Knochen lügen nie - Kathy Reichs - E-Book
SONDERANGEBOT

Knochen lügen nie E-Book

Kathy Reichs

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ihr Ziel: Gerechtigkeit für die Toten. Ein neuer Fall für Tempe Brennan.

Tempe Brennan kann mit ihrer Arbeit für die Gerichtsmedizin Tote nicht wieder lebendig machen. Doch zumindest kann sie Mordopfern Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem sie den Tätern mit forensischer Wissenschaft und weiblicher Intuition auf die Spur kommt. Nur in einem einzigen Fall entkam ihr ein Killer: Anique Pomerleau, eine junge Frau, die selbst traumatische Misshandlungen hatte durchleben müssen. Und die sich an der Welt rächte, indem sie Mädchen entführte, quälte, tötete.

Jetzt, zehn Jahre später, tauchen in Montreal die Leichen mehrerer vermisster Teenager auf. Tempe erkennt das Mordmuster, die Grauen erregende Handschrift: Anique ist zurück. Sie will ein letztes Mal Rache nehmen. Und sie kommt Tempe immer näher ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 451

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tempe Brennan kann mit ihrer Arbeit für die Gerichtsmedizin Tote nicht wieder lebendig machen. Doch zumindest kann sie Mordopfern Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem sie Tätern mit forensischer Wissenschaft und weiblicher Intuition auf die Spur kommt. Nur in einem einzigen Fall entkam ihr ein Killer: Anique Pomerleau, eine junge Frau, die selbst traumatisierte Misshandlungen hatte durchleben müssen. Und die sich an der Welt rächte, indem sie Mädchen entführte, quälte und tötete.

Jetzt, zehn Jahre später, tauchen in Montreal die Leichen mehrerer vermisster Teenager auf. Tempe erkennt das Mordmuster, die Grauen erregende Handschrift: Anique ist zurück. Sie will ein letztes Mal Rache nehmen. Und sie kommt Tempe immer näher …

Mit ihrem Roman Totenmontag schrieb sich Kathy Reichs in die Ränge der weltweit erfolgreichsten Thrillerautoren (»Ihr mit Abstand bestes Buch!« BRIGITTE). Mit Knochen lügen nie knüpft sie nun an diesen Fall an und stellt einmal mehr unter Beweis, dass sie »spannender über Leichen schreiben kann als die meisten ihrer Kollegen über lebendige Menschen« (DENIS SCHECK).

Kathy Reichs, geboren in Chicago, lebt in Charlotte und Montreal. Sie ist Professorin für Soziologie und Anthropologie, und unter anderem als forensische Anthropologin für gerichtsmedizinische Institute in Quebec und North Carolina tätig. Ihre Romane erreichen regelmäßig Spitzenplätze auf internationalen und deutschen Bestsellerlisten. Tempe Brennan ermittelt auch in der von Reichs mitkreierten und -produzierten Fernsehserie BONES – Die Knochenjägerin.

Kathy Reichs

Knochen lügen nie

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Klaus Berr

Karl Blessing Verlag

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der Originalausgabe: Bones Never LieOriginalverlag: Scribner, New York
Copyright © der Originalausgabe 2014 by Temperance Brennan, L.P.Published by arrangement with the original publisher,Scribner, an imprint of Simon & Schuster, Inc.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015by Karl Blessing Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, ZürichSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-13789-2V004
www.blessing-verlag.de

ERSTER TEIL

1

Ich erhielt die Nachricht gleich am Montagmorgen. Honor Barrow brauchte mich bei einem außerplanmäßigen Treffen.

Nicht gerade das, was ich jetzt wollte, da die Erkältungskeime in meinem Kopf dabei waren, die Ärmel hochzukrempeln.

Trotzdem gesellte ich mich, nach einem Wochenende mit Grippemitteln, Nasenspray und Honig-Zitronentee, anstatt einen Bericht über einen verwesten Biker fertigzustellen, zu den Millionen anderen, die in der morgendlichen Stoßzeit ins Stadtzentrum zockelten.

Um 7 Uhr 45 stellte ich mein Auto auf der Rückseite des Law Enforcement Center, der Polizeizentrale, auch kurz LEC genannt, ab. Die Luft war kühl und roch nach sonnengetrocknetem Laub. Nahm ich an. Meine Nase war so verstopft, dass ich nicht einmal den Unterschied zwischen einer Tulpe und einer Mülltonne riechen konnte.

Die Demokraten hatten 2012 ihren alle vier Jahre stattfindenden Parteitag in Charlotte abgehalten. Zehntausende waren gekommen, um zu loben oder zu protestieren oder einen Kandidaten zu nominieren. Die Stadt hatte 50 Millionen Dollar für die Sicherheit ausgegeben, und als Folge davon sah das Erdgeschoss des Law Enforcement Center, früher eine offene Lobby, jetzt aus wie die Brücke des Raumschiffs Enterprise. Kreisrunde Holzbarriere. Kugelsicheres Glas. Monitore, die jede Narbe und jeden Pickel des Gebäudes zeigten, innen wie außen.

Nachdem ich mich in die Anwesenheitsliste eingetragen hatte, hielt ich meine ID-Card ans Lesegerät und fuhr mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock.

Barrow lief eben vorbei, als der Aufzug schnurrend stoppte und die Tür aufging. Hinter ihm sah ich durch die Tür, die er jetzt öffnete, Pfeile auf grünem Grund, die die Richtungen zu den einzelnen Abteilungen wiesen: Eigentumsdelikte links, Personendelikte rechts. Über den Pfeilen ein Wespennest, das Symbol des Mecklenburg Police Department.

»Danke fürs Kommen.« Barrow hielt kaum inne.

»Kein Problem.« Bis auf die Kesselpauken in meinem Kopf und das Feuer in meiner Kehle.

Ich folgte Barrow durch die Tür, und wir beide gingen nach rechts.

Detectives bevölkerten den Korridor in beiden Richtungen, die meisten in Hemdsärmeln und Krawatte, einer in einer Kakihose und einem marineblauen Golfshirt mit dem kühnen Wespen-Logo.

Barrow verschwand in einem Zimmer auf der linken Seite mit einem neongrünen Schild an der Tür: 2220 Abteilung für Gewaltverbrechen. Mord und Angriff mit einer tödlichen Waffe.

Ich ging geradeaus weiter, vorbei an drei Verhörzimmern. Aus dem ersten kam ein Bariton, der offenbar vor Entrüstung in bemerkenswert unharmonischen Begriffen bellte.

Zehn Meter weiter betrat ich einen Raum, der gekennzeichnet war als: 2101 Homicide Cold Case Unit. Abteilung für Altfälle/Mord.

Ein grauer Tisch und sechs Stühle nahmen einen Großteil des Raums ein. Ein Kopiergerät. Aktenschränke. An den Wänden eine abwischbare Weißwandtafel und braune Korktafeln.

Im hinteren Teil trennte ein niedriger Raumteiler einen Schreibtisch mit den üblichen Utensilien ab: ein Telefon, ein Kaffeebecher, überquellende Eingangs- und Ausgangskörbe. Ein Fenster warf ein Rechteck aus Sonnenlicht auf die Schreibunterlage.

Kein Mensch in Sicht.

Ich schaute auf die Wanduhr. 7 Uhr 58.

Im Ernst? War nur ich pünktlich eingetroffen?

Mit pochendem Schädel und leicht verärgert setzte ich mich auf einen Stuhl und stellte meine Schultertasche neben mir auf den Boden.

Auf dem Tisch waren ein Laptop, ein Pappkarton und ein Plastikbehälter. Beide hatten eine Nummer auf dem Deckel. Die auf dem Plastikding kam mir vertraut vor.

090430070901. Die Akte trug das Datum 30. April 2009. Um 7 Uhr 09 an diesem Morgen hatte ein Anruf die Zentrale erreicht.

Das Nummerierungssystem des Pappkartons war anders. Ich nahm an, dass er aus einem anderen Zuständigkeitsbereich stammte.

Ein wenig Hintergrund.

Das Charlotte-Mecklenburg Police Department hat ungefähr fünfhundert ungelöste Mordfälle, die bis ins Jahr 1970 zurückreichen. Da man erkannt hatte, dass das eine Menge Leichen und eine Menge Leute waren, die auf Gerechtigkeit warteten, hatte das CMPD eine Cold Case Unit, eine Abteilung für Altfälle, kurz CCU, eingerichtet.

Honor Barrow, seit zwanzig Jahren im Morddezernat, leitete die CCU seit deren Gründung. Zu den anderen Vollzeitermittlern gehörten ein Police Sergeant und ein Agent des FBI. Ein Freiwilligenteam bestand aus drei pensionierten FBI-Beamten, einem pensionierten Polizisten des NYPD und einem zivilen Akademiker, ein ziviler Ingenieur liefert Unterstützung in Form von Vorselektierung und Analyse von Indizien.

Das Stammpersonal der CCU trifft sich jeden Monat. Als forensische Anthropologin bearbeite ich die nicht so kürzlich Verstorbenen. Es ist deshalb kein Geheimnis, warum ich manchmal hinzugerufen werde.

Normalerweise erfahre ich allerdings im Voraus, warum meine Anwesenheit erforderlich ist. Eine Anfrage bezüglich einer Gruppe von Überresten. Fragen nach Knochen, Verletzungen, Verwesung.

