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Der Märzband der Märchensammlung von der schwedischen Autorin Larissa Tjärnväg, beschreibt das Leben des Tomte Kalle-Nisse als Rahmenhandlung auf einem Bauernhof in Dalarna, der bald von der Bauernfamilie verlassen wird, da die Einwohner auswandern. Tomte werden zu den "kleinen Leuten" gezählt; in Deutschland würde man sie als Wichtel oder Heinzelmännchen beschreiben. Nun flieht der Winter so langsam und das Frühjahr beginnt. Noch erzählt der Tomte den beiden Töchtern des Bauern seine Märchen, aber bald wird er einsam sein, die Bauernfamilie wird auswandern und so erzählt Kalle-Nisse jeden Abend seinem Kater Felix und einer ebenfalls auf dem verlassenen Bauernhof lebenden Mäusefamilie ein Märchen oder einen seiner Träume. Das Buch ermöglicht so einen Einblick in den schwedischen Jahresablauf und in diesem Band auch etwas über das Osterfest. Für jeden Abend des Monats März steht ein längeres oder kürzeres Märchen bereit. Kalle-Nisse ist als schwedischer Wichtel auch mit der alten Religion des Nordens verbunden, das gilt ebenso für die Autorin dieser Reihe. Für Larissa Tjärnväg ist es der vierte Märchenband, der in Deutschland veröffentlicht wird.
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Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Larissa Tjärnväg
Kalle-Nisses Träume und Erzählungen -
März -
eBook Ausgabe 01/2024
Das Buch:Der Märzband der Märchensammlung von der schwedischen Autorin Larissa Tjärnväg, beschreibt das Leben des Tomte Kalle-Nisse als Rahmenhandlung auf einem Bauernhof in Dalarna, der bald von der Bauernfamilie verlassen wird, da die Einwohner auswandern. Tomte werden zu den "kleinen Leuten" gezählt; in Deutschland würde man sie als Wichtel oder Heinzelmännchen beschreiben.Nun flieht der Winter so langsam und das Frühjahr beginnt. Noch erzählt der Tomte den beiden Töchtern des Bauern seine Märchen, aber bald wird er einsam sein und so erzählt Kalle-Nisse jeden Abend seinem Kater Felix und einer ebenfalls auf dem verlassenen Bauernhof lebenden Mäusefamilie ein Märchen oder einen seiner Träume. Das Buch ermöglicht so einen Einblick in den schwedischen Jahresablauf und in diesem Band auch etwas über das Osterfest. Für jeden Abend des Monats März steht ein längeres oder kürzeres Märchen bereit. Kalle-Nisse ist als schwedischer Wichtel auch mit der alten Religion des Nordens verbunden, das gilt ebenso für die Autorin dieser Reihe. Für Larissa Tjärnväg ist es der vierte Märchenband, der in Deutschland veröffentlicht wird.Über die Autorin:Larissa Tjärnväg, 1963 in Mora geboren, lebt seit dieser Zeit in Värmland und Dalarna, also in Mittelschweden. Hier arbeitet sie ziemlich zurückgezogen, da sie die Einsamkeit und Ruhe der Natur zum Schreiben benötigt.Bislang hat sie hauptsächlich Märchen und Erzählungen geschrieben, die aber in Schweden selbst kaum veröffentlicht wurden.
Tjärnväg, Larissa:
Kalle-Nisses Träume und Erzählungen – März -
Ausgabestand 01/2024
Årjäng / Sweden WeyTeCon Förlag (WF), 2016 – 2025
ISBN: 978-3-9826356-2-0 (Paperback-Ausgabe)
Verlagsnummer D24-0018-PA-WA (Paperback-Ausgabe)
Umschlaggestaltung & deutsche Bearbeitung:
Lars Weyerstrass
Lektorate:
Klotilda Weyerstrass, Regine Kühn, Mira Buchwald
Grafiken:
entfällt in der eBook-Ausgabe
Satz:
FreeOffice Textmaker 2024
Druck:
Druck durch Lizenznehmer
© Copyright WeyTeCon Förlag / WeyTeCon AB - 2025
WeyTeCon Förlag (WF) – WeyTeCon AB
Ö:a Näs Klockarbacken 1
S-672 91 Årjäng / Sweden
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Liebe Leser, hier liegt jetzt der vierte Band der Erzählungen und Träume von Kalle-Nisse in der deutschen Ausgabe vor. Im ersten Band, dem Dezemberband, bestand die Möglichkeit mit Kalle-Nisse und seinem Kater Felix eine schwedische Weihnachtsfeier zu erleben, so wie sie in vielen Häusern des alten Schweden gefeiert wurde. Im Juniband wurde über das Midsommarfest berichtet, im Septemberband über die Herbstmärkte und den Abschied vom Sommer.Aber jetzt ist der Winter fast vorbei und der leider viel zu kurze schwedische Sommer wird bald anbrechen, alles ist noch in der Kälte des Winters gefangen, der Frühling beginnt seinen Kampf so langsam zu gewinnen. Das Herz der Lebewesen, als auch das der Natur werden bald aufleben, die Zeit des Abschiedes vom Winter und der Aufbruch in den Sommer stehen vor der Tür. Es ist auch die Zeit des Osterfestes und der ersten Tag- und Nachtgleiche des Jahres.Unsere Hauptperson der Handlung, der Tomte Kalle-Nisse und damit die wichtigste Person dieses Buches, wird in diesem Monat einen großen Umbruch erleben. Jahrelang lebte er mit Familien auf einem Bauernhof in Dalarna zusammen, bevor der Hof, durch das Auswandern seiner Bauernfamilie, für immer verlassen wurde. Da die Tomte an den Hof gebunden sind, bleibt er einsam zurück. Sein Leben wird fortan von dem ebenfalls zurückgelassenen Kater des Bauernhofes bestimmt. Tomte sind Lebewesen mit mystischem Ursprung, sie verfügen über Zauberkräfte, die ihnen helfen, das Leben nicht so schwer zu nehmen und im Griff zu behalten. In und mit diesem Buch hast du als Leser die Möglichkeit, den Tomte Kalle-Nisse einen weiteren Monat lang zu begleiten und mitzuerleben, wie er den März und die ersten Tage seiner neuen Einsamkeit auf dem verlassenen Hof verbringt, aber ganz alleine ist er dabei nicht. Jeden Tag, oder besser jeden Abend des März, erzählt er den verbliebenen Tieren seines Hofes, also seinem Kater und einer Mäusefamilie, ein Märchen oder berichtet über einen seiner Träume, wobei man merkt, dass er aus dem Norden kommt und in der alten Mythologie fest verankert ist.Wenn dir in der deutschen Ausgabe Namen, Begriffe oder Inhalte spanisch bzw. hier zu schwedisch vorkommen, so schau einfach auf den letzten Seiten dieses Buches nach. Ich hoffe, hier ein paar Erklärungen abgegeben zu haben, die dir vielleicht weiterhelfen.Jetzt bleibt mir nur noch, dich als Leser dieses Buches in der Welt und auf dem Bauernhof des Tomte Kalle-Nisse zu begrüßen und zu hoffen, dass es eine angenehme Begegnung mit ihm wird!
Larissa Tjärnvägim Oktober 2024
Kalle-Nisse erzählt...
