestens in sechs oder sechzehn Sprachen und in Dialekten gleichzeitig schreiben. Man müsste sie in einer plebejischen Ausdrucksweise und in einer individuellen gleichzeitig schreiben. Und das Cross-Mapping davon, diese Differenz davon, ist die wirkliche Information und die Enzyklopädie, also die Spannung.

Wenn Sie z.B. das russische Wort für Liebe nehmen, oder für Wasser nehmen, oder Sie nehmen das russische Wort für Haut – das heißt „Leder“; aber das Chagrinleder bei Balzac ist etwas anderes als „Haut“ und „Leder“ sich zueinander verhält. D.h. Sie würden hier eine Differenz in die Sprache kriegen und damit würde Philosophie überhaupt ihr Ausdrucksfeld haben. Man kann nicht versuchen, in Hochsprache Philosophie allein einzufangen. Auch Hegel schreibt ja offenkundig schwäbisch und Adorno schreibt eine Kunstsprache, die aber ganz schön frankfurterisch ist. In der Hinsicht ist also die Begleitung von Philosophie und die Vernetzung von Philosophie mit Erzählung mehr als die Beispiele zur Philosophie. Sondern man muss also jeden Gedanken 17 Mal erzählen, so wie das im Talmud auch üblich ist, also gewissermaßen einen Kreis machen um das, was unaussprechbar ist.

CS:

Einkreisen, umzingeln, bis man es begreifen kann.

Kluge: Richtig. Um sozusagen die Gravitation zu spüren, die in einem Gedanken, einer verdichteten Haltung steckt. Und dies jetzt für die Kritische Theorie zu machen, würde u.a. bedeuten, dass Sie bei Walter Benjamin, bei seinem Passagen-Werk, überlegen: Wie können wir, meinetwegen, ausgehend vom 21. Jahrhundert das 20. Jahrhundert in eine Inventarliste, so wie das Passagen-Werk das ja macht mit dem 19. Jahrhundert, kleiden? Wie können wir vom 22. Jahrhundert aus, das ja mit Gewissheit irgendwie kommt, das 21. Jahrhundert bereits im Vorgriff, weil wir im Grunde das Bedürfnis haben, schnell zu sein, einfangen? Und dann würden Sie sehen, die Frage „Was ist die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts?“…

Beide:

  Paris.

Kluge: Was wäre die Hauptstadt des 21. Jahrhunderts? Ich weiß gar nicht, ob das eine Stadt wäre, das kann etwas anderes sein.

CS:

Das Internet vielleicht.

Kluge: Vielleicht. Vielleicht wäre es eine Beziehung zwischen etwas. Aber Lagos ist es nicht. Und Moskau auch nicht. Und Berlin auch nicht.

Wenn die Dominanz des Eisens nicht so sichtbar ist heute … Es ist wichtig, aber der Eifelturm, die transsibirische Eisenbahn – das ist alles Eisen. Während heute z.B. selten werden: Indirektheit und Silizium, und an die Stelle treten. Und die haben ja ganz andere Beziehungen als festgefügtes Eisen. Und das müsste man jetzt weiterentwickeln: CERN ist eine Riesenmaschine, sie würde Ihnen mit Sicherheit auffallen. Die Maschinerie Weltall, die jetzt erforscht werden kann, die dunkle Materie, die dunkle Energie, würden in die Institutionenlehre gehören. Auf diese Weise würde man jetzt die erzählerische Erfindung des Passagen-Werks fortsetzen. Das ist schon Narration at it’s best: die offene Form. Aber wie transkribiert man das in unser Jahrhundert und dessen Erfahrung?

CS:

Genau. Und das kann vielleicht nicht die Philosophie oder die Philosophie nicht alleine machen. Die Philosophie erklärt ja, verallgemeinert gesprochen, in Begriffen, die Literatur erklärt in sprachlichen, der Film in bewegten Bildern …

Kluge: Und jetzt müssen Sie alles das, einschließlich übrigens nach Adorno der Musik, die ja eine Kommentarfunktion hat … Wenn etwas nach alter Weise tönt, will ich das hören. Wenn Keppler eine Himmelsmusik schreibt, möchte ich wissen, was das ist. Anders gesagt: Alle Formen des Ausdrucks lassen sich nochmals verbinden, um Kerngedanken der Kritischen Theorie auszudrücken, zu umkreisen, also zum gravitativen Zentrum der Kritischen Theorie Planeten, Monde und Planetoiden zu erzeugen. Und das würde dann weiter bei Sohn-Rethel bedeuten, dass Sie die Ableitung des Apriori und des Denkens aus der ökonomischen Praxis noch einmal in Erzählung nachvollziehen.

CS:

Das erreicht mehr Menschen.

Kluge: Ganz viel mehr. Und sowas macht man auch nicht alleine. Aber man muss, wie bei den Brüdern Grimm, bereits Erzähltes überprüfen, ob es Kritische Theorie wiedergibt. Das ist eine Sammlung fremder Erzählung, die genauso dazugehören könnte. Es kommt erst Horkheimer und dann kommt Adorno. Jede dieser Erzählungen von denen lässt sich in dieser Weise fortsetzen – zu mehreren. Und dass ich das tue, ist ganz sicher, also das kann ich Ihnen garantieren.

CS:

Und deshalb löst es bei mir eine Verwunderung aus, dass das nirgendwo in der Literatur, in der Forschung angekommen ist. Ihr Name steht nicht bei der Kritischen Theorie und Sie sagen ja selbst …

Kluge: Ja, aber das ist egal. Ob wo was steht, ist egal. Aber trotzdem: Wenn Sie jetzt Odysseus und die Sirenen als Beispiel nehmen, Grundmetapher der Dialektik der Aufklärung. Dann wäre hier jetzt die Transposition, also dass ich sozusagen das Ende der Odyssee hinzunehme. Wie kommt denn Odysseus nach Hause? Woran erkennt ihn Penelope? An dem von ihm in seiner Jugend gezimmerten, in einen Baum hineingehämmerten Bett, das unverrückbar ist. Da haben Sie die Kategorie der Identität, nicht der Zerreißung – beim selben Homer. Und diese Sorgfalt gehört zur Kritischen Theorie dazu.

CS:

Die Analysefähigkeit trägt die Kritische Theorie ja in sich und ihr kommt jetzt durch das Narrative die Darstellungshilfe dazu.

Kluge: Ja, das ist in der Narration sehr viel leichter. Es fällt einem in der Narration sofort auf, dass da was fehlt. Das fällt einem beim Denken nicht auf.

CS:

Richtig, so wie Adorno in der Negativen Dialektik sagt: „Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann.“

Kluge: Ja. Und schauen Sie, die Konstellationen, wenn Sie das sagen, dann ist „Konstellation“ eine Begriffsart, die im Talmud z.B. vorkommt. Also ein Rabbiner in Babylon würde von einem Zentrum oder von einem unsichtbaren Phänomen langsam Kreise bilden und im 52. Kreis sind die Kommentare.

CS:

Das hat etwas von einer Spirale.