Diesmal allerdings nicht.

Ungeduldig und neugierig, warum ich gerufen wurde, zog ich den Plastikbehälter zu mir und nahm den Deckel ab. Drinnen lagen von Trennblättern unterteilte Seiten. Die Beschriftungen auf den Reitern waren mir vertraut. Opferbeschreibung. Zusammenfassung des Verbrechens. Bericht der Spurensicherung. Sichergestellte/analysierte Indizien/private Habe. Bericht des Leichenbeschauers. Zeugen. Zugehörige Ermittlung. Potenzielle Verdächtige. Empfohlene Nachermittlung.

Quer über den Akten lag eine Fallzusammenfassung, geschrieben von Claire Melani, einer Kriminologin und Kollegin an der UNCC. Ich blätterte zum ersten Abschnitt ihres Berichts.

Und spürte sofort, wie sich meine Nackenmuskeln verspannten.

Bevor ich weiterlesen konnte, waren im Gang Stimmen zu hören. Augenblicke später erschien Barrow mit einem Kerl, der ein bisschen aussah wie jemand vom Cover eines Survival-Handbuchs. Ausgewaschene Jeans. Ausgebleichte Armeejacke über einem langärmeligen roten T-Shirt. Dunkle Haare, die in Locken unter einer neon-orangenen Kappe herausquollen.

»Stecken die anderen alle im Verkehr fest?« Ich legte den Bericht wieder in den Behälter.

»Ich habe das Freiwilligenteam nicht dazugerufen.«

Obwohl mich das überraschte, sagte ich nichts.

Barrow bemerkte, dass mein Blick zu dem Überlebenskünstler wanderte, und stellte ihn vor. »Detective Rodas kommt aus Vermont zu uns.«

»Umparo. Meine Freunde sagen Umpie.« Selbstironisches Grinsen. »Alle beide.«

Rodas streckte die Hand aus. Ich nahm sie. Umpies Griff war wie seine Erscheinung, rau und stark.

Während Barrow und Rodas sich setzten, erschien eine vertraute Gestalt im Türrahmen. Erskine »Skinny« Slidell, Polizistenlegende nach eigener Überzeugung.

Ich kann nicht sagen, dass mich Slidells Anwesenheit begeisterte. Da Skinny im Morddezernat arbeitet und ich in der Leichenhalle, haben wir oft miteinander zu tun. Im Lauf der Jahre hatte unsere Beziehung mehr Hochs und Tiefs als ein Lügendetektordiagramm. Er kann eine richtige Nervensäge sein, aber der Mann löst Fälle.

Slidell streckte beide Hände aus, nach dem Motto »Was gibt’s«, und drehte dann das linke Handgelenk, um auf die Uhr zu schauen. Sehr subtil.

»Freut mich, dass du dich von den Computerpornos losreißen konntest.« Lächelnd zog sich Barrow mit dem Fuß einen Stuhl vom Tisch heran.

»Deine Schwester ist wirklich ganz verliebt in die Kamera.« Das Sitzkissen pfffte, als Slidell seinen beträchtlichen Hintern darauf platzierte.

Slidell war in den Achtzigern Barrows Partner gewesen, und im Gegensatz zu vielen anderen behauptete Letzterer, die Erfahrung genossen zu haben. Wahrscheinlich ihre gemeinsame Vorstellung von Humor.

Barrow hatte eben Slidell und Rodas einander vorgestellt, als die Tür aufging. Ein Mann, den ich nicht kannte, betrat den Raum. Er hatte ein schwaches Kinn und eine zu lange Nase, und obwohl er ganz aufrecht stand, war er nicht größer als ich. Sein Synthetikhemd, die billige Krawatte und der Anzug von der Stange deuteten auf mittleres Management hin. Sein Verhalten kreischte geradezu Polizist.

Wir vier sahen zu, wie Mister Synthetik am Tisch Platz nahm.

»Agent Tinker kommt vom SBI.« Barrows Hinweis auf das State Bureau of Investigation klang sehr unterkühlt.

Ich hatte schon von Beau Tinker gehört. Den Gerüchten nach war er ein beschränkter Geist mit einem meilenbreiten Ego. Und bei den Damen ein Charmeur.

»Eine so lange Fahrt erscheint mir übertrieben«, sagte Slidell, ohne von den vor seinem Bauch verschränkten Fingern hochzuschauen.

Tinker betrachtete Slidell mit Augen, die so grau und matt waren wie unpoliertes Zinn. »Ich sitze gleich ums Eck in der lokalen Filiale in Harrisburg.«

Slidells Kiefermuskeln arbeiteten, aber er sagte nichts.

Wie überall sonst auf dem Planeten gibt es auch in North Carolina Rivalitäten zwischen den einzelnen Ermittlungsbehörden. Das Büro des Sheriffs, die Campus-, Flughafen- und Hafenpolizei gegen die örtlichen Polizeireviere. Die staatlichen Jungs gegen die der Stadt. Die Feds gegen den Rest der Welt.

Bis auf einige Verbrechen, für die seine Beteiligung vorgeschrieben ist, wie etwa Drogenhandel, Brandstiftung, illegales Glücksspiel und Wahlbetrug, kann das SBI an polizeilichen Ermittlungen nur mitarbeiten, wenn örtliche Behörden es dazu einladen. Die Kühle, die von Barrow und Slidell ausging, deutete darauf hin, dass eine solche Einladung nicht erfolgt war.

War Rodas das Ziel des Interesses? Wenn ja, warum das Interesse in Raleigh an einem Fall aus Vermont?

Slidell betrachtete sich selbst als heiße Nummer im Morddezernat. Zu heiß, um an einem Tisch zu sitzen und sich beschwafeln zu lassen, wie er es einmal ausgedrückt hatte. Auch ich fragte mich, warum er hier war.

Und dachte an die Akte in dem Plastikbehälter.

Ich schaute schnell zu Slidell hinüber. Er hatte jetzt den Kopf gehoben und schaute Tinker mit einem Ausdruck an, den er sonst nur für Pädophile und Schimmel übrighatte.

Ging die Feindseligkeit über Revierstreitigkeiten hinaus? Hatte Slidell eine Vorgeschichte mit Tinker? Oder war Skinny einfach nur Skinny?

Barrow drang durch meine Gedanken. »Detective Rodas wird jetzt loslegen.«

Barrow lehnte sich zurück und richtete die Halskette mit seiner Marke gerade. Er erinnerte mich oft an eine große Lederschildkröte. Die Haut dunkel und schrumpelig wie bei einem Schrumpfkopf, die Augen weit auseinanderstehend und vorquellend über einer kleinen, spitzen Nase.

Rodas öffnete den Pappkarton, zog einen Stapel Berichte heraus und gab jedem von uns einen.

»Tut mir leid, dass mein Stil nicht so formell ist wie Ihrer.« Rodas’ Stimme war tief und heiser, eine Stimme, bei der man an weißen Cheddar und die Green Mountain Boys dachte. »Ich berichte Ihnen kurz die wichtigsten Fakten und beantworte dann Fragen, die noch offen sind.«

Ich blätterte die Seiten durch. Hörte Tinker und Slidell dasselbe tun.

»Am 18. Oktober 2007 zwischen halb drei und drei verschwand ein zwölfjähriges, weißes Mädchen namens Nellie Gower, als sie mit ihrem Fahrrad von der Schule nach Hause fuhr. Sechs Stunden später wurde ihr Fahrrad eine Viertelmeile von der Farm der Gowers auf einer abgelegenen Landstraße gefunden.«

Eine leichte Veränderung in seinem Tonfall ließ mich aufschauen.

Rodas’ Adamsapfel hüpfte, bevor er weiterredete.

»Acht Tage später wurde Nellies Leiche in einem Steinbruch vier Meilen außerhalb der Stadt gefunden.«

Mir fiel auf, dass Rodas den Namen des Kindes benutzte, es nicht entpersonalisierte, wie Polizisten es oft tun – das Kind, das Opfer. Ich brauchte keinen Freud, um zu erkennen, dass ihn der Fall berührte.

»Der Medical Examiner fand keine Hinweise auf Verletzungen oder sexuelle Gewalt. Das Kind war vollständig bekleidet. Die Todesart wurde als Mord bezeichnet, die Ursache als unbekannt. Der Fundort ergab nichts. Wie auch die Leiche. Keine Reifenabdrücke, keine Täterspuren, weder Blut noch Speichel, überhaupt nichts forensisch Verwertbares.

Es wurden die üblichen Personen verhört – registrierte Sexualstraftäter, Eltern und Verwandte, Freunde, die Familien der Freunde, Babysitter, eine Leiterin der Pfadfinderinnen, Mitarbeiter der Schule, der Kirche, des Gemeindezentrums. Jeder mit auch nur der geringsten Verbindung zum Opfer.«

Rodas kramte Fotomappen mit Spiralbindung hervor und gab sie wie ein Croupier an die Anwesenden aus. Schwieg, während wir alle die grausigen Karten betrachteten, die er verteilt hatte.

Die ersten Aufnahmen zeigten den Steinbruch. Ein bleigrauer Himmel hing über einer völlig baumlosen Fläche aus Felsen und Erdreich. Auf der linken Seite führte eine Kiesstraße vom Vordergrund zu einem zerklüfteten Horizont.