Der Winter führte seinen letzten Kampf mit dem Frühjahr, das sich in diesem Jahr auch schon mit ersten Stürmen ankündigte, aber den Kampf mit der Kälte noch nicht gewonnen hatte. Die bald beginnende Blütenpracht konnte man so langsam ahnen, da sich die ersten frühen Knospen zeigten, die allerdings dann noch oft mit einer Eisschicht überzogen wurden.Jetzt konnte man auf der im Sommer schönen Wiese, nahe der Ortschaft Mora, auf der das frische Gras und das Getreide normalerweise wuchsen, eine rote Mütze zwischen den vereisten Pfützen und Schneeinseln hin- und herhuschen, auf- und abspringen sehen, allerdings nur, wenn man die Gabe hatte, Tomte zu erkennen, die ja normalerweise für Menschen unsichtbar sind. In etwas Abstand folgte der Mütze eine Katze, die versuchte die Pfützen auf dem Acker und die vereisten Schneeinseln zu umgehen, dafür aber kräftig im Matsch herumsprang.Sah man genauer hin, so erkannte man unter der Mütze den Kopf eines Tomte mit seiner Pfeife und einem kräftig gewachsenen Vollbart, also einer Gestalt, die den kleinen Leuten zugerechnet wird, der zwischen den Pfützen hin- sowie herrannte und mit seinem Kater Felix spielte, was auch den aufgerichteten Katzenschwanz erklärte, der dem Tomte mit seiner Mütze folgte.Vierhundertfünfzig Jahre alt wird Kalle-Nisse in wenigen Tagen werden, noch kein allzu hohes Alter für einen Tomte, aber immerhin doch schon beachtlich. Es würde ein ganz besonderes Jahr werden, denn nach vierhundertzwanzig Jahren wird er bald zum ersten Male alleine auf „seinem” Hof sein, der in diesem Monat verlassen wird. Ja, er hatte erlebt, wie der erste Baum gefällt wurde, um das Wohnhaus zu errichten, er erinnerte sich noch an die erste Kuh, die in den neu gebauten Stall einzog. Die Wiese, über die er jetzt ging, war einst der Acker, auf dem der Bauer Roggen, Gerste, Hafer und auch Weizen angebaut hatte. Jetzt wird hier bald nur noch Gras wachsen.Bald wird alles leer und verlassen sein. Nach zwei Sommern mit Schnee und Eisregen wurde der Hof jetzt aufgegeben oder verkauft, das wusste er nicht so genau und in der Mitte des Monats März, wenn der Schnee etwas gewichen ist, dann wird der Bauer mit seiner Familie, dem Leiterwagen und der großen Reisetruhe für immer wegziehen. Zur Küste wollte man wohl und sich nach Amerika einschiffen, mehr wusste Kalle-Nisse auch nicht. All das Vieh wurde und wird gerade verkauft, der Stall war zum Jahreswechsel schon recht leer. Wenn dann im März auch noch die letzte Kuh den Hof verlassen wird und die große Reisetruhe gepackt ist, dann wird Kalle-Nisse sehr traurig werden, dass wusste er schon. Nur Felix, sein alter Kater wird wohl auf dem Hof bei ihm bleiben und dafür sorgen, dass die Mäuse nicht allzu frech werden. Kalle-Nisse war sehr bescheiden und hatte sich an einer kleinen versteckten Stelle auf dem Acker, mitten auf der heutigen Wiese, seinen eigenen Haferanbau vorbereitet, damit er sich gut mit seiner selbst gekochten Grütze in der kommenden kalten Jahreszeit versorgen konnte. Aber jetzt wird erst einmal der Winter zu Ende gehen und das Frühjahr beginnen.Aber was ist eigentlich ein Tomte?Tomte gehören zu den kleinen Menschen, sie leben bis hoch in den Norden und können sich bei Bedarf unsichtbar machen. Auf jedem Bauernhof in Schweden lebt immer nur ein Tomte. Man kann sie mit Wichteln vergleichen, sie werden nicht groß, tragen eine rote Zipfelmütze, haben meistens einen langen weißen Bart und lieben die Tiere ihres Bauernhofes. Jeder Bauer und Hof ist meistens bemüht, sich mit seinem Hoftomte gut zu stellen, ich möchte hier nicht berichten, was passiert, wenn man seinen Tomte schlecht behandelt oder mit seinem Vieh schlecht umgegangen ist. Eine zufällig vor dem Bett aufgestellte Mausefalle, in die man morgens hineintappt sowie ein stark mit Regenwasser verdünnter Hausschnaps oder Bier sind das Mindeste, was ein Tomte dann so anstellt. Allerdings wird der Tomte den Schnaps oder auch das Bier nicht einfach ausgießen, da er sich ja so schon vorher verraten würde…Der März ist genauso wie für die meisten Schweden ein Monat, in dem das Frühjahr gehörig begrüßt und auch Ostern gefeiert wird. Es wird reichlich gegessen und vor allem auch zu den Feiern getrunken. Natürlich gehört bei Kalle-Nisse und anderen Tomte dazu ein Holzlöffel, um richtig im Suppentopf zuzulangen. Tomte hassen eigentlich Metalle und damit auch Metalllöffel. Doch in diesem Jahr würde alles anders werden, Kalle-Nisse muss sich jetzt bald selbst versorgen, was ihm gar nicht sonderlich gefiel. „Hier sind dann auch keine muhenden Kühe, wiehernde Pferde und grunzenden Schweine mehr, die ich striegeln und bürsten kann“, grummelte er unzufrieden, als er jetzt über die halb gefrorene Wiese ging und auf dem Weg zum alten Stall war. Mit einem Seufzen setzte er sich auf einen kleinen Hocker, der neben der alten, noch zugefrorenen Viehtränke stand, streifte seine roten Wollsocken ab und stellte seine großen Nissefüße in den Schneematsch vor der Tränke, die von der kräftigen Sonne im Sommer eigentlich immer schnell lauwarm war. Gerne hätte er schon ein angenehmes Fußbad genossen, aber so spielte er mit seinen Zehen wie ein kleines Kind im Matsch. Zu spät fiel ihm ein, dass er ja noch in seine Tomtewohnung zurück musste und er entweder barfuß durch den Matsch laufen oder seine Lehmfüße wieder in die sauberen Stiefel stecken musste. Eigentlich wollte er die erste Frühjahressonne genießen und ein Märchen aus einer der versiegelten Dokumentenrollen lesen, die er in einem Flechtkorb aufbewahrte: „Endlich einmal Zeit, um die Erzählungen zu lesen, die mir mein Onkel vor mehreren Jahren geschickt hat.“ Aber da fiel ihm ein, dass er den Dokumentenkorb ebenfalls vergessen hatte. Der stand nämlich noch auf dem Dachboden des Hauses, jedenfalls solange es noch eine Bauernfamilie gab. So stapfte er barfuß dann doch ärgerlich zum Bauernhaus und der sich darunter befindenden Tomtewohnung zurück. Er merkte vor Ärger kaum, wie kalt der Boden noch war. „Na, so bleiben zumindest meine Stiefel von innen sauber“, war sein erster Gedanke, als die Schneeinseln beim Antauen den Schlamm an seinen Füßen wieder etwas lösten.***
In seiner Wohnung angekommen, setzte er sich gleich in seinen Tomteholzsessel und lauschte dem Wirtschaften der Bäuerin im Haus über sich. Seine großen Füße strecke er von sich, damit sich die kalten Zehen schnell wieder durch die Wärme seines Tomteherdes aufwärmten, der eine schöne Wärme in die gesamte Tomtebehausung abstrahlte: „Ach, was bin ich doch für ein harter Kerl“, dachte er grinsend, als seine Zehen zu kribbeln begannen, wie es halt so ist, wenn man etwas Frost abbekommen hat, „ja, ich bin genauso ein Kerl wie der Wikingerschmied Halfdan aus Midjokul.“ Danach kratzte er sich am Kopf und es sollte nicht lange dauern, bis sein Kater auf seinem Schoss lag: „Mhm“, dachte er gerade noch laut „und Geschichten erzählen kann ich mindestens genauso gut wie Halfdan, der geradezu eine Erzählerlegende gewesen sein soll. Halfdan, nun, das war schon einer, Schmied und auch Märchenerzähler, der hat mit seinen kräftigen Armen immer alle überzeugen können, auch die, die an seinem Ruf als Erzähler gezweifelt haben sollen. Ja, der hat sie alle in den Sack gesteckt, die ganzen Erzähler, mindestens, ...“ Doch den Satz konnte er nicht mehr zu Ende sprechen oder denken, er war im Reich der Träume angekommen und stand auf einmal mitten in einer alten Schmiede im tiefsten Grönland...