Kluge: So ist es. Und dieses Denken liegt dem Horkheimer sehr. Der würde das ganz gut finden, was wir hier reden. Von daher würde man also bei Konstellationen die Ausdrucksform des Denkens vom Linearen wegbewegen.

CS:

Hin zum Kreisförmigen, Zyklischen?

Kluge: Zyklischen … – auch. Es reicht schon, dass Sie die Kommentarebene sehr gründlich machen. Wenn Sie also haben: 17 Zeilen aus der Ethik von Aristoteles, verderbter Text, und jetzt kommt Abélard und schreibt 26 Bände Sic-et-non-Methode.1 Das würde der Kritischen Theorie gefallen.

CS:

Die Nebenwege.

Kluge: Ja, weil die Kommentarebene vertikal ist. Linear ist die eine Sache, die Darlegung. Und jetzt kommt die Vertikale, die Kommentare.

CS:

Die bifurcation, wenn man so will.

Kluge: Natürlich, ja. Diese Form der in mehreren Stockwerken arbeitenden Analysen, wenn Sie so wollen: der Polyphonie im Denken, die gehört zur Kritischen Theorie dazu, Adorno liebt das, aber es gibt nicht so viele Beispiele, dass das gemacht wird. Meinetwegen den Begriff „Stadt“ können Sie in dieser Weise vertiefen, auflösen usw., in der Vertikale kommt etwas ganz anderes als „Stadt“ heraus hinterher. Sodass Sie sagen: Das Städtische ist eine Toleranzleistung, die es in wirklichen Städten am seltensten gibt, die aber mit der Stadtgründung zusammenhängt und immer wieder vorscheint. Aber wie schnell ist die Polis zerstört von Seeräubern, nicht?! Wie schnell ist Sokrates tot, ja?! Die Polis ist keine harmlose Sache. Aber die Sehnsucht danach, die Stadt, die wir in uns tragen, als Idee, und da ist Adorno und alle Mitglieder der Kritischen Theorie sind richtige Städter, die können Sie auf dem Land gar nicht aufhalten …

CS:

Und das ist ja auch ein Problem. Sind Sie nicht vielleicht ein Bote, der von der Metropole aus zum Land geht durch das Darstellerische, durch das Narrative? Soll heißen, ein Botschafter, der Philosophie zu den abgehängten Provinzen bringt, ein Übersetzer von Kant und Marx und Nietzsche und der diese alle zusammendenkt?

Kluge: Kann sein, kann auch umgekehrt sein, dass einer aus der Vorstadt Frankfurts, Adorno jetzt, etwas mitbringt von der mütterlichen Seite, das … – oder von der väterlichen Seite: Er lehnt den Vater ab, bringt aber etwas mit. Und das denkt in ihm. Und das kommt nicht aus der Stadt, das ist ein Weinhändler. Der richtige Weg wäre, dass man sowohl aus den übrigen Gebieten, aus der Geschichte, vom Lande, etwas in die Städte bringt als auch von der Stadt her etwas dorthin bringt.

CS:

Es geht nie immer nur in eine Richtung. Es muss ein Austausch stattfinden.

Kluge: Nie nur in eine Richtung. Aggregieren ist aber die Grundtendenz, also Zusammenbringen, Sammeln.

[…]

Kluge: Kritische Theorie hat ja sehr viele Facetten. Und auf jede dieser Facetten gehört etwas erzählt. Da ist eine Erzählung immer kürzer oder länger. Ich gehe ja hier nicht als Philosoph durch, sondern ich bleibe beim Erzählen.

CS:

Das ist mir auch sehr wichtig und das thematisiere ich. Ich sehe keinen Sinn darin, Sie als Philosophen zu bezeichnen …

Kluge: Nein …

CS:

…Aber ich halte es für sinnvoll, auch aus einer philosophischen Perspektive Ihre Arbeit zu betrachten.

Kluge: Und die Disziplin des Erzählens kommt aus der Philosophie! … Sehen Sie, ich versteh das ja, was Sie sagen … Und das reguliert mich, das sind Begrenzer und Propagatoren. Also ich kann z.B. Geschichten finden mit Hilfe der Theorie.

CS:

Also ganz ähnlich wie das Oskar Negt handhabt, wenn er von philosophischen Werkzeugen spricht.

Kluge: Ja, Werkzeuge. Und dabei gibt es ein dominantes, das ist die Philosophie. Und die muss stimmen, auf eine etwas spielerische Art. Der Kant würde sagen: Das ist kein Erzählen. Er würde nicht sagen: Das ist Firlefanz. Sondern: Das ist eine Begleiterscheinung der Vernunft. Man muss spielen – und damit meint er Karten spielen, mit Geld spielen …

CS:

Da denke ich sofort an Schiller, die ästhetische Erziehung des Menschen.

Kluge: Ja, bitte, bitte! … Musik – damit meint er Potpourris und sowas. Er hat eine ganz negative Vorstellung von dem, was Sie sagen. Das sind notwendige Begleiterscheinungen der Vernunft, selber keine Vernunfttätigkeiten. Damit unterschätzt er wieder das, was diese Begleiter machen. Aber dominant ist die Kritische Theorie. Sie gibt an: die Orientierung – kann aber keine Vorschriften machen, wie man das erzählt.

CS:

Das ist dann eher fröhliche Wissenschaft, was Sie betreiben, ein Übergang sozusagen?

Kluge: Ja … ja.

2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln

„In den kritischen Gesellschaftsentwürfen sind die Trümmer der Geschichte, sind Gewalt und Barbarei nicht verleugnet, sondern in einer menschenwürdigen Spannung zur Idee einer besseren Welt gehalten, zur Idee einer Menschheit, die sich ihres Zusammenhangs mit der Natur bewußt ist und der Gewalt zur Regulierung ihrer Angelegenheiten nicht mehr bedarf.“1

2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie

Sinn und Zweck dieses einleitenden Kapitels ist es, eine mehrgliedrige und grundsätzlich gehaltene Einführung in die Kritische Theorie zu geben, woran entlang sich peu à peu Merkmale Kluges ästhetischer Fortsetzung dieser abzuzeichnen beginnen, bevor sie in der Folge konkrete Formen annehmen werden.

Kann man sagen: Kluge übersetzt Philosophie in Ästhetik und stellt sie, da sie wohlgemerkt nicht gekünstelt ist, so einer breiteren und vielschichtigeren Öffentlichkeit zur freien Verfügung? Ist Kluge ein Philosoph?1 – „In der Mehrzahl unserer Arbeiten“, erklären Kluge und Negt im Vorwort zu Der unterschätzte Mensch, „[…] versuchen wir Fragen der politischen Ökonomie und der Öffentlichkeit von der subjektiven Mitgift des Menschen her zu sehen. Für diese subjektive Seite ist charakteristisch, wie sehr sie unterschätzt wird; an dieser Unterschätzung sind schon große Reiche zerbrochen.“ Es folgt eine bodenständige oder sagen wir: urwüchsige Erläuterung, wie der Untertitel Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden konnotiert ist: „Wir haben uns den Untersuchungen mit viel innerer Zuwendung gewidmet, daher der Ausdruck philosophisch. Wir haben über die Jahre hin zu zweit gearbeitet, daher der Ausdruck gemeinsame Philosophie.“

Philosophie ist für Alexander Kluge und Oskar Negt „organisierte Form“ des „inneren Impuls“ „Unterscheidungsvermögen“ alias „Kritik“, weshalb sie jene für eine genuine Grundeigenschaft des Menschen halten. So handelt es sich genau genommen weniger um eine Übersetzungsleistung als viel mehr um eine Rückübersetzungsleistung, einen Vorgang der Rückkopplung. Und da dieses Rückkoppeln zweigleisig ist, ist von einer Begleitung der Philosophie durch die Kunst sprechen. D.h. nicht Philosophie als Erzählung, sondern Philosophie und Erzählung.

