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Eva Nyman jagt einen Killer, der Rache zur Kunst erhebt Als die Herbstsonne über Stockholm aufgeht, bietet sich Eva Nyman und ihrem Team ein seltsamer Anblick: Auf dem Skinnarviksberg thront eine kreideweiße Statue, die strafend auf sie herabblickt – eine Nachbildung der verschollenen Zeusstatue aus Olympia. Im Inneren finden sie die Leiche eines qualvoll erstickten Mannes, in seinem Mund die unheilvolle Botschaft: »Du weißt, was du getan hast.« Bald ereignet sich ein zweiter, dann ein dritter Mord, und wieder inszeniert der Täter sie als Weltwunder der Antike. Die Spuren führen in die Drogenszene, wo der illegale Handel mit Fentanyl seit Jahrzehnten unschuldige Opfer fordert. Kann Eva Nyman den Mörder stoppen, bevor er seine grausame Serie vollendet? Denn es gibt bekanntlich sieben Weltwunder …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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((bei fremdsprachigem Autor:))
Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
© Autor Jahr
Titel der schwedischen Originalausgabe: »Underverken«, Albert Bonniers Förlag, Stockholm 2025
((immer))
© Piper Verlag GmbH, München 2025
Covergestaltung: zero-media.net, München
Coverabbildung: Joanna Jankowska/Trevillion Images und Sofija Cernova/Moment RF/Getty Images
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Cover & Impressum
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EPILOG
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Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Als er aufwacht, spürt er, dass jemand auf diesen Moment gewartet hat. Aber er kann nichts sehen, nimmt nur die Nähe eines anderen wie eine Wolke immer stärker werdender Emotionen wahr. Sie packen ihn von hinten.
Da erst begreift er, dass er sich nicht bewegen kann.
Er will den Kopf drehen, um diesen Jemand leibhaftig vor sich zu sehen. Doch das ist unmöglich, sein Kopf steckt fest wie in einer Schraubzwinge. Als ihm bewusst wird, dass sein gesamter Körper fixiert ist, müsste er eigentlich in Panik geraten. Als würde jemand seine schlimmsten Albträume kennen, die Angst, sich nicht mehr bewegen zu können.
Gefangen zu sein.
Aber das tut er nicht. Nicht wirklich. Die Panik findet keinen Halt, obwohl seine Beine, seine Arme, seine Hände und sein Rumpf sich nicht bewegen lassen.
Vor allem weiß er nicht, was ihn fixiert.
Seltsam, dass er keinen Schmerz spürt. Stattdessen fühlt es sich an, als seien seine Hände und besonders die Finger betäubt. Medizinisch betäubt.
Er kann frei atmen, doch er ist nicht der Einzige im Raum, der atmet. Er spürt den Atem seines Mörders im Nacken.
Ein feuchter, lautloser Atem.
Seit jeher hat er am Rand der Gesellschaft gearbeitet. Hat sich oft vorgestellt, wie und wo er sein Leben aushauchen würde. Fast täglich hat er sich seinen eigenen Tod vorgestellt. Und hat in jeder Version ein genaues Bild seines Henkers vor sich gesehen.
Jetzt nicht.
Jetzt hat er nur Fragen, keine Antworten.
Wenigstens seine Augen kann er frei bewegen. Er gewöhnt sich langsam an die Dunkelheit und sieht einen riesigen Raum, vermüllt, undefinierbar, vielleicht ein Gewerberaum. Zwischen feuchten Kartons stehen Bierdosen, die so alt sind, dass sie schon rosten. Daneben Schnapsflaschen, deren Etiketten vor langer Zeit eins geworden sind mit dem Boden. Benutzte Kanülen liegen unverhohlen neben aufgeschlagenen Büchern, vielleicht Bibeln, dahinter Bündel alter Kleidung mit Stockflecken. Verrostete und neuere Spraydosen erklären, warum manche der Graffiti-Tags an den Wänden verblasst und andere leuchtend bunt sind, wie Jahresringe eines Baumes.
Aber es finden sich auch Dinge, die nicht schon seit Jahren dort liegen können. Er sieht glänzende Stahlschienen, die zu geometrischen Formen gebogen wurden, spitz zulaufend wie Pyramiden, dahinter mehrere Meter lange, aufeinandergestapelte Rechtecke aus Pappe. Und dort, weiter hinten im Raum, an den ölverschmierten Wänden, ist auch etwas.
Dort hängen Papierbögen, die wahrscheinlich mit Nägeln befestigt sind. Was sich auf den Bögen befindet, könnte man wohl als Kunst bezeichnen. Doch es ist immer noch ziemlich dunkel, er kann es nicht genau erkennen.
Und trotzdem kommt es ihm überraschend bekannt vor.
Wahrscheinlich ist es nur Einbildung, aber ihm kommt auch der Atem bekannt vor, den er im Nacken spürt, als würden die Lippen seines Peinigers seine Haut berühren.
Diesen Atem kennt er.
Als er sich windet, wird alles schwarz. Tiefe Schwärze statt eines Gesichts. Dann ein paar Augen, sonst nichts.
Kurz bevor sich sein Sichtfeld ganz verdunkelt, gelingt es ihm, die Bilder an den Wänden genauer anzusehen. Zu seiner Überraschung weiß er, was dort abgebildet ist.
Die sieben Weltwunder der Antike.
Mit einem Schlag versteht er alles. Und doch nichts.
Dann wird ihm etwas in die Nase gesprüht, und die Welt gerät ins Wanken, es riecht nach versengtem Haar, nach Feuer, lachende Teufel streichen über seinen verbrannten Körper. Ihm wird etwas in den Mund geschoben, unter die Oberlippe.
Etwas Durchsichtiges wird ihm über den Kopf gestülpt, zehn oder zwanzig Zentimeter vor seinen Augen.
Dann hört er ein sonderbares, schlürfendes Geräusch.
Es wäre eine Wohltat, eine Erlösung, wenn alles um ihn herum schwarz werden würde.
Als in der Nacht vom dreizehnten September ein beinahe biblischer Hagelsturm die Umgebung verwüstete, suchte er keinen sicheren Unterstand. Im Gegenteil, er ging nach draußen. Er hob den Kopf in den dunklen Himmel und hielt sein Gesicht den erbsengroßen Hagelkörnern entgegen. Es war wie ein Gruß aus einer anderen Zeit.
Jetzt fängt sich das Licht der Morgendämmerung in den Ästen, die sich über die glatte Wasseroberfläche der Bucht strecken. Bevor er durch sein Präzisionsfernglas schaut, schnuppert er und meint für den Bruchteil einer Sekunde, Kastanien zu riechen. Durch das Fernglas erspäht er am Himmel einen Vogelzug.
Nichts als pure, nackte Natur.
Bis der Schwarm etwas überfliegt, das nicht in die unberührte Natur gehört. Es dauert einen Moment, bis er es erkennt: eine Brücke, und nicht irgendeine. Es ist die Västerbron, die zwei der größten Inseln von Stockholm miteinander verbindet, Kungsholmen und Södermalm. Von seinem Aussichtspunkt auf Ersterer verfolgt Lukas Frisell, wie der Schwarm über die zweite hinwegzieht.
Die Vögel streifen die grüne Insel Långholmen, und als sie Södermalm erreichen, bemerkt Frisell eine Menschenansammlung auf dem Skinnarviksberget, obwohl es noch nicht einmal sechs Uhr ist. Aber die Menschen interessieren ihn nicht besonders. Deshalb folgt er mit seinem Fernglas dem Vogelzug, bis dieser weiter östlich über das kleine Binnengewässer zieht und verschwindet.