Unns drei goldene Haare (1. März)
Halfdan war heute zufrieden, in seiner Schmiede hatte die Esse gut geglüht und alle Aufträge für den Tag waren erledigt. Aber noch hatte er seine Esse nicht gelöscht, denn vorhin hatte die kleine Runa schon am Tor seiner Werkstatt wieder vorbeigeschaut: „Onkel Halfdan, erzählst du uns heute Abend wieder eine Geschichte?“ Er hatte nur genickt und es war wie so oft, wenn die Sonne über der Wikingersiedlung Midjokul unterging. Schnell wischte er sich mit einem Lappen die Reste des Holzkohlenstaubs aus dem Gesicht. Die Schmiede begann sich bald darauf mit Alten und Kindern zu füllen. So legte er etwas Holz auf die Esse, damit es warm in der Werkstatt blieb und schloss das große Eingangstor. Natürlich wurde es jetzt dunkel im Raum und das Flackern der Flammen des Holzes in der Esse erzeugte eine warme, aber auch mystische Stimmung auf den rußgeschwärzten Wänden. Als alle ihren Platz gefunden hatten, begann Halfdan: „Heute erzähle ich euch die Geschichte von Unn, die Älteren kennen sie wahrscheinlich schon.“ Es gab ein Kopfnicken bei den älteren Bewohnern von Midjokul und Halfdan begann zu erzählen…Í Ásgarði fyrir durum Valhallar stendr lundr sá er Glasir er kallaðr, en lauf hans alt er gull rautt, svá sem hér er kveðit atGlasir stendrmeð gullnu laufifyrir Sigtýs sǫlum.Sá er viðr fegrstr með goðum ok mǫnnum.Es war einmal vor langer Zeit, da war Grönland noch ein vollständig, oder sagen wir besser ein fast völlig grünes Land, das auch von den Wikingern besiedelt war. Doch dann kamen das Eis und der Schnee zurück. Das geschah nicht alles sofort, aber es geschah sehr schnell. Warum die Götter den Wikingern auf Grönland zürnten, ist heute nicht mehr vielen bekannt, doch es begann mit sehr harten Wintern und immer kürzer werdenden Sommern, die trockener und trockener wurden. Als nun im Mai des Vorjahres die Böden in drei Folgejahren nicht mehr richtig auftauten, entschloss sich so manche Familie, hier ihre Heimat zu verlassen und dem grünen Land wieder den Rücken zu kehren. Warum waren es nun aber die Götter, die man hinter all dem Unheil vermutete? Das war recht einfach: Die Äcker und Höfe blieben lange vom Schnee bedeckt, aber die Hügelgräber und Opferstätten waren eisfrei und hier blühten die schönsten Frühjahrsblumen, wie jedes Jahr. So erging es denn auch Unn. Sie wurde von ihrer Mutter Thora in einen Mantel eingewickelt und auf einen Schlitten geladen. Zum letzten Mal in ihrem Leben verließ sie das Elternhaus mit der Inschrift über der Schwelle:Glasir stehtmit goldenen Blätternvor Sigtýs HallenAls ihr Vater Tryggve den Schlitten dann von Qasigiannguit, hier in der Nähe lag ihr Hof, zur Ostsiedlung an die Küste steuerte, sprach er während der ganzen Reise über kein Wort mit Thora. Ja, die kleine Unn sollte einst eine Wikingerfürstin werden, aber das Rad des Schicksals und die drei Nornen hatten ihr eine andere Geschichte auf ihre Lebensspindel gewickelt. Tryggve, Thora und Unn segelten so nach Trondheim zurück. Hier lernte die junge Unn dann später ihren Mann Ketil kennen, der sie mit sich in das heutige Schweden und in seine Heimatstadt Uppsala nahm. Von ihren Eltern hat Unn nie wieder etwas gehört, es gab aber Gerüchte, dass es ihnen in Trondheim nicht mehr gefallen hatte und sie wieder in die Ostsiedlung nach Grönland zurückgekehrt seien. Hier verlieren sich ihre Spuren auf der Erde in der Weltengeschichte.Nun war Unn selbst alt geworden und sie spürte, wie viele Wikinger, diese Gabe als Geschenk von den Göttern erhalten, dass ihre letzten Tage auf dieser Welt gekommen waren. Ketil war schon vor vielen Jahren bei Kämpfen im Süden nach Walhalla aufgebrochen, auch ihn hatte sie nie wiedergesehen. So rief sie Ihren einzigen Sohn Anund zu sich: „Mein lieber Anund, meine Zeit hier auf der Erde ist abgelaufen, ich werde bald über die Gjallarbrücke gehen und meine Eltern wiedersehen. Du wirst jetzt ganz alleine auf der Erde sein, unsere einst so große Sippe ist schon lange nach Walhalla und Hel aufgebrochen. Sobald ich gestorben bin, betrachte meinen Körper ein letztes Mal, bevor ich in das Grab getragen werde. Wenn dir etwas auffällt, dann nimm es an dich und warte ab, was geschieht.“Anund wollte den Worten nicht glauben, denn Unn sah frisch und gesund aus, aber am Abend des Folgetages schlief sie tatsächlich für immer ein. Wie sie es gewünscht hatte, untersuchte er sie und er fand auf ihrem Kopf drei goldene Haare, die er abschnitt und an sich nahm. Sie wurde bald darauf in Uppsala in ein Grab gelegt. Eine Woche lang geschah nichts, doch dann hatte er einen merkwürdigen Traum, in dem Unn vor ihm stand: „Schiffe dich ins grüne Land ein, besuche Qasigiannguit, finde das Grab unserer Familie und lege eines meiner Haare unter einen Stein in die Nähe des Grabes, fürchte dich nicht und warte ab, was geschieht.“ Nun war es gar nicht so einfach, in diesen Zeiten in das grüne Land zu kommen. Anund musste einen ganzen Monat suchen, bevor er einen Schiffsherrn fand, der das grüne Land anlief. Es war nämlich die Zeit, in der die Westsiedlung schon aufgegeben war und die Ostsiedlung immer kleiner wurde. Aber schließlich gelang es ihm. Die Ostsiedlung war tatsächlich schon geschrumpft, es war gar nicht so einfach, jemanden zu finden, der ihm den Weg nach Qasigiannguit zeigte. Unn kannte nämlich hier keiner mehr, aber seine Großeltern Tryggve und Thora waren noch manchem der älteren Wikinger in Erinnerung. Es war früh im Jahr und er brauchte noch einen Schlitten, um dahin zu gelangen. Schließlich kam er in Qasigiannguit an. Der einst stolze Hof war schon vollkommen verfallen, doch der ehemalige Viehstall bot etwas Schutz. Am frühen Nachmittag fand er auch das Hügelgrab in der Nähe des Hofes. Ja, es war schon merkwürdig. Während noch eine dünne Schneeschicht auf den Ruinen des Hofes und der Stallungen lag, waren auf dem Hügelgrab schon die ersten Knospen der Frühlingsblumen zu sehen. Er kam der Bitte seiner Mutter recht bald nach und legte eines der goldenen Haare unter einen Stein in die Nähe des Grabes. Danach ging er zum Stall zurück und entzündete aus Holzresten ein kleines Feuer für die Nacht, bald darauf war er eingeschlafen. Es war allerdings eine Nacht, die er in seinem Leben nicht mehr vergessen würde... Träumte er oder war er wach? Jedenfalls berührte ihn jemand an der Schulter, sodass er aufschrak: „Komm, mein Sohn, begleite mich auf meiner Heimreise! Sie fängt heute an.“ Es war eine hübsche Frau in mittleren Jahren, die da vor ihm stand. Bald nahm sie ihn an der Hand und beide gingen auf die Stelle zu, an der das Hügelgrab lag. Es war aber anders als am Tag zuvor! Jetzt sah es wie eine Halle aus, in der gefeiert wurde, und es gab auch ein großes Tor davor, das allerdings von zwei Draugr bewacht wurde, die ihn nicht hineinlassen wollten: „Diese Tore und diese Halle sind nicht für die Lebenden geöffnet!