Entlang der Straße waren Absperrungen aufgestellt worden. Dahinter standen Pkw, Pick-ups und die Transporter der Medien. Fahrer und Mitfahrer standen in Zweier- und Dreiergruppen herum. Einige unterhielten sich, andere starrten über die Sägeböcke hinweg und schauten zu Boden. Einige trugen T-Shirts mit der Aufschrift FINDETNELLIE über dem Gesicht einer lächelnden Jugendlichen.

Mir waren die Umstehenden vertraut. Samariter, die viele Stunden lang gesucht und Telefondienst geleistet hatten. Schaulustige, die unbedingt einen Leichensack sehen wollten. Journalisten auf der Suche nach dem besten Blickwinkel auf die nächste menschliche Tragödie.

Innerhalb der Absperrung standen Streifenwagen, die Transporter der Spurensicherung und des Coroners sowie zwei zivile Fahrzeuge, die so schief parkten, als hätte sie plötzlich ein Motorschaden ereilt. Ich erkannte die üblichen Einsatzkräfte. Techniker der Spurensicherung und des Coroners. Eine Frau in einer Windjacke mit der Aufschrift »Medical Examiner« in gelben Großbuchstaben auf dem Rücken. Polizisten in Uniform, einer, der mit schief gelegtem Kopf in ein Schultermikrofon sprach.

Im Zentrum der Szene war ein Schutzdach aufgestellt worden. Unter dem blauen Plastik spannte sich gelbes Band von Stange zu Stange und bildete so ein ungefähres Rechteck. In dem Rechteck lag eine herzzerreißend kleine Erhebung. Rodas kauerte daneben, mit verkniffenem Gesicht, einen Notizblock in der Hand.

Die nächste Fotostrecke konzentrierte sich auf das Kind.

Nellie Gower lag auf dem Rücken, die Beine gerade ausgestreckt, die Arme eng am Torso. Der Reißverschluss ihrer roten Wolljacke war bis zum Kinn hochgezogen. Die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe waren zu symmetrischen Schleifen gebunden. Der untere Rand einer gepunkteten Bluse war ordentlich in ihre pinkfarbene Jeans gesteckt.

Einige Fotos zeigten das Gesicht, das auf den T-Shirts abgedruckt war. Jetzt sah man kein Lächeln mehr.

Nellies Haar fiel ihr in langen, schokobraunen Wellen auf die Schultern. Mir fiel auf, dass es in der Mitte gescheitelt und gleichmäßig verteilt war, wie gekämmt und arrangiert.

Acht Tage an der Luft hatten das Unvermeidliche angerichtet. Das Gesicht des Mädchens war aufgedunsen, die Haut purpurn und grün gesprenkelt. Maden füllten ihren Mund und die Nasenlöcher.

Die letzten drei Fotos waren Großaufnahmen der rechten Hand des Mädchens. Spuren einer weißen Substanz tüpfelten die Handfläche.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Die Spurensicherung hat beide Hände eingetütet. Der ME hat die Haut abgetupft und Material unter ihren Nägeln herausgekratzt. Die Jungs von der Spurensicherung meinten, es könnten Reste eines Papiertaschentuchs sein.«

Ich nickte und starrte weiter die Fotos an.

In meinem Hirn feuerten Synapsen. Ich dachte an ein anderes Kind. Eine andere Serie herzzerreißender Fotos.

Ich wusste, warum man mich gerufen hatte. Warum Skinny hier war.

»Scheiße.«

Rodas ignorierte Slidells Ausbruch.

»Wir hatten ein paar Spuren, telefonische Tipps, einen Zeugen, der sagte, ein Lehrer habe ein ungewöhnliches Interesse an Nellie gezeigt, ein Nachbar, der behauptete, er habe sie in einem Pick-up zusammen mit einem bärtigen Mann gesehen. Aber schließlich wurde der Fall kalt. Wir sind nur eine kleine Abteilung. Ich musste mich anderen Sachen zuwenden. Sie wissen ja, wie das ist.«

Rodas schaute Slidell, dann Barrow an. Fand Augen, die es nur zu gut wussten.

»Aber der Fall hat an mir genagt. Ein solches Mädchen. Sooft ich Zeit hatte, hab ich mir die Akte vorgenommen und gehofft, irgendetwas zu entdecken, das wir übersehen hatten.«

Wieder hüpfte der Adamsapfel.

»Allen Aussagen zufolge war Nellie eher furchtsam. Vorsichtig. Eher nicht geneigt, mit einem Fremden mitzugehen. Wir dachten alle, der Täter wär aus der Gegend. Jemand, den sie kannte. Schätze, wir hatten da einen Tunnelblick. Letztes Jahr dachte ich mir dann, was soll’s. Schau über den Tellerrand hinaus. Ich hab’s mit dem VICAP versucht.«

Rodas sprach vom Violent Criminal Apprehension Program des FBI, einer nationalen Datenbank zur Sammlung und Analyse von Informationen über Morde, Sexualverbrechen, vermisste Personen und andere Gewaltverbrechen. Dieses Archiv enthält ungefähr 150000 offene und geschlossene Fälle, die von etwa 3800 staatlichen und lokalen Dienststellen eingegeben wurden und Altfälle bis zurück in die 1950er umfassen.

»Ich hab angegeben, was wir hatten, die Vorgehensweise, die Verbrechenssignatur, Tatortmerkmale und -fotos, Details zum Opfer. Nach zwei Wochen kam eine Antwort. Und dann war es doch tatsächlich so, dass unser Profil einem ungelösten Fall hier in Charlotte entsprach.«

»Das Nance-Mädchen.« Slidell redete durch kaum geöffnete Lippen.

»Da hat’s nie eine Verhaftung gegeben.« Tinkers erste Worte, seit er Slidell gesagt hatte, dass er vor Ort stationiert sei.

Slidell öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Überlegte es sich anders und schloss ihn wieder.

Ich warf einen flüchtigen Blick zu dem Plastikbehälter. 0903070901. Lizzie Nance. Skinnys eigenes niederschmetterndes Versagen.

Am 17. April 2009 verließ Elizabeth Ellen »Lizzie« Nance den Ballettunterricht, um zur Wohnung ihrer Mutter nur drei Blocks entfernt zu gehen. Sie kam nie zu Hause an. Das Medieninteresse war enorm. Hunderte meldeten sich, um Hotlines zu besetzen, Plakate aufzuhängen und die Waldstücke und Teiche in Lizzies näherer Umgebung abzusuchen. Erfolglos.

Zwei Wochen nach Lizzies Verschwinden wurde in einem Naturreservat nordwestlich von Charlotte eine verweste Leiche gefunden. Sie lag auf dem Rücken, die Beine dicht beieinander, die Arme eng am Körper. Ein schwarzer Gymnastikanzug, eine Strumpfhose und rosafarbene Baumwollunterwäsche umhüllten das faulige Fleisch. Leuchtend blaue Crocs steckten an den Füßen. Rückstände unter den Fingernägeln wurden später als gewöhnliches Kosmetiktuch identifiziert.

Slidell leitete die Mordermittlung. Ich untersuchte die Knochen.

Obwohl ich Tage über dem Mikroskop verbrachte, konnte ich auf dem gesamten Skelett keine einzige Scharte, keinen Schnitt oder Bruch entdecken. Tom Larabee, der Medical Examiner des Mecklenburg County, konnte nicht eindeutig feststellen, ob ein sexueller Übergriff stattgefunden hatte. Die Todesart wurde als Mord angegeben, die Ursache als unbekannt.

Lizzie Nance starb, als sie gerademal elf Jahre alt war.

»Zum Glück hatte Barrow diesen Fall ebenfalls als ungelöst eingegeben. Das System hat die Ähnlichkeiten erkannt.« Rodas hob beide Hände. »Deshalb bin ich hier.«

Ein kurzes Schweigen legte sich über den Raum, Tinker durchbrach es.

»Das ist alles? Zwei ungefähr gleich alte Mädchen? Die noch ihre Kleidung anhatten?«

Niemand reagierte darauf.

»War das Nance-Mädchen nicht viel zu verwest, um eine Vergewaltigung eindeutig ausschließen zu können?«

Slidell stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich zu Tinker. Ich unterbrach ihn.

»Der Autopsiebericht stellte erschwerende Faktoren fest. Aber die Kleidung des Mädchens war an Ort und Stelle, und Dr. Larabee war sehr sicher in seiner Schlussfolgerung, dass keine Vergewaltigung stattgefunden hatte.«

Tinker zuckte die Achseln, wohl weil er noch nicht gemerkt hatte, dass seine nonchalante Haltung allen anderen auf die Nerven ging. Oder weil es ihm egal war. »Kommt mir ziemlich schwach vor.«

»Ich bin ja nicht nur wegen des VICAP-Profils hier in Charlotte«, fuhr Rodas fort. »Als wir Nellie fanden, hatte ihre Leiche eineinhalb Tage im Regen gelegen. Ihre Kleidung war durchtränkt von einer Mischung aus Wasser und Verwesungsrückständen. Ich war zwar nicht sehr optimistisch, hab aber alles zur Untersuchung an unser Forensiklabor in Waterbury geschickt. Zu meiner Überraschung hatte einiges an DNS überlebt.«

»Alles von ihr«, vermutete Slidell.

»Ja.«

Rodas stützte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor.