 

Immer wieder ineinander über gehen Knotenpunkte wie: Theorie – Praxis, Ästhetik – aisthesis – Wahrnehmung, die Rolle der Kunst, Spiel, Humor, Phantasie, Vernunft – Ratio – Emotio, Aufklärung, Natur, Mythos, Kälte – Überhitzung, Identität, das Subjektiv-Objektive, Erkennen, Erfahrungsraum, Arbeit, Öffentlichkeit. Die optische Linearität und Hierarchie der Kapitelanordnung ist derweil nur eine scheinbare und den Rahmenbedingungen geschuldet.

2.1.1 Die Haltung der Kritischen Theorie I

Die hier entwickelten Charakteristika Kritischer Theorie sind wohlgemerkt als eine Art „Ideal“ der Frankfurt Schule zu betrachten. Sie dienen als methodische Folie, während die Realität dieser Schule durchaus auch anders aussieht und aussah.

 

Die Kritische Theorie ist eine „Theorie, die die Gesellschaft analysiert im Lichte ihrer genutzten und ungenutzten oder mißbrauchten Kapazitäten zur Verbesserung der menschlichen Lage.“1 Konkret knüpft sie an die marxsche Kritik der politischen Ökonomie an, verbindet diese aber mit (sozial-)psychologischen wie kulturtheoretischen Erkenntnissen. Wesentlich verfährt sie antidogmatisch, selbstreflexiv und antitotalitär, d.h. ebenso antifaschistisch wie antistaatssozialistisch.2

Eine Aufbereitung der Theorien der Frankfurter Schule und ihrer zahlreichen und sich zum Teil widersprechenden Vertreter kann an dieser Stelle selbstverständlich nur bruchstückhaft erfolgen. Entscheidend ist nicht die Erkenntnis, dass es sich um eine niemals konsistent und stringent verhaltende Theorie handelt, sondern das, worauf sie bei all ihren Entwicklungen unbeirrt zielt: die Veränderung menschenunwürdiger Verhältnisse, hin zu einer vernünftigen Gesellschaft der Freiheit und Gerechtigkeit. In diesem entpersonalisierten und ent-institutionalisierten Verständnis ist sie mit der Aufklärung verschwistert: der Befreiung des Individuums aus fremdbestimmten Zwängen zum Zweck der Entfaltung des Individuums (Freiheit) ohne Beeinträchtigung anderer Individuen (Gerechtigkeit). In diesem Kontext deutet sich bereits an, dass der Begriff „Frankfurter Schule“ eigentlich irreführend ist und deshalb hier nur als Wendung, als Synonym verwendet wird. Denn im Institut für Sozialforschung soll nicht etwas im scholastischen Sinne gelehrt werden, sondern hier wird idealiter ein kritisches Denkvermögen vermittelt und angeregt, das sich selbstbewusst nicht hinter der bloßen Rezeption von Marx- oder Freud-Zitaten versteckt, sondern das mit der Arbeit dieser und sehr viel anderer reflektiert und produktiv am Werke ist.

Den Hauptuntersuchungsgegenstand Kritischer Theorie stellt dabei die Pathologie von Vernunft und Gesellschaft dar, als deren beständiger Grund ein entfesselter Kapitalismus ausgemacht wird.3 Zunächst muss man sich bewusst machen, dass der Rationalität nicht die Emotionalität als Irrationalität gegenübersteht, sondern diese mit der Ratio wechselseitig verbunden ist. Unter Irrationalität sind Denkweisen oder Handlungen zu verstehen, die mechanisch und ignorant ablaufen. Eindimensionalität im Denken, die sich in instrumenteller Vernunft und einem Pragmatismus des Erkenntnisbegriffs ausdrückt, gilt als totalitär.

Mit Lukács gesprochen, ist das ursprünglich Intersubjektive des Warentausches mit dem Kapitalismus der Moderne deformiert, entsozialisiert, verdinglicht worden.4 Komplementär zur Diagnose der Verdinglichung von Selbst- und Fremdverhältnissen im Kapitalismus wird die Diagnose der Entfremdung gestellt; beides arbeitet der Selbstentfaltung des Menschen entgegen. Festgestellt wird eine Distanz zwischen dem Arbeitenden und dem Handlungszweck seiner Tätigkeit. Zudem klaffen Lücken sowohl zwischen ihm und dem Prozess der Arbeit als auch zum Produkt. Schließlich besteht eine Diskrepanz zwischen ihm und dem Geldwert seiner Arbeit. Mit der Entfernung von der ursprünglich eigenen Arbeit durch ihre aufgeteilte Fremdbestimmung in der kapitalistischen Produktion entzweit sich der Mensch von seinem an und für sich identifikationsstiftenden Handeln. Geradezu tragisch-schicksalhaft schließt sich ein Teufelskreis, wenn die Arbeit sich fremd in ihrer Erscheinung und repressiv in ihrer Wirkung gegen ihren „Schöpfer“ wendet.

Durch diese Zäsur entwickelte sich ein subjektiv-objektives Ohnmachtgefühl in den Menschen gegenüber einem Waren- und Produktionssystem, das nicht der vernünftigeren Logik der Gebrauchswertverhältnisse folgt, sondern der kapitalistischen Logik der Tauschwertverhältnisse und damit dem Gesetz von Kapitalakkumulation und folglich Asymmetrieerzeugung, Ungerechtigkeit, Ausbeutung. Das hat zur Folge, dass sich „eine Tendenz zur Hemmung der individuellen und kollektiven Möglichkeiten“5 breitmacht und etabliert. Diese Entwicklungen verschärfen sich seither beständig – das ist keine neue Erkenntnis – mit dem globalen Neoliberalismus, der die Freiheit des Marktes, nicht aber die Freiheit des Menschen vorantreibt. An dieser Stelle ist im Freiheitsbegriff pikanterweise ein Kreuzungspunkt von Neoliberalismus und extremer Linke auszumachen, nämlich die libertäre Forderung von Freiheit bzw. der anarchistische Gedanke einer Loslösung vom Staat und dessen Rechtsordnung. Nur ist erster Freiheitsbegriff wirtschaftlich, also vom Markt, letzterer sozial, also vom Menschen aus gedacht. Hier also kippt das Gemeinsame in den absoluten Gegensatz. Beiden fehlt die Rechtsstaatlichkeit, die die Bürger schützt. Der Ausdehnungskampf der Märkte jedenfalls hat den ursprünglichen Freiheitsbegriff selbst bis ins Extreme verzerrt, schaut man allein auf das Problem der Freihandelsabkommen mitsamt dem Verklagen von Staaten durch Konzerne in Milliardenhöhen, weil diese sich beispielsweise durch Umweltrichtlinien wirtschaftlich benachteiligt fühlen. Die Abtrennung von Errungenschaften der bürgerlichen Öffentlichkeit wie Rechtsstaatlichkeit oder proletarischer Öffentlichkeit (Gewerkschaften, Arbeitszeiten, Arbeitsschutz usw.) sowie die Entrechtlichung, Verdinglichung, Entwürdigung und Instrumentalisierung von Menschen im Kampf um die verschiedenen Kapitalsorten ist mit der logistischen Organisation totalitärer Systeme durchaus vergleichbar.