Viel länger wird er nicht dort am Ufer liegen können, er spürt schon die misstrauischen Blicke der morgendlichen Spaziergänger auf der Promenade am Norr Mälarstrand, nur wenige Meter hinter ihm.
Lukas Frisell hätte durchaus die Mittel, um sich etwas anderes zu suchen als die Wohnung neben dem Präsidium, die ihm die Stockholmer Polizei zur Verfügung gestellt hat. Aber als er nach acht Jahren ohne Einkommen seinen ersten Lohn erhielt, war seine erste Anschaffung ein professionelles Fernglas. Bis heute hat er sich nicht an den Gedanken gewöhnen können, dass Geld das Maß aller Dinge ist.
Er kommt aus einer anderen Zeit.
Einer anderen Welt.
Heute ist sein freier Tag, und er beschließt, sich nicht durch merkwürdige Blicke davon abhalten zu lassen, die letzten Zugvögel zu beobachten.
Drosseln, Finken, Enten und Raubvögel ziehen im September. Gerade über der Västerbron waren es Enten gewesen, jetzt hofft Frisell auf ein paar richtige Raubvögel, die sich auf den Weg nach Westafrika machen. Am liebsten Fischadler. Oder zumindest ein paar von den etwas selteneren Vogelarten wie Blaukehlchen oder Neuntöter.
Sein Fernglas ist in den langsam heller werdenden Himmel über der Västerbron gerichtet. Bisher ist nichts in Sicht.
Aber dann, auf einmal wird der Himmel fleckig, ein schwarzer Punkt nach dem anderen taucht auf wie aus dem Nichts. Frisell gelingt es, die Punkte direkt über der Brücke als Singdrosseln zu identifizieren, und als sie über Långholmen gezogen sind, verweilt er mit seinem Fernglas bei der Menschenmenge auf dem Berg am Söder Mälarstrand. Sie ist größer geworden.
Die Menschen, die dort auf dem felsigen, kargen Skinnarviksberget stehen, starren auf etwas. Zunächst kann er nicht erkennen, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht, doch es scheint weiß zu sein, beinahe phosphoreszierend.
Frisell zoomt näher heran. Will sehen, um was sie sich scharen. Er justiert sein Fernglas, und Millimeter um Millimeter verliert das Objekt seine Unschärfe. Langsam taucht eine Skulptur vor ihm auf, die dort zuvor nicht gestanden hat.
Sie ist in der Tat kalkweiß und kunstvoll gestaltet. Frisell meint, einen antiken griechischen Gott zu erkennen, der auf einem mächtigen Thron sitzt.
Schwer zu sagen, ob dieser Gott die zögerlich erwachende Stadt segnet oder verdammt.
Die Dämmerung bricht schnell herein. Annika Stolt alias Ankan ertappt sich bei dem Gedanken, dass dies die traurigsten Tage im Jahr sind. Der Duft des Sommers hängt noch in der Luft, während die Düsternis und Kälte schon hinter der nächsten Ecke lauern. Aufreizend zeigen sie sich hier und da, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass sich auch in diesem Jahr nichts ändern wird. Sie werden wie so oft ihre unbarmherzigen Klauen in die arme Bevölkerung des Nordens schlagen und sie ein halbes Jahr lang in ihren Fängen halten.
Der Schauer der Wehmut weicht der wesentlich konkreteren Sorge um ihren verschwundenen Kollegen Anton Lindberg. Vor vier Monaten hat er sich in Luft aufgelöst. Hatte zuvor eine kriminelle Organisation provoziert, die Hjulsta-Gang, und Ankan kann sich nicht von ihrer Theorie verabschieden, dass die Anführer dieser Gang ihn entführt haben. Entführt oder getötet. Das Fehlen von Spuren ist schon Hinweis genug. Doch bis jetzt ist Ankan keinen Schritt weitergekommen. Warum sollten sie ihn entführen? Was hätten sie davon? Diese Fragen lassen sie einfach nicht los.
Sie besitzt kein eigenes Auto, leiht sich aber manchmal einen Dienstwagen über Nacht. Vor allem wenn sie ein Date außerhalb der Stadt hat. Da sie bei der Polizei arbeitet, kann das durchaus zu kleineren Komplikationen führen. So zum Beispiel, wenn plötzlich und ohne Vorwarnung der Polizeifunk losbrüllt und sie zusammenzucken lässt.
Es ist Abend, kurz nach halb acht, als sie mit dem Zivilfahrzeug von einem mäßigen Date in Häggvik aufbricht. Obwohl, war es wirklich mäßig …? Eigentlich nicht, der Feuerwehrmann hatte selbst gemachte Schmalzwurst und genau die etwas robustere Art von Sex im Angebot, die sie bevorzugt. Und trotzdem ist die Liste, die aus einem gesellschaftlichen Zwang heraus in ihr entstanden ist, mal wieder länger geworden – eine schonungslose Liste weiblicher Forderungen. Nur was, wenn ihr dieser Lebensstil in Wahrheit gut gefällt? Ihre größte Angst ist, dass sich Muster entwickeln, eine Art Abhängigkeit. Safety in numbers?
Aber warum sollte sie Angst haben? Sie ist schließlich eine erwachsene Frau, ein freies Individuum und kann das Leben führen, das sie führen will. Zumindest in einer funktionierenden Demokratie.
In dieser Sekunde wird Ankans innerer Pep Talk durch lautes Gebrüll unterbrochen. Irgendein Idiot hat den Polizeifunk auf voller Lautstärke laufen lassen. Sie schnappt Begriffe auf wie »Verfolgung«, »Verkehrsunfall«, »Umleitung« und »Kallhäll«.
Kallhäll, denkt sie, während sie es zeitgleich auf einem Straßenschild liest. Sie reißt das Steuer herum, verlässt bei der Ausfahrt Tureberg die E4 und fährt kurz darauf bei Barkarby auf die E18. Dort bilden sich schon erste Staus. Ankan sieht, wie das Blaulicht auf der anderen Seite von Barkarbys riesigem Einkaufszentrum durch die Dämmerung dringt. Sie befestigt ihres auf dem Dach und bahnt sich im Zickzack einen Weg durch den dichten Verkehr.
Auf Höhe der Anschlussstelle Kallhäll haben die Kollegen bereits die orange blinkenden Umleitungsschilder aufgestellt, die Autobahn selbst ist gesperrt. Ein armer Rookie steht verloren mitten auf der Fahrbahn und kümmert sich unter Einsatz seines Lebens um die Absperrung.
Er sieht Ankans Blaulicht und lässt sie durch. Der Anblick erinnert sie an ihre Zeit als blutige Anfängerin, und sie winkt ihm mitleidig zu. Sein kreidebleiches Gesicht versetzt sie sofort in Alarmbereitschaft.
Was sie auf dem gesperrten Streckenabschnitt erwartet, verlangt ihr alles ab.
Sie findet ein Blutbad vor.
Sie hat schon viele Verkehrsunfälle erleben müssen, die steckt man nicht so einfach weg. Aber das hier ist etwas anderes. Ein Polizist in Uniform watet durch gigantische Blutlachen.
Ankan steigt aus, um sich den ersten Unfallwagen genauer anzusehen. Es ist ein Mercedes E-Klasse, ein jüngeres Modell, das wohl einmal schwarz gewesen ist. Jetzt aber sieht Ankan auf den Trümmern des vollkommen zerstörten Luxusautos nur Nuancen von Rot. Träge Tropfen bahnen sich ihren Weg über die ramponierte Karosserie auf die rötlich glitzernde Fahrbahn. Der süßliche Geruch von Eisen überwältigt sie und dreht ihr den Magen um.