“ Erst als Unn sehr deutlich sagte: „Er gehört zu mir und unserer Sippe“, durfte er eintreten. Erst jetzt erkannte er seine Mutter, ja, sie war in ihre besten Jahre zurückgekehrt. Die Feier in dieser Halle würde er nie vergessen. Unn wurde von allen begrüßt, er hörte oft den Satz, mit dem sie begrüßt wurde: „Wir haben schon lange auf dich gewartet, es ist schön, dass du jetzt wieder bei uns bist!“ Anund lernte zum ersten Mal in seinem Leben seine Großeltern kennen, die ihn beide umarmten. Es war nur verwunderlich, dass es hier keine alten Menschen gab, alle waren im besten Alter. So feierte und trank man den ganzen Abend weiter. In den frühen Morgenstunden trat Unn dann auf ihn zu: „Ich werde noch weiterreisen, an den Ort, an dem ich jetzt leben werde, wir werden uns noch einmal wiedersehen, hier, nimm diesen Becher an dich, du wirst ihn noch brauchen.“Als der nächste Morgen kam. Er wurde von der Kälte wach, die in seinen Körper gekrochen kam. Hatte er alles nur geträumt? Das Feuer war ausgegangen und das Grab lag als das vor ihm, was es auch sein sollte: Ein geschlossenes Hügelgrab, ja, wenn da nicht ein schöner Bronzebecher davor vorgestanden hätte. Nun, seine Aufgabe hier in Qasigiannguit war erfüllt und er gelangte über die Ostsiedlung schließlich wieder zurück nach Trondheim. Von hier aus konnte er nach Uppsala zurückreisen. Nun hörte er nichts mehr von Unn, obwohl der Becher ihn immer an sie erinnerte. Ein Jahr später, an ihrem Todestag, hatte er wieder einen Traum, in dem sie vor ihn trat: „Ich bin jetzt in Hel angekommen, nun wird es Zeit, deinen Vater zu treffen. Nimm eines meiner Haare, besuche den Tempel, der auch als Odins Opferstätte bekannt ist und verbrenne es dort!“ Jetzt hatte er einen kurzen Weg, Odins Heiligtum war nämlich in Uppsala. Als er allein im Heiligtum war, hielt er eines der goldenen Haare in die Flamme einer Fackel. Das zischte einmal kurz, als das Haar in der Flamme verglimmte, aber gleichzeitig füllte sich das Heiligtum mit einem Nebel. In dem Moment, als sich der Nebel zu lichten begann, war er an einem anderen Ort. Er stand vor einem riesigen Tor, einem Portal, vor dem ein wunderschöner Baum mit rot-goldenen Blättern stand. Als er durch das Portal in die große Halle dahinter treten wollte, hörte er einen Aufschrei aus der Luft: „Kein lebender Mensch betritt Odins Festung Gladsheim!“ Es waren die Walküren, die über der Halle kreisten und ganz Walhalla überwachten. Einen Wimpernschlag später trat ein stattlicher Wikinger aus dem Tor der Halle heraus: „Anund, ich bin dein Vater Ketil, wir haben uns lange Jahre nicht gesehen, ich kenne dich auch nur als kleines Kind, doch jetzt bist du schon ein stattlicher junger Mann. Deine Mutter ist jetzt in Hel. Es wäre aber besser, wenn sie mit mir in Fólkvangr lebte. Freyja hat mich ausgewählt, ich bin nicht bei Odin in Walhalla, obwohl die Halle von Gladsheim der Eingang in das Reich ist. Holst du sie zu mir nach Fólkvangr? Ich darf und kann den Ort hier nicht mehr verlassen, bis das Ragnarök beginnt. In Freyjas Halle dürfen auch Frauen sein.“ Anund freute sich zunächst, seine Mutter noch einmal wiederzusehen und nickte nur: „Sehr gern sogar.“ Doch sein Vater blickte ihn ernst an: „Stelle es dir nicht so einfach vor, der Weg nach Hel ist nicht einfach und gefährlich.“ Danach ging er zum Glasir, riss eines der goldenen Blätter ab und gab es Anund. In dem Moment, in dem Anund das Blatt annahm, ging ein Krachen durch den Baum und Anund begann im Boden zu versinken. Dabei hörte er noch die Stimmen von Ketil: „Pass auf das Blatt auf, es ist ein Schlüssel.“Immer tiefer und tiefer begann er zu sinken, von Walhalla zurück auf die Erde, aber da war seine Reise noch nicht zu Ende, er sank tiefer und tiefer, sodass er vor Schreck die Augen schloss. Schließlich hörte das Sinken auf und als er die Augen wieder öffnete, da befand er sich in einer merkwürdigen Landschaft, in der alles in ein graues Zwielicht getaucht war. In weiter Ferne konnte er leichte Hügel erkennen, das Licht gab nichts Genaueres her. Er befand sich in einer leicht sumpfigen Gegend, bei der der Grund über und über mit Dornen bedeckt war. So konnte er sich nur langsam fortbewegen, es gab auch keine Wege aber er wusste irgendwie, wohin er musste. Diese Landschaft war auch nicht für lebende Seelen geschaffen worden, so spürte er recht bald, dass er hier nicht hingehörte, aber was soll es, er wollte ja auch hier nicht bleiben, denn wenn er an sich hinuntersah, so sah er selbst von Kopf bis Fuß grau aus. Das Einzige, was nicht grau war, war das goldene Erstrahlen des Blattes des Glasir, das ihm Ketil abgerissen hatte. Als er nun so weiter wanderte, da nahm er noch ein anderes Licht wahr, welches aber noch in weiter Ferne zu sein schien und auf das er jetzt zuging. Langsam, sehr langsam kam er dem Licht näher. Es war ein riesiger alter Runenstein, der da stand und dessen Schrift, genau so wie das Blatt des Glasir, hell golden leuchtete. Die Schrift war eine sehr alte Schrift, die er nicht kannte, aber sie war auf dem Rücken einer Schlange geschrieben, die sich um den ganzen Stein schlängelte, keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Hatte sich da etwas bewegt? Irgendwie hatte er den Eindruck, dass die Schlange sich auf dem Stein bewegte und auch die Runenschrift sich auf ihrem Rücken zu verändern schien. Ja, die Schlange war ohne Anfang und Ende, das bedeutete, dass sie sich in ihren eigenen Schwanz biss. Doch da begann sie sich auf dem Stein so zu bewegen, dass ihr Kopf zu ihm wies und begann zu zischen: „Anund, Schohn der Unn, Träger desch goldenen Blattesch, wasch suscht du in dieschem Zschwischenreisch der Dämmerung?“ Anund erschrak richtig, denn die Schlange sprach zu ihm, ohne einen Laut von sich zu geben, die Sprache war direkt in seinem Kopf: „Ich will in das Reich der Göttin Hel, um meine Mutter zu holen und nach Fólkvangr zu bringen.“ Da zischte die Schlange etwas: „Dasch ischt gut, schehr gut schogar, isch zcheige dir den Weg, wenn du mir versprischst Hel zchu fragen, wie lange isch misch noch in meinen eigenen Schwanschz beischen muschss.“ Anund musste sich das „Ja“ nur denken, da rollte sich die Schlange schon auf die andere Seite des Steins: „In diescher Rischtung muscht du weiterlaufen!“ So wanderte Anund dann weiter durch die dornige Ebene und das graue Zwielicht, bis er an einen merkwürdigen Platz kam, an dem es keine Dornen gab, hier traf er auf drei stattlich große Hähne, die sich zu bekämpfen schienen, der erste war feuerrot, der zweite war grau, hatte einen goldbraunen Kamm, und der dritte war schwarz-rot. Als Anund den Platz betrat, hörten sie direkt mit ihrem Streit auf. Da sprach der feuerrote Hahn auf einmal zu ihm: „Anund, Sohn der Unn, Träger des goldenen Blattes, was suchst du in diesem Zwischenreich der Dämmerung?