»Vor achtzehn Monaten hab ich mir die Akte wieder einmal vorgenommen. Und etwas entdeckt, das ich für einen echten Durchbruch gehalten habe. Die Rückstände auf Nellies Hand waren nicht zusammen mit ihrer Kleidung zur Untersuchung weitergeleitet worden. Ich hab die zuständige ME angerufen. Sie hatte noch das Material, das ihr Vorgänger bei der Autopsie unter den Fingernägeln herausgekratzt hatte. War zwar nur ein Schuss ins Blaue, aber ich hab das Material trotzdem einfach nach Waterbury geschickt.«

Rodas schaute jetzt direkt mich an.

Ich erwiderte den Blick.

»Das Material enthielt DNS, die nicht Nellie gehörte.«

»Sie haben das Profil durchs System gejagt?« Tinker stellte die unnötige Frage.

Rodas deutete mit dem Kinn auf den Bericht in meinen Händen. »Schauen Sie sich den Abschnitt mit der Bezeichnung ›Aktualisierte DNS-Ergebnisse‹ an, Dr. Brennan.«

Ich war neugierig, warum er sich gerade an mich gewandt hatte, und tat, wie mir geheißen.

Las einen Namen.

Spürte, wie mir das Adrenalin in die Eingeweide schoss.

2

Der Bericht war kurz und auf Französisch und Englisch abgefasst.

Um zu verstehen, was das eigentlich sollte, las ich den Schlussabsatz noch einmal. In beiden Sprachen.

Bei der DNS-Probe 7426 wurde eine Übereinstimmung gefunden mit der kanadischen Staatsbürgernummer 64899, identifiziert als Anique Pomerleau, W/F, Geburtsdatum: 10.12.75. Die Person ist im Augenblick nicht in Haft.

Anique Pomerleau.

Ich hob die Augen zu Rodas. Seine waren noch immer auf mich gerichtet.

»Sie können sich vorstellen, wie elektrisiert ich war. Jahrelang nichts, und dann erfahre ich, dass DNS sequenziert wurde, die nicht Nellie gehört. Ich hab dem Techniker gesagt, er soll das Profil in CODIS eingeben.«

Wie VICAP ist das Combined DNA Index System, der Kombinierte DNS-Index, eine Datenbank, die vom FBI betrieben wird. CODIS verwaltet DNS-Profile und benutzt zwei Indizes, um Ermittlungshinweise zu erzeugen.

Der Index der überführten Täter enthält Profile von Personen, die wegen Straftaten von kleineren Vergehen bis zu sexuellem Übergriff und Mord verurteilt wurden. Der forensische Index enthält Profile, die anhand von Tatortspuren wie Sperma, Speichel oder Blut erstellt wurden. Wenn ein Detective oder Analytiker ein unbekanntes Profil eingibt, durchsucht die CODIS-Software automatisch beide Indizes nach potenziellen Übereinstimmungen.

Eine Übereinstimmung im forensischen Index stellt Verbindungen zwischen Verbrechen her und kann so Serientäter identifizieren. Ausgehend von einem »forensischen Treffer«, können Polizeieinheiten verschiedener Zuständigkeitsbereiche ihre Ermittlungen koordinieren und Hinweise weitergeben.

Eine Übereinstimmung zwischen dem forensischen Index und dem Index der überführten Täter liefert den Ermittlern einen »Tätertreffer«. Einen Verdächtigen. Einen Namen.

Anique Pomerleau.

»Sie ist keine Amerikanerin.« Das war ein lahmer Einwurf, aber ich sagte es trotzdem.

Was ich meinte, war, wie kam Rodas auf diese Verbindung zu einer kanadischen Staatsbürgerin? Unsere Nachbarn über dem neunundvierzigsten Breitengrad nutzen zwar die CODIS-Software, betreiben aber ihr eigenes nationales DNS-Datenarchiv.

»In den Vereinigten Staaten gab es keine Treffer, deshalb habe ich beschlossen, das Profil nach Norden zu schicken. Das ist nicht ungewöhnlich. Hardwick ist weniger als eine Stunde Fahrzeit von der Grenze entfernt.« Rodas deutete auf den Bericht in meiner Hand. »Das stammt aus der kanadischen Nationalen DNS-Datenbank.«

So viel wusste ich. Im Verlauf meiner Arbeit für das Laboratoire des sciences judiciaires et de médecine légale in Montreal hatte ich schon Dutzende solcher Berichte gesehen. Das Pseudoephedrin und das Oxymetazolin, das ich gegen meine Erkältung nahm, beeinträchtigten mein Sprachvermögen.

»Wie sind Sie auf mich gekommen?«, korrigierte ich mich.

»Der Treffer war in Kanada, also schien es logisch, dort anzufangen. Ich habe einen Kumpel bei der Royal Canadian Mounted Police. Er gab den Namen ein und fand eine Anique Pomerleau, die den Identifikationsmerkmalen entsprach. Die Sûreté du Québec sucht Pomerleau mit einem Haftbefehl aus dem Jahr 2004.«

»Moment mal. Sie sagen, dass diese Tussi fünf Jahre nach Beginn der Fahndung in Kanada auf einem toten Kind in Vermont ihre DNS hinterlässt?« Tinker, der König des Mitgefühls.

»Der damalige Ermittlungsleiter arbeitet immer noch dort, aber anscheinend ist er vor Kurzem unentschuldigt verschwunden.« Rodas lächelte dünn. »Ich habe das Gefühl, das ist eine ganz andere Geschichte.«

Ich spürte ein leises Pulsieren in meinem Handgelenk. Starrte die zarte blaue Ader an, die sich unter meiner Haut schlängelte.

»Niemand wusste noch viel über die Täterin oder den Fall. Aber ein Coroner hat mich an einen Pathologen vermittelt, der schon seit Ewigkeiten dort arbeitet. Pierre LaManche.

LaManche hat mir erzählt, dass Pomerleau eine Verdächtige in mehreren Fällen gewaltsamen Todes von jungen Mädchen war. Er meinte, ihr Komplize sei ein Kerl namens Neal Wesley Catts gewesen. 2004 hat sich Catts entweder selber erschossen oder wurde von Pomerleau ermordet. Dann verschwand sie.

Ich hab LaManche von der DNS erzählt, die wir an Nellie Gowers Hand gefunden hatten, und von dem VICAP-Treffer Ihres ungelösten Falls hier in Charlotte. Er riet mir, mich mit Dr. Brennan in Verbindung zu setzen.«

Anique Pomerleau.

Das Monster.

Die Einzige, die je davonkam.

Ich bemühte mich um ein ausdrucksloses Gesicht. Hielt den Blick auf das Blutgefäß in meinem Fleisch gerichtet.

»Sie glauben, dass Pomerleau sowohl Gower als auch das Nance-Mädchen umgebracht hat.« Wieder war es Tinker, der das Offensichtliche feststellte.

»Ich halte das für eine Möglichkeit.«

»Wo war sie die ganze Zeit?«

»Wir haben sie zur Fahndung ausgeschrieben. Die SQ ebenfalls, obwohl ich dort nicht viel Begeisterung spüren könnte. Ich kann’s ihnen nicht verdenken. Ist zehn Jahre her. Vielleicht ist Pomerleau tot, vielleicht benutzt sie einen Decknamen, und das einzige Foto, das sie haben, stammt aus dem Jahr 1989.«

Ich erinnerte mich. Es war das einzige Foto, das wir damals hatten. Aufgenommen, als Pomerleau ungefähr fünfzehn war.

»Also. Nach Montreal verschwindet Pomerleau für drei Jahre in der Versenkung, taucht dann wieder auf und schnappt sich ein Mädchen in Vermont.« So wie Slidell klang, sprach er die Theorie nur aus, um zu hören, wie sie für ihn selbst klang.

»Als ich das letzte Mal nachgesehen hab, war North Carolina noch ein paar Meilen von der Tundra entfernt«, sagte Tinker. »Wie kam Pomerleau hierher?«

Da keiner darauf reagierte, redete Tinker weiter.

»Die DNS bringt Pomerleau mit diesem Gower-Mädchen in Verbindung. Aber welche Verbindung gibt es zwischen Gower und Nance? Ich habe es schon einmal gesagt und sage es wieder. Es ist traurig, aber jeden Tag werden Kinder ermordet. Was macht Sie so sicher, dass wir es hier mit einem einzigen Täter zu tun haben?«

Meine Nebenhöhlen fühlten sich plötzlich an, als wollten sie jeden Moment explodieren. Verstohlen drückte ich mir eine Hand an die Wange. Meine Haut war glühend heiß. Legte der Virus noch einmal nach? Oder war es der Schock über das, was ich hier alles gehört hatte?

Während ich nach einem Papiertaschentuch griff, um mich zu schnäuzen, zählte Rodas, beim Daumen anfangend, die Punkte an den Fingern ab.

»Jedes Opfer war weiblich. Jedes war zwischen elf und vierzehn Jahren alt. Jedes verschwand am helllichten Tag von einer öffentlichen Straße – einem Highway, einer städtischen Straße. Jedes wurde an der Erdoberfläche in ungeschützter Umgebung abgelegt – in einem Steinbruch, auf einem Feld. Beide Leichen lagen mit dem Gesicht nach oben, Arme und Beine gerade, die Haare ordentlich.«

»Zu einer Pose arrangiert«, sagte Barrow.