Im Wagen sitzt niemand mehr, obwohl diese Menge von Blut von mindestens einem Dutzend Körpern stammen muss. Unbemerkt geht Ankan zum nächsten Fahrzeug, es ist ein Lieferwagen. Sein Heck ist zertrümmert und ebenfalls in Blut getränkt.
Im Licht der Dämmerung wirkt die Szene grotesk und surreal. Wie aus einen psychedelischen Horrorstreifen.
Auf der Seitentür entdeckt Ankan ein Logo. Sie wischt mit einem Taschentuch über den Schriftzug und liest: »Bluttransport«.
»Tja«, sagt eine männliche Stimme hinter ihr. »Mit einem Bluttransporter zu kollidieren hat eben Konsequenzen.«
Sie erkennt die Stimme und dreht sich um. Auf der linken Fahrbahn stehen ein Notarztwagen mit eingeschaltetem Blaulicht und eine Zivilstreife mit ausgeschaltetem. Im Inneren des Streifenwagens macht sie ein paar blau blinkende Gestalten aus. Dann plötzlich steht ein Mann aus ihrer jüngeren Vergangenheit vor ihr.
»Rahim?«, ruft sie.
Kriminalkommissar Rahim Abdulhamid nickt langsam. Sein Gesicht wirkt starr, ganz anders als noch vor vier Monaten, als sein sehniger Körper ihr in lauen Frühsommernächten Trost gespendet hatte angesichts der nicht enden wollenden Bombenanschläge im Land.
Er zeigt auf den Lieferwagen.
»Der hatte Hunderte Liter Blut geladen. Der Fahrer war blutüberströmt, hat aber keine schweren Verletzungen.«
»Und für die Verfolgung des Mercedes seid ihr verantwortlich?«
»Richtig, der ist dann direkt mit dem Bluttransporter kollidiert«, sagt Rahim nickend. »Ich bin jetzt bei den Drogen. Wir haben ein paar Typen aus Järva im Visier gehabt und observiert. Die sind durch die Hintertür einer Garage geflohen, wir haben sie eingeholt und auf die Autobahn gedrängt. Diese Typen fahren verdammt schlecht, vor allem mit so viel Stoff im Tank. Einem von ihnen geht es richtig übel, er wurde schon ins Krankenhaus gebracht – wahrscheinlich schafft er es nicht. Und da wird gerade der andere geschlagene Held abtransportiert, um mit deinen und meinen, aber bestimmt nicht seinen Steuergeldern behandelt zu werden.«
Während sie dem Notarztwagen hinterhersehen, der an der Absperrung vorbeifährt, steigen zwei Personen aus der Zivilstreife, ein dunkelhaariger Mann mit schiefer Nase und eine schlecht blondierte Frau, beide in ihren Vierzigern, beide gleichermaßen gezeichnet vom Zahn der Zeit und den Schattenseiten ihres Berufs.
»Das hier sind Rainer und Maria«, stellt Rahim sie vor. »Ein routiniertes Paar, das alle Rilke nennen. Wir drei sind eine kleine Spezialeinheit im Dezernat. Und das hier ist Ankan vom NOVA-Team.«
Rainer und Maria nicken ihr respektvoll zu. Seit dem Fall, der NOVA auf die Landkarte der Stockholmer Polizei gesetzt hat, wird ihr diese Achtung wenigstens aus den Reihen der Kollegen entgegengebracht.
Ankan erwidert den Gruß und wendet sich dann wieder Rahim zu: »Was meintest du mit ›so viel Stoff im Tank‹?«
Rahim und Rilke tauschen Blicke aus, ein zustimmendes Nicken.
»Komm mal mit«, sagt Rahim und geht auf den Mercedes zu.
Er zieht sich im Gehen Einweghandschuhe an und öffnet die nahezu unversehrte Kofferraumklappe. Die Handschuhe bleiben an dem frischen Blut kleben und lösen sich mit einem schmatzenden Geräusch.
Ankan sieht einen großen Karton voller Nasenspray, mehrere Hundert kleine, unbeschriftete Flaschen.
»So konsumieren Einsteiger Fentanyl«, erklärt Rahim. »Der direkte Weg in eine kurze, aber massive Sucht.«
»Fentanyl?«, wiederholt Ankan.
»Du weißt, was das ist, oder? Seit den Neunzigern taucht das Zeug immer wieder in Schweden auf, aber im Vergleich zu anderen Ländern, vor allem den USA, sind wir bisher glimpflich davongekommen. Die leiden ja gerade unter einer richtigen Fentanyl-Epidemie. Und vielleicht ist es jetzt auch bei uns so weit.«
»Fentanyl ist ein Opioid, richtig? Ein ziemlich starkes?«
»Ein synthetisches Opioid, das etwa fünfzigmal stärker ist als Heroin. Eigentlich kommt es aus der Medizin und wird dort seit Ende der Fünfziger als extrem effektives Schmerzmittel eingesetzt. Doch mit der Zeit hat Fentanyl auch die Straße erobert, als eine der ganz harten Drogen. Wir hatten vor Kurzem einen ungewöhnlich brutalen Mordfall, mit Folter und dem ganzen Scheiß, obwohl das eigentlich nicht zum üblichen Modus Operandi der Gangs gehört. Da wissen wir noch nicht, ob es sich um echtes Fentanyl oder um eines der vielen Fentanyl-Analoga gehandelt hat. Das sind chemische Varianten, die meistens noch stärker sind und zum Teil nicht einmal illegal. Die Rechtsprechung kommt einfach nicht hinterher.«
Ankan nickt. Zählt eins und eins zusammen.
»Ist die Hjulsta-Gang daran beteiligt?«
Rahim sieht sie schweigend an.
»Ich habe von deinem Kreuzzug gegen die Hjulsta-Gang gehört, Ankan«, sagt er. »Glaubst du wirklich, dass sie Anton Lindberg haben?«
»Kannst du bitte einfach nur auf meine Frage antworten?«, entgegnet sie schärfer als beabsichtigt.
Rahim schüttelt den Kopf, dann zeigt er mit einer ausholenden Geste auf den Mercedes.
»Die Jungs hier gehören zur Hjulsta-Gang.«
Ankan rührt sich nicht. Hat sie gerade einen Weg gefunden, um an die Gang heranzukommen? Über Fentanyl?
Plötzlich wird die Polizistin in ihr abgelenkt. Sehr eindeutig Erinnerungen, physischer Natur.
Sie wirft einen Blick über ihre Schulter, das Rilkepaar steht in einiger Entfernung und unterhält sich. Sie beugt sich zu Rahim und flüstert: »Wann bist du hier fertig? Was hältst du von einem Drink?«
Er schaut sie an, und zum ersten Mal entdeckt sie etwas Amüsiertes in seinem zuvor so erschöpften Gesicht.
»Du hast mich sitzen gelassen, Ankan«, sagt er. »Und das nicht auf die nette Tour.«
Ein Blick von außen. Sie sieht sich selbst mit anderen Augen. Sehr nützlich. Stumm steht sie da und weiß nicht, was sie sagen soll.
Er senkt den Blick, betrachtet seine mittlerweile roten Handschuhe.
»Ich muss mir vorher das Blut von den Händen waschen.«
Einer der Gründe, warum sie sich dort treffen, wo sie sich treffen, ist der Umstand, dass dem Sushi-Restaurant an der Kreuzung von Hornsgatan und Ringvägen die Genehmigung zum Ausschank von Alkohol fehlt. Ein anderer ist die Tatsache, dass Sonja Ryd keine zwanzig Meter entfernt wohnt.