“ Anund erschrak wiederum über einen sprechenden Hahn, antwortete aber direkt: „Ich will in das Reich der Göttin Hel, um meine Mutter zu holen und nach Fólkvangr zu bringen.“ Da hielten die drei Hähne erneut inne und steckten die Köpfe zusammen, wonach der feuerrote Hahn antwortete: „Das ist gut, wir zeigen dir den Weg, wenn du uns versprichst Hel zu fragen, wie lange wir hier noch kämpfen müssen.“ Als Anund nickte und nur ein: „Ja“ dachte. Da blickten alle drei Hähne in eine Richtung und krähten laut: „Ketils Sohn, nimm diesen Weg!“ So wanderte Anund weiter im Reich der Schatten. Langsam begann sich die graue Landschaft zu verändern. Die Dornen wurden weniger und der Boden etwas sumpfiger. Er meinte auch ein Geräusch zu vernehmen, das wie ein Säuseln klang, aber je länger er wanderte, desto mehr wurde aus dem Säuseln ein Rauschen, das immer lauter wurde und schließlich in Dröhnen überging. Schließlich stand er vor einem großen Strom, der reißend und schäumend, mit Wellen voller Gischt an ihm vorbeirauschte: „Nein, hier kommt keiner lebend hinüber“. Wobei er über seine eigenen Worte lächeln musste: „Es stimmte eigentlich, wer hier ankommt, ist ja schon tot.“ So wanderte er stromaufwärts weiter. Wenn er Durst bekam, so nahm er sich den bronzenen Becher zur Hand und schöpfte etwas Wasser aus dem reißenden Strom und ließ es im mitgebrachten bronzenen Becher aus dem Hügelgrab erst etwas warm werden. Denn er hatte festgestellt, dass er nicht mit der bloßen Hand aus dem Strom Wasser schöpfen konnte. Fasste man in das Wasser des Flusses Gjöl, so war sie in wenigen Augenblicken zu einem Eisblock erstarrt. Ja, der Fluss entsprang dem ewigen Eis des Nordens, durchfloss Hel und wurde an seiner Mündung wieder vom ewigen Eis des Südmeeres aufgenommen, erstarrte dort wieder zu neuen Eisbergen. Das ewig große Meer, an dem auch die Eisriesen lebten, brachte die Eisblöcke dann wieder in den Norden, ein ewiger Kreislauf. So wanderte er Tag für Tag am Fluss durch die graue Flusslandschaft, immer am Ufer entlang, allerdings ohne Hunger zu verspüren, es war ein Ort ohne Zeit, den er durchlebte. Nach einer gefühlten Woche meinte er, wie schon beim Runenstein, einen goldenen Schimmer in der Ferne wahrzunehmen. Er sollte mit der Wahrnehmung recht behalten, denn nach einer vermuteten weiteren Woche, stand er plötzlich vor einer großen, rot-goldenen Brücke, die sich hoch über den Fluss spannte. Es war die sagenumwobene Gjallarbrücke, die er erreicht hatte. Diese Brücke führte vom Zwielichtland in das wirkliche Reich Hel, in dem die gleichnamige Göttin herrschen sollte. Doch zuerst musste er über die Brücke gelangen und in der Tat, die Brücke war bewacht: Es gab eine Schlange, die nach ihm schnappen, einen Hund, der ihn beißen und einen Stier, der ihn zu Tode trampeln wollte. Es gelang keinem der Wächter, denn das goldene Blatt schützte ihn vor allen Schäden. Ja, diese Wächter hatten die ewige Aufgabe, keine lebende Seele nach Hel hinein- und keine Toten hinauszulassen. Nachdem er alle drei Wächter hinter sich gelassen hatte, standen sie alle drei auf einmal wieder vor ihm: „Wanderer, der du nun nach Helheim gelangt bist und das Blatt des Baumes Glasir in den Händen hältst, kannst du bei der Göttin nachfragen, wie lange wir noch wachen müssen, denn die Ewigkeit ist sehr lang für uns?“ „Das will ich gern tun“, erwiderte Anund und so kam es, dass die drei Wächter ihm den weiteren Weg zeigten, den er einschlagen sollte. Die drei rieten ihm aber, seinen Bronzebecher mit Wasser zu füllen, da er das Wasser sicher noch einmal brauchen würde. Natürlich befolgte er ihren Rat, der sich bald als nützlich erweisen würde. Ungefähr einen halben Tag später kam er bei den ersten Behausungen in Hel, dem Reich der Schatten, in dem die Toten weiter existieren, an. Es waren keine Häuser, so wie wir sie kennen, schön rote und weiße Häuser aus Holz, so wie man sie später in Schweden baute oder die üblichen Pfahlbauten, nein, es waren Behausungen aus verdichtetem Nebel. So dicht, dass man da nicht hindurch gelangen konnte. Bald sprach es sich auch herum, dass eine lebende Seele in Helheim aufgetaucht war. Es dauerte nicht mehr lange und Hel wurde auf ihn aufmerksam, denn solche Nachrichten eilten durch das ganze Totenreich. So stand Anund dann auch bald vor ihrem Heim Eljudnir und wurde von ihrer Magd Ganglot begrüßt: „Warum kommst du hierher und störst unsere Ruhe hier im Reich?“, war die erste Frage. Anund lächelte nur: „Ich soll meine Mutter Unn abholen und nach Fólkvangr zu meinem Vater geleiten.“ Da schob sich ein Vorhang zur Seite und Hel stand persönlich vor ihm: Sie war eine riesige Frau mit sehr hübschen Zügen, aber ihr Blick war eisig und kalt, sodass es einem das Herz gefrieren lassen konnte. „Mein Reich verlässt niemand mehr, der es einmal betreten hat! Kein Lebender und schon recht keine gestorbene Seele.“ Da blickte Anund sie fragend an: „Freya ist aber damit einverstanden, dass meine Mutter Unn mich nach Fólkvangr begleitet.“ Nun überlegte Hel eine Weile und antwortete dann: „Gut, wenn du sie findest und aufwecken kannst, dann magst du sie mitnehmen und auch mein Reich wieder verlassen, sonst bleibt ihr beide hier!“, denn sie wollte es sich nicht gern mit den anderen Göttern verscherzen. „Ach“, begann Anund da, „ich habe auch noch drei Fragen.“ Hel runzelte missmutig die Stirn: „Warum dürfen die drei Brückenwächter auf der Gjallarbrücke ihre Arbeit nie einstellen, müssen sie da immer bleiben? Wie lange müssen die drei Hähne im Vorland noch kämpfen? Und wann darf die große Schlange auf dem Runenstein ihren Schwanz loslassen?“ Diese drei Fragen gefielen Hel überhaupt nicht, doch dann musste sie lachen und Anund bekam seine Antworten: „Da du mein Reich eh nicht mehr verlassen kannst, kann ich dir die Fragen auch beantworten. Die Schlange, der Hund und der Stier auf der Brücke können ihren Dienst einstellen, sobald der Weltuntergang Ragnarök begonnen hat. In diesem Moment wird der Gjöl nicht mehr fließen und einfrieren. Da brauche ich keine Brücke und Wächter mehr. Die Toten werden dann auch freikommen. Die drei Hähne sind immer noch da und streiten? Es sind leider Kampfhähne, die einen ganz anderen Auftrag hatten und ihn wieder einmal vergessen haben. Fialar soll sich hier wegscheren und zum Eggdir, dem Harfenspieler eilen, gemeinsam mit ihm wachen. Gullenkambi soll möglichst bald nach Walhalla zu Odin, aber der schwarz-rote Hahn, der sollte über die Brücke kommen, zu mir in mein Heim Eljudnir, da werde ich wohl meinen Knecht aussenden müssen, um ihn vom Kampf zu trennen. Die Drei haben ebenfalls die Aufgabe, Raganarök anzukündigen, das wird ein schönes Krähen geben, wenn es so weit ist.“ „Und die Schlange?