 

Der Kritischen Theorie wurde gerade zu Zeiten der Studentenunruhen Unrecht getan, als man sie als linksextreme, gar zur Gewalt aufrufende Intelligenzia diffamierte. Stattdessen hat sie sich nie „blindlinks“ positioniert, sondern ebenso kritisch die Fragen gestellt, wie es zum Stalinismus und zur Kulturrevolution kommen konnte. Sie nennt die „Schädelstätten des Sozialismus“ beim Namen (Tienanmen-Platz, Platz des Himmlischen Friedens etc.) und hält sich auch heute nicht zurück, was die „Betonwelt des ‚real existierenden Sozialismus’“ betrifft.6 „Wir müssen darüber Rechenschaft ablegen, worüber Picasso schweigen kann. Eigentlich muß aus unserer Stellung klar werden, warum man Kommunist sein kann und die Russen verachten.“7„Denn die ermordeten 20 Millionen Chinesen sind tot, und hier liegt, was uns vom Marxismus trennt.“8 Das Credo Kritischer Theorie galt stets der Verwirklichung der Vernunft in der Gesellschaft. Sie hat sich das Projekt der Moderne, die Emanzipation des Menschen, einverleibt. Sie zielt auf ihre Verwirklichung in realen Verhältnissen9 und kämpft dabei gegen die beständig mitschwingende Gefahr einer autoritären Besetzung. Die Aufklärung hat sich in einem irrational-rationalistischen Extrem verlaufen und mag als solches gescheitert sein, in ihrem Grundtrieb aber brodelt noch immer lüstern die leidenschaftliche Idee von der Befreiung des Menschen. Was die Möglichkeiten und Mittel zur Durchsetzung einer freien Gesellschaft in der Wirklichkeit der Verhältnisse anbelangt, so hält es Kluge wie einst Adorno (er ist jedoch in keiner Weise pessimistisch) – auch er ist Pazifist und Demokrat, wie etwa an folgender Stelle aus indirekter Rede hervorgeht:

„In jeder Krisenzeit müsse man sich auf die institutionellen Gegebenheiten zurückbesinnen, selbst dann, wenn es auf den ersten Blick nicht zweckdienlich scheine. Konkret gesagt, nicht den Maastricht-Vertrag aushöhlen, nicht die Parlamente umgehen, überhaupt ungut: falsche Hektik. Fähige Diktatoren wüssten sofort, was in verdichteter Zeit zu tun sei: Mit blankem Terror ersticken sie jede Revolution im Keim, bloß keine Reformen. Auch Demokratien hätten die Möglichkeit, sich im Sturm zu behaupten: indem sie sich auf ihre tradierten Institutionen und Gesetzeswerke zurückbesinnen“ – „bloß keinen Rechtsbruch zulassen“.10

An den richtigen alten Ideen festhalten, ohne hinter die „fortgeschrittenste Kultur“11 zurückzufallen: Horkheimer und Adorno meinen hier die nicht-kommerziellen amerikanischen und europäischen Errungenschaften, besonders in Form von entsprechenden Rechten und Gesetzen, die die Freiheit des Bürgers stärken. Und sie vergessen insbesondere eines dabei nicht: Das Bewusstsein über die Individualität trotz allen Gleichheitsbestrebungen.12 Aus diesem Grund und Gegensatz zum Konformismus zieht diese Arbeit ausdrücklich den Begriff der „Gerechtigkeit“ gegenüber dem der „Gleichheit“ vor.

Hermann Schweppenhäuser unterteilt das Phänomen der Emanzipation in drei, man könnte sagen, Realgehalte auf. Als Ideal gilt ihm die bislang weitgehend unverwirklicht gebliebene „menschliche Emanzipation“13. Diese müsste man etwas differenzierter weiter aufteilen in Emanzipation des Menschen und Emanzipation der Menschheit oder aller Menschen, Schweppenhäuser meint hier aber Letzteres. Hingegen gibt es mitunter ansatzweise eine „politische, ökonomische, kulturelle“ Emanzipation (die ebenso exakter aufgeschlüsselt werden müsste). Der freie Markt hat beispielsweise in den letzten Jahren seine Emanzipation von staatlich-gerichtlichen Schranken unter Beweis gestellt und ist immer wieder unbeschadet aus großen, zum Teil anhaltenden ökonomischen Krisen hervorgegangen, während sich soziale Bedingungen in einzelnen Krisenstaaten zunehmend verschärfen. Gerade diese beiden Emanzipationsformen, also die menschliche und die ökonomische sind in der gegenwärtigen Weltordnung antagonistische Triebe. Die dritte Form stellt nach Schweppenhäuser die „moderne Scheinemanzipation“ dar, die die Verwirklichung der eigentlichen, menschlichen auf subtile Weise verhindert, indem sie deren Realisierung propagiert.

Die wirtschaftlichen Krisen der letzten Jahre, gerade in den führenden Industrienationen Europas und in den USA, haben allem Ohnmachtgefühl, aller „Gouvernementalität“14 und aller Gleichgültigkeit zum Trotz zu neuen Massenbewegungen geführt, die die ungleiche Verteilung von Macht und den Gütern dieser Welt anprangern, was sich etwa in plakativen Slogans wie „We are the 99 %“ ausdrückt. Bewegungen wie Occupy, nuit debout oder die der Anti-Atomkraft zeichnen sich durch Heterogenität von Geschlecht, Alter, Beruf, Nationalität und (Nicht-)Religiosität aus sowie durch ihre internationalen Netzwerke und digitalen Kommunikationsformen. Was zudem besonders auf die Occupy-Bewegung zutrifft: Spontaneität und Prozesshaftigkeit. Jene internationale antikapitalistische Vereinigung wird, gerade weil sie sich formal wie inhaltlich als eine in Bewegung befindliche versteht, sehr wahrscheinlich auch in Zukunft das politische Sprachrohr mündiger Bürgerinnen und Bürger bleiben, und sei es unter anderem Namen. Weiterhin wird es interessant sein, Aktivitäten insbesondere von Wikileaks, Anonymous oder auch der Piraten-Partei zu beobachten, die mit den Forderungen von Occupy & Co. verwandt sind und darüber hinaus ihrerseits für Transparenz sowie digitale Rechte bzw. Datengeheimnis (vergleichbar ist die Errungenschaft des Briefgeheimnisses) einstehen. Ersichtlich ist, dass entsprechende Gruppierungen zunehmen (nicht zu vergessen all die globalisierungskritischen Organisationen wie Attac oder Peoples Global Action) und dass der Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte, den etwa Human Rights Watch und Amnesty International führen, aus rationalen Gründen zugleich ein antikapitalistischer Widerstand ist, der dezentralisiert geführt wird. Entscheidend für den Zusammenhang dieser Arbeit ist derselbe Impuls, der einem Aufstand gegen die Absurdität der Realität gleichkommt, und der all diesen Bewegungen zugrunde liegt – denn es ist ganz basal derselbe, aus dem auch die Kapitalismuskritik der Kritischen Theorie erwächst:

„Das Elend als Gegensatz von Macht und Ohnmacht wächst ins Ungemessene zusammen mit der Kapazität, alles Elend dauernd abzuschaffen. […] Die Absurdität des Zustandes, in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet.“15

„Das kapitalistische System in der heutigen Phase ist die im Weltmaßstab organisierte Ausbeutung. Seine Aufrechterhaltung ist die Bedingung unermeßlicher Leiden. Diese Gesellschaft besitzt in Wirklichkeit die menschlichen und technischen Mittel, um das Elend in seiner gröbsten materiellen Form abzuschaffen.“16

Wie die aktuellen Beispiele zeigen, ist der Wille ungebrochen, das größte lösbare Problem auf der Welt zu beseitigen, das sinnlose Leiden aus Hunger und Armut, gerade weil sowohl die technischen als auch die finanziellen Ressourcen zur Abschaffung längst vorhanden sind. Keineswegs ist Kluge pauschal technikfeindlich.17 Auch im Werk Kluges taucht diese Konkretion auf, die er in der theoretisch geprägten Kurzgeschichte „‚Die Armut’“ mit Heidegger und bezogen auf dessen Begriff vom „Hunger nach Welt“ zur Sprache bringt:

„Die Gefahr der Hungersnot, sagte er, ohne auf Fragen zu warten auf das Ganze und Eigentliche des abendländisches Geschickes gesehen, liegt nicht darin, dass vielleicht viele Menschen umkommen, sondern darin, dass diejenigen die durchkommen, nur noch leben, damit sie leben.“18

Gesprächspartner in der Geschichte schalten sich ein und färben die Unterhaltung über den Wert des Lebens in klugeschem Ton: „Ist das nicht genug? fragte eine Studentin. Der Paläontologe unterstützte sie. Es gebe Ketten des Lebens über mehr als 40 000 Jahre hinweg, die doch Respekt verdienten.“

Schlicht eine Umverteilung und ein minimales Gleichgewicht sind vonnöten. In der Formel „Euer Reichtum ist unsere Armut“ steckt der Lösungsweg. Und dabei muss ja nicht einmal Reichtum als solcher abgeschafft werden, doch gibt es keine Legitimation, weshalb mit 870 Millionen jeder achte Mensch chronisch unterernährt ist19 und auch keine, weshalb die Jugend Europas in prekären Lebenssituationen gefangen ist. Doch um von diesem legitimen Gemeinplatz wieder auf die Kritische Theorie zurückzukommen, sei explizit auf Horkheimers Ursachenanalyse hingewiesen. Dieser nämlich lokalisiert in den Produktionsverhältnissen den Motor der Maschine: „Die private Aneignung des kollektiven Mehrprodukts sei innerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung zwar ein legaler Vorgang, aber unter normativem Gesichtspunkt illegitim.“20

 

Die Kritische Theorie zeichnet sich, wie ihr Name bereits verrät, durch einen Dualismus aus Theorie und Kritik aus (mit Kluge21 ist vielleicht noch Darstellung als ein Drittes zu ergänzen22), indem sie nämlich zugleich deskriptiv und normativ vorgeht, da ihrer sozialphilosophischen Gesellschaftsanalyse ein Potentialis anderer Verhältnisse innewohnt. Gerhard Schweppenhäuser identifiziert sie als „Ideologiekritik“, die hinter dem Schleier des Deskriptiven das Implizit-Normative von Theorien aufdeckt, da diese im Grunde „vorgeben, wie die Welt aufzufassen sei“ und darüber hinaus sogar die „Handlungsmöglichkeiten“ in ihr „festlegen“:23

„Kritische Theorie als begriffliche Konstruktion struktureller und historischer Wesensmerkmale der hoch- und spätkapitalistischen Gesellschaft und deren Antagonismen ist materialistisch und normativ; ihre Begriffe beschreiben, was ist, und antizipieren, was sein soll und sein könnte.“24

Wobei dieses meist negativ aufgezeigte Potenzial einer Welt, in der alle Individuen selbstbestimmt und selbstverwirklicht in „kooperativer Freiheit“25 leben, bei Kluge erstens als Optativ formuliert wird und zweitens nichts mit dem Defätismus Horkheimers und Adornos zu tun hat, gleichwohl verrennt es sich nicht in blinden Optimismus. Entscheidend sind bei diesem dualistischen Verfahren eine permanente Selbstreflexion und ein Nicht-Dogmatismus, um nicht Gefahr zu laufen, selbst in totalitäre und ideologische Muster zu fallen.

 

Wie Horkheimer in seiner Antrittsrede als Direktor des Instituts für Sozialforschung darlegt, liegt ein Grundproblem der Vorgehensweise von Philosophie darin, dass sie die „bestehende historische, soziale und kulturelle Wirklichkeit“26 mit dem Abstraktum ihrer „Konstruktionen aus Ideen, Begriffen und Kategorien“ konfrontiert. Die Konsequenzen lauten: gegenseitiges Kompromittieren sowie ausbleibende Verschränkung durch hermetische Fronten zwischen Theorie und Praxis, Idealwelt und Realwelt. Dieser Antagonismus zwischen dem Status quo gesellschaftlichen Zusammenlebens und konkret-realer Möglichkeit muss Horkheimer zufolge unter Zuhilfenahme der Empirie „reflexiv in die theoretische Konstruktion des Sozialen eingehen“27 – eine Forderung, die Interdisziplinarität verlangt und der auch das Autorengespann Kluge/Negt immer wieder nachgeht. Eingedenk Horkheimers Aussage, dass sich letzten Endes alles um den „Widerspruch zwischen Ideologie und Wirklichkeit“28 drehe, ist bei Kluge zu konstatieren, dass dieser nicht eine bloße Konfrontation philosophischer Ideale mit der Realität sucht, sondern die in der Realität bereits existierenden Funken einer anderen, gerechteren Realität aufzeigen und mit Sauerstoff versorgen will.