Zunächst hatte es so ausgesehen, als würde sie die Ereignisse im Frühjahr gut verkraften. Dann aber begannen die Albträume, in denen sie lebendig begraben wurde, und ihre heimlichen Probleme tauchten wieder auf. Erst da bekam sie die Diagnose PTBS, posttraumatische Belastungsstörung.
Zum Glück hatten Lukas Frisell und sie schon vor ihrer Krankschreibung die kleine Routine mit den wöchentlichen Verabredungen zum Lunch oder Abendessen eingerichtet. Sie behielten sie den gesamten Sommer über bei, und als Sonja Ryd Anfang dieser Woche in den Vollzeitdienst zurückkehrte, hatte sich die Routine so etabliert, dass sie daran festhielten.
Es hat angefangen zu regnen. Draußen ist es schon dunkel.
»Eine Statue?«, wiederholt Sonja Ryd fragend und schiebt sich ein Nigiri-Sushi mit Lachs in den Mund.
»Ich fasse es nicht, wie du das verpassen konntest«, sagt Frisell und bemüht sich, mit seinen Stäbchen ein Stück Sashimi hochzuheben.
»Ich war damit beschäftigt, mich wieder einzuleben und einzuarbeiten. Niemand hat mir gesagt, dass es nur ein Schreibtischjob wird, aber in der Praxis …«
»Ein langsamer Start ist bestimmt besser.«
»Ich habe doch schon wochenlang halbtags gearbeitet.«
Frisell zuckt mit den Schultern.
»Es handelt sich um die Zeusstatue von Olympia. Eine hervorragende Gipskopie.«
»Zeusstatue? Eines der sieben Weltwunder der Antike?«
»Du kennst dich ja richtig aus!«
»Das nennt man Allgemeinbildung, Lukas«, sagt Ryd und streicht sich über den frisch rasierten Schädel. »Vielleicht ist dir der Begriff mal über den Weg gelaufen?«
Frisell lacht, widmet sich dann aber wieder seinem Kampf mit den Essstäbchen. Diese flapsigen Scherze sind ein wesentlicher Bestandteil ihrer Freundschaft geworden. Der professionelle, aber harte Ton, der in früheren Verhören zwischen ihnen herrschte, ist inzwischen tabu.
Ryd betrachtet ihn kauend.
»Wenn ich das richtig erinnere, war diese Zeusstatue riesig.«
»Ja, unser Exemplar ist nicht ganz so groß«, sagt Frisell. »Aber sie deshalb als eine Miniatur zu bezeichnen, wäre ein Fehler. Sie ist doppelt so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Avancierte Kunst im öffentlichen Raum also, die in der Wolfsstunde am höchsten Punkt der Stadt installiert wurde.«
»In der Wolfsstunde?«
»Ich war da gerade draußen unterwegs. Ein richtiger Hagelsturm hat etwas Magisches. Über vierzig Minuten hat er gedauert, zwischen 3:12 und 3:56 Uhr. In dieser Zeit konnten die ungestört an der Statue arbeiten.«
»Aber natürlich haben wir keine Ahnung, wer die sind?«
»Auf jeden Fall war es extrem gut vorbereitet«, sagt Frisell und zuckt mit den Schultern. Er zieht die Augenbrauen zusammen und tippt mit den Fingernägeln gegen sein Wasserglas.
»Und wie läuft es damit, Sonja?«, fragt er.
»Mit dem Wasser?« Ryd grinst ihn an. »Hervorragend. Ich glaube, ich trinke an die zehn Liter am Tag.«
»Und mit … Ethanol?«
Die beiden sehen sich an. Etwas Dunkles schiebt sich zwischen sie, und Frisell muss den Impuls unterdrücken, es mit der Hand wegzuwedeln.
»Es fällt mir schwer«, sagt sie schließlich. »Aber es geht.«
»Es geht?«
»Ja, es geht.«
Mehr sagen sie nicht darüber. Frisells Blick wandert auf die Straße. Die Hornsgatan ist in künstliches Licht getaucht, der Regen fällt jetzt noch nachdrücklicher. Vereinzelt fährt ein Auto vorbei, eines davon viel zu schnell. Ein dunkelgrauer Pkw, unverkennbar, unverwechselbar. Er fährt über Rot und biegt scharf nach rechts.
»Zivilfahnder«, sagt Ryd. »Ohne Blaulicht. Interessant.«
»Und sie sind auf den Ringvägen gefahren«, ergänzt Frisell nickend. »Wollen wir uns dranhängen?«
»Warum sollten wir?«
Den Zivilfahndern folgt ein offizieller Streifenwagen in Weiß-Blau-Gelb. Auch dieser ohne Blaulicht.
»Die fahren Richtung Skinnarviksberget«, sagt Frisell. »Keine hundert Meter von hier steht die Zeusstatue. Es könnte etwas damit passiert sein.«
»Verdammt«, sagt Ryd und hebt den Blick von ihrem Teller.
»Es regnet«, stellt Frisell nüchtern fest. »Du würdest fast trocken nach Hause kommen. Vor dir liegt ein ruhiger und schöner Abend, mit einem Buch oder ein bisschen Fernsehen. Die Alternative ist wesentlich ungemütlicher, wesentlich anstrengender. Und meilenweit von deinem Schreibtischdienst entfernt.«
Sonja Ryd wirft ihm einen bösen Blick zu, stopft sich das letzte Nigiri mit einer traurigen Garnele darauf in den Mund und nimmt demonstrativ einen großen Schluck Wasser. Dann schnappt sie sich ihren Rucksack und steht auf. Frisell gibt seine kläglichen Versuche auf, sich mit den Stäbchen das letzte Sashimi-Stück zu nehmen.
Sie verlassen das Restaurant und treten hinaus in den dunklen Herbstabend.
Ihm fällt es schwer, mit Ryd Schritt zu halten. Der Regen nimmt weiter zu, als sie auf den Yttersta Tvärgränd abbiegen, der sie zur Treppe hinauf zum Skinnarviksberget führt. Sie rennen das letzte Stück.
Die Beamten des Streifenwagens haben bereits auf halber Strecke eine Absperrung eingerichtet. Ryd und Frisell sehen durch den Regen, wie die ersten durchnässten Schaulustigen hinter die Absperrung zurückgeschickt werden. Sie zeigen ihre Ausweise vor, werden durchgelassen und laufen die Stufen hoch.
Lautstarke Stimmen dringen ihnen vom Gipfel des wolkenverhangenen Berges entgegen. Die uniformierten Kollegen versuchen, weitere Absperrungen einzurichten und die Menschen davon abzuhalten, mit ihren Handys zu filmen. Eine schier unmögliche Aufgabe.
Ryd läuft der Regen übers Gesicht, als sie kurz vor Frisell den höchsten Punkt erreicht und vor sich, in etwa zehn Metern Entfernung, die Rückseite einer kalkweißen Statue erblickt. Ein Thron, breite Schultern, lockiges Haar, das eines jungen Robert Plant würdig wäre. Auf der anderen Seite ist ein Scheinwerfer am Hang aufgebaut worden, dessen Strahl auf die Skulptur gerichtet ist und sie in einen Kegel von Regentropfen hüllt.
Zwei Beamte balancieren auf Leitern, die rechts und links an der Statue lehnen. Sie sind damit beschäftigt, eine Persenning über die Skulptur zu ziehen, um sie vor dem Regen zu schützen.