“, fragte Anund. Die Frage nach der Schlange schien Hel noch weniger zu gefallen: „Die Schlange heißt Midgårdschlange und Midgård ist meine Schwester! Sie kaut den ganzen Tag an ihrem eigenen Schwanz herum und sollte eigentlich noch wissen, wann sie ihn loslassen darf, das sieht ihr wieder ähnlich. Wenn der schwarz-rote Hahn hier bei mir kräht und Ragnarök beginnt, dann wird sie ihn aber schon vor Schrecken von alleine loslassen, denn dann hat das Ende aller Zeiten begonnen.“ Beim letzten Satz drehte sie sich dann ohne weitere Worte um und verschwand wieder hinter ihrem Vorhang. Ganglot wies ihm noch den Weg aus Eljudnir und wenige Augenblicke später stand er einsam und alleine im grauen Reich von Helheim. Den Bronzebecher mit dem Flusswasser aus dem Gjöl hielt er immer noch in der Hand. In Gedanken, wie es weitergehen sollte oder sagen wir besser völlig ratlos, nahm er einen Schluck von dem Wasser des Totenflusses. Auf einmal klärte sich alles auf, es war wie ein Blitz, der seinen Kopf durchfuhr! Helheim wurde bunt und farbig. Auf einmal sah er überall Menschen umherströmen, die verschiedenen Tätigkeiten nachgingen, es war alles andere als leer und verlassen. Es dauerte auch nicht sehr lange, bis dass er das neue Heim seiner Mutter Unn gefunden hatte. Allerdings erschrak er, als er sie wiedersah. Sie lag auf ihrem Bett und schlief, wobei sie genau so grau aussah, wie er Helheim zuvor selbst erlebt hatte. Es gab keine Möglichkeit, sie wach zu bekommen, so sehr er sie auch rüttelte, schüttelte, auf sie einredete und sie sogar anschrie. Sie schlief einfach weiter und war in einem ewigen grauen Traum gefangen. Irgendwann hatte er aufgegeben und sich schon damit abgefunden, selbst ewig in Helheim bleiben zu müssen, als ihm der Becher wieder einfiel. Was hatten doch die drei Brückenwächter gesagt? Er würde das Wasser aus dem Gjöl noch einmal brauchen. Da kam ihm eine Idee und er flößte seiner träumenden Mutter etwas von dem Wasser ein. Im selben Augenblick schlug sie die Augen auf und ihr Geisterkörper kehrte in das Reich der Farben zurück. Das gab ein großes Wiedersehen, bald danach brachen die beiden dann auf, um nach Fólkvangr zu gelangen. Unn schlug vor, denselben Weg wie bei seiner Ankunft zu nehmen, denn die Yggdrasil hochzuklettern, war zu anstrengend, zumal der untere Teil der Weltenesche auch nicht von freundlichen Wesen bewohnt wurde und Helheim in diesem dunklen Bereich lag. Bald gelangten sie so an die Gjallarbrücke, wo sie schon vom Stier, der Schlange und dem Hund erwartet wurden. Hier wirkte das Blatt des Glasir wieder wahre Wunder, die drei Wächter sagten nichts, ließen sie passieren, blickten ihnen aber traurig nach. Da drehte sich Anund noch einmal um und rief ihnen zu: „Ihr dürft eure Brücke und Wacht verlassen, sobald der Gjöl zufriert und Ragnarök beginnt.“ Da riefen ihn die drei Wächter noch einmal zurück: „Träger des goldenen Blattes, nimm dir wieder etwas Wasser aus dem Gjöl mit!“, rieten sie ihm. Ähnlich ging es ihnen auch bei den Hähnen, die Unn und Anund bald begrüßten: „Feuerroter Fialar, du hast hier nichts zu suchen, schon lange solltest du beim harfespielenden Eggdir sein und mit ihm wachen. Du Gullenkambi solltest in Walhalla sein und auch nicht mehr hier, am besten folgst du uns! Schließlich zu dir schwarz-roter Hahn, einzig du bist hier richtig, allerdings wartet Hel auf dich in ihrem Heim und nicht hier. Da flatterten der Fialar und der schwarz-rote Hahn sofort los, ja, ihre Aufgabe war ihnen ins Gedächtnis zurückgerufen worden. Gullenkambi blieb aber bei ihnen und das sollte sich als Glücksfall erweisen. So erreichten die drei Wanderer dann den großen Runenstein und erzählten auch der Schlange, wann sie ihren Schwanz loslassen könnte, die sich dann zischend weiter auf dem Stein bewegte...“sch hatte isch vergeschen, isch werde alt...“ Zu guter Letzt kamen sie an die Stelle, an der Anund das Reich der Toten betreten hatte, aber wie sollten sie hier wieder nach oben kommen, hier half ihnen das Blatt diesmal auch nicht weiter. Da begann Gullenkambi nervös anzuflattern und den beiden kam eine wundersame Idee: „Unn, du hast nur noch einen Geistkörper und der wiegt fast nichts, mich kann der riesige Hahn sicher tragen!“ Aber Hühner und Hähne flattern nur kurz und können nicht richtig fliegen. So gab Unn Gullenkambi dann etwas Wasser aus dem Gjöll, das sie im Becher mitgebracht hatten und da geschah es. Anund sprang auf den Rücken von Gullenkambi und das Geistwesen seiner Mutter Unn stieg hinter ihm auf. Mit der Hilfe des Blattes und des Wassers gelang bald der Aufstieg, oder besser das Aufgeflattere des großen Federviehs. Sobald sie das Reich der Menschen erreicht hatten, sprang Anund ab und Unn flog mit dem Gullenkambi weiter nach Fólkvangr, wo sie schon von ihrem Mann Ketil erwartet wurde.Wie ging es aber nun mit dem dritten goldenen Haar von Unn weiter? Lange Zeit war es eine Erinnerung für Anund, aber er merkte auch, dass er auf der Erde keine Frau finden würde. Sein Aufenthalt vor Walhalla, Fólkvangr und Helheim hatte ihn derart verändert, dass er für die Wikingerfrauen unheimlich wirkte. Sie wollten mit ihm nichts zu tun haben. So kam er dann eines Tages auf die Idee, das letzte Haar anzuzünden, wie auch schon zuvor das zweite Haar. In diesem Moment geschah etwas Seltsames: Der Raum verdunkelte sich und Unn erschien zusammen mit Ketil in der Begleitung eines dritten Wesens, das wie eine Schildmaid gekleidet war. Da begann Unn zu sprechen: „Das hier ist Lykke, sie ist eine Fylgja, sie soll deine Frau werden.“ Da erschrak Anund doch sehr, da die Fylgja eigentlich Schutzgeister waren, die man nur kurz vor seinem Tod sehen konnte. Unn lächelte, so wie sie ihren Sohn in Kindertagen angelächelt hatte: „Mach dir keine Sorgen, du warst bereits in Helheim und hast sogar Hel gegenüber gestanden, darum kannst du sie heute schon sehen, da du auch aus Helheim zurückgekehrt bist, ist sie sogar für dich ein Mensch geworden, jedenfalls solange du selbst noch auf der Erde lebst.“ Da sah er sich Lykke an, seine Mutter hatte Recht. Lykke war eine wunderhübsche junge Frau, so wie man die Fylgja auch immer beschrieben hatte. Bald reichte sie ihm Wein aus einem silbernen Becher, der wie der bronzene Becher aus dem Hügelgrab aussah. So verbrachte er den Rest seines Lebens und es war ein langes Leben, dafür sorgten schon die anderen Fylgien, mit seiner Schildmaid Lykke. Anund soll mit seiner Lykke viele Kinder gehabt haben, wenn auch die meisten Töchter waren, aber das lag wohl an Lykke. Nach seinem eigenen Tod, also im hohen Alter, soll er dann zusammen mit Lykke nach Fólkvangr gewandert sein und einen goldenen Becher erhalten haben, aber das ist eine weitere Geschichte. -Ja, das war schon ein langer Traum, die Geschichte mit dem goldenen Becher war ebenfalls eine spannende Erzählung. Man wird es kaum glauben, aber als er dann mit seiner ganzen Bekleidung, diesmal zumindest ohne die Stiefel, die ja vor dem Küchenofen trockneten, in sein Tomtebett kroch, da träumte er tatsächlich auch noch die Geschichte vom Goldbecher und auch von den beiden Zwergenschmieden, die ihn in ihrer Höhle hergestellt hatten, aber über den Traum wollte Kalle-Nisse dann an einem anderen Abend berichten... .***