»Eindeutig.«

Rodas wechselte zur linken Hand.

»Beide Opfer waren bekleidet. Beide hatten Reste eines Papiertuchs unter den Fingern. Keines zeigte Hinweise auf Verletzungen. Keines zeigte Hinweise auf einen sexuellen Übergriff.«

Rodas zog eine Plastikhülle aus seinem Karton und legte sie auf den Tisch. In der Hülle steckte ein Farbfoto mit weißem Rand.

Barrow holte eine ähnliche Abbildung aus dem Plastikbehälter und legte sie neben die von Rodas. Wir alle beugten uns vor, um sie zu betrachten.

Die Fotos waren zweifellos Schulporträts. Die Art, für die wir alle als Kinder posiert haben. Die, die Kinder noch immer jedes Jahr mit nach Hause bringen. Die Hintergründe unterschieden sich. Ein Baumstamm versus gerippter, roter Samt. Aber beide Mädchen schauten direkt und mit demselben verlegenen Lächeln in die Kamera.

»Eins muss ich zugeben«, sagte Tinker. »Sie sind derselbe Typ.«

»Derselbe Typ?« Slidell blies Luft durch die Lippen. »Sie sehen aus wie verdammte Klone.«

»Beide Opfer hatten ungefähr die gleiche Größe und das gleiche Gewicht«, sagte Rodas. »Keinen Pony. Keine Brille. Keine Zahnspange, obwohl das, wie ich vermute, in dieser Altersgruppe ziemlich häufig ist.«

Er hatte recht. Jedes Mädchen hatte helle Haut, feine Gesichtszüge und lange, dunkle, in der Mitte gescheitelte und nach hinten gestrichene Haare. Gower hatte sich ihre hinter die Ohren gesteckt.

Ich schaute mir Lizzie Nance an. Das Gesicht, das ich schon Tausende Male studiert hatte. Ich bemerkte die Sprenkelung karamellfarbener Sommersprossen. Die rote Plastikschleife am Ende jedes Zopfes. Den Schalk in ihren großen, grünen Augen.

Und spürte denselben Kummer. Dieselbe Frustration. Aber jetzt mischten sich neue Gefühle darunter.

Ungebeten stiegen mir Bilder in den Kopf. Ein ausgemergelter Körper, eingerollt wie ein Fötus auf einer provisorischen Pritsche. Gelb-orangene Flammen, die an einer Wand hochtanzten. Blutbespritztes Kristall, das Schatten durch ein düsteres Wohnzimmer kreisen ließ.

Mein Blick wanderte an Slidell vorbei in den hinteren Teil des Raums. Das Fenster dort, wusste ich, schaute auf den Parkplatz hinaus. Und auf die Gebäude der Innenstadt. Und auf die Interstate, die sich unter den Stromnetzen des Nordostens hindurchschlängelte. Und die weit entfernte kanadische Grenze. Und eine Sackgasse neben einem verlassenen Bahnhof. Rue de Sébastopol.

Das Geräusch der Stille brachte mich in die Gegenwart zurück.

»Brauchen Sie eine Pause?«

Barrow musterte mich mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Alle taten es.

Ich nickte, stand schnell auf und verließ den Raum.

Als ich den Gang entlangeilte, blitzten noch mehr Bilder auf.

Ein Hundehalsband um einen dürren Hals. Dunkle Flüchtlingsaugen, rund und angsterfüllt in einem leichenblassen Gesicht.

Ich schloss die Toilettentür hinter mir, ging zum Waschbecken und hielt die Hände unter den Hahn. Schaute geistesabwesend zu, wie das Wasser mir über die Hände lief. Eine ganze Minute.

Dann formte ich mit meinen Fingern eine Schale und trank.

Schließlich richtete ich mich auf und blickte in den Spiegel. Eine Frau sah mir entgegen, die Handknöchel so weiß wie das Porzellan, das sie umklammerte.

Ich betrachtete das Gesicht. Weder jung noch alt. Haare aschblond, mit einigen grauen Strähnen. Augen smaragdgrün. Die was zeigten? Kummer? Wut? Katarrh und Fieber?

» Reiß dich zusammen.« Die Lippen des Spiegelbilds formten die Worte. »Mach deine Arbeit. Schnapp dir das Ungeheuer.«

Ich drehte den Hahn zu. Riss Papiertücher aus dem Spender und trocknete mir das Gesicht. Schnäuzte mich.

Dann kehrte ich in den Besprechungsraum der CCU zurück.

»– nur sagen, dass es ungewöhnlich ist, keinen sexuellen Aspekt zu finden.« Tinker klang gereizt.

Ich setzte mich wieder.

»Wer weiß, was für diese Arschlöcher sexuell ist!« Slidell lehnte sich nach hinten und zog eine geballte Faust über die Tischplatte.

»Wenn der Täter eine Frau ist, könnten wir es mit ganz anderen Spielchen zu tun haben.«

»Na ja, unser Spiel ist das auf jeden Fall«, blaffte Slidell. Nach einer Pause: »Gower war 2007.«

»Und?«

Slidell warf Tinker einen vernichtenden Blick zu. »Gower war 2007. Also gibt es eine Lücke von drei Jahren zwischen Vermont und dem, was zuvor in Montreal passiert ist. Dann vergeht wieder ein Jahr, und Nance wird hier verschleppt.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Auf die Zeitschiene, Sie Idiot.« Slidell sprang auf, bevor Tinker eine Entgegnung abfeuern konnte. »Ich bin hier fertig.«

»Lassen wir es für heute Vormittag gut sein«, sagte Barrow, um zu entschärfen, was in Handgreiflichkeiten auszuarten drohte. »Wir kommen wieder zusammen, wenn Detective Slidell und Dr. Brennan sich in die Nance-Akte eingearbeitet haben.«

Barrow und Slidell wechselten Blicke. Dann war Slidell verschwunden.

»Das war’s dann wohl.« Mit einem knappen Kopfschütteln stemmte Tinker sich vom Tisch hoch.

Rodas schaute Tinker nach, bis er verschwunden war, bevor er mit hochgezogener Augenbraue eine unausgesprochene Frage an Barrow richtete. Barrow bedeutete ihm, zu bleiben.

Rodas lehnte sich wieder zurück. Ich mich ebenfalls.

Einige Minuten später kam Slidell mit einer braunen Aktenmappe in der Hand zurück. Am Deckblatt hing ein Schnappschuss.

Slidell plumpste auf den nächsten Stuhl, zog die Büroklammer ab und legte das Foto neben die beiden Schulporträts.

Wieder spürte ich Adrenalin in mir aufsteigen.

Das Mädchen hatte braune Augen und hell-olivfarbene Haut. Seine haselnussbraunen Haare waren in der Mitte gescheitelt und mit Kämmen hochgesteckt. Ich schätzte sein Alter auf elf bis dreizehn.

»Michelle Leal. Wird Shelly genannt«, sagte Slidell. »Dreizehn. Lebt mit ihren Eltern und zwei Geschwistern in Plaza-Midwood. Am letzten Freitagnachmittag hat ihre Mutter sie zu einem Mini-Markt an der Ecke Central und Morningside geschickt. Gegen Viertel nach vier hat sie dort Milch und M&M’s gekauft. Kam nicht mehr nach Hause.«

Ich hatte den Großteil des Wochenendes in einem Medikamentennebel verbracht und war eingedöst, sobald ich den Fernseher einschaltete. Ich erinnerte mich vage an Bruchstücke einer Meldung über ein vermisstes Kind, ein Video über ein Suchteam, das tränenreiche Flehen einer Mutter.

Jetzt sah ich das Gesicht dieses kleinen Mädchens.

»Sie ist nicht wieder aufgetaucht?« Ich schluckte.

»Nein«, sagte Slidell.

»Sie glauben, das hat was mit unseren Fällen zu tun.«

»Schauen Sie sie sich an. Und die Vorgehensweise passt.«

Ich hob den Kopf. Fand Barrows Blick.

»Sie glauben, ich bin das Ziel des Interesses«, sagte ich tonlos.

Barrow versuchte ein beruhigendes Lächeln. Es funktionierte nicht.

»Sie glauben, Pomerleau hat herausgefunden, wo ich lebe, ist hierhergekommen und hat Lizzie Nance umgebracht. Und jetzt Shelly Leal verschleppt.«

»Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen«, sagte Barrow leise.

»Das ist der Grund, warum Sie mich heute Morgen hergebeten haben.«

»Das ist ein Grund.« Barrow hielt inne. »Bei alten Fällen haben wir alle Zeit der Welt. Kein Druck von der Öffentlichkeit, den Medien oder den Jungs der oberen Gehaltsklassen. Bei Shelly Leal wird das nicht so sein.«

Ich nickte.

»Vielleicht ist das Mädchen bereits tot«, sagte Slidell. »Vielleicht auch nicht. Gower wurde acht Tage nach ihrer Entführung gefunden. Wenn Leal noch lebt, könnten wir es mit einem sehr schmalen Zeitfenster zu tun haben.«

Barrow übernahm wieder. »Sie sind mit Pomerleaus Denkweise vertraut, ihrer Vorgehensweise.«

»Ich bin Anthropologin, keine Psychologin.«

Barrow hob beide Hände. »Verstanden. Aber Sie waren dabei. Das ist ein Grund, warum wir Ihre Hilfe brauchen.«

»Und der andere?«

»Ein Detective namens Andrew Ryan war der Ermittlungsleiter im Pomerleau-Fall. Es heißt, Sie kennen den Mann persönlich.«

Hitze stieg mir ins Gesicht. Das hatte ich nicht kommen sehen.