Warum, fragt sich Ryd, die nun das blau-weiße Absperrband erreicht hat. Frisell holt sie ein.
Die beiden nähern sich der Zeusstatue von der rechten Seite. Obwohl sie schon fast ganz mit der Persenning bedeckt ist, bekommen Ryd und Frisell einen Eindruck von der beeindruckenden Detailgenauigkeit. Das perfekt eingefangene Spiel der Muskeln, die Präzision der Locken, ein krauser Bart.
Und dann stehen Lukas Frisell und Sonja Ryd vor dem Gottkönig, Auge in Auge mit ihm. Sie sehen, dass sich der Regen beim Kontakt mit dem Gott weiß färbt und als zähes Rinnsal nach unten tropft. Was er hinterlässt, ist alles andere als weiß.
Frisell und Ryd treten näher. Die dunkle Stelle, die an der Wange des Gottes entstanden ist, wird immer größer und nimmt deutliche Konturen an.
Ehe die Persenning den gesamten Körper des Gottes bedeckt, erkennen die beiden, dass ihnen aus dem Gesicht von Zeus ein anderes Gesicht entgegensieht.
Das eines Menschen.
Frisell tritt noch einen Schritt näher, Ryd einen zurück. Sie holt einen Flachmann aus ihrem Rucksack und leert ihn in einem Zug.
Shabir Sarwani wäre lieber nicht so früh am Morgen ins Nationale Zentrum für Forensik in Solna gefahren. Aber ihm war diese Aufgabe nun einmal zugewiesen worden. Ungleich verteilt sind des Lebens Güter.
Als er den größten Saal des Zentrums betritt, schlägt ihm eine weiße, feuchte Wand entgegen. Jeder Atemzug fühlt sich an, als würde er etwas sehr Ungesundes einatmen. Es knirscht zwischen den Zähnen.
Auf der rechten Seite steht ein großer, sonderbar deformierter Klumpen. Weiß und zerklüftet, als ragte er aus einer Pfütze Milch auf, die langsam vom Abfluss am Boden aufgeschlürft wird. Mannshohe, weiche Bürsten lehnen an dem Klumpen, auf den langsam, Tropfen für Tropfen, Wasser aus einer provisorischen Dusche tropft, die nicht richtig abgedreht zu sein scheint.
Dieser Klumpen wird nie wieder aussehen wie die Zeusstatue von Olympia. Auch nicht wie die Statue vom Skinnarviksberget.
Durch die Tür im hinteren Teil des Raumes tritt eine Gestalt, die in etwa so groß ist wie die verstümmelte Skulptur, und genau genommen auch so weiß. Der Mann zieht sich eine Maske übers Gesicht und kommt auf Sarwani zu.
»Dann hat NOVA den Fall bekommen?«, fragt er. »Ich beneide euch nicht.«
»Robin«, sagt Sarwani und schüttelt die riesige Hand des Chefforensikers. »Wenigstens mussten wir das hier nicht machen.«
Robin sieht sich um und verzieht das Gesicht.
»Ja, das war eine richtige Drecksnacht«, gibt er zu und reicht Sarwani einen Mundschutz. »Aber es sieht schlimmer aus, als es tatsächlich war. Der Gips war extrem wasserlöslich, wir mussten kaum hacken oder schneiden. Die Leiche wurde schon entnommen. Wir untersuchen sie im Laufe des Tages, bevor die Gerichtsmedizin übernimmt.«
»Das wird wohl kaum aus Versehen passiert sein«, sagt Sarwani. »Ein Künstler dieses Formats muss doch absichtlich einen Gips gewählt haben, der sich im Regen auflöst.«
»Du bist der Ermittler«, sagt Robin und zuckt mit den Schultern. »Aber ich stimme dir zu, dass es wahrscheinlich Absicht gewesen ist. Dieser Gips ist nämlich die Ausnahme, normalerweise ist das ein sehr wetterbeständiges Material.«
Sie durchqueren den großen Saal.
»Ich dachte, du wärst noch im Urlaub«, sagt Sarwani.
»Ach, es gibt einfach keine weißen Flecken mehr auf der Weltkarte. So schnell werdet ihr mich nicht los.«
Robin öffnet die Tür auf der anderen Seite des Raumes und lässt Sarwani den Vortritt.
Zwei seiner Mitarbeiter stehen tief gebückt an einem Stahltisch. Einer von ihnen hat eine Art Duschschlauch in der Hand.
»Wir müssen den Körper noch vorsichtig abspülen«, sagt Robin. »Das Abwasser fangen wir natürlich für weitere Analysen auf.«
Der Forensiker mit dem Schlauch bläst feinste Wasserpartikel, fast wie Dampf, auf den Leichnam. Große Teile des Körpers sind nach wie vor mit Gips überzogen. Nur das Gesicht ist deutlich zu sehen.
Sarwani erstarrt.
Der Schrecken der letzten Sekunden ist zu einer grauenhaften Totenmaske geworden. Das Opfer scheint aus Asien zu kommen, sein Gesicht ist so verzerrt, dass es kaum noch menschlich aussieht.
»Seine letzten Minuten dürften nicht besonders angenehm gewesen sein«, sagt Robin. Er nimmt einen kleinen Spatel, öffnet den Mund des Toten und drückt die Zunge nach unten.
»Überall Gips«, sagt er.
»Dann lebte er noch, als er in die Statue eingegipst wurde?«
»Auf jeden Fall hat er Gips eingeatmet und verschluckt. Sowohl Luft- als auch Speiseröhre sind voll damit.«
Sarwani betrachtet die Leiche auf dem Stahltisch. Für einen kurzen Augenblick hat er den Eindruck, dass sie singt. Eine schlichte Melodie aus den Untiefen der Zeit.
Musik aus dem Totenreich.
»Als wir die Leiche aus dem Gipskorsett befreit haben, ist uns eine Sache aufgefallen«, sagt Robin. »Alles wurde penibel fotografiert und dokumentiert, mach dir keine Sorgen.«
»Und was war das?«
»Wir haben einen Schnitt oder eine Art Fuge im Gips gefunden. Der Bereich oberhalb der Fuge ist zu einem anderen Zeitpunkt getrocknet als der unterhalb.«
»Und das bedeutet?«, fragt Sarwani.
»Der Schnitt verläuft direkt auf Höhe des Halses. Vermutlich war das Opfer bewusstlos, während der Gips trocknete. Nur der Kopf lag zu diesem Zeitpunkt frei. Sollte der Mann noch einmal zu Bewusstsein gekommen sein, konnte er sehen, hören, sprechen, riechen und schmecken. Nur bewegen konnte er sich nicht.«
»Der Mörder hat also darauf gewartet, dass er wieder aufwacht?«
»Das muss die Rechtsmedizin später genauer beantworten, aber die toxikologischen Untersuchungen dauern gerade ziemlich lange. Da gibt es einen Riesenstau. Zitiert mich damit bitte nicht, aber meiner Meinung nach hat jemand darauf gewartet, dass das Opfer aufwacht. Um dann – vielleicht nach einem kurzen Wortwechsel oder Ähnlichem – den restlichen Gips in den oberen Teil der Gussform zu füllen. Der Teil oberhalb des Halses.«
Sarwani seufzt.
»Harter Tobak«, sagt er. »Was für ein schrecklicher Tod. Aber nicht abschreckend genug, um mich darüber hinwegzutäuschen, dass du mir etwas verheimlichst. Was habt ihr gefunden?«
Robin macht eine abweisende Geste und meidet den Blick seines Kollegen.