 

Die Utopien der Kritischen Theorie verlieren sich nicht in idealisierten Traumwelten, sondern nehmen unmittelbare Erfahrungen und Schwingungen in den wirklichen Verhältnissen sowohl wahr als auch ernst und reagieren selbst in ihren theoretischsten Momenten immer auch auf diese, sind also nie gänzlich abstrakt. Mit den versehrten Mitteln von Sprache und Analyse arbeitet das Unternehmen „negative Dialektik“ an einer unversehrten Erschließung des Unverstellten, Besonderen, nicht-deformierten Wesentlichen. Die Frankfurter Utopien stehen wie in einem Krafteld unter höchster Spannung, indem sie einerseits an konkrete Hoffnungen im Gegebenen andocken, zugleich aber auch Projektionen sind im (gegenwärtigen) Bewusstsein ihrer Unerreichbarkeit.

Der systemtheoretische Vorwurf inkonsistenter Definition scheitert am fehlenden Bewusstsein dafür, dass die Kritische Theorie keine strenge, geschlossene Wissenschaft ist, sondern eine polydisziplinäre Gesellschaftstheorie mit klar formulierter Lebenshaltung. „Wissenschaft ist technische Übung, von Reflexion auf ihr eigenes Ziel so weit entfernt wie andere Arbeitsarten unter dem Druck des Systems.“29 Traditioneller Theorie, so Horkheimer, mangele es an „Selbstreflexion“, weshalb er von Wissenschaft, die dem Anspruch von Wahrheit nachgeht, fordert, sich erstens „kritisch zu sich selber“ zu verhalten und zweitens auch kritisch gegenüber der Gesellschaft, die sie produziere.30 Damit dies gelingt, muss eine gewisse Selbstdistanz gewahrt sein, weshalb die Kritische Theorie – wieder idealiter gesprochen – keine wissenschaftliche Disziplin sein und möglichst außerhalb von Verwaltungsstrukturen bleiben will,31 wenngleich etwa Adornos Glaube an eine Dechiffrierung der Gesellschaft durch Empirie vor allem in ihrem riesigen Aufwand an bürokratischen Ressourcen sowie an dem eigenen Aktualitätsdruck leidet. Zu einer getreuen Abbildung fehlt es nicht selten schlicht an einer gewissen Lebendigkeit. Dies ist bei Kluges Geschichten natürlich anders, sie wimmeln und in ihnen wimmelt es von Anschaulichkeit.

„Allgemeine Kriterien für die kritische Theorie als Ganzes gibt es nicht. […] Die kritische Theorie hat keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts.“32 Statt aufs Funktionieren des Bestehenden ist die Kritische Theorie aufs Transformieren aus. Sie koppelt in ihrer Analyse Rationalität und gesellschaftliche Wirklichkeit, Naturbeherrschung und Naturverbundenheit, äußere und innere menschliche Natur, Methode und Gegenstand, Theorie und Praxis.

„An Philosophie bestätigt sich eine Erfahrung, die Schönberg an der traditionellen Musiktheorie notierte: man lerne aus dieser eigentlich nur, wie ein Satz anfange und schließe, nichts über ihn selber, seinen Verlauf“, mahnt Adorno in der Negativen Dialektik und fordert sodann Beweglichkeit und Selbstkritik in Permanenz:

„Analog hätte Philosophie nicht sich auf Kategorien zu bringen sondern in gewissem Sinn erst zu komponieren. Sie muß in ihrem Fortgang unablässig sich erneuern, aus der eigenen Kraft ebenso wie aus der Reibung mit dem, woran sie sich mißt; was in ihr sich zuträgt, entscheidet, nicht These oder Position; das Gewebe, nicht der deduktive oder induktive, eingleisige Gedankengang.“33

Alexander Kluge setzt dies um, indem er nicht oder wenn, dann niemals allein auf Deduktion oder Induktion setzt, sondern entschieden auf Konfiguration – und somit jene „Konvergenz von Erkenntnis und Kunst“34 deutlicher denn je beobachtbar werden lässt. Freilich geht es nicht darum, die entstandene Sphärentrennung wieder aufheben zu wollen als wäre nichts gewesen. Nichts also liegt ferner als der Wunsch nach einer Re-Mythologisierung, zumal Adorno ja von der „historischen Notwendigkeit“ jener „Differenz“ spricht.35 Nein, die Idee ist, in eine Art antirealistische Kooperation zu treten.36

An diesen erkenntniskritischen Stellen kann man im Übrigen gut den Unterschied zum kritischen Rationalismus sehen, der im Gegensatz zur Kritischen Theorie die Gesellschaft nicht in ihren historischen Zusammenhängen bzw. ihrem genealogischen Gewordensein erkannte und auch den Fehler beging, Wissenschaft nicht als einen in diese verstrickten Part wahrzunehmen. Horkheimers Erkenntniskritik verbindet Kant mit Marx:

„Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.“37

In diesem Kontext muss noch einen Schritt in der Entwicklung zurückgegangen werden, um die Problematik unserer Erkenntnisfähigkeit zu fundieren. In diesem Fall sagen die Naturwissenschaften nichts anderes als Nietzsche: „Die Bewusstheit ist die letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran.“38 Aller Verstandeslogik geht ein neuronales Chaos voraus:

„Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirne entspricht einem Processe und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab.“39

Wie Kluge stellt Nietzsche eine kulturkritische Gesellschaftsdiagnose an, die eine Menschheit behandelt, die an einer Überdosis Rationalität erkrankt ist: „Das Verdrängen kehrt in Schüben kollektiver Gewalt wieder, in denen sich die Zivilisation selbst zerstört, und Rationalität schlägt in Irrationalität um.“40 Freuds Unbehagen in der Kultur bestätigt etwa ein halbes Jahrhundert später diese Problematik psychoanalytisch.41 Adorno analysiert: „Die dem Pseudokonservatismus entsprechende psychische Struktur ist Konventionalität und autoritäre Unterwürfigkeit in der bewußten Sphäre, begleitet von Gewalttätigkeit, anarchistischen Impulsen und chaotischer Destruktivität in der unterbewußten.“42

Eine multimediale Darstellung des allgemeinen wie individuellen Unbewussten, die in ihrer vernetzten, dynamischen und spontanen Struktur die Wahrnehmungs- und Denkprozesse imitiert, ist von beträchtlicher sozialpsychologischer wie epistemologischer Relevanz: Die „ästhetische Formfindung unbewusster und bewusster bildhafter Vorstellungen [kann] eine individuelle, soziale und kollektive psychohygienische Funktion haben, in dem sie diese unbewussten Bestände in eine potenziell öffentlich beobachtbare mediale Form bringt – also von innen nach außen projiziert.“43

 