»Wir wollen, dass Sie ihn finden.«

3

»Ich halte mich über Detective Ryans Aufenthaltsort nicht auf dem Laufenden.«

Mein Herz pumpte noch immer Blut in die Wangen. Ich hasste es. Hasste es, dass ich so leicht zu durchschauen war.

Barrow hatte die Angewohnheit, sich häufig zu räuspern. Das tat er auch jetzt.

»Sie haben lange mit Ryan zusammengearbeitet, richtig?«

Ich nickte.

»Wissen Sie, warum er verschwunden ist?«

»Seine Tochter ist gestorben.«

»Plötzlich?«

»Ja.« An einer Überdosis Heroin.

»Alter?«

»Zwanzig.«

»Das würde jeden aus der Bahn werfen.«

Ich schaute auf meine Uhr. Ein reiner Reflex. Ich wusste, wie spät es war.

»Inzwischen sind fast zwei Monate vergangen, und kein Mensch hat eine Ahnung, wohin dieser Ryan verschwunden ist.«

Ich sagte nichts.

»Hat er mit Ihnen je über Lieblingsorte gesprochen? Orte, die er besuchen wollte? Orte, wo er Urlaub machen wollte?«

» Ryan ist kein Urlaubstyp.«

»Dieser Kerl hat einen ziemlichen Ruf.« Rodas grinste. »Nach dem, was dort oben geredet wird, hat er so ziemlich jeden Mordfall seit der Schwarzen Dahlie aufgeklärt.«

»Elizabeth Short wurde in L.A. getötet.«

Jetzt färbte Verlegenheit auch Rodas’ Wangen. Oder etwas anderes.

» Ryan hat den Fall Pomerleau bearbeitet«, sagte Barrow. »Wir könnten seinen Input wirklich gut gebrauchen.«

»Viel Glück«, erwiderte ich in gereiztem Ton. Auf Druck reagiere ich nicht sehr höflich.

»LaManche vermittelte mir den Eindruck, dass Sie und Ryan sich nahestehen.«

Ich konnte meinen Impuls, aufzustehen und zu gehen, gerade noch unterdrücken.

»Tut mir leid. Das kam jetzt falsch heraus.«

Nein, Detective Rodas, das kam schon ganz richtig heraus. Ryan und ich teilen uns mehr als Mordfälle. Wir teilen uns Erinnerungen, Zuneigung. Früher teilten wir sogar das Bett.

»Ich wollte damit nur sagen, LaManche meinte, wenn irgendjemand Ryan finden kann, dann Sie.«

»Ihn aus der Kälte holen?«

»Ja.«

»So was passiert nur in Büchern.«

Originalakten verlassen nie die Einsatzzentrale der CCU. Nachdem ich Slidell, Barrow und Rodas alles erzählt hatte, was ich noch über Anique Pomerleau wusste, machte ich mich daran, den Inhalt des Plastikbehälters zu fotokopieren.

Slidell ging, um einen Anruf entgegenzunehmen. Er kam nicht mehr zurück.

Kurz vor eins klingelte mein Handy. Tim Larabee wollte, dass ich Überreste untersuchte, die man im Kofferraum eines Subaru auf einem Schrottplatz gefunden hatte.

Mein Kopf fühlte sich an wie Blei, meine Kehle wie heißer Kies. Und von den Tonerdämpfen wurde ich schon fast ohnmächtig.

Scheiß drauf.

Ich legte Slidell eine Kopie der Nance-Akte auf den Tisch. Dann holte ich mir einen Karton, packte meine Kopie hinein und ging.

Anstatt zum Institut des Medical Examiners zu fahren, rief ich Larabee an, um mich bei ihm wegen Krankheit zu entschuldigen. Dann steuerte ich meinen Mazda zu einer Enklave überteuerter Residenzen unter Bäumen, die so groß waren, dass das Sommerlaub die Straßen in Tunnels verwandelte. Myers Park. Mein Viertel.

Minuten später bog ich von der Queens Road in eine kreisrunde Auffahrt ein, die zu dem pompösen georgianischen Backsteinpalast führt, der über Sharon Hall thront. Mein Wohnkomplex.

Ich fuhr an der Remise vorbei zu einem winzigen zweistöckigen Bau in einem Winkel des Grundstücks. Der »Annex«, Geburtsdatum und ursprünglicher Zweck unbekannt. Mein Zuhause.

Ich schloss die Tür auf und rief.

»Hey, Bird.«

Keine Katze.

Ich stellte den Karton auf die Anrichte und schaute mich in der Küche um. Die Jalousien waren nach unten gestellt und warfen goldene Streifen auf den Eichenboden.

Der Kühlschrank summte. Ansonsten war es still wie in einer Krypta.

Ich stieß eine Pendeltür auf, durchquerte das Esszimmer und stieg ins Obergeschoss.

Birdie lag zusammengerollt auf meinem Bett. Beim Geräusch meiner Bewegungen hob er den Kopf von den Pfoten. Schaute erschrocken. Vielleicht verärgert. Bei Katzen ist das schwer zu sagen.

Ich warf meine Handtasche auf den Stuhl, dann meine Klamotten. Nachdem ich mir einen Trainingsanzug angezogen hatte, schluckte ich zwei Tabletten zum Abschwellen der Schleimhäute und schlüpfte unter die Decke.

Mit geschlossenen Augen lauschte ich vertrauten Geräuschen und versuchte, nicht an Anique Pomerleau zu denken. Versuchte, nicht an Andrew Ryan zu denken. Das stetige Tropfen des Wasserhahns im Bad. Das leise Kratzen eines Magnolienzweigs am Fliegengitter. Das rhythmische Schnurren der Luft, die an Birdies Stimmbändern vorbeiströmte.

Plötzlich plärrte Journey los. Don’t Stop Believin’ …

Meine Lider sprangen auf.

Das Zimmer lag im Halbdunkel. Ein dünnes, graues Rechteck umriss den Schatten.

Hold on …

Ich drehte mich auf die Seite. Die leuchtend orangenen Ziffern auf dem Wecker zeigten 16 Uhr 45.

Ich stöhnte.

Die Musik hörte abrupt auf. Ich stolperte zu meiner Handtasche, riss mein iPhone heraus und schaute auf die Anruferkennung. Stöhnte noch einmal.

Ich setzte mich auf die Bettkante und drückte Rückruf. Slidell hob sofort ab. Hintergrundgeräusche deuteten darauf hin, dass er in einem Auto saß.

»Ja.«

»Sie haben angerufen.«

»Sagen Sie mir, dass das keine neue Epidemie ist.«

Mein pillenbenebeltes Hirn konnte damit nichts anfangen.

»Erst macht Ryan die Fliege, dann Sie.«

Im Ernst? »Es war mir eine Freude, die Kopien für Sie anzufertigen«, sagte ich.

Slidell machte ein Geräusch, das »Danke« bedeuten sollte.

»Sie sind doch selber auch verschwunden.« Ich riss ein Papiertuch aus dem Spender und hielt es mir an die Nase.

»Musste einer Spur in der Leal-Sache nachgehen.«

»Was für eine Spur?«

»Ein Kerl, der am Freitagnachmittag über die Morningside ging, hat ein Mädchen in ein Fahrzeug einsteigen sehen. Meinte, sie hätte erschrocken ausgesehen.«

»Soll heißen?«

»Soll heißen, dass der Typ den IQ von Linsensuppe hat. Aber die Zeitschiene passt, und die Skizze des Kerls von dem Mädchen kommt ungefähr hin.«

»Hat er das Kennzeichen gesehen?«

»Zwei Ziffern. Was ist denn mit Ihrer Stimme los?«

»Das könnte ein Durchbruch sein.«

»Könnte aber auch sein, dass der Trottel halluziniert.«

»Was ist das zwischen Ihnen und Tinker?«

»Der Kerl ist wie etwas, das in Roswell aus einer Untertasse gekrochen ist.«

Slidells negative Einstellung überraschte mich nicht. Sein Wissen über den angeblichen UFO-Vorfall schon.

»Geht’s nur darum, dass Tinker ein Staatlicher ist?«

»Ist doch alles Blödsinn.«

»Was meinen Sie?«

»Das SBI hat in letzter Zeit von der Presse einiges abbekommen. Und jetzt hat irgendein Arschloch in Raleigh beschlossen, dass die Aufklärung einer Mordserie mit Kindern genau der Kick ist, den sie brauchen.«

Seit 2010 wurde das SBI von einem Skandal um die Abteilung Serologie und Blutflecken seines Forensiklabors erschüttert. Der Generalstaatsanwalt von North Carolina hatte eine Untersuchung in Auftrag gegeben, und die Ergebnisse waren niederschmetternd. Fehlerhafte Laborberichte. Weglassen widersprüchlicher Ergebnisse. Ein Abteilungsleiter, der in Bezug auf seine Ausbildung gelogen, vielleicht einen Meineid geschworen hatte. Haufenweise voreingenommene Ermittlungen.

Verteidiger führten im ganzen Staat Freudentänze auf.