»Ihr bekommt alle Ergebnisse, wenn wir die Untersuchungen abgeschlossen haben.«
Sarwani lacht laut auf.
»Gib zu, dass du dir den Fall allein und in Ruhe ansehen willst.«
Robin sieht Sarwani an.
»Ich darf einfach keine Fernreisen mehr unternehmen«, sagt er. »Verliert man sein Pokerface so schnell?«
»Du hattest nie eins, Robin.«
Robin schüttelt den Kopf, hebt den Deckel einer runden Schale und zeigt auf ein zusammengerolltes, zerknittertes Stück Papier.
»Das steckte unter seiner Oberlippe, wie eine Portion Kautabak.«
Vorsichtig rollt Robin das Papier mit zwei Pinzetten auf.
»Das gibt’s doch nicht«, ruft er dann.
»Du weißt, was du getan hast.«
Die handgeschriebenen Worte leuchten von der Wand eines vernachlässigten Konferenzraums im Polizeipräsidium von Stockholm, der aus immer offensichtlicheren Gründen Wartesaal genannt wird.
Die Frau, die direkt unter den sechs Wörtern an einem Pult steht, ist davon überzeugt, dass der Name des Raumes ihr etwas sagen will. Kriminalhauptkommissarin Eva Nyman wartet nämlich ständig auf die Mitglieder ihrer NOVA-Gruppe.
Bisher ist sie allein im Raum.
Obwohl ihnen gerade ein neuer Fall zugeteilt wurde, scheint keines der Mitglieder besonders aufgeregt zu sein, als sie schließlich doch noch einer nach dem anderen hereingeschlendert kommen.
Nyman zeigt auf die Wand und eröffnet die Sitzung.
»Die Medien nennen den Täter jetzt schon den Zeusmörder. Für uns aber steht dieser Satz hier im Zentrum der Ermittlung. Übernimm du bitte, Shabir.«
»Der zusammengerollte Zettel ist dem Opfer unter die Oberlippe geschoben worden. Er ist ein Mann, in den Fünfzigern, dem Erscheinungsbild nach Asiate. Die Worte wurden mit schwarzem Filzstift und in unscheinbarer Handschrift auf ein liniertes Stück Papier geschrieben, das aus einem Notizblock herausgerissen wurde. Worauf der Satz ›Du weißt, was du getan hast‹ anspielt, müssen wir noch herausfinden.«
»Und was denkt ihr?«, fragt Nyman die restlichen Anwesenden.
Die Gruppe ist vollzählig, alle sind gekommen – seit Langem mal wieder. Doch das heißt nicht, dass sofort ein regelrechter Brainstorm durch den Saal fegt.
»Mit dem ›Du‹ kann das Opfer, aber auch jemand anders gemeint sein«, erbarmt sich schließlich Ankan. »Mir erscheint es nur so sinnlos, einem Toten eine Nachricht zu hinterlassen.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung«, schaltet sich Lukas Frisell ein, dessen Zunge sich nach acht Jahren im Wald langsam wieder lockert. »Das ›Du‹ bezieht sich in Wahrheit auf die Zukunft. ›Du weißt, was du getan hast.‹ Sieh dir das an.«
»In dem Fall würde es sich um eine Drohung handeln?«, fragt Nyman.
»Klingt so«, antwortet Sarwani. »Warte nur, ich hole dich.«
»Genau genommen könnte sich jeder erwachsene Einwohner dieser Stadt von diesem Vorwurf angesprochen fühlen«, murmelt Sonja Ryd.
»Und das ist genau der Grund, warum mir das hier große Sorgen macht«, gibt Nyman zu. »Natürlich kann es sich, wie ihr es vorschlagt, um Rache handeln. Aber im Moment könnte man die Drohung auf jeden von uns beziehen, die wir schon ein paar Jahre auf dieser Welt sind. Wir alle tragen eine Schuld. Und Stockholm könnte, zumindest vorübergehend, eine verunsicherte und nervöse Stadt werden.«
Sarwani runzelt die Stirn.
»Aber steht diese Anklage nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem spektakulären Anblick? Diese Leiche, die in einer plötzlich aufgetauchten Zeusstatue steckt – sinkt dadurch nicht das Risiko einer allgemeinen Hysterie? Ganz gleich, wie groß unser schlechtes Gewissen ist.«
Sonja Ryd sitzt neben Sarwani und rutscht unruhig auf ihrem Stuhl herum.
»Übersehen wir nicht das Wichtigste?«
»Und das wäre?«, fragt Eva Nyman.
»Wir wissen bereits, wie viele Opfer es geben wird.«
»Allgemeinbildung!«, sagt Frisell und nickt.
Ryd ignoriert ihn.
»Ich glaube auch, dass sich in der Botschaft eine Drohung verbirgt«, erklärt sie. »Und wenn das so ist, dann droht da jemand, dass noch mehr Opfer folgen werden. In Kombination mit dem Motiv ist das alles andere als banal. Die Zeusstatue ist eines der sieben Weltwunder der Antike.«
Im Wartesaal entsteht eine kurze Pause.
»Droht uns also eine Serie von sieben Morden?«, fragt Eva Nyman.
»Wohl kaum«, erwidert Ankan zögerlich. »Es ist doch ein weiter Weg von ›Du weißt, was du getan hast‹ zu ›Ich werde noch sechs weitere Personen auf dieselbe aufsehenerregende, kunstvolle Weise töten.‹«
Ryd streicht sich über den Schädel.
»Wenn wir Zeus und seine Taten als Symbol verstehen wollen, landen wir bei notorischer Untreue und einem Haufen unehelicher Kinder. Kann es sich um so etwas handeln? Könnte sich die Tat gegen einen untreuen Zeustypen richten, der weiß, was er getan hat?«
»Das ist durchaus möglich«, sagt Frisell. »Die Nachricht und der Mord scheinen sich gegen eine Person zu richten, ein ›Du‹. Man kann die Zeusstatue also auch einzeln betrachten, losgelöst von den restlichen sechs Weltwundern.«
»Aber bleibt uns dann nichts anderes übrig, als auf den nächsten Mord zu warten?«, fragt Sarwani. »So hätten wir die Bestätigung, Weltwunder oder nicht.«
»Oder es wird keinen weiteren Mord geben«, wendet Eva Nyman ein. »Bei genauerer Betrachtung erscheint es doch mehr als unwahrscheinlich, dass es zu einer weiteren, genauso aufsehenerregenden Tat kommt. Das Opfer wurde von mehreren Personen ermordet, nach langer, sorgfältiger Planung. Man benötigt einen Haufen Leute, um eine so große Statue mitten in Stockholm aufzustellen. Wohlgemerkt unbemerkt! Das sieht aus wie der Gruppenmord in Mord im Orientexpress. Die Täter haben unter diesem Mann gelitten und rächen sich – nicht ohne ihm eine letzte Nachricht zu hinterlassen, die sie ihm in den Mund schieben.«
»Es muss sich um Profis handeln«, sagt Frisell. »Ich habe gestern kurz den Skinnarviksberget inspiziert. Es gibt drei Wege, um nach oben zu gelangen, alle gleichermaßen schmal und steil. Da wir den Einsatz eines Helikopters aus naheliegenden Gründen ausschließen können, müssen sie einen großen Lieferwagen, womöglich sogar einen Lastwagen gehabt haben. Für den Weitertransport benötigten sie ein kleineres Geländefahrzeug, das sie vielleicht ebenfalls im Lieferwagen transportiert haben. Sie werden außerdem eine Art Hebemechanismus eingesetzt haben, und auch diese Geräte müssen sie mit dem Lieferwagen transportiert haben.«
»Die Statue war im Felsen befestigt«, sagt Sarwani. »Dazu wäre eine Bohrung erforderlich gewesen, die nachts halb Södermalm geweckt hätte.«
Erneut entsteht eine nachdenkliche Pause im Wartesaal.