Nun geht diese Arbeit begrifflich davon aus, dass „Wahrnehmung“ und „Imagination“ einerseits als unterschiedliche Vermögen einander gegenüberstehen. Wahrnehmung ist auf ein Objekt gerichtet, das anwesend ist oder, genauer gesagt, als anwesend erscheint. Imagination ist hingegen auf ein Objekt in Abwesenheit gerichtet.44 Der Objektbegriff ist hier intentional, d.h. extrem weit zu verstehen: andere Subjekte, Gegenstände, Zustände, Verhaltensweisen, Gefühle etc. Am deutlichsten ist bei den Phänomenen der Emotion zu erahnen, dass die voreilig aufgemachte theoretische Grenzziehung zwischen beiden Begriffen in der Praxis verwischt. Gefühle und Gedanken des Anderen werden antizipiert, scharf und unscharf, je nach Grad sozialer und emotionaler Kompetenz, Empathie, Erfahrung usw., können jedoch nie als „sicher“ gelten. Sie werden wahrgenommen und zugleich imaginiert. Täuschungen in der Wahrnehmung (Verwechslung der Person oder des Gegenstandes, Fata Morgana) offenbaren die Ungewissheit beider Weltzugänge. Die Subjektivität in der Weltwahrnehmung beweist die Pluralität der Wirklichkeit. Vergegenwärtigt sei an diesem Punkt erstens Kants Kritik der reinen Vernunft, die die Frage nach der objektiven Geltung von Realitätsaussagen mit der „reinen Vernunft“ und der Fähigkeit der „Anschauung“ (Sinnlichkeit) beantwortet. Zweitens der neurophysiologische Standpunkt, den etwa Hans Dieter Huber folgendermaßen beschreibt:

„Die Wahrnehmung wird nachweislich von Erinnerungen, Erwartungen und Handlungsvorbereitungen eingeschränkt und geformt. Die endogenen Phänomene eines Organismus, wie selbst aktivierte Erinnerungen und bildhafte Vorstellungen, sind immer Bestandteil von Wahrnehmungen. Umgekehrt ist aber auch die Erzeugung des Imaginären […] ein konstitutiver Bestandteil des ganz normalen, alltäglichen Lebensflusses.“45

Die Nähe von der Wahrnehmung zur Imagination und von der Imagination zur Wahrnehmung wird mit Kluges Vernunftbegriff zugespitzt, der an den Diskurs über die „Einbildungskraft“ des 18. Jahrhunderts anknüpft. Die Phantasie ist gleichberechtigt zum Verstand realitätsgestaltend und besitzt erkenntnisvermögendes Potenzial. Dementsprechend gilt Kluges Aufmerksamkeit ästhetischen Phantasiestimulanzen wie Literatur und Film, Kunst und Musik.

Die Phantasie aber, was in Kapitel 2.6.3 („Der Antirealismus des Gefühls“) eingehender behandelt wird, muss als der größte Kritiker der realen Verhältnisse angesehen werden. Tatsächlich zeugt ihr subversiver Impuls von ungeheurer Robustheit. Stürzt der vulnerable Mensch aus der Realität ab, stürzt er sich entweder physisch aus dem Leben oder aber geistig in ein neues. Interessant ist nicht, dass er sich im zweiten Fall sehr wahrscheinlich in einer Psychiatrie oder einem Weglaufhaus wiederfindet, sondern dass sein Organismus „wie von allein“, also durch schöpferische Selbsttätigkeit, den Realitätsschalter umzulegen vermag.46 Phantasie erlaubt Zustände jenseits des Gegebenen zu entwerfen, wo strenge Vernunft im Gegebenen verbleibt. Zugleich aber ist die Phantasie doch auch das „arbeitsscheue“ affirmative Organ vermeintlich reiner unmittelbarer Evidenz, durch welches sie von der Warenwirtschaft so deutlich angesprochen wird.47 Zusammengefasst: Die Phantasie ist wie auch der Körper in der klugeschen Philosophie nicht ausgeschlossen vom Erkennen, sondern hat entscheidenden Anteil neben und mit dem Geist am Prozess der Erkenntnis.

Kluges epistemologisches Verdienst seiner „Chronik der Gefühle“ ist es, der weitgehend auf das Allgemeine zielenden Theorie das Besondere zur Seite zu stellen durch die Subjektivität der Gefühle und die Wiedererkennung ihrer Ausdrucksformen. Nehmen wir das Lachen: Es ist physiognomischer, äußerlich gewordener, sich mitteilender Ausdruck einer inneren Bewegung (Affekt). Das meint Nietzsches Ausdruck „fröhliche Wissenschaft“. Der sich dionysisch freilachende Humor im klugeschen Werk ist deshalb mehr als nur Unterhaltungsfunktion oder Zuschauermagnet: Subjektivität drückt sich intersubjektiv aus, wodurch so etwas wie Objektivität möglich wird. Auch aus dem „Antirealismus des Gefühls“, nicht aus dem Verstand allein, zieht der Mensch sein Erkenntnisvermögen. Und ähnlich sieht Schiller allein in der Kunst die Rettung für den Menschen, d.h. sein inneres Gleichgewicht als Basis für das gesellschaftliche. Denn in der ästhetischen Sphäre – Schiller spricht hier aber auch direkt vom „Spieltrieb“–gelingt die Vermittlung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Hierzu das Kapitel „Fröhliche Wissenschaft“.

„Man kann keine Erkenntnistheorie entwickeln, es sei denn in der Praxis des Erkennens selber“, weil „die Konstellationen zwischen Subjekt und Objekt in der realen Erkenntnis anders aussehen als in der Reduktion des Objekts und des Subjekts auf allgemeine Bestimmungen“ – daher: Arbeit und Abarbeiten am Gegenstand.48 Anhand Kafkas Erzählung Der Kreisel, in der ein Philosoph jenes Spielzeug einer Gruppe von Kindern immer dann entreißt, wenn es in Bewegung gerät, veranschaulichen Kluge und Negt das Problem der Induktion narrativ. Was Kafkas Philosoph für einen Sekundenbruchteil glücklich-erkennend stimmt, stürzt ihn im nächsten Moment schlagartig in bittere Enttäuschung, sodass er den Kreisel wie vom Ekel übermannt wieder fallen lässt.

„Indem sich das erkennende Subjekt auf die Gegenstände bezieht, erfolgt eine gegenseitige Konstitution, also eine innere Veränderung beider. Die Trennung von Subjekt und Objekt als Resultat einer Abstraktion, aus der sowohl der Konstitutionsprozeß des Objekts wie der des Subjekts herausgefallen ist, ist nur post festum möglich; […] Sobald Erkenntnis beginnt, löst sich die vereinfachte Vorstellung vom Objekt ebenso auf wie die vom Subjekt.“49

Sobald der Kreisel nicht mehr in seiner Eigenschaft des Kreiselns ist, ist er nur „dummes Holzstück“ und nur als solches festzustellen, also nicht in seiner Besonderheit zu fassen. Wie also kann es gelingen, sowohl den „konkreten Erkenntnisprozeß“ als auch die „Komplexität der beiden Pole selber“ zu vermitteln?50 Die Antwort geben die Kinder vor: im Spiel. Und da sind wir bei Schillers ästhetischer Bildungsidee, in der Freiheit und Identität sich im Spiel verwirklichen:

„Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken, […] der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.“51

Und Kluge, dies sei an dieser frühen Stelle bereits vorweggenommen, gelingt dies in seinem konstellativen Spiel wieder mannigfaltig spielerischer Elemente: „In der Momentaufnahme nicht Verbundenes wird zu einer Situation verbunden. Nur so wird die Vor- und Nachgeschichte, die jeder Situation immanent ist, offen sichtbar.“52