Der Tag fing für Kalle-Nisse, leider nicht nur für ihn, mit gemischten Gefühlen an. Er hatte so lebhaft von der Zwergenschmiede der beiden Schmiedemeister Sindri und Brokkr geträumt, dass er erst wach wurde, als es laut an seiner versteckten Tomtetür klopfte. Sein Neffe Tore Ljung stand davor und wollte ihn besuchen. So gab es dann erst einmal frische Hafergrütze mit viel Butter für seinen Neffen und für Kalle-Nisse, zudem sein Neffe wieder etwas Butter für seinen alten Onkel organisiert hatte. Tore brauchte nicht viel zu sagen, er erfuhr auch so recht bald, warum Tore den dicken und reichen Bauern auf einem Brett hinten an der Kutsche begleitet hatte, auf dem er oft mitreiste, denn er hörte die beiden Mädchen und auch die Bäuerin aus der Wohnung über ihm weinen. Der Bauer war gekommen, um Gudrun und Heidrun abzuholen. Gudrun und Heidrun waren die beiden kleinen Ziegen des Hofes, die den beiden Bauerntöchtern Ulfa und Agneta gehörten. Ulfa und Agneta sahen am Küchenfenster zu, wie der dicke Bauer ihre beiden Zicklein hinten an seinem Wagen anband, dem Bauern Gösta, ihrem Vater, ein paar Kronen in die Hand drückte und losfuhr. Die Bäuerin Hanna tröstete ihre Töchter: „Seht einmal ihr beiden, wir fahren doch in zwei Wochen nach Amerika und dahin könnt ihr doch weder Heidrun noch Gudrun mitnehmen.“ Im Grunde war ihr aber nicht anders zumute als ihren Töchtern. Den ganzen Tag kamen den dreien Bilder hoch, wie sie mit ihren Zicklein groß geworden waren, herumtollten und gemeinsam über Zäune sprangen, die für Ziegen nun wirklich kein Problem darstellen. Schließlich haben ihnen Heidrun und Gudrun später auch etwas Milch gegeben, aber das war eine andere Geschichte und hatte mit dem stinkenden Ziegenbock zu tun, der weder Ulfa noch Agneta gefiel. So musste Tore Ljung unserem Kalle-Nisse schließlich versprechen, sich um die beiden Ziegen besonders zu kümmern, was er dann schließlich auch tat, so ist das eben bei den Tomte. Am Abend besuchte Kalle-Nisse dann die beiden Mädchen und konnte sie trösten, nachdem er sich sichtbar gemacht hatte: „Mein Neffe Tore wird sich um eure beiden Zicklein kümmern, sie werden es gut bei ihm haben, macht euch keine Sorgen!“ So war es dann auch in der Tat, als sie den Stall des reichen Bauern am nächsten Morgen besuchten. Gudrun und Heidrun standen frisch gestriegelt neben Tore, der ihnen gerade ein Schleifchen umband, als die beiden eintrafen und er sich sichtbar gemacht hatte. Doch bis dahin gab es am selben Abend noch einen weiteren Trost von Kalle-Nisse. Kalle erzählte den beiden Mädchen nämlich eine schöne Einschlafgeschichte über den Tomte Måns. In der Tat vergisst man alles um sich herum, wenn man die Gelegenheit hat, den Erzählungen vom „kleinen Volk“ lauschen zu können.
Die Taufgeschenke des Tomte Måns (2. März)
Vor langer Zeit, da lebte im Norden von Dalarna eine Holzfällerfamilie etwas einsam im Wald. Richtige Wege gab es nicht und viele der Bauernhöfe waren nur über einzelne Karrenwege oder gar Fjällwege erreichbar. Es war ein furchtbarer März in diesem Jahr, der Schnee wollte nicht so richtig weichen, immer wenn er etwas abgetaut war und die ersten Grashalme ihre Spitzen zeigten, dann begann es erneut zu schneien oder die Windbraut brachte frischen Schnee von den Bäumen und Wolken hervor.In diesen Tagen sollte die Frau des Holzfällers Anna ihr erstes Kind bekommen und so geschah es auch. Ihre kleine Tochter Lena wurde geboren, aber sie war so schwach, ja, es gab ernsthafte Bedenken des Vaters Tuve, ob sie wohl den nächsten Tag erleben würde: „Ich will versuchen, ob ich den Pastor erreiche, damit sie getauft wird, denn wenn sie uns so stirbt, dann kommt sie nicht in den Himmel!“, jammerte er. Draußen hatte es kräftig zu schneien begonnen und man konnte kaum die Hand vor den Augen erkennen. Aber an diesem frühen Märzabend geschahen noch zwei weitere Dinge: Tuve bekam die kleine Hoftür nicht auf, so sehr er sich auch dagegen presste, und ein Wanderer, der vom Nachbarhof in die nächste Stadt wollte, noch eine Meile weiter musste, bekam so viel Schnee in die Augen geblasen, dass er nicht mehr wusste, wo er war. Nun begann aber Anna zu jammern: „Ich habe mir die Taufe unseres ersten Kindes anders vorgestellt und eigentlich hatte mir unsere Nachbarin Kerstin versprochen, die Taufpatin zu sein, wenn ich eine Tochter bekomme. Sieh einmal, unser Kind hat jetzt keinen Taufpaten, der sein Leben begleiten wird.“ Da beruhigte Tuve sie: „Sieh einmal Anna, das Wichtigste ist aber doch, dass die kleine Lena überhaupt getauft ist, wenn sie uns jetzt stirbt, dann kommt sie sicher in den Himmel.“In der Nacht darauf geschah noch mehr Seltsames. Anna meinte, dass irgendetwas oder irgendjemand die kleine Kinderwiege schaukelte, von der ein merkwürdiges Licht auszugehen schien und eine merkwürdige Melodie summte. Sie meinte auch, eine rote Zipfelmütze gesehen zu haben, die über die Wiegenkante hinweg huschte, allerdings war sie nicht ganz sicher und meinte schließlich zu träumen. Die Überraschung kam am nächsten Morgen: Da lagen ein schön geschnitzter Holzlöffel, dessen Stiel in einer Zipfelmützenform endete und ein hölzerner Trinkbecher, in den ein Tomtekopf und auch der Namenszug Måns eingeschnitzt waren. „Jetzt sag nicht, sie hat keinen Taufpaten, sie hat sogar einen sehr alten Paten. Der Tomte Måns soll nach den Worten meines lange verstorbenen Großvaters schon seit über 800 Jahren bei uns im Haus leben, ich habe ihn aber noch nie gesehen“, meinte Tove da nur. Nun, er bekam ihn auch nie zu Gesicht, allerdings schien die kleine Lena ihn ab und an zu sehen, denn er schien mit ihr zu spielen und auf sie aufzupassen. Nun darf man eines nicht vergessen: Tomte sind mystische Wesen, so wurde nicht nur Lena am Tag ihrer Taufe durch ihn gestärkt, nein, es war davon auszugehen, dass es keine normalen Geschenke waren, die Lena da erhalten hatte. Die Eigenschaften sollte sie aber erst später erfahren: Der kleine Löffel hatte die Eigenschaften, jede Mahlzeit so hervorragend zu würzen, sofern man sie damit umrührte, sodass man meinen könnte, der erste Koch Schwedens habe sie zubereitet. Der Becher konnte Wasser in Wein und einen guten Wein in einen noch besseren verwandeln. Wenn jemand krank war und er trank daraus, dann wurde er unmittelbar wieder gesund. Schließlich war sie so selbst wieder gesund geworden, denn der Tomte hatte ihr am Tag ihrer Taufe daraus zu trinken gegeben, als ihre Eltern bereits schliefen.Die Eigenschaften des Löffels erfuhr Lena noch bei ihren Eltern. Sobald das Essen damit umgerührt wurde, war es jedes Mal eine Köstlichkeit. Doch auch den Becher zu erproben, das traute sie sich nicht. Lena ging es nun, wie es vielen jungen Frauen in ganz Schweden ging. Als sie zwölf Jahre alt wurde, da ging ihre Kindheit zu Ende und sie musste ihr Elternhaus verlassen. Ihre erste Stellung sollte sie im Wirtshaus ihrer Tante antreten, das sich in der Stadt befand, die etwa eine Meile entfernt lag. Sie sollte Küchenmagd werden, was sollte eine Frau aus einem armen Elternhaus auch sonst werden. Als dann die Stunde des Abschieds gekommen war, da gab ihr ihre Mutter Anna ihren Löffel und Becher mit den mahnenden Worten mit: „Es sind die Geschenke deines Taufpaten an dich, pass gut darauf auf. Es ist bestimmt ein weiterer Zauber damit verbunden, du wirst ihn eines Tages auch entdecken.