»Insgesamt gibt es einiges, was dagegenspricht, dass wir es hier mit einer Einzeltat zu tun haben«, fährt Sarwani nach einer Weile fort. »Zum Beispiel sind die Fingerkuppen abgeschnitten worden. Robin untersucht, ob noch etwas zu retten ist, aber wie dem auch sei, das deutet auf organisierte Kriminalität hin. Klingt ›Du weißt, was du getan hast‹ nicht wie etwas, womit sich Banden gegenseitig drohen könnten? Vielleicht ist das hier der Auftakt zu einem weiteren Bandenkrieg?«
»Bandenmitglieder als Künstler?«, fragt Ryd.
Eva Nyman klopft mit der Fernbedienung des Beamers auf das Pult.
»Noch kurz ein paar Richtlinien«, sagt sie. »Was wir offiziell sagen können, ist, dass wir in der Zeusstatue eine männliche Leiche gefunden haben. Sonst nichts. Wir machen den Deckel drauf, je weniger davon wissen, desto besser. Was wir intern sagen können, ist Folgendes: Ein etwa fünfzigjähriger Mann, der vermutlich aus Asien stammt, droht zum ersten Opfer einer möglichen Mordserie zu werden. Was wir konkret tun können, ist, Folgendes herauszufinden. Erstens: Wer ist das Opfer? Zweitens: Wie ist die Statue auf den Berg transportiert worden, ohne dass es irgendjemand mitbekommen hat? Drittens: Wer ist der Künstler, der unter Umständen auch der Mörder ist? Dafür hat uns der Polizeipräsident von Stockholm einen Experten zur Verfügung gestellt, der uns zusätzliche Informationen über die Zeusstatue geben wird. Von jetzt an herrscht absolute Geheimhaltung. Kein Wort zu viel zu dem Experten, der jetzt gleich kommt.«
Mit diesen Worten schaltet Eva Nyman den Beamer aus. Die Worte an der Wand verschwinden.
Der große Mann betritt wortlos den Wartesaal. Er ist um die fünfundvierzig, sieht aus wie ein echter Gallier und balanciert seine Brille auf der Spitze seiner sehr geraden Nase. Ohne zu zögern, beginnt er seine PowerPoint-Präsentation und ergreift in tadellosem Schwedisch das Wort.
»Mein Name ist Jacques Haussmann, und ich bin Dozent an der Kunsthochschule. Ich zeige Ihnen hier die antike Statue des Zeus in Form einer römischen Kopie – wahrscheinlich die realistischste Darstellung, die es von ihr gibt. Sie befindet sich in der Eremitage in Sankt Petersburg und kommt größenmäßig nicht einmal in die Nähe der Originalstatue, die Quellen zufolge über zwölf Meter hoch gewesen sein soll.«
Erstaunt starren die Mitglieder von NOVA auf die lockigen Haare und den mächtigen Bart des Zeus, der auf seinem Thron sitzt, mit dem Zepter in der einen Hand und einer kleinen Statue der Nike in der anderen, der Göttin der Gerechtigkeit. Zu seinen Füßen sitzt ein riesiger Adler.
»Die Statue«, fährt Haussmann fort, »wurde ursprünglich Mitte des vierten Jahrhunderts vor Christus von dem griechischen Bildhauer Phidias erschaffen. Sie stand im großen Zeustempel auf einem Felsen, an dessen Fuß ihm zu Ehren die Olympischen Spiele abgehalten wurden. Wenn wir jetzt das Bild mit dem Fund des gestrigen Tages vergleichen, erkennen wir sofort die Ähnlichkeiten, nicht wahr?«
Die Statue, die er als Nächstes zeigt, ist kalkweiß und – dem offensichtlich großen, noch lebenden Mann nach zu urteilen, der danebensteht – etwa zweieinhalb Meter hoch.
»Das neben der Statue bin ich«, erklärt Haussmann. »Ich bin eins sechsundneunzig. Ich habe gestern Morgen vor Ort zusammen mit den Technikern der Stadt eine erste vorläufige Untersuchung vorgenommen. Die Statue ist bekanntlich aus Gips und demnach nicht so schwer zu transportieren gewesen.«
Er wendet sich Sonja Ryd zu und lächelt ihr aufmunternd zu. Sie weiß nicht genau, was sie da sieht, doch es gelingt ihr, etwas von sich zu geben: »Das Original gelangte nach Konstantinopel und wurde bei einem Brand 462 nach Christus zerstört. So weit, so gut, das kann man nachlesen. Die weitaus interessantere Frage ist, wer diese Kopie angefertigt hat? Lässt sich da was erkennen? Gibt es jemanden, der mit extra weichem Gips arbeitet, damit sich seine Werke im Regen auflösen? Als Statement?«
Ohne den Blick von ihr abzuwenden, antwortet Haussmann.
»Wir haben es hier mit sogenannter Street Art zu tun. Meiner Ansicht nach liegt es auf der Hand, dass Sie sich unter den relativ etablierten Straßenkünstlern umsehen sollten. Sie wissen nicht, ob der Künstler oder die Künstlerin auch den Mord begangen hat. Sie könnten vollkommen unschuldig sein. Ich werde Ihnen eine Liste von internationalen Street Artists erstellen, die dazu in der Lage wären, brauche dazu aber ein paar Tage. Vor allem, wenn ich nicht weiß, wer das Opfer ist.«
»Könnten wir jemand anderen fragen? Jemanden, der nicht so beschäftigt ist?«, erkundigt sich Sonja Ryd. »Einen Experten?«
Haussmann mustert sie, dann lächelt er.
»Ich kann Ihnen ein paar Namen zukommen lassen, Kunstkritiker, Galeristen. Wenn Sie mir Ihre Mailadresse geben?«
Ryd sieht zu Nyman, die mit einem Nicken zustimmt. Also kritzelt Ryd ihre Mailadresse in den Notizblock und reißt die Seite heraus. Als Haussmann den Zettel an sich nimmt, berührt seine Hand die ihre. Sie ist warm und trocken.
»Wenn man Kunst aus einer anderen Zeit nimmt«, fährt Haussmann fort, »und sie dann – zweifellos äußerst gekonnt – in seine eigene Zeit überträgt, dann hat das eine besondere Bedeutung. In diesem Fall wissen wir noch nicht, welche. Street Art funktioniert so: Warum hier? Warum ausgerechnet jetzt? Warum all der Aufwand? Häufig bekommt man keine Antworten darauf. Denn wenn man Antworten bekommt, stirbt die Kunst. Kunst mit einem Fazit ist keine Kunst. Aber das hier ist Kunst. Das garantiere ich Ihnen. Diese Statue fragt den Betrachter, was sie ist.«
Nyman nickt.
»Wir danken Ihnen sehr für Ihre Zeit«, sagt sie. »Das waren wichtige Hintergrundinformationen.«
Auf dem Weg zur Tür nickt Jacques Haussmann Sonja Ryd zu und sieht ihr tief in die Augen. Kaum fällt die Tür des Wartesaals ins Schloss, ruft sie: »Bitte keine Experten mehr!«
Ankan lehnt sich nach vorn und flüstert ihr zu: »Meine Herren, hat der mit dir geflirtet, Sonja.«
Die Worte bohren sich in ihre Seele. Immer wieder aufs Neue. Diese Drohung treibt sie um: »Du weißt, was du getan hast.«
Eva Nyman lässt ihren Blick durch das Großraumbüro schweifen, wo sich immer mehr Ermittler einfinden, um NOVA zu verstärken. Langsam erinnert es an die Sonderkommission, die vor fast vier Monaten hier zusammengearbeitet hat, als Klimaterroristen die Stadt mit Bombenanschlägen in Atem hielten.