Berufungen wurden eingelegt. Verurteilungen wurden aufgehoben. Die folgende Lawine von Schadenersatzprozessen würde North Carolina Millionen kosten.

Die Medien drehten durch.

Am Ende rollten dann Köpfe, auch der des Labordirektors. Der Gesetzgeber erließ eine Reihe von Reformen. Verfahren und Strategien wurden aufgemöbelt. Der Zulassungsprozess wurde geändert.

Das SBI kämpfte noch immer darum, seine Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.

Hatte Slidell recht? Drängte sich das Bureau in unsere Ermittlungen, weil es sein Image aufpolieren wollte?

»Sie glauben, Tinker wurde nur aus politischen Gründen in unsere Besprechung heute Vormittag geschickt?«

»Nee. Er mag die Gürkchen, die es unten in der Cafeteria gibt.«

»Nance ist seit Jahren kalt. Ist es für das SBI denn nicht riskant, auf einer Beteiligung an einem so alten, ungelösten Fall zu bestehen?«

»Wenn die Öffentlichkeit eine Aufklärung kriegt, sind sie Helden. Wenn nicht, dann sind wir die Trottel, die es verbockt haben.«

Ich musste zugeben, das klang einleuchtend.

»Input vom SBI muss nicht unbedingt was Schlechtes sein. Vielleicht kann Tinker uns ja helfen. Sie wissen schon, einen anderen Blickwinkel einbringen.«

»Das Arschloch sitzt mir schon jetzt im Nacken.«

»Soll heißen?«

»Soll heißen, ich stehe ganz oben auf seiner Kurzwahlliste.«

»Vielleicht hat er Ihnen ja was Zweckdienliches zu sagen.«

»Er will sich nur in meinen Fall einschleimen.«

Da ich spürte, dass eine weitere Diskussion über Tinker unproduktiv sein würde, wechselte ich das Thema.

»Was halten Sie von Rodas?«

»Was soll die Jagdmütze? Nirgendwo ist Bärensaison.«

»Genau genommen schon. In einigen Countys.«

»Der Kerl scheint ganz okay zu sein.«

»Sein Vorname ist Umpie.«

»Im Ernst?«

»Im Ernst.«

»Vielleicht muss ich meine Meinung ja überdenken. Hören Sie, während ich hier mit Leal beschäftigt bin, wie wär’s, wenn Sie sich Nance noch mal vornehmen? Vielleicht springt Sie ja irgendwas an.«

»Klar.« Ich schloss einen Moment die Augen. Knüllte das Taschentuch neu zusammen. »Glauben Sie, dass Sie sie lebend finden?«

»Ich muss wieder auf die Straße.«

Dreimal Piepen, dann tote Leitung.

Birdie war in der Küche und starrte seine Schüssel an. Ich füllte sie ihm.

Kein Appetit, aber ich zwang mich zu essen. Toast mit Thunfisch. Was für ein Gourmetmahl.

Danach ging ich mit der Nance-Akte ins Esszimmer und breitete die Ordner auf dem Tisch aus. Ich fing mit der Fallzusammenfassung an, die ich bereits durchgeblättert hatte.

Die Erkältungsmedikamente rauschten noch immer durch meinen Körper. Und das neuerliche Hervorkramen des Grauens am Vormittag hatte mein Nervenkostüm durchgeschüttelt. Anstelle von Lizzie Nance sah ich das alte Haus an der Rue de Sébastopol. Den feuchten Keller, in dem Pomerleau und Catts ihre Opfer eingesperrt hatten.

Der Fall hatte sehr still angefangen. Das ist oft so. Ein Pizzaservice. Undichte Rohre. Eine längst vergessene Treppe.

Wer weiß, warum der Klempner sich in den Kellner hinuntergewagt hatte. Wie er den Oberschenkelknochen entdeckt hatte, der aus der Erde herausragte.

Der Eigentümer hatte die Polizei gerufen. Die Polizei hatte mich gerufen.

Ich grub drei partielle Skelette aus, eines in einer Kiste, zwei nackt in flachen Gräbern verscharrt. Ich brachte sie zur Analyse in mein Institut.

Junge Mädchen.

Ein Verbrechen. Daran dachte zunächst niemand. Die Knochen waren vermutlich uralt, wie das rattenverseuchte Gebäude, unter dem sie gelegen hatten.

Radioaktive Isotope widerlegten diese Theorie.

Auch diesen Fall hatte Ryan bearbeitet. Und ein Stadtpolizist namens Luc Claudel.

Letztendlich erfuhren wir die Namen der Toten. Und die Namen ihrer Mörder.

Aber es blieben Fragen offen.

Die Knochen lieferten keinen Hinweis zur Todesursache. Waren die Mädchen verhungert? An Misshandlungen gestorben? Weil sie nicht mehr den Willen gehabt hatten, noch einen weiteren Tag in der Hölle zu verbringen?

Aus einem Tagebucheintrag erfuhren wir von einer Gefangenen. Ihre Überreste fanden wir nie. Kimberly Harris. Hamilton. Hawking. Wo war diese junge Frau, an deren Namen ich mich nicht erinnern konnte? Lag sie irgendwo in einem unmarkierten Grab? Andere vielleicht auch noch?

Ein Opfer hatte überlebt, und seit der Zeit dachte ich immer wieder einmal an sie. Und fragte mich: Ist nach Jahren der Isolation und der Folter eine völlige Genesung möglich? Nachdem einem eine Wahnsinnige die Kindheit gestohlen hat?

Auch Andrew Ryan drängte sich in meine Gedanken. Noch mehr Bilderfetzen.

Ryans Gesicht, aus der Dunkelheit herausgemeißelt vom sanften, gelben Licht über meiner Türschwelle.

Ryans Tränen, als er über Lilys Tod sprach. Seine Verlegenheit, weil er sie vergossen hatte.

Ryans Rücken, der langsam mit der Nacht verschmolz.

Ryan informierte seine Vorgesetzten nicht, nahm keinen Urlaub. Er sagte niemandem, wohin er wollte oder wann er zurückkehren würde. Falls er zurückkehren würde.

Dazu zählte auch ich.

Ich hatte den Schmerz betäubt, indem ich Ryan aus meinen Gedanken verbannte.

Als ich mich jetzt zu konzentrieren versuchte, stürzte alles wieder auf mich ein.

Ermordete Kinder in Montreal. Ermordete Kinder in Vermont, möglicherweise in Charlotte. Das Undenkbare. Die entsetzliche Möglichkeit, dass Anique Pomerleau wieder aktiv war.

Der Druck, einen Mann zu finden, den zu vergessen ich mich gezwungen hatte.

Ihn zu überreden, in eine Welt zurückzukehren, der er den Rücken gekehrt hatte.

Und Fieberwellen, die mich überrollten.

Um neun gab ich auf.

Nach einer dampfend heißen Dusche schluckte ich noch zwei Tabletten und fiel wieder ins Bett.

Es waren nur Augenblicke vergangen, als das Festnetztelefon läutete.

Die Stimme traf mein erschöpftes, medikamentenverstopftes Hirn völlig unvorbereitet.

4

Ich liebe die Berge der Carolinas. Ich liebe es, die schmalen Straßen entlangzufahren, die sich wie schwarze Bänder zwischen den buckligen Riesen hindurchschlängeln.

Die Schönheit dieses Morgens ging völlig an mir vorbei. Ich hatte nicht die Zeit. Und war nicht in der Verfassung für einen Ausflug in die Blue Ridge Mountains.

Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 7 Uhr 44. Ich war seit zwei Stunden wach, seit neunzig Minuten auf der Straße.

Überraschenderweise fühlte ich mich gut. Oder wenigstens besser. Ein Hoch auf die Chemie.

Kurz vor Marion verließ ich den Highway 229 nach Osten. Die Sonne schwebte über dem Horizont, ein gelb-orangener Ball, der mir nach jeder Kurve aufs Neue zublinzelte. Lange, schräge Strahlen erleuchteten den Dunst, der noch in den Senken zwischen den Bergrücken hing.

Ich kam an einer Wiese vorbei, auf der eine schokoladenbraune Stute dicht neben ihrem Fohlen graste. Beide hoben, nur leicht überrascht, den Kopf und stellten die Ohren auf, grasten dann weiter.

Nach wenigen Minuten lugte ein Schild aus dem Laubwerk rechts von mir. Schmiedeeiserne Schrift kündigte diskret die Einfahrt zur Heatherhill Farm an. Wenn du nicht weißt, dass wir hier sind, fahr einfach weiter.

Ich bog auf einen unmarkierten Asphaltstreifen ein, der schnurgerade zwischen riesigen Azaleen und Rhododendren hindurchführte. Als ich das Fenster herunterließ, aromatisierte eine frühmorgendliche Mischung den Innenraum. Nadelhölzer, nasses Laub, feuchte Erde.

Bald kam ich an Gebäuden vorbei, manche klein, andere groß, doch alle sahen aus wie eine Filmkulisse aus den 1940ern. Efeuumwucherte Kamine, lange Veranden, weiße Außenverkleidung, schwarze Fensterläden.

Ich wusste, dass die sechzehn Hektar von Heatherhill viele Gebäude beherbergten. Ein Behandlungszentrum für chronische Schmerzen. Ein Fitness-Studio. Eine Bibliothek. Einen Computerraum. Annehmlichkeiten für die Wohlhabenden mit Problemen.