“Den ersten Zauber, den Lena entdeckte, war der, dass der kleine Löffel immer wieder zu ihr an den Gürtel zurückkehrte und der Becher immer wieder in ihren kleinen Rucksack wanderte, wenn sie ihn herausgeholt hatte. Aber nun begab sie sich auf den Weg in die Stadt zu ihrer Tante. Unterwegs traf sie den alten Johan, ein armer Knecht, der von Hof zu Hof zog, um Arbeit zu suchen. Johan war schon alt und gebrechlich, aber wenn man nicht im Armenhaus verhungern wollte, dann musste man eben Arbeit finden und das war im Frühjahr nicht ganz so einfach, wenn die Vorräte der Bauern zu Ende gingen. So saßen schließlich Lena und Johan am Wegesrand, etwas vom Wind geschützt und teilten sich das Brot, das Lena von Anna für den Weg erhalten hatte. Da nahm sie zum ersten Mal ihren Becher zur Hand und goss sich etwas Wasser aus ihrer Flasche in den kleinen Becher, der mit dem Schriftzug und dem eingeschnitzten Tomte wie ein Kinderbecher aussah. Erst gab sie Johan einen kleinen Schluck, der sie merkwürdig ansah: „Lena, dein Wasser schmeckt wie ein guter Wein!“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf: „Das kann ja gar nicht sein.“ Doch, es war so! Im Becher des Tomte befand sich ein ganz hervorragender Tropfen. Es geschah aber noch etwas, das bekam sie schon gar nicht mehr mit, da sie in eine andere Richtung als Johan weiterreiste: Seinem schlimmen Fuß und auch seinem krummen Rücken ging es nach dem Trunk viel, viel besser. Nun begann für die junge Lena ein eintöniger Dienst im Wirtshaus der Tante. Morgens wurden die erkalteten Küchenöfen von der Asche gereinigt. Es wurde neues Holz benötigt und die Öfen wieder angeheizt. Ab sechs Uhr in der Frühe gab es dann die erste Hafergrütze für die Gäste, dann allerdings um die Mittagszeit wurde für die wohlhabenderen Herrschaften, wie auch den Herrn Pastor, eine gute Mahlzeit zubereitet und das zog sich bis zum Abend hin. Lena durfte ab und an auch mit Abschmecken lernen. Dabei nahm sie natürlich ihren kleinen Holzlöffel zum Umrühren. Was soll man sagen? Alle Speisen, in denen Lena umgerührt hatte, schmeckten den Gästen hervorragend. So wurde das kleine Wirtshaus berühmter und berühmter, aber keiner ahnte, dass der kleine Löffel die Ursache war. Bald hieß es sogar: „Hier findet man Schwedens beste Küche!“ Nun wurde die kleine Lena auch von Tag zu Tag hübscher und immer mehr im Schankbereich bei den Gästen eingesetzt. Schließlich sprach es sich sogar bis zum Königshaus herum und so beschloss man den Kronprinzen in das Wirtshaus zu schicken, denn der war ganz abgemagert und wollte kaum noch essen, nachdem kurz nach seiner Hochzeit seine Frau gestorben war. Das sprach sich natürlich überall herum und schließlich traf der Prinz auch ein. Da nahm die Tante ihre Nichte beiseite: „Es ist die Gelegenheit für dich, du wirst ihm servieren, wenn er kommt. Er sucht sicher eine neue Frau. Allerdings kannst du so nicht vor ihm erscheinen, ich werde dir Kleider geben, mit denen ich auch meinen Mann überzeugen konnte.“ Jetzt muss man wissen, dass Lenas Tante eine etwas zweifelhafte Vergangenheit hatte und dementsprechend war auch die Kleidung, die Lena bekam. Es war ein geschlitzter Rock, der über den Knien endete und ein Mieder, das mehr zeigte, als es verbarg. Dazu gab es rote Stiefel mit höheren Absätzen, die vorne geschnürt wurden. Lena hatte in ihrem ganzen Leben nie Schuhe oder gar Stiefel getragen, die einen höheren Absatz hatten und so konnte sie kaum darauf stehen. Sie war eigentlich eine Naturschönheit und so war sie sehr verwundert, dass ihre Tante ihre Lippen rot anmalte und sie parfümierte. Kurz: Sie wirkte damit wie eine Frau, die in einem im ländlichen Bereich eher seltenen Gewerbe nachging, ja, diese Art von Frauen waren in Schwedens größeren Städten in manch dunkler Straße oder auch anrüchigen Wirtshäusern zu finden. Da keine Zeit für die Küchenarbeit blieb, kochte die Tante diesmal selbst, Lena sollte nur auftragen und war schon richtig nervös. Als sie ihren kleinen Löffel zum Servieren in die Soße stecken wollte, rief die Tante voller Entsetzen: „Du kannst doch dem Prinzen keinen Holzlöffel anbieten, du dummes Ding. Wirf ihn weg, nimm stattdessen den Silberlöffel aus meinem eigenen Haushalt!“ Lena tat, wie ihr geheißen wurde und legte ihren eigenen kleinen Löffel unachtsam an die Seite, er würde ja eh zu ihr zurückkommen und stolperte auf ihren hohen Absätzen in den Schankraum, in dem der Prinz und auch andere Adelige saßen. Im ersten Moment herrschte entsetztes Schweigen, danach begann erst einer, dann auch mehrere der Adeligen zu lachen: „Oh, eine Straßennymphe aus der Baggensgatan, aus der Stadt zwischen den Brücken!“ Allerdings wurde die junge Lena darüber so nervös, dass sie in ihren Stiefeln den Halt verlor und stolperte. Da fiel sie nun mit dem ganzen Tablett hin und begoss den Prinzen mit der Soße. Das Geschrei ihrer Tante war groß und sie jagte Lena schließlich nach Hause. Traurig packte sie ihr Bündel und wanderte in der Abenddämmerung los. Als sie auf der Landstraße war, fiel ihr ein, dass der Platz an ihrem Gürtel, an dem normalerweise ihr kleiner Löffel hing, leer war. Der Löffel war nicht zu ihr zurückgekehrt. Was war nun geschehen? In dem Moment, in dem sie ihren kleinen Löffel achtlos an die Seite legte, da trat der Haustomte des Wirtshauses heran und nahm den Löffel sofort an sich. Tomte hassen nämlich nicht nur Metalle, sie mögen es überhaupt nicht, wenn ihre Geschenke an Menschen, und die kommen ja Weißgott nicht sehr häufig vor, missachtet oder gering geschätzt werden. Durch eine kleine Tür hinter der Küche trat sie wieder in das Wirtshaus und hörte die anderen Mägde tuscheln: „Dem Prinzen hat es überhaupt nicht geschmeckt, er hat alles wieder ausgespuckt. Ihm soll es gar nicht gut gehen, er ist schwächer als zuvor.“ Da schlich sie weiter