Eva Nyman hofft inständig, dass es dieses Mal nicht so weit kommen wird. Momentan deutet nichts darauf hin. Es könnte sich im schlimmsten Fall um einen Serienmörder handeln, vielleicht nicht einmal das, und bisher gibt es keine Hinweise darauf, dass der Täter Unschuldigen schaden will. Keine Anzeichen für einen Terrorakt.
Dafür aber die Sache mit der Kunst. Warum fertigt jemand eine so prächtige Statue an? Warum der enorme Aufwand, um sie in der Öffentlichkeit aufzustellen und sie dann vom Regen wegspülen zu lassen? Es kann sich nicht um einen Einzeltäter handeln, an der Aktion auf dem Skinnarviksberget müssen mindestens drei, vier Personen beteiligt gewesen sein. Sie haben mit großer Präzision den Hagelsturm abgepasst, und den darauffolgenden Starkregen. Die Statue hielt den erbsengroßen Hagelkörnern stand, die auf den Gips prasselten, aber nicht dem Regen, der ihr übers Gesicht lief.
Nyman schüttelt den Kopf. Zu viele Fragen, zu viel Abstraktes. Die zusätzlichen Ermittler und Ermittlerinnen sollen helfen, daraus etwas Konkretes zu machen, den Ideen Form zu geben.
Als sie auf Sonja Ryd zugeht, steht diese auf. Sie hat diesmal keine Assistenten zugewiesen bekommen. Eva Nyman will den Kunstaspekt keinesfalls herunterspielen, ist aber der Ansicht, dass sie das Hauptaugenmerk auf etwas anderes richten sollten. Sie lässt Ryd trotzdem dranbleiben, immerhin kommt diese Aufgabe einem Schreibtischjob noch am nächsten.
Deshalb nickt sie zustimmend, als Ryd sie über ihr nächstes Vorhaben informiert: »Ich fahre jetzt zur hippsten Galerie Schwedens und unterhalte mich mit coolen Kunstleuten.«
Nyman sieht ihr hinterher. Ihre langjährige Freundschaft ist durch den Fall des Terrorbombers auf eine harte Probe gestellt worden. Ryds Zusammenbruch und Krankschreibung haben es nicht besser gemacht. Nyman hofft sehr, dass ihre Kollegin auf dem richtigen Weg ist und sie ihre Freundschaft wiederbeleben können. Zumal Sonja Ryd wirklich mit dem Trinken aufgehört zu haben scheint.
Nymans nächste Station ist Shabir Sarwani, der zusammen mit einer Gruppe von Zivilfahndern auf mehrere grau flimmernde Monitore starrt.
»Hagel«, erklärt Sarwani und wirft die Hände in die Luft.
Nyman sieht ihm über die Schulter. Langsam gelingt es ihr, einige Details auszumachen: Es ist Nacht, sie sieht sporadisch erleuchtete Straßenzüge im Hagelsturm.
»Unsere Arbeit wäre auch ein wenig zu einfach, wenn es auf dem Skinnarviksberget Überwachungskameras gäbe«, fährt Sarwani fort. »Und auf allen Aufnahmen, die wir bisher gesichtet haben, fallen zwei Dinge auf. Zum einen das Offensichtliche: der Hagelsturm. Zum anderen das gleichermaßen Offensichtliche: Äußerst wenige Personen haben sich während des Hagelsturms aus dem Haus gewagt. Vor allem aber wenige Liefer- oder Lastwagen mit der richtigen Größe.«
»Macht weiter«, sagt Nyman und wendet sich den zwei Kolleginnen zu, die eigentlich Lukas Frisell assistieren sollen.
»Ich vermute, unser geschätzter Kollege ist draußen in der Natur?«
Eine der beiden nimmt die AirPods aus den Ohren und hält die Audiodatei an, die sie gerade abhört.
»Ja, er ist auf dem Berg«, sagt sie und nickt.
»Und wie läuft es bei euch?«
»Es kommen jede Menge Anrufe von potenziellen Augenzeugen rein. Unterschiedlichster Art: Leute, die gesehen haben, wie die Statue im Regen geschmolzen ist. Leute, die etwas in der Nacht, als die Statue aufgestellt wurde, gesehen haben wollen, und Leute, die angeben, Lastwagen gesehen zu haben. Unsere Kollegen an den Telefonen machen einen harten Job.«
Nyman nickt.
»Irgendetwas Vielversprechendes bisher?«
»Nicht wirklich, nein. Aber alles, was relevant sein könnte, filtern wir heraus für eine weiterführende Analyse.«
»Gut, weiter so!«, sagt Nyman und geht zu Ankan, die ebenfalls zwei Assistenten an ihrer Seite hat. Sie ist am Telefon.
»Ich muss auflegen«, sagt sie in diesem Moment. »Meldet euch, wenn ihr was im Register findet.«
Sie wendet sich an ihre Vorgesetzte: »Ich lasse die Kriminaltechniker eine Gesichtserkennung des Opfers durchführen. Die können das am besten. Ansonsten haben wir noch nichts Neues über die Identität des Toten. Ein Phantombildzeichner ist dabei, das ziemlich tote Gesicht wieder zum Leben zu erwecken. Robin sagt, dass er eventuell das Abdruckfragment des Ringfingers wiederherstellen kann. Diese Kuppe hat der Mörder offenbar nicht sauber genug abgeschnitten.«
Nyman unterbricht Ankans Redeschwall mit einer dezenten Geste.
»Der Prozess«, sagt sie. »Die haben um elf Uhr kein Urteil verkündet, oder?«
Ankan sieht sie schweigend an.
»Ich weiß doch«, fährt Nyman fort, »dass du den Prozess … sagen wir mal, genauestens verfolgst.«
»Irgendjemand muss das doch tun«, ruft Ankan unnötig laut.
Die anderen Ermittler bemühen sich, möglichst beschäftigt zu wirken, doch Nyman sieht, dass alle die Ohren spitzen. Sie tritt näher an Ankan heran.
»Wirfst du mir vor, dass mir Antons Verschwinden egal ist?«, flüstert sie angespannt.
»Du hast die Ermittlung an die Interne abgegeben, Eva.«
»Weil das die Regeln so vorsehen. Mir sind die Hände gebunden.«
»Jaja, wenn du meinst. Sie verkünden das Urteil um vier im Rathaus. Ich werde hingehen. Du kannst ja versuchen, mich aufzuhalten.«
Eva Nyman seufzt.
»Ich habe nicht die Absicht, dich aufzuhalten, Ankan.«
Ankans Handy klingelt, sie nimmt das Gespräch demonstrativ an. Nyman schüttelt den Kopf und wendet sich ab.
»Ja«, sagt Ankan.
»Ich bin es«, sagt die Stimme, die ihr vom Bettgeflüster der vergangenen Nacht noch allzu vertraut ist.
»Rahim«, raunt sie.
»Danke für gestern Nacht«, sagt er. »Ich weiß, ich sollte dich nicht anrufen, aber ich habe da was für dich.«
»Was denn?«
»Ich glaube, du solltest vorbeikommen.«