Schillers bipolares Begriffspaar Stofftrieb – Formtrieb ähnelt Nietzsches (bzw. Schellings) Dualismus des Dionysischen und Apollinischen stark, schließlich stehen sich jeweils das Physische, Rauschhafte, Sinnliche und das Geistige, Zähmende, Begriffliche gegenüber, zwischen denen es bei dem einen durch den Spieltrieb, bei dem anderen durch den Willen zu vermitteln gilt. In Kluges Vernunftbegriff wie auch in seiner Formästhetik leben sie ungetrennt und sind doch in ihren Widersprüchen wahrnehmbar. Der wahrhaft friedliche Zustand ist nur möglich durch Akzeptanz der Differenz, nicht durch den Gewaltakt harmonischen Verschmelzens, jenen „Nicht-Krieg, der kein Frieden ist“. Insofern findet sich in Kluges affizierender Ästhetik der alte Dualismus des Immer-wieder-aufs-Neue-Schaffenden wieder: Kluge als rauschhafter Zertrümmerer von Homogenität, Kluge als rastloser Architekt von Plateaus für Parallel-Realitäten. Durch Assoziation und Phantasie, Neugier und Altgier, Ernsthaftigkeit und Humor bricht er Symmetrisches auf – „an einem kollektiven Punkt ausbrechen in eine parallele Wirklichkeit“53 – und zieht zugleich und immerfort Verbindungsbahnen mit kombinatorischer Intelligenz. Dabei ist es ihm stets um den großen Zusammenhang gelegen: „Ich glaube an Konstellationen.“54

 

„Horkheimer und Adorno gehen nicht mehr von einem mehr oder weniger intakten erkenntnistheoretischen Punkt des Ich aus.“55 „Die Anerkennung der Dissoziation des Ich ist Voraussetzung“ für eine Ich-Konstitution, die keine Herrschaft mehr über das Objekt ausübt.56 Zentral für den historisch-materialistischen Gedanken ist es ja, auch beim Fall der vollkommenen epistemischen Durchdringung der Wirklichkeit nicht alle Subjekt-Materie im Objekt-Rauch aufzulösen – „ein materieller Rest außerhalb des Bewusstseins“ muss immer existieren können.57

„Aber Wahrheit, die Konstellation von Subjekt und Objekt, in der beide sich durchdringen, ist so wenig auf Subjektivität zu reduzieren, wie umgekehrt auf jenes Sein, dessen dialektisches Verhältnis zur Subjektivität Heidegger zu verwischen trachtet. Was wahr ist am Subjekt, entfaltet sich in der Beziehung auf das, was es nicht selber ist, keineswegs durch auftrumpfende Affirmation seines Soseins. Hegel hat das gewußt, den Schulen der Repristination ist es lästig. Wäre Wahrheit tatsächlich die Subjektivität, wäre der Gedanke nichts als Wiederholung des Subjekts, so wäre er nichtig. Die existentielle Erhöhung des Subjekts eliminiert diesem zuliebe, was ihm aufgehen könnte.“58

Noch einmal gefiltert: So etwas wie „Wahrheit“ scheint auf durch reziproke Durchdringung von Subjekt und Objekt, ja mehr noch: durch Aufgabe ihres bloß abstrakten Gegeneinanders, dem zugleich ein Ineinander zur Seite treten muss. Subjektivität heißt eben Rationalität und Mimesis, Ich-Stärke gegen das Objekt und Ich-Schwäche als Eingehen in das Objekt, zugleich Aufgeben der bloß festen, fixen Objektform zugunsten einer prozessualen, sinnlich-losen Realität als „Nicht-Identisches“. Schließlich aber ist das bei Adorno alles nicht als Gewahrung des Einzelnen gegen das Allgemeine der Vernunft und der Begriffe gemeint, sondern als Korrektur hin zu einem „wahren Allgemeinen“, das gerade im Herzen des Nicht-Identischen hausen soll. Für ein echtes Verstehen ist es notwendig, mich einerseits zu öffnen und andererseits in etwas anderes hineinversetzen zu wollen.59

„Während über Besonderes nichts ohne Bestimmtheit und damit ohne Allgemeinheit prädiziert werden kann, geht darin das Moment eines Besonderen, Opaken, auf welches jene Prädikation sich bezieht und stützt, nicht unter. Sie erhält sich inmitten der Konstellation, sonst liefe die Dialektik auf die Hypostasis der Vermittlung hinaus, ohne die Momente der Unmittelbarkeit zu bewahren, wie Hegel umsichtig sonst es wollte.“60

2.1.2 Zweifel und Widerstand

Die „ältere“ Kritische Theorie, dies sei grundsätzlich noch einmal ins Bewusstsein gerufen, war bis ins Mark geprägt von totalitären Erfahrungen des Faschismus, von Flucht, Verfolgung, Exil und Tod – was die negativistische Aura ihrer Geschichtsphilosophie und den Pessimismus ihrer Gesellschaftstheorien besser verstehen lässt. Sie war voller Zweifel darüber, ob „die Ideale der europäischen Aufklärung mithilfe interdisziplinär organisierter, wissenschaftlicher Arbeit“1 jemals in die Lebenspraxis übertragen werden können (deshalb fügen Kluge/Negt später dieser wissenschaftlichen die künstlerische und die pädagogische Arbeit hinzu). Doch nichtsdestotrotz haben sie ihre Arbeit ja niemals eingestellt, was zumindest für Hartnäckigkeit spricht. Kluge hebt gerade das bildungspolitische Engagement Adornos in den Jahren vor seinem Tod hervor, als er alles daransetzte, „dem Prozeß einer zivilisiert und pädagogisch befestigten Aufklärung zuzuarbeiten“.2 Diese optimistische Produktion auf der einen Seite wird zur gleichen Zeit, wie Kluge pointiert gegeneinanderlegt, von einer pessimistischen Produktion flankiert: der Arbeit an den „‚schwarzen’ Texten“ Dialektik der Aufklärung bzw. Negative Dialektik, seinem „Lebenswerk“.3 Trotz aller Aussichtslosigkeit kann also keineswegs von Kapitulation die Rede sein: „Kritisches Denken, das auch vor dem Fortschritt nicht innehält, verlangt heute Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges ohnmächtig scheinen.“4 So verzeichnet Jan Urbich ein Pulsieren in Adornos Innerem:

„Adornos Philosophieren schwankt beständig zwischen der Resignation ob der unüberwindlichen Defizite einer gleichwohl notwendigen Vernunft und der Idee, diese könnten durch Eingriffe wie die der Kunst als virtuelle Konfiguration wahrer Rationalität letztendlich korrigiert werden. Er schwankt zwischen der Annahme eines substantiellen und eines nurmehr akzidentellen Defizits des Geistes, zwischen der Behauptung einer prinzipiellen Abhängigkeit des Denkens von naturhaften Zwangsverhältnissen und der seiner zumindest prinzipiellen Freiheit; die Aporien seiner Denkbewegungen resultieren letztlich aus dieser unentscheidbaren Ausgangslage. Folglich ist der seriell der Erlösung des Geistes am nächsten kommende Zustand zugleich der ontologisch fernste: so sehr ist die Zweideutigkeit in die Mikrostrukturen der Welt hineingedacht.“5