Ich kannte das alles nur zu gut.

Hinter dem vierstöckigen Hauptkrankenhaus bog ich auf eine Nebenstraße ein, fuhr an niedrigen Gebäuden vorbei, in denen die Verwaltung und die Aufnahme untergebracht waren, und bog dann noch einmal links ab. Die winzige Gasse endete fünfzig Meter weiter in einem von einem weißen Lattenzaun begrenzten Kiesrechteck.

Ich parkte, schnappte mir Jacke und Handtasche und stieg aus.

Hinter einem Tor im Zaun führte ein Plattenweg zu einem kleinen Bungalow. Auf dem Schild über der Tür stand River House. Ich atmete einmal tief durch und ging dann darauf zu.

Innen sah das River House wie ein x-beliebiges Berg-Cottage aus. Ideal für jemanden, der Reproduktionen von Antiquitäten liebte und jede Menge Kohle hatte.

Der Fußboden bestand aus breiten Holzdielen und war belegt mit Oushaks und Sarouks, die mehr kosteten als mein Haus. Die Polstermöbel waren in Tönen gehalten, die Raumgestalter wahrscheinlich Pilz und Moos nannten. Die Holzelemente waren auf alt getrimmt.

Ich durchquerte den Salon, vorbei an Gasfeuern, die in steinernen Kaminen züngelten, und verließ das Haus durch die Glasdoppeltür an der Rückseite. Auf der Terrasse standen ein Teakholztisch und dazu passende Stühle, mehrere Pflanzgefäße mit Stiefmütterchen und Ringelblumen sowie vier Chaiselongues mit leuchtend melonenroter Polsterung.

Die entfernteste dieser Liegen war einige Meter von den anderen weggerückt und umgedreht worden. Darauf lag eine Frau mit kurz geschnittenen, weißen Haaren. Vor ihr auf dem Geländer der Veranda stand ein dicker Keramikbecher.

Die Frau trug eine Kakihose und einen irischen Pullover, der ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. An den Füßen hatte sie Ballerinas, deren lederne Spitzen perfekt zur Farbe ihrer Hose passten.

Ich beobachtete sie einen Augenblick. Die Frau saß reglos da, die Hände im Schoß verschränkt, den Blick auf den Wald gerichtet, der noch im morgendlichen Schatten lag.

Als ich mich näherte, hallten meine Schritte laut in der Stille.

Die Frau drehte sich nicht um.

»Tut mir leid, dass ich es gestern Abend nicht mehr geschafft habe.« Fröhlich wie bei einem Kindergeburtstag.

Keine Reaktion.

Ich zog mir eine Liege heran und stellte sie parallel zu ihrer. Setzte mich seitlich darauf, sodass ich die Frau anschauen konnte.

»Deine neue Frisur gefällt mir.«

Nichts.

»Die Fahrt war gut. Hab’s unter zwei Stunden geschafft.«

Meine Anwesenheit wurde auch weiter nicht gewürdigt.

»Gestern Abend hast du sehr aufgeregt geklungen. Geht’s dir wieder besser?«

Auf dem Geländer landete ein Vogel. Eine Spechtmeise, vielleicht ein Seidenschwanz.

»Bist du sauer auf mich?«

Der Vogel legte den Kopf schief und betrachtete mich mit einem glänzenden, schwarzen Auge. Die Frau überkreuzte ihre Fußgelenke. Der Vogel erschrak und flog davon.

»Ich hatte vor, zu Thanksgiving zu kommen.« Noch immer an ihr Profil gerichtet. »Das ist nächsten Donnerstag.«

»Das ist mir klar. Ich bin doch keine Idiotin.«

»Natürlich nicht.«

Eine Fliege landete auf dem Becher. Ich sah zu, wie sie vorsichtig den Rand entlangkrabbelte, mit Fühlern und Vorderbeinen das Material erspürte. Tastend. Unsicher, was sie erwartete. Ich hatte totales Mitgefühl mit ihr.

»Hast du gewusst, dass der Carrantuohill der höchste Berg Irlands ist?« Die Frau löste die Hände voneinander und legte sie auf die Armlehnen. Die Haut zeigte Altersflecken, die Nägel waren perfekte, mit Dusty Rose lackierte Ovale.

»Nein.«

»Er liegt im County Kerry. Tausendfünfzig Meter über dem Meeresspiegel. Nicht gerade das, was ich mir unter einem Berg vorstelle.«

Ich streckte die Hand aus und legte sie auf die ihre. Ihre Knochen fühlten sich zerbrechlich an.

»Wie geht’s dir?«, fragte ich.

Eine wollbestrickte Schulter hob sich unmerklich.

»Du hast gesagt, du möchtest mir was mitteilen.«

Die freie Hand der Frau hob sich, zögerte, als wisse sie nicht ganz genau, warum sie es getan hatte. Senkte sich wieder.

»Geht’s dir nicht gut?«

Wieder die Schulter.

»Mama?«

Ein tiefes Seufzen.

Es heißt, die Tochter wird zu einer Variation der Mutter. Eine andere Lesart eines alten Textes. Die Neuinterpretation eines bestehenden Charakters.

Ich betrachtete das Gesicht, das mit Cremes und Straffungen und Injektionen so sorgsam konserviert wurde. Mit breitkrempigen Hüten im Sommer und Kaschmirschals im Winter.

Das Fleisch war schlaffer, die Falten tiefer, und die Lider hingen ein wenig. Ansonsten war es das Spiegelbild, das ich in der Toilette im LEC gesehen hatte. Die grünen Augen, das entschlossene Kinn.

Ich weiß, dass ich meiner Mutter äußerlich sehr ähnlich bin. Aber ich habe immer geglaubt, dass die Ähnlichkeit da endet. Dass ich eine Ausnahme bin. Eine Ausnahme zur Regel.

Ich bin nicht meine Mutter. Ich werde es nie sein.

Ärzte, Psychiater, Psychologen. So viele Diagnosen. Bipolar. Schizoaffektiv. Schizo-bipolar. Suchen Sie sich was aus.

Lithium, Carbamazepin, Lamotrigin, Diazepam, Lorazepam.

Kein Medikament wirkte je lange. Keine Behandlung griff. Wochenlang konnte meine Mutter der herzliche, vitale Mensch sein, den ich liebte, eine Frau, die Sonnenschein in jeden Raum brachte, den sie betrat. Glücklich, lustig, klug. Doch dann griffen die Dämonen wieder nach ihr.

Kurz gesagt: Meine Mutter hat einen kapitalen Vogel.

Wenn in meiner Kindheit sich die Schwärze über meine Mutter senkte, packte sie ihre Louis-Vuitton-Koffer, küsste Harry und mich und verschwand in dem alten Buick mit Daddy am Steuer. Später mit Oma.

Aber für Daisy Brennan, geborene Katherine Daessee Lee, gab es keine öffentlichen Krankenhäuser. Im Lauf der Jahre besuchte Mama Dutzende privater Einrichtungen, jede mit einem Namen, der Heilung im Schoß der Natur versprach. Silver Birch, Whispering Oaks, Sunny Valley.

Doch Mama ging nie ein zweites Mal hin. Immer passte irgendetwas nicht. Das Essen, das Zimmer, die Aufmerksamkeit des Personals.

Bis auf Heatherhill. Hier stimmte die Speisekarte, und sie hatte ihr eigenes Zimmer mit Bad. Und nach so vielen Besuchen durfte sie nun bleiben, solange sie wollte. Solange der Familienfonds der Lees blechte.

Mama sprach, ohne mich anzuschauen, mit einer Stimme so sanft und honigsüß wie Charleston im August.

»In diesem anderen Zimmer werde ich sehen können.«

Das Zitat jagte mir einen Schauer über den Rücken.

»Helen Keller.« Mama liebte Kellers Geschichte, erzählte sie oft, als Harry und ich noch Kinder waren.

Mama nickte.

»Sie sprach vom Tod.«

»Ich bin alt, mein Liebling. Das passiert uns allen.«

War das eine List? Ein neuer Trick, um meine Aufmerksamkeit zu erschleichen? Eine Wahnvorstellung?

»Schau mich an, Mama«, sagte ich strenger, als ich beabsichtigt hatte.

Zum ersten Mal drehte sie mir nun das Gesicht zu. Ihr Ausdruck war heiter und gelassen, ihr Blick klar und gefasst. Die Sonnenschein-Mama.

Wäre ich noch jünger gewesen, hätte ich versucht, eine Erklärung aus ihr herauszuquetschen. Inzwischen war ich schlauer.

»Ich werde mit Dr. Finch sprechen.«

»Das ist eine ausgezeichnete Idee.« Die manikürte Hand löste sich aus meiner und strich mir übers Knie. »Es bringt doch nichts, die wenige Zeit zu vertun, die wir noch miteinander haben.«

Hinter uns ging die Glastür auf. Und wieder zu.

»Wie geht’s dir, mein Liebling? Was beschäftigt dich zurzeit?«

»Nichts Besonderes.« Ermordete Kinder. Eine perverse Mörderin, von der ich gehofft hatte, nie mehr mit ihr zu tun zu haben.

»Triffst du dich immer noch mit diesem jungen Mann?«

Das brachte mich aus der Fassung.

»Was für ein junger Mann?«

»Dein frankokanadischer Detective. Seid ihr beiden immer noch ein Thema?«